Endlich: Marcel Beyer legt einen neuen Gedichtband vor. Mit dem Titel ist der Hinweis auf die motivische Klammer gegeben: Materialität. Dinge, ob Blume, ob Feder, ob Scheiße oder Abendland, die sich bei den Kollegen aus allen Zeiten finden und neu integrieren lassen; die Körnung der unterschiedlichsten alltäglichen wie politischen Stimmen. Solche Mehrstimmigkeit ist für Marcel Beyer das einzig wirksame Gegengift gegen den ganzen monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber.
Materialität als unterscheidendes Merkmal der anderen Künste, deren Echowirkung diese Gedichte einfangen: das von Photographien angeregte Schreiben, das Schreiben mit der Perspektive, daß ein entstehendes Gedicht von einer fremden Stimme vorgetragen werden wird und dazu gesungen.
Materialität als besondere Konstellation einer Kunstgattung: Die bis in das Jahr 2001 ausgreifenden Gedichte (»Tigerschminke«) haben etwas Szenisches: Eine Figur erhält Materialität durch ihre Verkörperung im Bühnenraum.
Marcel Beyers Souveränität im Umgang mit seinem Material, mit den Kollegen, mit der Zeitgeschichte, dem Zeitgeist und den in ihm hampelnden Menschen ist unvorsehbar-überwältigend: der Materialist unter den Lyrikern kombiniert das Gewesene und Anwesende zu Nie-Dagewesenem.
Marcel Beyer, geboren 1965, lebt seit 1996 in Dresden.
2008 wurde er mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. 2014 erhielt er den Kleist-Preis sowie den Oskar Pastior-Preis.
GRAPHIT
Gedichte
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-73809-2
www.suhrkamp.de
I
Graphit
II
Timide, timide
Das Rheinland stirbt zuletzt
Im Westen, auf dem Platz
Wacholder
III
Liedpostkarte
Most
Reisekadermelodien
Fell
Die rettende Zeile
Endreimstimmung
IV
Schreibhand
Taistra
Im Polsterhimmel
Die Grillmeisterin
V
Ich muß
Mischmund
Alphabet Oberlippe
Die letzten tödlichen Gedichte
Lambadamaschine
Deine Silbe Grimm
Im Wörterbuch
VI
Wespe, komm
Sanskrit
California Girls
Don Cosmic
VII
Ich hörte
Rotorblätter
Schmieriger, glasiger
An die Vermummten
Tigerschminke
VIII
Carport
Alba
Mein Blauhäher
Alba
Argot
IX
Die Maus
Schneekatze, die ihre Bahnen
zieht. Der Schneimeister
persönlich dirigiert den
Pistenbully am künstlichen
Hang. Ein Mann mit Strickmütze
und Daunenjacke, ein Mann
mit Zungenschlag, eine
Flachlandgestalt, ein Mann
aus Neuss. Draußen ganzjährig
Runkelrübenäckerweiten.
Ein Broich. Ein Busch. Ein
Rath. Da und dort ein Paar
Pappelzeilen. Hier aber: Wie er
seine Schneekatze durch die
Eiswelt jagt, den Räumschild
im Blick, die Fräse im Rücken,
in Zeitlupe und flück, flück, flück –
eine Schneekatze eben.
Eine Schneekatzennacht. So
führt er uns, der Schneimeister,
mit lässiger Hand vor, wie man in
Neuss am Rhein
Maschinenschnee zu
Schneekunst macht.
Hochsommer ’38. Schnittmeister
Eisenstein braucht dringend
einen zugefrorenen See,
verschneit. Mit Eismaschinen,
Schneekanonen kann die Mosfilm
ihm nicht dienen. Eisenstein
rodet ein Gelände vor der Stadt,
ebnet es ein, läßt kurzerhand
die halbe Landschaft asphaltieren.
Zuletzt der Schneeauftrag, ein
lichtaufsaugendes Gemisch
aus Naphthalin und Kreide.
Kameramann Tisse versteht sich
auf den Übergang von Weiß
zu Grau zu Schwarz, läßt
junge Tannen, herbeigekarrte
Schonungsware, hellblau bemalen
und mit Kalk bestreuen, Mehl.
Tisse macht Winterlicht. Ein
Peipussee 1242, der sich im
Verlauf der Schlacht rot zu färben
hat. Ohne Schneekoller aber,
soviel ist klar, fängt Eisenstein
gar nicht erst zu drehen an.
Keinerlei Alpenanmutung. Die
Webcam zeigt: Es schneit.
Und es wird schneien,
die ganze Nacht. Wer hat
gesagt: »schrift ist durch einen
schneesturm waten«?
Die feine, milchig-weiße Luft,
minus vier Grad: In der
Skihalle herrscht Windstille,
dreihundertfünfundsechzig
Tage im Jahr. Draußen
der übliche rheinische Niesel,
vergorene Futterrüben – doch
am künstlichen Hang dreht
das Kettenfahrzeug, in deinem
Sprachzentrum dreht sich
ein flinkes Kettenfahrzeug auf
der Stelle. Der Schnee
muß sintern, hörst du,
die Piste anziehen, und merk
dir das: Auf das Fräsbild kommt
es an. So taucht der
Pistenpräparator, Hauch
überall, ins Schneebild ein.
