Über dieses Buch:
Wo wirst du sein, wenn die Welt in Flammen steht? Jan Stolnik, den Drachen in Menschengestalt, hat es nach Rom verschlagen: In der Ewigen Stadt kommt es zunehmend zu dämonische Angriffe, die er mutig zurückschlagen muss. Immer noch träumt er davon, seine große Liebe in die Arme schließen zu können. Doch was wird geschehen, wenn die Phönixdame La Fiametta tatsächlich zu ihm zurückkehrt? Es liegt in ihrer Natur, zu sterben und aus goldener Asche zu neuem Leben zu erwachen. Aber die Magie dieser Wandlung ist unendlich mächtig – und kann dafür sorgen, dass die Dämonenwelt die der Menschen für immer verschlingt …
Der siebte und abschließende Band der historischen Fantasysaga, die Jahrhunderte überspannt und von der unsterblichen Liebe des Drachensohnes Jan Stolnik erzählt: spannend, abenteuerlich, faszinierend.
Über die Autorin:
Angelika Monkberg, geboren 1955, lebt in Franken. Sie arbeitet im öffentlichen Dienst. Daneben schreibt sie Kurzgeschichten und Romane – wenn sie nicht zeichnet oder malt. In beiden Bereichen gilt ihr Interesse vor allem dem Phantastischen.
Angelika Monkberg im Internet: www.facebook.com/1AngelikaMonkberg
Die historische Fantasy-Saga DRACHE UND PHÖNIX umfasst folgende Bände:
Erster Roman: Goldene Federn
Zweiter Roman: Goldene Kuppeln
Dritter Roman: Goldene Spuren
Vierter Roman: Goldene Asche
Fünfter Roman: Goldene Jagd
Sechster Roman: Goldene Lichter
Siebter Roman: Goldene Ewigkeit
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Originalausgabe Oktober 2014
Copyright © 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildgestaltung: Atelier Nele Schütz, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von © Stevan Kordic / shutterstock.com
ISBN 978-3-95824-020-9
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Angelika Monkberg
DRACHE UND PHÖNIX:
Goldene Ewigkeit
Roman
dotbooks.
Rom, Via Merulana 259; Sonntag, der 4. Juli 1965, 15 Uhr, drückende Hitze.
Der Fahrer hielt am Straßenrand, stieg aus, eilte um die Kühlerhaube und riss für Schödel die rechte hintere Tür des Mercedes auf. Dabei zog er die Mütze und bot dem Monsignore die Hand, um ihm notfalls beim Aussteigen behilflich zu sein. Wie Jan diese Aufgabe bewältigte, blieb ihm selbst überlassen, doch bis sich Schödel aus der Limousine gewuchtet hatte – aus eigener Kraft, so viel musste man ihm zugestehen –, kam auch schon die Signora aus dem Haus geeilt. Sie knickste und küsste dem Monsignore die Hand. „Gelobt sei Jesus Christus.“
„In Ewigkeit Amen, meine Tochter.“ Schödel schlug mit großer Würde das Kreuz über dem schneeweißen Scheitel der kleinen, verhutzelten Gestalt. Dem Aussehen nach hätte sie leicht seine Urgroßmutter sein können, und eigentlich hätte er sich vor ihr verneigen müssen. Doch dies war Italien, Rom, und hier inszenierte sich der Monsignore anders als in Las Vegas, wo er in einer Bar geplaudert und gelacht hatte. Schödel trug heute Soutane und benahm sich, als sei diese Wohnungsbesichtigung ein Staatsbesuch. „Signora Ruscello, dies ist Signor Stolnik. Jan – Graziella Ruscello.“
„Angenehm. Folgen Sie mir bitte, Signori.“ Die Signora winkte sie mit der Geste einer Königin ins Haus, und vielleicht war sie das auch. Eine Art Schleier lag über ihr, diese Augentäuschung war aber so dicht gewebt, dass Jan sie nicht durchdringen konnte, ohne seine eigenen Schutzschilde in eine Waffe zu verwandeln, einen Stoßkeil. Doch wozu? Er war ziemlich sicher, dass Graziella Ruscellos Abwehr nicht ihm galt. Wahrscheinlich schirmte sie sich nur gegen die allgegenwärtige Macht der Kirche in der Heiligen Stadt ab, was Schödel im Übrigen nicht bemerkte. Der Monsignore war als Magier nur ein kleines Licht, gerade talentiert genug, den Drachen in Jan zu erkennen, stolz darauf, dass er für seinen Orden mit ihm verhandeln durfte, und gerade ganz darauf konzentriert, ihm die Wohnung im Haus der Signora schmackhaft zu machen.
„Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen, wenn Sie wieder Ihr eigener Herr sind.“ Der Monsignore gab sich alle Mühe, Jan den Eindruck zu vermitteln, dass die Idee eines Umzugs von ihm stammte, aber in Wahrheit befolgte Schödel einen direkten Befehl seines Großmeisters Deodatus Neville. Der hatte wahrscheinlich Dankbarkeit, wenn nicht gar Unterwerfung von Jan erwartet, doch der sah nicht ein, warum er das dreifache Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit ablegen und als Laienbruder in den dritten Orden der Dominikaner eintreten sollte. Damit sein Vermögen doch noch der Kirche in den Schoß fiel? Das konnten Neville und die Vatikanbank vergessen.
Natürlich hatte er damit gerechnet, dass Schödels Vorgesetzter die mündlichen Vereinbarungen, die er in Las Vegas mit ihm getroffen hatte, nicht bis ins Detail einhielt. Schließlich ging es hier um eine Geheimorganisation innerhalb des Ordens der Dominikaner und der Inquisition, auch wenn die sich heute anders nannte. Kardinal Ottaviani, der Präfekt der Glaubenskongregation, der von Nevilles Vorstoß wahrscheinlich nur in sehr groben Zügen wusste, bezeichnete sich als einen demütigen Wächter der Reinheit des Glaubens, und Häretiker wurden heute auch nur noch exkommuniziert, nicht mehr verbrannt. Aber die Mühlen der Kirche mahlten genauso langsam wie seit ehedem, und Jan hing es zum Hals heraus, ständig vertröstet zu werden. Er wusste zum Unglück aller Beteiligten genau, welche unumstößlichen Beweise der Orden vom Sonnenkreuz zusammengetragen hatte, dass er wirklich der Jan Stolnik war, dessen Vermögen die Vatikanbank 1897 in Rom einbehalten hatte. Wenn ihn die Kirche (oder Neville) als Mitstreiter im Kampf gegen das Böse haben wollte, musste sie ihm auch zurückgeben, was ihm von Rechts wegen gehörte. Auf jeden Fall hatte er sich jetzt einen Anwalt genommen, und dass ihn der Großmeister quasi zur Vergeltung aus dem Gästehaus des Ordens vom Sonnenkreuz ausquartierte, passte ihm in Wirklichkeit ganz gut. Aus der Via Merulana konnte er sich viel einfacher davonstehlen, um die Post für seine Identität als John Long abzuholen. Er traute seinen neuen Verbündeten genauso wenig wie die ihm. Dass ihm ausgerechnet die katholische Kirche helfen wollte, war im Grunde ein ziemlich grausamer Witz. Aber er besaß jetzt Rückendeckung. Die CIA wollte einen Spion im Vatikan, und damit er handlungsfähig wurde, hatte ihm Washington gegeben, was sie ihm all die Jahre in den Staaten verweigert hatten: einen Reisepass. Jan Stolnik, der an Monsignore Schödels Seite italienischen Boden betreten hatte, war staatenlos und besaß nur eine zeitlich begrenzte Aufenthaltserlaubnis, John Long, Bürger der USA, hingegen konnte kommen und gehen, wie er wollte – wenn er es nicht überreizte.
