cover

 

Ross Thomas, Gottes vergessene Stadt

 

 

 

 

 

Image

 

Das Buch: Die Geschichte beginnt mit einem Telefonanruf morgens um vier in Durango, einer trostlosen Stadt in Kalifornien, abgeschnitten von der Welt – eine Stadt, die Gott vergaß. In dieser Abgeschiedenheit dient sie vor allem als Versteck für Leute, die Schutz vor Verfolgern suchen, wie Jack Adair, einst Oberster Richter, der wegen eines Steuervergehens in den Knast wanderte und überzeugt davon ist, daß ihm jemand ans Leben möchte. Für eine Million und mehr bieten ihm Stadtoberhaupt B.D. Huckins und Polizeichef Sid Fork Durango als Hort der Sicherheit und Zuflucht an. Und Adair bietet ihnen ein ungewöhnliches und durchaus profitables Zusatzgeschäft an. Wenig später beginnt das Morden.

 

Der Autor: Ross Thomas, geboren 1926 in Oklahoma. Er war Journalist, politischer Berater und Mitorganisator von Wahlkämpfen. In den 50er Jahren baut er in Bonn das deutsche AFN-Büro auf, arbeitet danach für verschiedene amerikanische Organisationen. Mit 40 schreibt Thomas seinen ersten Roman. Er wurde mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis und dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bis zu seinem Tod 1995 entstehen 25 Romane.

 

»Einer der besten Thomas-Romane, in dem man alles findet, was seine enormen handwerklichen Fähigkeiten ausmacht: Stilsicherheit, Präzision, Lakonie und Witz. Es gibt wenige, die so präzise schreiben wie Thomas. Gottes vergessene Stadt ist so verwinkelt und so überraschend, daß es bis zur letzten Seite fesselt und immer spannender wird.« MDR Figaro

 

 

Ross Thomas

 

Gottes vergessene Stadt

 

 

Aus dem Amerikanischen

von Bernd Holzrichter

 

 

 

 

 

 

Alexander Verlag Berlin

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

KRIMINAL-LITERATUR

 

Ross Thomas im Alexander Verlag Berlin

 

 

 

 

 

 

Eins

Als das weiße Schlafzimmertelefon an jenem letzten Freitag im Juni morgens um 4.03 Uhr klingelte, hob das 36jährige Stadtoberhaupt beim vierten Läuten ab und trat dem 39jährigen Polizeichef gegen den Knöchel, um sicherzugehen, daß auch er wach war.

Nach einem gemurmelten »Hallo« hörte das Stadtoberhaupt eineinhalb Minuten lang schweigend zu. Sie lauschte mit grimmigem Mund und zusammengekniffenen Augen, einem Ausdruck, den der Polizeichef seit langem als ihren Schlagloch-Beschwerde-Blick bezeichnete. Als die neunzig Sekunden vorüber waren, beendete das Stadtoberhaupt den Anruf mit einem kategorischen »Genau«, das kaum mehr als ein geknurrter Abschiedsgruß war.

Während die Bürgermeisterin zuhörte, beschäftigte sich der Polizeichef zum wiederholten Male mit einer Inspektion der Strukturdecke des Schlafzimmers, wobei er sich erneut fragte, wieso das aufgesprühte Material letzten Endes immer wie drei Wochen alter Hüttenkäse aussah. In dem Moment, da die Bürgermeisterin auflegte, schloß der Chief die Augen und fragte: »Dixie?« – Schläfrigkeit und die frühe Stunde beraubten die Frage jeder echten Neugier.

»Dixie«, bestätigte das Stadtoberhaupt.

»Und?«

»Sie hat ihn eben ins Bett gesteckt.«

»Wieviel hat er getrunken?«

»Die Bar leer, sagt Dixie.«

»Dann ist alles klar, nicht?« sagte der Chief und öffnete die Augen, um der vergilbten Decke einen letzten prüfenden Blick zu gönnen, während er auf die Antwort der Bürgermeisterin wartete. Als keine kam, nickte er – wie auf eine unausgesprochene, aber beruhigende Erwiderung – und schlief offenbar wieder ein. Auf der linken Seite liegend, musterte das Stadtoberhaupt den Polizeichef mit einer Mischung aus Staunen und Groll. Des Musterns bald überdrüssig, drehte sie sich auf den Rücken und schloß die hellgrauen Augen, doch beinahe im selben Moment öffneten sie sich wieder, und die Bürgermeisterin sah sich zum Deckenwachdienst verurteilt, von dem der Schlaf sie erst kurz vor Morgengrauen erlöste.

 

Kelly Vines erwachte am selben letzten Freitag im Juni um 10.09 Uhr. Zuerst schaute er nach dem schwarzen Spazierstock, dann nach der rundum blonden Frau, die gesagt hatte, ihr Name sei Dixie. An ihren Nachnamen konnte sich Vines nicht erinnern; er wußte nicht einmal, ob sie ihn überhaupt genannt hatte, aber er erinnerte sich an die spöttischen blauen Augen und ihre trockene Bemerkung, daß sie sich im einzigen Holiday Inn westlich von Beirut einquartierten, das rote Zahlen schrieb.

Obzwar die blonde Dixie fort war und nur den Hauch eines denkwürdigen Parfüms hinterlassen hatte, hing der schwarze Stock noch am Schirm der Lampe mit dem hellgrünen Keramikfuß. Es war ein dicker Stock, mehr als eineinviertel Zoll im Durchmesser, gedrechselt aus Makassar-Ebenholz und an der Spitze mit einem Chromring verziert, der jetzt ein bißchen abgewetzt war. Etwa einen Zoll unter der Stelle, wo der Griff des Stocks sich zu krümmen begann, war ein Bilderband, in das in schmalen, verschlungenen gotischen Lettern die Initialen JA eingraviert waren.

