Alles zu Fuß
Aufbrechen. Grenzen überschreiten.
Ein Reiselesebuch
Freddy Langer
Ellert & Richter Verlag
Vorwort
Woher kommen wir, wozu gehen wir?
Selten ist der Weg auf einen Gipfel ein Spaziergang. Tapfer läuft man los und läuft und läuft, und am Ende muss man vielleicht sogar klettern, balanciert auf kleinen Vorsprüngen und zieht sich mal hier, mal dort in die Höhe. Das Panorama, denkt man, wird reichlich Belohnung sein für die Anstrengung. Doch oben sieht man dann zunächst nur ein Gewusel von Menschen, die Würstchen essen, Bier trinken – und frech den nach Atem ringenden Wanderer fragen, ob ihm das Geld für die Bergbahn fehle.
Nie, denkt man hochmütig, würden diese Menschen die Erfahrungen wahrer Wanderer machen: die Freuden der Mühsal, die Freiheit größenwahnsinniger Gedanken im Aufstieg und jenen Genuss der Natur, den nur empfindet, wer sich zuvor geschunden hat. „Wer geht“, würde man ihnen am liebsten mit Johann Gottfried Seume zurufen, „sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt“. Und wenn sie dann verständnislos ihre Köpfe schüttelten, würde man nachsetzen mit einem philosophischen Diskurs, in dessen Verlauf das Auf und Ab der Wanderung zu den Höhen und Tiefen des Lebens würde und der Wanderweg zum Symbol für das Leben selbst. Man würde die Metaphysik bemühen, obwohl es beim Laufen doch nur um die Überwindung der Schwerkraft geht, und ganz am Ende Friedrich Nietzsche zitieren: „Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer.“ Über die Blasen an der Ferse verlöre man kein Wort.
Aber bald beginnen Zweifel zu nagen. Während man nun selbst für ein Bier ansteht, gehen einem ganz schnell die Argumente aus, weshalb eine anstrengende Wanderung für die Landschaft empfänglicher machen soll als die bequeme Anfahrt mit der Bahn. Spricht man nicht heute vielleicht ganz zu recht von „erfahrenen“ Menschen, die früher, wie uns der Duden lehrt, als „bewandert“ galten? Denn vor der wunderbaren Kulisse schier endloser Gipfellinien fällt uns dann oft auch nichts Gescheiteres ein zu sagen als ausgerechnet: „Wie gemalt!“
Soviel Pathos! Soviel Lakonie! Und alles bloß, weil ein Mensch einen Fuß vor den anderen setzt – die natürlichste Bewegung der Welt. Von jeher ist der Mensch gewandert, ob er nun vor Millionen von Jahren als Australopithecine durch die Savanne streifte auf der Suche nach Nahrung, oder ob er etliche Generationen später sein Ränzlein schnürte und sich als Homo erectus auf den Weg machte, die anderen Kontinente zu besuchen, vermutlich einen Stock in der Hand, vielleicht sogar eine Melodie auf den Lippen. Dann und wann machte er Halt. Manche seiner Gruppe blieben zurück, andere zogen weiter. Und die Evolution gab sich alle Mühe, ihnen das Laufen durch stete Überarbeitung der Anatomie mit jeder Generation noch ein wenig einfacher zu machen.
Der Mensch ging, um Nahrung zu finden. Er ging, um Handel zu treiben. Er ging, um sich neuen Raum zu schaffen. Eines konnte deshalb nicht ausbleiben: Wo immer der Mensch hinkam, verwandelte er die Wildnis in Zivilisation. Zunächst legte er Wege an, später baute er Straßen und errichtete Häuser, und zu guter letzt erfand er das Sofa. Einmal in dessen weichem Polster versunken, vergaß der Mensch, woher er kommt und wozu er geht. Er verlernte das Wandern und verlor den Kontakt zur Natur.