„Kommen Sie, Signori, folgen Sie mir!“ Die kleine Alte flitzte die Treppenstufen zum Piano nobile des Hauses in einem Tempo nach oben, das er kaum einer Zwanzigjährigen zugetraut hätte. Ihre weiten Hosenbeine flatterten. Sie trug eine Art Matrosenanzug, dessen Säume merkwürdigerweise nass waren, und den dicksten Haarknoten, den er je gesehen hatte, faktisch einen Doppelknoten: Der eine saß am Hinterkopf und der zweite tief im Nacken, beide waren mit Haarpfeilen aus roter Koralle gesichert und seiner Meinung nach mit dicken Rosshaarpolstern verstärkt. Wenn das echt gewesen wäre, hätte ihr das Haar mindestens bis in die Kniekehlen reichen müssen. Doch er schob den Gedanken beiseite und genoss erst einmal die Kühle im Treppenhaus. Die Nachmittagshitze hatte sogar die kurze Fahrt im bequemen Mercedes zur Tortur gemacht. Dass Santa Maria Maggiore und San Giovanni in Laterano jetzt Straßenschluchten verbanden, tat der Luft auf diesen Hügeln Roms gar nicht gut. Jan bedauerte, dass die Weingärten und Landgüter, die sich einst hier erstreckt hatten, mit Häusern bebaut worden waren. Er konnte sich nicht erinnern, dass er in früheren Sommern hier derart geschwitzt hätte. Auch Schödel wischte sich mit einem Taschentuch Stirn und Nacken, während die kleine Alte „Bitte, Signori“ zwitscherte und rechts von ihnen eine geschnitzte Wohnungstür aufstieß. „Sehen Sie sich in aller Ruhe um, Sie kommen gewiss ohne mich zurecht?“
„Ja, sicher. Danke.“
Im Salon und dem Speisezimmer, den beiden Räumen, die zur Straße gingen, waren die Fensterläden geschlossen, das hielt die Temperatur im Vergleich zu der Bullenhitze draußen in Grenzen. Jan legte den Kopf in den Nacken und betrachtete im Dämmerlicht die Stuckdecke des Salons. Drittes Rokoko. Delphine und allerhand anderes Meeresgetier tummelten sich in allen vier Ecken des Plafonds. Salon und Speisezimmer verband eine Durchgangstür, und eine weitere führte in ein Eckzimmer.
„Wollen Sie nicht doch bei mir einziehen, Schödel? Platz wäre hier genug.“
„Danke, ich komme in einer Pension in der Nähe sicher gut zurecht.“ Der Mund des Monsignore verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln. Deodatus Neville hatte ihn nicht nur dazu verdonnert, Jan zum Umzug in diese Wohnung zu drängen, nein, Schödel sollte sich auch selbst in der Nachbarschaft einmieten, quasi in Klausur, und über das wahre Ausmaß seiner Zuneigung zu einem gewissen jungen Doktor der Theologie und Jurisprudenz nachdenken. Dabei war zwischen dem Monsignore und Rodrigo Guzman Talavera außer Gesprächen und gemeinsamen Schachpartien bisher absolut nichts geschehen. Jan hegte sowieso den Verdacht, dass Schödel zu viele Skrupel besaß, um sich dem jungen Theologen je zu erklären.
„Nun, was denken Sie?“, fragte der Monsignore. „Die Wohnung liegt ruhig und doch zentral, die nächste Bushaltestelle ist ganz in der Nähe. Oder Sie nehmen ein Taxi, wenn Sie in den Vatikan gerufen werden.“
„Sehr liebenswürdig, Schödel, aber ich laufe gern zu Fuß. Von hier bis zum Petersdom sind es kaum vierzig Minuten, und wir wollen doch die Finanzen des Ordens vom Sonnenkreuz nicht noch mehr strapazieren.“ Diese Antwort war boshaft. Vermutlich war Schödel auch deshalb bei Neville in Ungnade gefallen, weil Jan auf einem Vertrag bestanden hatte, der die Blauen Adepten verpflichtete, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Den in solchen Fällen allgemein üblichen Zusatz – bis er dazu selbst in der Lage war – hatte der Notar des Ordens zum Schaden der Brüder leider vergessen. „Ich werde dem Orden vom Sonnenkreuz natürlich alle Ausgaben zurückerstatten, sobald ich kann“, sagte er deshalb freundlicher. „Versichern Sie das bitte Ihren Brüdern.“