Sein Kater ging ernsthaft zum Angriff über, als Vines sich im Bett aufsetzte. Er diagnostizierte ihn als Siechtum aufgrund einer seltenen und womöglich verhängnisvollen Beanspruchung, holte viermal tief Luft und betete ohne Zuversicht darum, der zusätzliche Sauerstoff möge bewirken, was der Volksmund ihm zuschrieb, nämlich seine Schmerzen lindern und ihm vielleicht ermöglichen weiterzuleben. Doch als der Kater und die ihn begleitende Verzweiflung nur noch schlimmer wurden und vage Gedanken an einen süßen Tod auslösten, stand Vines auf, stützte sich mit unsicherer Hand auf eine Stuhllehne und schritt mühsam zu dem schwarzen Stock.

Nachdem er ihn vom Lampenschirm befreit hatte, schüttelte er den Stock, seufzte erleichtert, als er das leise Geräusch hörte und drehte den gekrümmten Griff nach rechts statt nach links. Nach drei vollen Drehungen ließ sich der Griff abnehmen und enthüllte die Silberkappe, die den Korken hielt.

Vines zog den Korken aus der Glasröhre, die in das Holz eingelassen war, hob das nicht länger versteckte Fläschchen zum Mund und schluckte in etwa eine gute Unze Jack Daniel’s Black Label Whiskey, worauf ihn ein Schaudern erfaßte, das der rechtmäßige Besitzer des Stocks gerne als einen Ausdruck von »Schande, Entsetzen und nichts als Scheußlichkeit rundum« bezeichnet hatte.

Der morgendliche Bourbon erinnerte Vines daran, wie er das erste Mal in seinem Leben aus dem Stock getrunken hatte. Und das, so verriet ihm simple Mathematik, lag exakt fünfzehn Jahre zurück, als seine Universitätszeit sich dem Ende zuneigte. Es war im Juni 1973 gewesen, eine knappe Stunde vor der Zeugnisverleihung, als sie zu dritt zum ersten Mal gemeinsam Whiskey aus dem schwarzen Stock tranken, auch wenn keiner von ihnen viel mehr als eine Unze bekam, weil das Ding insgesamt nur vier Unzen faßte.

Vines erinnerte sich, wie der Besitzer des Stocks sein unversöhnlichstes Kichern gekichert und sein parteiischstes Lächeln gelächelt hatte, als er den prophetischen Toast aussprach: »Auf Watergate, Freunde, und alle, die mit ihr untergehen.«

Alle drei hatten sie jeder eine gute Unze getrunken. Zuerst Kelly, nach ihm der Mann, dem der Stock gehörte, und schließlich der Sohn des Mannes, der zugleich Vines’ Zimmergenosse im College war und der sich nicht ganz vierzehn Jahre später in einem nicht sonderlich teuren Bordell in Tijuana – angeblich – erschießen sollte.

Noch immer nackt, stand Vines im Zimmer des Holiday Inn, wartete auf die Balsamwirkung des Whiskeys und stützte sich mit beiden Händen auf den schwarzen Stock, während er aus dem Fenster im vierten Stock auf den Pazifik hinausspähte, der ihm stets so müßig oder vielleicht auch nur träge erschienen war, zumindest im Vergleich mit dem geschäftigen und beständig grollenden Atlantik.

Dann zwang, wie er fast erwartet hatte, der Schluck aus dem schwarzen Stock sein Gedächtnis zurück in die jüngere Vergangenheit, zu jener Nacht vor über einem Jahr, als der bekümmerte Beamte der Mordkommission von Tijuana ihn in La Jolla angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, daß sein ehemaliger Zimmergenosse tot sei.

Vines war nach eigener Einschätzung in Rekordzeit nach Tijuana gefahren, hatte nach frustrierender fünfundzwanzigminütiger Suche das Bordell gefunden, den einen Meter dreiundneunzig großen Körper identifiziert und ohne sonderlichen Ekel (der würde später kommen) festgestellt, daß ein großer Teil des einstmals schönen Kopfes über eine Lithographie der Heiligen Jungfrau von Guadalupe an der Südwand des Zimmers verspritzt war.

Vines hatte auf die Lithographie gestarrt, als der Beamte der Mordkommission auf spanisch zu schildern begann, wie der Tote sich offenbar den Lauf des alten halbautomatischen Colts vom Kaliber .45 in den Mund gesteckt und den Abzug dos veces gedrückt hatte. Vines, der plötzlich seinem normalerweise ausreichenden Spanisch mißtraute, hatte es zögernd mit einer Übersetzung probiert: »Zweimal?«

Das breite Indianergesicht des Polizisten hatte sich in eine fromme Maske verwandelt, als er auf englisch erwiderte: »Ja, zweimal«, dann wieder auf Spanisch zurückschaltete und murmelte, nur Gott allein könne begreifen, auf welche verrückten Mittel Selbstmörder verfielen, wenn sie sich wahrhaftig zu zerstören wünschten.

Als Kelly Vines fragte, ob er den Blödsinn wirklich glaube, daß sein ehemaliger Zimmergenosse den Abzug zweimal betätigt habe, hatte der Polizist die Augen geschlossen und glückselig gelächelt, ganz so, als denke er an Gott oder an Geld oder an beides. Dann hatte der Polizist die Augen wieder geöffnet und entgegnet, aber ja, ganz bestimmt glaube er das, und wie könne man überhaupt daran zweifeln?

Zuerst war Vines sich nicht sicher, ob es die verblassende Erinnerung an Gehirn und Blut seines toten ehemaligen Zimmergenossen oder aber der Frühstücksbourbon war, was ihn dazu brachte, sich vom Meerblickfenster des Holiday Inn abzuwenden, den Stock wieder an den Lampenschirm zu hängen und sich mit gemessener Hast ins Bad zu begeben, wo er den soeben getrunkenen Jack Daniel’s ebenso auskotzte wie das meiste von dem, was er während der Nacht getrunken hatte. Aber später, nachdem er das Kotzen überstanden hatte, machte er vernünftigerweise den Jack Daniel’s dafür verantwortlich.