Erst als zweckfreie Bewegung hat er es eines Tages wiederentdeckt, oder bestenfalls mit dem Zweck, die eigene kleine Welt zu vergessen, indem er in die fremde große Welt hinaus schreitet. Das hatte anfangs mitunter sogar politische Gründe, als romantisch gesinnte Wanderer mit ihren Touren der Einengung durch Staat und Gesellschaft zu entkommen versuchten. Aber man kann heute auch umgekehrt argumentieren: dass nämlich der Mensch beim Wandern die große, ihm multimedial stets vor Augen stehende Welt hinter sich lässt, um im kleinen überschaubaren Raum wieder zu sich zu finden. Erzählen nicht gerade Wanderer gern, wie sehr sie sich an den unscheinbaren Dingen erfreuen? Hier an einer Blume, dort an einem besonders schön gefärbten Blatt, am Rascheln des Laubs unter den Füßen und dem Murmeln eines Bachs entlang des Wegs. Der Wanderer lauscht den Vögeln und den Insekten, bis ihm das Zirpen der Grillen wie Sphärenklänge in den Ohren hallt – und manchmal lauscht er sogar begeistert dem eigenen Atem.
Das ist das beschauliche Wandern, das gemütliche Gehen, dessen Rhythmus im Idealfall eins wird mit dem Puls der Natur, so dass man meint aufzugehen in der Landschaft. Das führt zu einer geradezu reinigenden Klarheit im Kopf. „Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen los würde“, schrieb der dänische Philosoph Sören Kierkegaard. Der Kopf wird frei, der Geist wird leicht, und mit jedem Schritt geht einem das Herz noch ein bisschen weiter auf. Im Begriff der Entschleunigung hat diese Erfahrung sogar ein modisches Etikett erhalten.
Aber manchmal drängt es den Menschen danach, Gas zu geben, gerade in der Natur, weshalb ihm die Wildnis seit vielen Generationen auch als Abenteuerspielplatz dient. Dann wird die vermeintliche Freiheit, aufzubrechen, wohin man will, zu einem physisch wie psychisch anstrengenden Gang bis an die Grenzen der Qual, bei dem sich jeder Muskel und jeder Nerv lautstark zu Wort meldet und im Kopf kein Raum mehr bleibt für Erkenntnisse oder gar Erleuchtung. Die einzigen Gedanken, die neben der Konzentration auf das Ziel noch möglich sind, gelten dem Schmerz; doch darüber schwebt ein Gefühl von Allmächtigkeit. Aufbrechen, Ausbrechen, Grenzen überschreiten, ist das Credo derer, denen kein Berg zu hoch, keine Wüste zu weit und keine Schlucht zu tief sein kann, um das Leben, wie sie sagen, in seiner intensivsten Form zu empfinden.
In der Kälte zu laufen ist keine wirkliche Herausforderung. Man zieht sich einfach vernünftig an.
Das Tun solcher Abenteurer, der Grenzgänger, wie sie selbst sich nennen, erklären nicht länger Philosophen und Schriftsteller, sondern Wissenschaftler. Biochemiker verweisen auf eine spezielle Form des Gens D4DR, die dem Menschen die Anlage zum Abenteurer förmlich in den Körper lege. Soziologen haben ihre eigene Theorie: Sie verweisen auf das Streben des bürgerlichen Menschen nach Individualität und Abgrenzung von der Masse. Und die Psychologen? Sie nennen die Grenzüberschreitung einen Archetypus, der von Kindheit an, wenn die unmittelbare Umgebung erforscht und die eigenen beschränkten Möglichkeiten erprobt werden, ein Leben lang weiterwirke und dafür sorge, dass der Mensch nie und nimmer zur Ruhe komme – und heben den Mangel an Gelegenheiten hervor, sich in einer scheinbar gefahrlosen Welt noch zu bestätigen. Extremerfahrung bezeichnen sie als Flucht vor dem Versicherungsvertreter. Seit freilich sogar die Volksbanken den Wunsch nach einem ungebändigtem Leben als Trend begriffen haben und ihren Kunden noch in den unwegsamsten Regionen den Weg freizumachen versprechen, glaubt auch mancher Normalurlauber, dass es kein Hindernis mehr gebe, das nicht zu überwinden sei. Von diesem Glauben lebt mittlerweile eine ganze Industrie.