Durch einen Schneesturm keucht
sie hier, die Schrift? Auf der
Leinwand sehen wir Newskis
Truppen, Lumpenproletariat
durch Mottenpulverwolken waten.
Kader für Kader eine Eisfläche,
die kein Ufer kennt. Nur
einen Horizont, der langsam
näher rückt, Teutonenreiter in
dichten Reihen. Keine
vereisten Fingerkuppen. Die
Helme leuchten. Wie lange es
noch einmal dauert, bis Newski
den Befehl zum Angriff gibt.
Wie er sein eisernes Visier,
seine Schneebrille vor die Augen
schiebt. Das eiserne Gesicht des
Alexander Newski. Der fehlende
Hauch vor seinem Mund
beim Atmen, Sprechen, Keuchen.
Hier werden Winterschlachten
grundsätzlich auf die Musik
geschnitten. Sollen Guderians
Panzerdivisionen kommen.
Dazu die stickige Moskauer
Hochsommerluft. Verdammt
stickiges Filmset am Rand
der Stadt: Hier läßt sich keine
einzige Atemszene drehen.
Denn, Schnittmeister, dein
hingebauter Peipussee,
der riecht verdammt nach
Totenwäsche. Die Mutter aller
weißen Flächen riecht, als
hättest du die Wäscheschublade
eines Toten durchwühlt. Die
vollgestopften Kleiderschränke
sämtlicher Toter der Revolution,
Krepierte aller Länder, so
riecht das. Mit Naphthalin
gemehlt, mit Kalk. Gelöschte
Gestalten. So riecht die
Vorkriegszeit um Moskau,
das naphthalingeschwängerte
Hochsommerleben. Dies deine
Atemluft, Schnittmeister.
Und dein weißer Asphalt
beginnt zu schmelzen.
Hinter dem Panoramafenster
sinkt ein feiner Dunst: der kalte
Nebel. Berieselt das gesamte
im Blick liegende Querformat.
Kristallisiert sich nach und nach,
bis er, am Boden angelangt,
zu Schnee geworden ist.
Zu gleichmäßig verteiltem
Flockenschnee. Der Hasenstall
geschlossen, auf der Salzburger
Hochalm sind die Tische
schon gewischt. Am Neusser
Gletscher gilt, wie überall: »Es
gibt die Sonne, es gibt den Schnee.
Man muß so lange drehen, wie
man über etwas schreiben kann.«
Denn der Winter ist dunkel, und
der Schnee ein schwindendes
Objekt, weil man zu spät
kommt, jedesmal zu spät, wenn
man ihn filmen will. Der letzte
Kader: Einmal quer durchs
Jahrhundert führt, am Pistenrand
hier, eine Schattenspur: Graphit.
Timide, timide. Wir müssen über
Burschenspucke sprechen,
über die Wilgefortis, Kumerana,
Ontcommer, Hulpe, Kümmernis.
Über Nasalstriche. Das Geldrische.
Über Bastarda. Eine Hand. Und
über Schlaf. Das bleiche Licht
vom Niederrhein, Frühsommer
fast, die Ginsterblüte, man hört
den Falken einen Falken
locken, Kaninchenhaar, sagt man,
schmeckt süß. Rasch auf die
Autobahn. So wandert sie, die Bärtige,
der Wandertheorie zufolge
den Rhein hinauf
bis in die Schweiz, nach
Südtirol, geht Zeichen machen.
Spricht. Wir sehen ihre
ungenagelten, beschuhten Füße.
Timide, timide – Thomas a Kempis,
apokryph. Nein, das sind keine
Frühstücksflocken im Gesicht.
Wir wachsen nach. Wir sind
des Fieberns und Sedierens müde.
… nördlich der Alpen.
Da gibt der Boden nach.
Ohne Geländekarte
muß ich ins fremde Land?
Ach, bitte, Jungfrau, reiche
mir dabei deine Hand.
Ins fremde Land, das meint
ins flache Land, das meint
hinab, wohin die Welt sich
faltet. Ja, alles faltet sich,
Dach, Haus und Straße,
Bett und Schrank, hier falten
alle Bücher und Papiere sich
wie von allein zusammen.
Dreißig Sekunden Krach.
Sechs Wochen Stille.
Vom Trümmerkogel seilt
die Bergrettung, seilen
Rotkreuzhelfer sich
vorsichtig, vorsichtig ab.
Himmel, hier sieht es aus.
Blick aufs felsgraue,
abschüssige Schuttfeld, die
tristen, die tief-, die todgrau
lackierten Blechwände der
zerlegten, zerdrückten
Aktenschränke Einschlüsse
im Stein, im Untergrund
eine künstliche Grotte, eine
Kaverne, vollgestopft
mit verkanteten Schachteln
in sauberen Reihen,
oberdeutsche Mundart,
Handschrift vermutlich
in der Schweiz entstanden,
Anfang in gottis namen
hebe ich an, ist komplett
hinabgerauscht
das Regal aus
der sechsten Etage.
Kein Himmel oben. Zwei