 

Um 11.04 Uhr an jenem Morgen, nachdem sein Magen von Mylanta-II besänftigt und seine Blöße mit einer beigefarbenen Leinenknitterjacke, einer dunkelgrauen Kammgarnhose – ebenfalls knittrig – und einem sauberen weißen Oberhemd, jedoch ohne Krawatte, bedeckt war, saß Kelly Vines auf einem Hocker an der Bar der fast leeren Cocktail-Lounge des Holiday Inn, neben sich eine heilkräftige Bloody Mary, und goß behutsam zwei Miniaturflaschen Jack Daniel’s, jede zwei Unzen fassend, in den ausgehöhlten schwarzen Stock.

Drei Barhocker weiter schlürfte ein hochgewachsener Mann, etwa in Vines’ Alter, ein gezapftes Bier und sah ihm mit unverhohlener Neugier zu. Von den dichten zinngrauen Schläfenhaaren abgesehen, die nach hinten über die Ohren gekämmt waren, war der Schädel des Mannes kahl und ebenso gebräunt wie das lange, verschmitzte Gesicht.

Vielleicht als Ausgleich zu seiner Glatze hatte der Mann sich einen zinngrauen Schnurrbart wachsen lassen, wie ihn Kelly Vines von Geschwaderführern aus alten britischen Filmen her kannte. Die Augenbrauen des Mannes waren von passendem Zinngrau und beinahe buschig genug, die haselbraunen, einen Stich ins Grüne gehenden Augen zu beschatten. Eine fein-geschnittene, lange Nase überragte einen schmalen, breiten Mund, der freundlich, wenn nicht sogar großzügig wirkte. Unter dem Mund befand sich ein Kinn wie ein Eckstein.

Der Mann mit dem Geschwaderführerbart schürzte die Lippen und runzelte die Stirn, als fürchte er, Vines könne etwas von dem Whiskey verschütten, der in den Stock tröpfelte. Doch als Vines mit schraubstockfester Hand zu Ende kam, ohne einen Tropfen zu vergießen, grinste der Mann und entblößte dabei große grauweiße Zähne, die nur seine eigenen sein konnten.

»Würden Sie mir das doofe Ding verkaufen?« fragte der Mann mit angenehmer Baritonstimme.

»Er gehört mir nicht«, antwortete Vines und wandte sich ab, um den Stock an die Bar zu hängen. Als er sich wieder umdrehte, fragte der Mann: »Meinen Sie, sein Eigentümer würde ihn verkaufen?«

Nachdenklich betrachtete Vines den Mann, als wäge er das Anliegen ab. »Ich könnte mal fragen.«

Von der Antwort offenkundig erfreut, nickte der Mann. »Aus irgendeinem albernen Grund muß ich ihn einfach haben«, sagte er und griff in die Tasche eines verschlissenen blauen Baumwollarbeitshemds, das vor Jahren bei Sears gekauft sein mochte. Aus der Tasche zog er eine Visitenkarte. Sein Arbeitshemd und die ausgetretenen Militärstiefel standen in wohlüberlegtem Kontrast zu seiner sorgsam geschneiderten blauen Nadelstreifenhose, die unverkennbar zu einer abwesenden, aber gleichermaßen sorgsam geschneiderten Weste samt Jacke gehörte. Trotz des alten Arbeitshemds und der groben Stiefel hatte Vines den Eindruck, daß der Kahlköpfige nach Anzug aussah. Beim Lesen der Visitenkarte entdeckte Vines, daß er richtig vermutete:

 

Sid Fork

Polizeichef

Durango, Kalifornien

(Bev. 9 861)

Die Stadt, die von Gott vergessen wurde

 

Unter dem Motto – oder der Grabinschrift – standen in der linken Ecke die Telefonnummern, die Vines anrufen konnte, dazu die Nummer eines Postfachs und eine Postleitzahl, an die er schreiben konnte.

Mit seinem ersten Lächeln des Tages blickte Vines von der Karte auf. »Wieso sollte Gott sich die Mühe machen, Durango zu vergessen, Chief?«

Sid Fork leerte die letzte Handbreit Bier und wischte sich den Schnurrbart mit dem Handrücken ab. »Es war nicht Gott – nun, jedenfalls nicht direkt. Es war der alte Pater Serra, der 1772 auf seinem Weg von Monterey nach Süden durchzog und vergaß, bei uns eine Mission zu gründen, die wir jetzt verdammt gut brauchen könnten, um Touristen anzulocken.«

»Hat er es vergessen? Oder ist er einfach nicht dazu gekommen?«

»Sind Sie katholisch?«

Vines schüttelte den Kopf.

»Als 1782, zehn Jahre später, ein Haufen Franziskaner hier durchkam und immer noch keine Mission gründete – nun, das war schon Nummer zwei, richtig? Und meinen Sie nicht, daß es damit ein bißchen so aussieht, als hätte Gott vergessen, Pater Serra und den anderen einen Knuff zu geben?«

»Macht den Eindruck«, sagte Vines, der sich vor langem geschworen hatte, in Bars nie über Religion, Politik oder Baseballregeln zu diskutieren.

»Der zweite Fehler, den sie gemacht haben, die Franziskaner und Gott, war die Gründung der Mission drüben in Santa Barbara, wo das Wetter alles andere als toll ist.«

»Ich habe immer gedacht, Santa Barbara hätte ein prachtvolles Klima«, entgegnete Vines. Allmählich begann er die Rolle des Stichwortgebers zu mögen.