In der Hitze zu laufen macht weniger Spaß. Aber die Dünenkämme sind jeden schweißtreibenden Schritt wert.
Genau betrachtet aber führt das Abenteuer nur vordergründig aus einem geordneten Leben hinaus in ein wildes Chaos. In Wahrheit setzt es einem allenfalls noch schwer verständlichen Alltag eine strenge Logik entgegen. Kaum sonst etwas in unserer Welt ist so überschaubar wie die Besteigung eines Bergs. Nirgendwo sonst lässt sich ein Ziel so umweglos beschreiben: Hier das Tal, in dem die Tour beginnt; dort der Gipfel, auf dem man stehen möchte – dazwischen der Pfad, oft genug markiert. Die Menschheitsfrage „Wo bin ich“, ist dann nur noch topographisch gemeint, als Bestimmung im Verhältnis zum Endpunkt der Tour. Dem Fluchtpunkt?
Natürlich ist der Weg hin zu einem Ziel zugleich auch immer ein Weg fort von einem Ort. Darin gleichen sich die beschauliche Wanderung durch das liebliche Tal eines Mittelgebirges und die riskante Tour auf einen sturmumtosten Gipfel. Doch gibt es eine weitere, viel zu selten erwähnte Klammer zwischen der Entspannung in der Natur und der Anspannung im Kampf gegen die Wildnis: die Neugierde.
Das ist die Sache mit dem Gras auf der anderen Seite des Bergs. Ob es wirklich grüner ist, muss festgestellt werden; auch wenn das Ergebnis dieser Untersuchung letztlich kaum eine Rolle spielt. Aber jeder Reisende weiß, dass selbst die ernüchterndsten Erkenntnisse unterwegs wunderbare Erinnerungen nicht verhindern können. Und sie dämpfen auch nicht das Verlangen, verreisen zu wollen – immer wieder los laufen zu wollen. Am liebsten freilich zu Ecken der Welt, die man überhaupt nur zu Fuß erreichen kann.
Von solchen Orten erzählen die Beiträge dieses Buchs. Es sind Schilderungen kleiner Touren durch deutsche Mittelgebirge, etwa in den Fußstapfen der wandernden Künstler der Romantik – ganz in der Hoffnung, deren Motive in der freien Landschaft wiederzufinden; aber auch mit dem viel unbestimmteren Ziel, die Festplatte im Hirn ein wenig zu säubern, wozu der deutsche Wald mit seinen gut markierten Wegen nicht das schlechteste Terrain ist. Tagelang kann man dort vor sich hin gehen und nichts zu suchen im Sinn haben. Aber immer wird die eine oder andere Entdeckung einem genau die Anregung geben, der es bedarf, um zu Entspannen. Und stets wartet in irgendeiner Pension ein frisch bezogenes Bett, nur sehr selten allerdings noch mit einem rotweiß kariertem Bezug.
Es finden sich in diesem Buch aber auch Schilderungen aufwendiger Expeditionen, für die es nötig war, die gesamte Ausrüstung samt Proviant für zwei Wochen auf dem Rücken durch unwegsames Gelände zu tragen, was selbst mit dem teuersten und laut Verkäufer zugleich bequemsten Rucksack kein wirkliches Vergnügen war, oder ihn auf einem Schlitten über das gefrorene Polarmeer zu ziehen. Da war die Neugierde ebenso auf die wilde, ferne Gegend gerichtet wie darauf, was im Kopf passieren und wie der Körper reagieren wird. Die Erkenntnis, dass einem bei solchen Touren die Aphorismen keineswegs ganz von alleine zu fliegen, war bei diesen Touren die größte Enttäuschung. Genaugenommen auch die einzige.