»Nicht im Vergleich zu hier«, sagte Fork und winkte nach einem neuen Bier. Als der grauäugige junge Mexikaner hinter der Bar es serviert hatte, trank Fork zwei Schluck, wischte wieder rasch über seinen Schnurrbart und sagte: »Wenn Sie absolut top-perfektes Wetter haben wollen, Mr ... äh, glaube, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«

»Kelly Vines.«

»Wie gesagt, Mr Vines, wenn Sie perfektes Wetter suchen, dann ist die Jagd vorbei, denn diese Stadt verfügt über das, was die Weltgesundheitsorganisation als das wohltuendste Klima auf Gottes grüner Erde bezeichnet.« Fork hielt kurz inne. »Abgesehen von einem verfallenen Dorf an der italienischen Riviera, von dem noch keiner gehört hat.«

Vines gönnte ihm ein höfliches, vielleicht sogar interessiertes Nicken, nahm einen vorsichtigen Schluck von seiner Bloody Mary und blickte sich in der noch immer fast leeren Hotelbar um. »Ich war in dem Durango in Colorado, in dem in Mexiko und dem in Spanien, aber noch nie hier, dem vierten – bis jetzt jedenfalls.«

Die Winkel von Forks breitem Mund verzogen sich nach unten, als habe er die erwartete schlechte Nachricht gehört. »Nun ja, das will nicht viel heißen, denn der einzige Weg hierher – falls man nicht schwimmt – führt durch die Berge über die mörderische zweispurige Staatsstraße, die von der Eins-Null-Eins ausschert – vorausgesetzt, man sieht das Ausfahrtsschild rechtzeitig, was nicht vielen Leuten gelingt.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier und fragte dann: »Wie sind Sie hierhergekommen? Gefahren?«

»Gefahren«, bestätigte Vines. »Aber ich hatte einen weiblichen Lotsen.«

Der Polizeichef grinste. »Hätten Sie gesagt, Sie wären geflogen oder hätten den Zug oder Bus genommen, hätte ich gesagt, Sie träumen, denn die Bundesbehörde hat unseren sogenannten Flughafen vor zwei Jahren geschlossen – aus Sicherheitsgründen, hieß es –, und der letzte Personenzug hat vor elf, nein, bei Gott, vor zwölf Jahren hier gehalten. Selbst die Greyhound-Busse haben’s aufgegeben, nachdem General Electrics das Dampfbügeleisenwerk dichtgemacht hat – nächsten Monat werden’s zwei Jahre.«

»Klingt nach seliger Abgeschiedenheit«, kommentierte Vines und nahm diesmal zwei Schluck von seiner Bloody Mary.

»Sind Sie Einsiedler?«

»Noch nicht.«

»Wir haben ein paar davon – Leute, die nichts dagegen haben, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein.«

Vines nickte verständnisvoll und wartete, was nun kommen würde.

»Aber wir übrigen bleiben ganz gut am Ball«, fuhr der Chief nach einer weiteren Kostprobe von seinem Bier fort. »Wir haben unsere fast tägliche Zeitung, die irgendeiner Kette in London, England, gehört. Für die Kultur gibt’s unsere hundertprozentig automatisierte UKW-Station, die von früh bis spät nur Werbespots und nervtötenden Rock spielt und dann abschaltet. Und Fernsehen, da haben wir kaum einen vernünftigen Empfang – wegen der Berge, und weil jede vernünftige Kabelgesellschaft die Finger von uns läßt. Aber man kann sich ja immer noch eine Schüssel kaufen, um die Nachrichten mitzukriegen, und sich für den heimischen Videorecorder ein oder zwei Horrorstreifen leihen – oder einen über ein paar reiche Highschool-Kids, die miteinander rumvögeln.«

Fork verstummte, als sei er neugierig darauf, was seine einköpfige Zuhörerschaft zu sagen hatte. Vines nippte wieder an seiner Bloody Mary und sagte: »Das Paradies.«

Der Chief begrüßte die Bemerkung mit einem beifälligen Nicken, doch seine Zufriedenheit schwand, als er den Blick abschätzend durch die nahezu leere Lounge schweifen ließ. »Der Laden hier wird wahrscheinlich Konkurs anmelden, sobald der Sommer vorbei ist.«

»Das Hotel oder bloß die Bar?«

»Das Hotel. Wollen Sie’s kaufen?«

Vines ignorierte die Frage und stellte selbst eine: »Wie lange sind Sie schon Polizeichef?«

Ein Ausdruck, den Vines als bittersüße Nostalgie identifizierte, huschte über Forks Gesicht und stahl sich dann in seine Stimme, die beinahe verträumt klang. »68 waren wir vom Haight in San Francisco zu neunt in einem alten GM-Schulbus unterwegs, den wir irgendwie psychedelisch mit Leuchtfarben vollgepinselt hatten. Unser Ziel: Durango in Colorado. Das Haight war mittlerweile tot oder lag im Sterben, und wir wollten Richtung Rockies, den Kopf voller Acid, Dope, Politik und Gott weiß, was sonst noch. Sie erinnern sich bestimmt, wie es damals war.«

»Vage«, sagte Vines.

»Nun gut, Sir, ich sitze am Lenkrad, und unser Navigator entdeckt auf der Straßenkarte von der Tankstelle das kalifornische Durango. Es ist spät, alle sind müde, also biegen wir ab. Am nächsten Morgen, nachdem wir aufgestanden waren und sahen, wie prächtig das Wetter war, sind wir einfach geblieben. Ein paar von uns jedenfalls. Und vor zehn Jahren wurde ich zum Polizeichef bestellt, und der Navigator – nun, sie wurde zum Bürgermeister gewählt.«

»Eine Frau?«

»Mayor Barbara Diane Huckins«, sagte Fork, trank sein zweites Bier aus und schob das Glas mit der Miene eines Mannes von sich, der sein genaues Limit kennt. »Oder B. D. Huckins, wie sie sich jetzt nennt und wie sie alles unterschreibt, auch wenn ich ihr ständig sage, daß das umgekehrter Sexismus oder was Ähnliches ist.«

Fork hörte auf zu reden und starrte wieder sehnsüchtig auf den schwarzen Stock, der immer noch an der Bar hing. »Ich schwöre, ich muß das Ding einfach jemandem abkaufen, Mr Vines. Was, glauben Sie, könnte der Besitzer dafür verlangen?«

Vines formulierte seine Antwort mit Bedacht. »Ich bin nicht sicher, daß er Geld haben will.«

Fork wirkte überrascht. »Tatsächlich? Wie wär’s dann mit einem Tauschgeschäft?« Bevor Vines antworten konnte, kehrte Forks niedergeschlagener Blick zurück. »Das Problem ist, bis auf das Klima habe ich nicht viel anzubieten. Das Klima und jede Menge Abgeschiedenheit.«

Vines schien das Problem einige Sekunden lang zu überdenken.

»Davon hätte er vielleicht gerne etwas«, sagte er. »Abgeschiedenheit.«

»Ist er hier in der Stadt?«

»Nein, aber ich habe heute nachmittag vor, ihm bei der Suche nach einem stillen Plätzchen zu helfen, wo er ein paar Wochen bleiben kann. Vielleicht in Santa Barbara.« Vines lächelte. »Trotz des miserablen Klimas.«

Fork ließ den Blick durch die Bar wandern, als er eine Frage stellte, die erkennbar viel zu beiläufig klang: »Wie abgeschieden muß er es denn haben?«

»Äußerst.«

»Und wo, haben Sie gesagt, ist er jetzt?«

»Ich habe nichts gesagt. Aber es liegt nördlich von hier.«

Forks Blick stellte die Wanderschaft ein und heftete sich mit einem kühlen, wissenden Ausdruck auf Vines’ Gesicht. »Lompoc, vielleicht?«

Vines begegnete dem kalten Auge des Gesetzes mit einem indifferenten Blick seinerseits. Der stumme Austausch währte nur Sekunden, was eben lange genug war, um ein ungefähres Übereinkommen zu treffen, wenn schon nicht den Handel zu besiegeln. »Würde das eine Rolle spielen?« fragte Vines.

Der Chief ersetzte den kalten Blick durch ein warmes Willkommensgrinsen. »Teufel auch, Mr Vines, wir sind stolz darauf, die Hauptstadt des Leben-und-leben-Lassens der westlichen Hemisphäre zu sein, zumal eine solche Haltung nahezu alles ist, was wir zu bieten haben – außer dem bißchen Wetter.«

Fork zögerte kurz, bevor er fortfuhr, wie um sicherzugehen, daß seine nächste Frage so taktvoll und unaufdringlich wie möglich war. »In was für einer Branche war der Eigentümer dieses Stocks tätig, bevor er als Gast der Bundesregierung droben in Lompoc eingezogen ist? Wenn Sie nichts gegen die Frage einzuwenden haben.«

»Er war Richter.«

»Was für einer?«

»Vorsitzender Richter am Obersten Gericht eines Bundesstaates.«

»Nicht dieses Bundesstaates?«

»Wohl kaum.«

»Meinen Sie, der Richter könnte vielleicht seinen Spazierstock und ein kleines Extra gegen eine ganze Menge Abgeschiedenheit eintauschen mögen?«

»Er könnte.«

Fork legte den Kopf schief, als gebe ihm das einen besseren Blickwinkel auf Vines. »Und in welcher Branche sind Sie tätig, Mr Vines?«

»Ich bin Anwalt.«

»Welcher Zweig? Unternehmensrecht? Steuer? Strafsachen? Kraut und Rüben?«

»Zulassung entzogen«, sagte Kelly Vines.

Zwei

Während der Carter-Regierung war der Name Jack Adair knapp vier Jahre lang entweder die Nummer zwei oder drei auf einer angeblich geheimen Liste von fünf Namen gewesen, die im Weißen Haus geführt wurde. Sein Name und die Namen von drei weiteren Männern sowie einer Frau wären sofort ernsthaft in Betracht gezogen worden, sollte während der Amtszeit Jimmy Carters einer der neun Richter des Obersten Bundesgerichts in den Ruhestand treten oder tot umfallen.

Keiner tat dies, wie sich schließlich herausstellte, aber wäre es dazu gekommen, standen in Washington die Wetten drei zu zwei, daß Adair für die Besetzung der vakanten Stelle nominiert worden wäre. Allerdings offerierten dieselben politischen Buchmacher, die drei zu zwei auf Adairs Nominierung setzten, eine Fünf-zu-eins-Quote dagegen, daß er nach einer möglichen Nominierung vom Senat jemals bestätigt würde.

Die hohe Quote gegen Jack Adairs Bestätigung war nicht überraschend. Obschon eingestanden wurde, daß er clever genug sei, um im Obersten Bundesgericht zu sitzen – zu clever, meinten einige –, wurde ebenso eingestanden, daß er viel zu parteiisch und viel zu geistreich sei, und, was das Vernichtendste war, über einen ätzend scharfen Mund verfügte, der nie stillstand, wenn er sich für etwas interessierte oder einsetzte, was bei praktisch allem der Fall zu sein schien.

Sein wacher Verstand und sein noch wacherer Mund hatten Adair zum Liebling der Medien und zum Hätschelkind der Talkshows gemacht. Noch zehn Tage, bevor Anklage gegen ihn erhoben wurde, war er in der Phil-Donahue-Show aufgetreten und hatte eine deutlich überzogene Position (zum Teil bei Camus ausgeliehen) zur Todesstrafe bezogen, die in seinem Bundesstaat, wo fast alle annahmen, daß er es todernst meinte, einen politischen Feuersturm auslöste.

»Will er Mord durch Abschreckung verhindern«, hatte Adair in seinem gewichtigsten Richtertonfall und mit berechneter Mißachtung des Achten Verfassungszusatzes gesagt, »so muß der Staat mittels Exempel wirken, und es gibt keine wirkungsvollere Abschreckung als eine öffentliche Hinrichtung. Und zwar keine öffentliche Nullachtfünfzehn-Hinrichtung durch den Strang, Phil, sondern eine altmodische Vierteilung mit diesen großen, stämmigen Budweiser-Kaltblütern, die den Verurteilten zur besten Fernsehzeit auseinanderreißen, so etwa um acht Uhr abends, bevor die Kleinen ins Bett gesteckt werden.«

In dem Bundesstaat, dem Jack Adair einst als Vorsitzender Richter diente, hatte stets die Regel geherrscht, daß die Mitglieder des Obersten Gerichts für jede neue Amtszeit kandidieren mußten, genau wie der Gouverneur, die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften und praktisch jeder andere auf der Gehaltsliste des Staats bis hinunter zum Chef der Eichbehörde. Diese populistische Methode der Wahl eines Obersten Gerichts garantierte, daß es sich bei denen, die am Richtertisch saßen, um zungengewandte Rechtskundige von angenehmem Äußeren handelte, die zudem eifrig das Studium der Politik betrieben, wenn schon nicht das der Jurisprudenz.