Und manche Beiträge sind Menschen gewidmet, die das Gehen zu ihrem Lebensinhalt gemacht haben. Einer Hochleistungssportlerin, die um die Welt gelaufen ist. Einem Künstler, der aus dem Gehen Inspiration schöpft für seine Werke. Abenteurern, die im Alleingang Wüsten aus Eis und Wüsten aus Sand durchquert haben. Und Johann Gottfried Seume, mit dessen Buch „Spaziergang nach Syrakus“ in der Tasche ich durch Upstate New York nach Syracuse gelaufen bin. Dass vieles besser ging, wenn die Menschen nur mehr gingen, glaubte ebendieser Johann Gottfried Seume. Ich glaube das auch.
Irrläufer
Bergsteigen in der Algarve
Da standen wir also. Mitten im Gestrüpp. Vor uns die Böschung, darüber eine Piste aus festgefahrenem Lehm, vom Waldweg keine Spur mehr. Wir hatten wohl etwas falsch gemacht. Doch wo? „Der Weg schwenkt nach links (17 Minuten) und teilt sich kurz danach“, hieß es im Wanderführer. „Rechts halten, um nach weniger als einer Minute auf einen breiten, befestigten Weg zu treffen: nach links biegen. Gleich darauf rechts einen holprigen Weg einbiegen. Nach einer Minute den Pfad nehmen, der links abzweigt (19 Minuten). Der stetige Aufstieg führt durch schattige Wälder, nach 22 Minuten gelangen wir auf einen weiteren Weg und biegen nach rechts.“ Wir waren bergauf gestiegen; der Pfad hatte durch schattige Wälder geführt. Soweit traf die Beschreibung zu. Sogar der Duft von Pinien und Eukalyptus mischte sich, wie die Autoren des kleinen Bändchens es versprachen. Aber was half uns das? Waren die zwei Quadratmeter Pflaster, die überraschend an einer Gabelung lagen, der „befestigte Weg“ gewesen? „Holprig“ waren sie alle. Wir lasen den Text wieder und wieder, standen herum und vertrödelten unsere Zeit. Dreißig Minuten waren wir jetzt unterwegs. Wie sollten wir „am nächsten Weg nach links biegen“, wenn wir als einzige Erkennungszeichen von ihm wussten, dass wir „über einen weichen Laubteppich schreiten“ und ihn in der 27. Minute erreichen würden?
Wir hätten zurückgehen sollen zu dem letzten Punkt, der sich noch identifizieren ließ, hätten unsere Uhr zurückstellen sollen, wie wir es schon einmal gemacht hatten, um mit den Zeitangaben nicht allzu sehr durcheinanderzugeraten, und den Marsch auf die Foia, den mit 902 Metern höchsten Berg der Algarve, von neuem beginnen. Da näherte sich auf der Piste ein Postwagen. „Zur Foia?“ Der freundliche Herr hinter dem Lenkrad schüttelte den Kopf. „Wieso fahren Sie nicht mit dem Wagen? Es gibt eine neue Straße auf den Gipfel. Schön. Breit. Sehr angenehm – auch für Fußgänger.“ Den Weg, den wir gewählt hatten, nannte er nicht nur anstrengend und beschwerlich, sondern gleich „ruinös“, aber wie alle Portugiesen verniedlichte er jedes Wort, sprach von Wägelchen, Sträßchen, Gipfelchen. Dann zeigte er wenigstens die Richtung an, in der wir uns halten mussten, wirbelte eine Staubwolke auf und brauste davon.