Die häufig bizarren und stets aufwendigen Fernseh-, Rundfunk- und Zeitungskampagnen, die von Kandidaten für das Oberste Gericht geführt wurden, schadeten der ohnehin ramponierten Reputation des Staats, der in jüngster Zeit eine Reihe von Affären erlebte, an denen die beinahe immerwährenden Enthüllungen über Mauscheleien sowie aktive und passive Bestechung beträchtlichen Anteil hatten. Zu den weiteren Stigmata zählten die gedopten und überbezahlten Football-Teams der Staatsuniversität, eine akute Seuche von Bank- und Sparkassenkonkursen, gegen die kein Kraut gewachsen schien, und – auf anderer Ebene – die alljährliche, aus Steuergeldern finanzierte Panhandle-Klapperschlangen-Einkesselung, ein hochgeschätztes Kulturereignis, gegen das Umwelt- und Tierschützer zum Entzücken der Medien beinahe jedes Jahr großes Protestgeschrei anstimmten und bei dem im Durchschnitt 29,2 Personen Schlangenbisse erlitten, welche in 9,7 Prozent der Fälle tödlich verliefen.

Die äußerste Blamage des Bundesstaats war jedoch sein Oberster Richter, Jack Adair, gewesen. Als der Adair-Skandal (oder L’Affaire Adair, wie einige Zuwanderer aus dem Osten ihn nannten) sich endlos dahinzog, fiel so mancher fromme Christ auf die Knie und betete zu Gott, er möge dem guten Jack den Fahrschein für die Heimreise schicken und, o Herr, wenn es nicht zuviel der Mühe macht, vielleicht ein paar der rotzigen Fernseh- und Zeitungsreporter von außerhalb gleich mitnehmen.

Doch genau wie ungetreue Liebhaber überließ die veröffentlichte Meinung Jack Adair schließlich seinem Schicksal, sehr zur Erleichterung derjenigen Staatsbürger, die den Medien – zu Recht – die Schuld an seinem schwindelerregenden Aufstieg zu einer Berühmtheit und – zu Unrecht – auch daran gegeben hatten, daß er dort war, wo er sich um 7.05 Uhr an jenem letzten Freitag im Juni befand, nämlich im Duschraum der Entlassungszone des US-Hochsicherheitsgefängnisses am Rande von Lompoc, Kalifornien.

Lompoc, eine Stadt aus lauter rechten Winkeln und in einem milden Küstental gelegen, befindet sich zehn Meilen östlich des Pazifiks wie auch des Luftwaffenstützpunkts Vandenberg und einige Meilen südöstlich des Bundesgefängnisses. Mit einer Bevölkerung von 26267 nach letzter Zählung, liegt Lompoc außerdem 147 Meilen nördlich von Los Angeles, 187 Meilen südlich von San Francisco und nur 26 Meilen nordöstlich von Durango, Kalifornien, der Stadt, die von Gott vergessen wurde.

In Lompoc, der »Blumensamenhauptstadt der Welt«, sind viele Straßen nach Tulpe, Salbei, Rose und so weiter benannt. Viele von ihnen treffen rechtwinklig auf Straßen, die üblicherweise numeriert oder mit Buchstaben des Alphabets benannt sind. Die Avenues jedoch wurden offenkundig nach dem benannt, was gerade sichtbar oder praktisch war. Verurteilte Straftäter, beispielsweise, werden nach Westen über die Ocean Avenue gefahren, dann rund sechs Meilen nördlich über die Floradale Avenue zum Bundesgefängnis, wo – an jenem letzten Freitag im Juni – im Duschraum heißes Wasser auf Jack Adairs Rücken prasselte. Der Raum enthielt vier Duschen auf der einen und vier auf der anderen Seite und war an beiden Enden offen.

Direkt neben der Entlassungszone des Gefängnisses gelegen, standen die Duschen Inhaftierten zur Verfügung, die ihre Strafe abgesessen hatten oder auf Bewährung entlassen wurden. Die meisten nahmen gewöhnlich eine Dusche, bevor sie in ihre neue Zivilkleidung wechselten, die entweder von J. C. Penney’s oder von Sears stammte und von der Haftanstalt kostenlos zur Verfügung gestellt wurde.

Als Jack Adair fünfzehn Monate vorher seine Strafe angetreten hatte, konnte er wegen der 245 Pfund, die sein ein Meter neunundsiebzig großer Körper mit sich herumschleppte, im Adamskostüm an sich hinunterblicken, ohne seine Zehen oder seinen Penis zu sehen. Der größte Teil seines überschüssigen Fetts hatte sich um die Körpermitte herum angesammelt und den Sechsundvierzig-Zoll-Taillenumfang geschaffen, der ihm die Sicht versperrte.

Doch als der heiße Strahl jetzt auf seinen Rücken und Nacken trommelte, konnte er – wenn er wollte – nach unten schauen und einen flachen Vierunddreißig-Zoll-Bauch, zehn ganz normale Zehen und eine primärgeschlechtliche Ausstattung begutachten, welche, wie ihm flüchtige Vergleichsblicke während der letzten fünf Monate bestätigt hatten, immer noch von durchschnittlicher Größe und Form war.

Er seifte sich gerade zwischen den Beinen ein, als sie in den Duschraum schlüpften. Beide waren vollständig bekleidet, auch wenn der Kleinere des Duos bereits dabei war, seinen Hosenschlitz zu öffnen. In der linken Hand des Größeren lag ein Messer mit einer Klinge, die aus einem Metallöffel geformt war, und einem Griff aus dem geschmolzenen Kunststoff von sieben Zahnbürsten.

Der Kleinere, der fälschlicherweise von sich behauptete, Mitglied der mexikanischen Mafia zu sein, wurde von allen Loco – Schwachkopf – genannt, weil er gern Glühbirnen aß, um ins Gefängnishospital verlegt zu werden, wo er manchmal Opiumtinktur oder sogar Morphium stehlen konnte. Sein richtiger Name war Fortunato Ruiz, und er saß zwölf Jahre wegen Autodiebstahls und Angriffs auf einen Bundesbeamten mittels einer tödlichen Waffe ab. Die Waffe war ein Mercedes-Kabriolett gewesen und der Bundesbeamte ein FBI-Agent, der der berechtigten Annahme nachging, daß der Wagen gestohlen war.

»Hey, Richterchen«, rief Ruiz in seinem merkwürdig lieblichen Tenor. »Du und ich und Bobby, wir feiern jetzt eine richtig schöne Abschiedsparty, ja?«

Bobby war Robert Dupree, der Mann mit dem Messer, und von Beruf ebenfalls Autodieb, der sich auf Peterbilts spezialisiert hatte. Er hatte die Sattelschlepper gern in seinem Heimatstaat Arkansas gestohlen und sie entweder in Texas oder in Missouri verkauft. Dupree selbst hatte das Gerücht verbreitet, daß er nicht eine, sondern zwei verborgene Waffen bei sich trug, von denen die erste das Messer war; die zweite war Aids.

Jetzt bewegte sich das Messer in langsamen, engen Kreisen, als Dupree grinsend in Adairs Richtung nickte. »Gönnen wir uns ’ne richtig hübsche Freudendusche, was, Richter?«

Adair ließ die Seife fallen und wich, seine Geschlechtsteile mit beiden Händen bedeckend, an die Wand zurück. Auch er setzte sein süßlichstes Lächeln auf, im Glauben, es sei die Standardtarnung für Feigheit und Angst. »Danke, Jungs, aber ich habe wirklich nicht die Zeit dafür.«

»Kostet praktisch kaum Zeit«, sagte Dupree, der mit drei raschen Schritten bei Adair war und ihm die Messerspitze an die Kehle drückte, wo einst ein Dreifachkinn gewabbelt hatte.

Adair pfiff. Kein melodisches Pfeifen mit geschürzten Lippen, sondern der durchdringende, taxistoppende Pfiff, den hübsche junge New Yorkerinnen an Regentagen in der Rushhour häufig von sich geben – oder nicht tot zu kriegende Aktivisten bei politischen Zusammenkünften, die immer noch glauben, sie könnten eine längst gestorbene Angelegenheit wieder aufwärmen. Aus einem Häuserblock Entfernung kann ein solcher Pfiff ein Kind oder einen einigermaßen aufgeweckten Hund herbeirufen, oder – in Jack Adairs Fall – einen Retter.

Er schien in den Duschraum zu fließen, obwohl nichts außer Quecksilber so schnell fließt. Er hatte die Farbe von Milchkaffee (mit wenig Milch) und maß aufrecht stehend einen Meter vierundneunzig, doch jetzt beugte er sich nach vorn, als er einen Schritt nach rechts antäuschte, sich nach links bewegte und beide Hände benutzte, um Bobby Duprees rechtes Handgelenk – die Messerhand – zu packen und es wie trockenes Reisig über seinem hochgezogenen rechten Knie zu brechen.

Das Messer fiel zu Boden. Bobby Dupree, das gebrochene Handgelenk umklammernd, sank schluchzend daneben zusammen. Der Mann mit der Hautfarbe von Milchkaffee trat das Messer zur Seite und wandte sich Loco, dem Glühbirnenesser zu, dessen rechte Hand in seinem offenen Hosenschlitz festzustecken schien, wo er mit sich selbst gespielt hatte.

»Hol dir woanders einen runter, Süße!« sagte der Mann.

Loco wich zum Ausgang des Duschraums zurück. Plötzlich schien ihm einzufallen, wo seine rechte Hand sich befand. Er riß sie aus dem Hosenschlitz, als habe er sich verbrüht, hauchte Jack Adair einen schmatzenden Kuß zu und sagte zu dem Mann, der Bobby Duprees Handgelenk gebrochen hatte: »Fick dich ins Knie, du irrer Bock.« Dann drehte Loco sich um und hüpfte wie ein Kind aus dem Duschraum.

»Gehen wir, Jack«, sagte der Retter. Er hieß Blessing Nelson, wog knapp unter achtundneunzig Kilo und hatte einen nach Stanford-Binet gemessenen IQ von 142, der – wie Adair ihm versichert hatte – nur acht Punkte unterhalb der Geniegrenze lag.

»Unter Einsatz einfacher körperlicher Gewalt«, sagte Adair ohne die Spur eines Lächelns, »hast du gerade das Ende meiner möglicherweise letzten Romanze übers Knie gebrochen – wofür ich, selbstredend, verdammt dankbar bin.«

Staunend schüttelte Blessing Nelson den Kopf. »Dein Mund kennt wohl weder Ruhe noch Reparaturen, was? Redet einfach immer weiter, Tag und Nacht.«

»Was ist mit ihm?« fragte Adair und wies mit einem Nicken zu dem immer noch knienden, immer noch wimmernden Bobby Dupree.

»Das Arschloch!«

»Da wir schon wieder bei Romanze sind: Die beiden werden versuchen, dir die Eier zu schleifen«, sagte der ehemalige Vorsitzende Richter und fragte sich zugleich, ob seine Sprache jemals von ihrer langwährenden Fahnenflucht zurückkehren würde.

»Loco vielleicht«, sagte Nelson, »weil er total beknackt ist. Aber der gute alte Bobby wird gar nichts versuchen.« Er trat Dupree in den Magen. Der harte Tritt raubte Dupree den Atem und verwandelte sein Wimmern in keuchendes Schluchzen. »Wieviel, Bobby?« fragte Nelson.

Dupree schüttelte bloß den Kopf und schluchzte und keuchte weiter, bis Nelson erneut mit dem Fuß ausholte. Jetzt drehte Dupree den Kopf, bis er zu Nelson hochblicken konnte. »Zwanzig«, ächzte er zwischen Schluchzen und Keuchen.

»Zwanzigtausend«, sagte Adair, und es klang fast so, als freue er sich über das Preisschildchen, das man an sein Leben gehängt hatte.