Wir hatten den Betonburgen entkommen wollen, die das Bild der Küstenlandschaft prägen, hatten schon wenige Kilometer im Landesinnern erst in Silves, dann in Monchique Städtchen gefunden, die mit ihrem wirren Netz enger, kopfsteingepflasterter Gassen das Gefühl vermittelten, in eine fremde, verschlossene Welt einzudringen – aber nun waren wir in einer Wildnis gelandet, die von kaum jemandem bewohnt schien außer von herumstreunenden, kläffenden Hunden und einer alten Bäuerin, die uns auf ihrem Esel entgegengeritten kam. „Foia? Einfach den Berg hinauf, irgendwann sehen Sie den Gipfel.“
Wir sahen nichts, nur Bäume und Gestrüpp, durch das wir uns den Weg bahnten in der Hoffnung, wieder auf den „Wanderpfad“ zu kommen. Optimistisch blätterten wir in unserem Führer. „Ein kurzer, steiler Abstieg führt uns auf den Hauptweg hinunter; drei Minuten später erreichen wir eine Rechtsabbiegung. Wir gehen links weiter und kreuzen einen Bach.“ Aber es gab keinen Bach, es gab keinen Hauptweg, und bergab wollten wir schon gar nicht gehen. „Das Sonnenlicht fällt durch das Blätterdach der Eukalyptusbäume und erzeugt auf dem Boden ein Spiel aus Licht und Schatten.“ Wenigstens das stimmte. Und dann tauchte in der Ferne auch ein kleiner Hof auf. „In einer erneuten scharfen Rechtskurve steht links ein Bauernhaus“, lasen wir zufrieden und eilten froh darauf zu. Da nahm der Feldweg unvermittelt eine scharfe Kurve nach links. Das Haus lag rechts. Es war zum Verzweifeln. Sollten wir uns gar Sorgen machen? „Kompass, Trillerpfeife und Taschenlampe wiegen wenig“, stand in den „Verhaltensregeln für Wanderer“ des kleinen Büchleins, „können aber Leben retten.“ Wir hatten nichts davon dabei.
Längst waren eine Stunde und achtzehn Minuten vergangen: Wir hätten bereits auf dem Gipfel stehen müssen. Stattdessen suchten wir noch immer nach dem Aufstieg, wenigstens zu jenem Schäfer, der weit oben am Hang seine Tiere hütete. Mit einem zahnlosen Grinsen lachte er uns an, als wir es geschafft hatten. „Ach, die Leute aus dem Tal“, nickte er. Eine halbe Stunde lang habe er uns schon dabei beobachtet, wie wir im Zickzackkurs und im Kreis durch das Labyrinth des Gestrüpps marschiert seien, und holte dabei aus zu großen Gesten. Zum Gipfel sei es nicht mehr weit.
Ein paar Minuten später sahen wir tatsächlich den Wald von Antennen und Sendeanlagen, mit dem das Plateau bepflanzt ist. „Man genießt einen herrlichen Panoramablick“, lasen wir in unserem Büchlein, blickten kurz in den Dunst, der über der Landschaft lag, und kehrten – endlich konnten wir einmal dem Wanderführer folgen – ein in dem postmodernen Restaurant.
„Nach einer Erfrischung gehen wir den gleichen Weg zurück“, empfahlen die Autoren. Da freilich beschlichen uns Zweifel. „Zunächst vom Parkplatz zur nächstgelegenen Antennenanlage gehen, um den Weg nach links zu finden.“ Es gibt mehrere Parkplätze, es gibt mehrere Antennenanlagen. Vorsichtshalber fragten wir den Wirt; doch der kannte keinen Wanderweg. „Nehmen Sie doch die neue Straße“, sagte er. „Sie ist schön und breit. Sehr angenehm – auch für Fußgänger.“
Ein Spaziergang nach Syracuse
Mit Seume durch Upstate New York
Der „Spaziergang nach Syrakus“, den Johann Gottfried Seume im Jahr 1802 unternahm, führte den Dichter von Leipzig über Prag und Wien, Rom und Neapel nach Sizilien und von dort über Mailand und Paris zurück nach Hause. Neun Monate war er unterwegs. Sein Buch mit gleichem Titel erschien 1803 und machte ihn berühmt. Ihm sind etliche Passagen für diesen Text entnommen, ohne dass sie gekennzeichnet wurden. Sie zeigen, dass die Erfahrungen des Reisens über Kontinente und Epochen hinweg einander gleichen, man muss nur die Namen und Ereignisse austauschen. Die Wanderung von Rome nach Syracuse im amerikanischen Bundesstaat New York hat drei Tage gedauert.
Vorige Woche machte ich den Gang, den ich hier erzähle.