Blessing Nelsons langer, kalkulierender Blick trieb den Preis nach unten. »Ein Scheiß, Jack. Hätte mir jemand die Hälfte davon in echtem Gold geboten, wärst du längst hinüber.«

»Trotz allem, was wir uns bedeutet haben«, entgegnete Adair mit einem halb spöttischen Lächeln.

Nelson nickte. »Trotz allem.«

Bevor er verhaftet, angeklagt und nach dem üblichen Kuhhandel zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu vier Jahren in einem Bundesgefängnis verurteilt worden war, hatte der 29jährige Blessing Nelson (nach seiner geheimen Zählung) vierunddreißig Banken und neunzehn Sparkassen ausgeraubt, acht von ihnen zweimal; alle lagen im San Fernando Valley in Los Angeles und keine weiter als 180 Sekunden im gestohlenen Fluchtwagen vom Ventura Freeway oder dem San Diego Freeway entfernt, seinen beiden bevorzugten Fluchtrouten.

Auf Anraten eines alternden Diebes, den er als junger Anwalt zweimal verteidigt hatte, hatte Adair sich Blessing Nelsons Dienste versichert. Der alte Dieb, Harry Means, hatte dreiundzwanzig seiner zweiundsiebzig Lebensjahre hinter Gittern verbracht und seine letzte Zelle erst siebzehn Monate hinter sich, als Adair – keine zehn Tage vor seiner eigenen Einkerkerung in Lompoc – ihn anrief, um seine Ratschläge fürs Überleben in einem Gefängnis einzuholen.

»Wollen Sie’s unverblümt und ohne Drumherum, Jack?«

»Allerdings, Harry.«

»Nun gut. Suchen Sie sich den größten und übelsten Nigger aus, den Sie finden können, hüpfen ihm auf den Arm und sagen ihm: ›Schätzchen, ich gehör’ dir.‹« Und dann hatte der alte Exganove fröhlich gegackert und aufgelegt.

Adair hatte den Ratschlag mehr oder weniger befolgt und sich Blessing Nelsons Dienste als Beschützer und Trainer in Sachen Körperertüchtigung für 500 Dollar pro Monat anstelle sexueller Gunstbezeugungen gesichert. Und da er die Haftanstalt lebend, ohne vergewaltigt worden zu sein, neununddreißig Kilogramm leichter und bei relativ guter Gesundheit verließ, betrachtete Adair das ausgegebene Geld als äußerst kluge Investition.

 

In dem kleinen Spiegel- und türlosen Umkleideraum in der Entlassungszone sah Blessing Nelson zu, wie Adair sich anzog. Nachdem er die Zipfel eines langärmligen J.-C.-Penney’s Hemds in eine graue Wash-and-wear-Hose mit Sechsunddreißig-Zoll-Bund gesteckt hatte, hielt Adair den Hosenbund ein Stück von seiner Vierunddreißig-Zoll-Taille weg und sagte: »Verblüffend, was eine vernünftige Diät bewirken kann.«

»Was hundert Bauchmuskelübungen am Tag bewirken«, sagte Blessing Nelson.

»Ja, sicher, das auch.«

Adair nahm eine rot und orange gemusterte Krawatte, bedachte sie mit einer kurzen Grimasse, zog sie unter den Hemdkragen und sagte: »Ich lasse deine Mutter wissen, wo ich mich aufhalte.«

»Viel lieber als eine Nachricht wär’s meiner Mutter, wenn du ihr weiter die fünfhundert Dollar im Monat schickst.«

Adair streifte eine kurze hellbraune Regenjacke über, die ihn an die alten Tankwartjacken erinnerte, und sah sich nach einem Spiegel um, obwohl er wußte, daß es keinen gab.

»Kann ich mir nicht mehr leisten, Blessing«, sagte er und ließ es wie echtes Bedauern klingen. »Aber ich bin dir dankbar. Sehr sogar. Ohne dich würde ich hier mit einem verkorksten Gehirn und einer Vertriebskonzession für Aids rauskommen. Statt dessen komme ich unbefleckt und in einem gewissen Sinn des Worts jungfräulich nach draußen – wenn man von dem unerfreulichen Erlebnis mit Onkel Ralph absieht, als ich sechs war und er ... dreißig? Zweiunddreißig?«

Verdruß, der an Verärgerung grenzte, machte sich auf Blessing Nelsons beinahe zu regelmäßigen Gesichtszügen breit und gab sich keine Mühe, wieder zu verschwinden. Während der letzten fünfzehn Monate war es Adair mindestens zweimal, manchmal dreimal am Tag gelungen, diesen Gesichtsausdruck hervorzurufen. Zwar war er inzwischen an Nelsons Verzweiflungsanfälle gewöhnt, wußte aber immer noch nicht vorherzusagen, was einen auslösen konnte.

»Können wir jetzt endlich hier raus?« drängte Nelson.

»Was ist nächsten Monat, wenn du rauskommst?«

»Nächsten Monat wirst du sagen: ›Blessing? Was für ein Blessing?‹«

Adair bestritt den Vorwurf mit einem feierlichen Kopfschütteln. »Ich vergesse meine Freunde ebensowenig, Blessing, wie meine Feinde.«

»Du hast zu viele von der einen und zu wenige von der anderen Sorte, und es ist nicht schwer auszurechnen, auf welcher Seite du knapp bist. Also, vielleicht guck’ ich bei dir vorbei, vielleicht aber auch nicht. Aber jetzt laß uns gehen!« Er nahm Adairs linken Arm und steuerte ihn aus dem Ankleideraum hinaus, fast genau in die Arme eines Wärters, der sein Haar gelb färbte und dessen linkes blaues Auge wie gefroren aussah.

»Du!« sagte er und starrte Blessing Nelson mit seinem guten Auge an. »Einschlußanordnung.«

»Hab’n Passierschein.«

»Hattest ’n Passierschein. Jetzt kriegst du das Loch.« Der Wärter wandte sich mit liebevoller Rachsucht Adair zu: »Und was Sie betrifft, Herr Vorsitzender Richter, nun, Ihnen steht eine Extrafreude bevor.«