Rome
Ich schnallte in Rome meinen Tornister, und wir gingen. Dabei gab die Karawane guter gemütlicher Leutchen des Orts keineswegs mir Geleite; im Gegenteil. Ich begleitete sie – über die Aschenbahn eines Sportplatzes. Wir liefen also im Kreis. Ich für ein paar Minuten nur, ehe die wirkliche Reise beginnen würde, sie hingegen, zu Hunderten und Aberhunderten, vierundzwanzig Stunden lang.
Sie taten es für einen guten Zweck, und man hätte sich nicht wundern müssen, hätte auf ihren T-Shirts gestanden, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Stattdessen war darauf „Relay for Life“ zu lesen: Staffellauf fürs Leben. Das ist der Titel einer Aktion der American Cancer Society, mit der Geld für die Krebsforschung und -behandlung gesammelt wird. Einer Aktion aber auch, mit der sich die Beteiligten Gewissheit besorgen, nicht allein zu sein. Jeder Bürger Romes, der einen Angehörigen durch die Krankheit verloren hat, und ebenso jeder, der den Krebs hat besiegen können, hatte am Abend zuvor im Oval der Arena eine Kerze angezündet. Am Ende brannten sechstausendsiebenhundert Lichter.
Diese Menschen waren im Übrigen die einzigen Wanderer, die mir im Laufe der Reise begegneten. Allein ist man jedoch selbst in Amerika als Fußgänger immer nur für kurze Zeit. Und dass, wer geht, im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr sieht, als wer fährt, das stimmt selbst dort, auch wenn man bisweilen anderes hört – nämlich dass sich Amerika am besten und vielleicht überhaupt nur vom Fahrersitz eines Autos aus begreifen ließe.
Rome liegt nicht am Ende der Welt, sondern zentral im Bundesstaat New York und damit im Ballungsraum Ostküste. So wirbt die lokale Handelskammer. Der Wirtschaft hilft es wenig. Seit mit dem Ende des Kalten Kriegs der Airforce-Stützpunkt am Stadtrand aufgegeben wurde und viereinhalbtausend Familien weggezogen sind, fielen die Immobilienpreise, und die Infrastruktur ist unterfordert. Etliche Lokale und Läden haben geschlossen, und in den Wohnstraßen stecken reichlich „Zu Verkaufen“-Schilder in großen Vorgärten vor großen Villen unter riesigen Bäumen, die wohl noch aus der Zeit stammen, als man sagte, ein Eichhörnchen könne von Ast zu Ast von Maine bis New Orleans hüpfen, ohne je den Boden zu berühren. Nur Amerika-Flaggen sieht man noch mehr.
Sie flattern vor jedem Haus, sie sind an vielen Autos befestigt, und am Grab von Francis Bellamy hat man gleich mehrere aufgezogen. Er ist der berühmteste Sohn der Stadt. Im August 1892 textete er den Fahnenschwur „Pledge of Allegiance“, den früher die Schulkinder in Amerika jeden Morgen vor der ersten Unterrichtsstunde aufsagen mussten. Aber so außerordentlich berühmt muss er nicht einmal mehr in seiner Vaterstadt sein, denn in einem Lokal behaupteten die Gäste am Abend überzeugt, Bellamy habe die Nationalhymne „Star Spangled Banner“ geschrieben. Das Unwissen ändert freilich nichts daran, dass in diesen Tagen der Patriotismus besonders demonstrativ zur Schau gestellt wird. Transparente an den Hauswänden fordern, die Truppen zu unterstützen, und in einem Fenster hing ein Foto von Osama Bin Laden, darüber der Satz: Meine Steuern wurden für Atomwaffen ausgegeben – Nun setzt sie auch ein!
Es ist eine seltsame Fügung, dass Rome, ein Verlierer der weltweiten Friedensbemühungen, nun umso mehr versucht, von Amerikas ältestem Krieg zu profitieren. Im Ortszentrum, das auf Fotografien aus den zwanziger Jahren noch einen ziemlich großstädtischen Eindruck macht und wo damals zwischen hohen Gebäuden im Stil des Art déco sogar Straßenbahnen gefahren sind, hat man vor mehr als einem Vierteljahrhundert einen ganzen Straßenblock freigeschlagen, um Fort Stanwix zu rekonstruieren. Es spielte im „1777er Krieg“, wie er hier heißt, keine ganz unwesentliche Rolle. Ein General Peter Gansevoort hat von dort aus die Armee der Briten samt einiger verbündeter Indianerstämme so lange in Schach halten können, bis die für den Unabhängigkeitskrieg wichtige Schlacht von Saratoga gewonnen war. Die Stadt ehrt ihn mit einer überlebensgroßen Bronzestatue. Den ernsten Blick hat er auf die andere Straßenseite gerichtet, wo aus Stein ein Soldat an die Gefallenen des Orts aus allen Kriegen mahnt.
Das Fort, in dem mehr als vierhundert Mann stationiert waren, wird vom Nationalpark Service betrieben, und im Besucherzentrum wird wohl seit der Eröffnung 1976 viel über Freiheit und Patriotismus deklamiert, das liegt in der Natur des Orts sowie der Sache und muss nicht ausgeführt werden. Die Ranger tragen Kleidung, wie man sie vor einem Vierteljahrhundert getragen haben mag, und spielen den Cicerone oder andere Rollen. Einer führte Besucher durch die karg eingerichteten Stuben und Schlafsäle, ein anderer saß vor einem Blockhaus und stopfte in der Sonne Socken. Ein Gefühl für das Leben früher in diesem Außenposten der Zivilisation, zwei Tagesmärsche entfernt von der nächsten Siedlung, mochte sich aber nicht einstellen, da sich unmittelbar hinter den Palisaden die nüchterne Fassaden eines Parkhauses und die spitze Silhouette einer Kirche in die Höhe recken.
So machte der Angestellte im Museum der historischen Gesellschaft auch wenig Anstalten zu verbergen, welche Lösung er vorgezogen hätte. Man hätte besser Fort Bull wieder aufbauen sollen, sagte er. Es lag ein wenig außerhalb Romes, am Ufer des Wood Creek, der sich an Sümpfen vorbei- und durch Wälder hindurchschlängelt und der früher die Verbindung zu den Großen Seen war. Auf dem Hudson von New York aus bis Albany hinauf, von dort auf dem Mohawk River in die Region des heutigen Rome, das damals „The Carry“ hieß, weil man die Kanus ein paar Kilometer weit über Land zu ebenjenem Wood Creek tragen mußte: Das war der einzige Verkehrsweg in den Norden und Westen, bis 1825 der Erie-Kanal eröffnet wurde, also wiederum eine Wasserstraße, die erst Jahre später von der Eisenbahn und noch später von Autostraßen abgelöst wurde. Pfade, Wege und Pisten gab es hingegen nie. Die Epoche des Fußgängers hat man hier, wie fast überall in den Vereinigten Staaten, übersprungen.
Heute in dieser Gegend zu wandern heißt deshalb, auf dem ehemaligen Treidelpfad am Kanal entlangzulaufen oder auf Asphalt. Die mit Kopfschütteln und Bedenken wiederholt ausgesprochene Warnung in Coffee Shops und Läden, der Weg nach Syracuse sei voller Gefahren, bezog sich deshalb vor allem auf den Verkehr – und nur dann und wann sagte jemand noch: „There are crazy people out there.“ Aber ich sah unterwegs fast nur brave Leute, die in ihren Gärten Unkraut zupften, den Rasen mähten und ihre Büsche in akkurate Form schnitten, wie auf einem Postkartenidyll des amerikanischen Malers Grant Wood. Und so viele Autos waren nun nicht auf diesen kleinen, gewundenen Landstraßen unterwegs, die sich der Topographie unterwerfen und nicht umgekehrt, und die sogar meist eine recht breite Standspur haben. Was außerdem schert einen die Sorge einer Kellnerin, wenn hinter der Theke ein Schild hängt: „The deadline for complaints was yesterday“ und auf einer Urne aus Steingut steht: „Ashes of Problem Customers.“
Es ist ein seltsam überheblicher Humor, der sich hier offenbart, und der damit zu tun haben mag, dass sich gerade die kleinen Unternehmer für das Rückgrat des Landes halten, für diejenigen sogar, die Amerika groß gemacht haben – genau so, wie es ihnen Präsident George W. Bush von Plakaten in den Postämtern herunter zuruft. Und man könnte meinen, sie entnähmen daraus den Anspruch, sich gleich ihre ganz eigene Welt mit eigenen Gesetzen zu schaffen. Dass er sich das Recht vorbehalte, nicht zu bedienen, wen er nicht bedienen will, darauf verweist in Amerika noch jeder Wirt mit einer Notiz am Eingang. Hier stand zudem: „My policies don’t have to make sense. I’m the boss.“
Das Wetter war freundlich und heiter, fast einen Hauch zu heiß, und ich wandelte ruhig die Straße hinaus aus dem Ort, der rasch hinter mir blieb und sich nicht übertrieben mit Hamburger-Läden und Motels in die Länge zog. New London Road hieß die Straße, und eben dorthin führte sie, und ich konnte noch nicht ahnen, dass New London nur eine Tankstelle ist.
Links und rechts reichte mal der Wald bis an die Straße, mal reichten Weiden bis an den Horizont, der weit war in dieser flachen Landschaft. Kühe aber tauchten nur ein einziges Mal auf, gemalt auf einen Briefkasten aus Zink. Die Tiere stünden im Stall, sagte man mir. Denn man habe erkannt, dass sie durch diese Maßnahme mehr Milch gäben. An den Anblick riesiger leerer Weiden aber gewöhnt man sich selbst nach einigen Tagen kaum, schon gar nicht in einem Landstrich, der nicht zuletzt von der Milchindustrie lebt.
Kühe tauchten in diesem Landstrich, der nicht zuletzt von der Milchindustrie lebt, nur ein einziges Mal auf: gemalt auf einem Briefkasten.
Das Museumsdorf unweit der Stelle, an der man am 4. Juli 1817 den Bau des Erie-Kanals begonnen hatte, war noch geschlossen und wirkte deshalb umso unspektakulärer. Denn es waren dort Häuser hingestellt, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammten, aber überall am Weg genauso auch zu sehen waren. Da kann die Statistik gern behaupten, dass achtzig Prozent aller Gebäude in Amerika in den vergangenen fünfzig Jahren errichtet worden sind – hier wohl findet sich ein gut Teil des verbleibenden Fünftels: in Kleinstädten, die noch Kleinstädte sind und nicht Vorstädte nach dem immergleichen Prinzip gesichtsloser Neubauviertel, umgeben von austauschbaren Shopping Malls. „Es sind Orte, in denen man gut eine Familie großziehen kann“, lobte eine junge Frau; doch im gleichen Atemzug klagte sie: „Aber keine Orte, in denen es sich leben lässt.“
Die Langeweile vor allem der Jugendlichen führt zu eigentümlichen Freizeitbeschäftigungen. Sie erschießen sich wechselseitig oder schießen sich doch zumindest an: mit Farbpatronen. In Mannschaften zu jeweils fünf kämpfen sie in den Wäldern um eine Flagge, die nur erobern kann, wer zuvor die Gegner ausgeschaltet hat. So erzählten sie fast noch ein wenig atemlos am Straßenrand, wo sie sich auf einem Parkplatz von der letzten Schlacht ausruhten und auf den Pritschen ihrer Kleinlaster Limonade tranken. Ich sei leider zu spät, sagten sie. Eine halbe Stunde früher hätte ich kommen mögen, und ich hätte eine Schlacht toben sehen können, die für gehörige Aufregung sorgte. Aber mir war es nicht leid darum; und sie schienen froh, als ich weiterzog, ohne viele Fragen zu stellen.
Vienna