„Schon gut.“ Schödel seufzte. Dass er ihm auf Befehl seines Großmeisters gerade diese Wohnung vorschlagen musste, verursachte dem armen Monsignore auch noch aus einem anderen Grund Kopfschmerzen. Ganz in der Nähe lag Santa Prassede, die Kirche, in der Rodrigo Guzman Talavera jeden Morgen die Messe las, und Schödel wusste nicht, wie er diesem Fallstrick entgehen sollte. Rodrigo fernbleiben und damit quasi eingestehen, dass mich seine Nähe in Versuchung führt? Oder im Gegenteil täglich mit ihm die Messe feiern und damit Neville davon überzeugen, dass ich ein reines Gewissen habe? Tatsächlich fühlte Schödel nur Freude, wenn er an Talavera dachte. Wenn ihn Gott mit einem fein geformten Antlitz geschaffen hat, darf ich ihn doch wohl mit Gefallen betrachten? Allein seine edlen Hände …
Jan wusste, dass sich der Monsignore etwas vormachte, wenn er glaubte, dass er nur eine Art väterliche Liebe für den hochbegabten jungen Doktor empfand. Er würde jedoch nicht an Schödels wunden Punkt rühren und ihm auch ganz sicher keine Ratschläge in Beziehungsdingen geben. Nein, er taugte dafür am allerwenigsten. Er war La Fiametta, der Dame Phönix, fast zweihundert Jahre lang über drei Kontinente hinweg gefolgt, doch als er sie endlich wiedergefunden hatte, war sie nur wenige Jahre bei ihm geblieben. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, sie sei ihm wenigstens das schuldig. Er wusste es nicht, aber er nahm an, dass er einfach zu viel von ihr erwartet hatte. Sie liebte Schmuck und schöne Kleider, und der erste Mann mit Geld, der Mafiaboss Sirmione, hatte sie von seiner Seite gelockt. Doch sie hatte zwei Jahre später auf ihren Ehemann geschossen, in der wahnwitzigen Hoffnung, dass ihr das den elektrischen Stuhl einbringen würde – und auf diesem Umweg die Wiedergeburt aus ihrer goldenen Asche. Leider – von ihrem Standpunkt aus leider – hatte Sirmione überlebt, sie saß seitdem in Chicago im Irrenhaus, und Jan wartete darauf, dass der Orden vom Sonnenkreuz sein Versprechen einlöste und sie nach Italien holte.
Frei war sie damit aber natürlich noch lange nicht. Erstens hatte der Vatikan Sirmiones Bitte um Auflösung seiner Ehe mit ihr abgelehnt, also blieb La Fiametta mit ihm verheiratet, bis der Mafiaboss starb. Vorzugsweise eines natürlichen Todes, und damit darüber später auch nicht der Hauch eines Zweifels aufkam, wachten jetzt Blaue Adepten über Sirmiones Sicherheit, zusätzlich zu dessen Leibwächtern – was nicht einer gewissen Komik entbehrte, da diese beiden Herren von Dämonen besessen waren. Rückendeckung von Himmel und Hölle besaß nicht einmal der amerikanische Präsident. Doch der zweite Punkt, warum die Kirche La Fiametta unter Aufsicht behalten wollte, wog schwerer, und Jan machte sich in diesem Punkt nichts vor. Die Blauen Adepten und die ganze Glaubenskongregation wollten verhindern, dass sie sich selbst verbrannte. Ohne Feuertod keine Wiedergeburt, aber auch kein Dämonensturm. Den wollte die Kirche unter allen Umständen verhindern, während Jan nicht so sicher war, ob das überhaupt möglich war. Er hatte sich auf den Handel mit Schödels Orden eingelassen, weil er wusste, dass sich Nervenheilanstalten und Gefängnisse in Italien meist in alten Gemäuern befanden. Hier würde er, anders als in Chicago, vielleicht einen Weg finden, sie zu befreien. Doch das alles verlangte Geduld, und er wusste nicht, wie lange die La Fiamettas reichte. Bis zum Jüngsten Tag warten würde sie sicher nicht.
Natürlich hatte er darüber nachgedacht, ob er nicht auch einen Teil Schuld an dem Ganzen trug. Er hätte sie vielleicht in Las Vegas in ihrem Zimmer einsperren und wie ein Drache bewachen sollen. Nur war er nicht der Mann, der eine Frau als sein Eigentum betrachtete. Genauso wenig wollte er sie aber mit einem anderen teilen. Das hatte ihr ursprünglich vorgeschwebt. Sie hatte gewollt, dass er als Chauffeur bei ihr blieb, nachdem sie Sirmione geheiratet hatte. Er hätte seinen Stolz vielleicht schlucken sollen, genauso wie er die Kröte geschluckt hatte, dass er nun doch wieder für den Geheimdienst der Amerikaner arbeitete. Doch es war die einfachste Methode gewesen, sein zugegeben nur sehr moderates Vermögen in Dollar nach Rom zu überweisen. Es lag jetzt auf der Post, und dort hatte er auch den Schlüssel zu dem winzigen Zimmer an der Piazza Mattei bekommen, das die CIA für ihn gemietet hatte. Sobald das mit der Wohnung bei Signora Ruscello über die Bühne war, heute Nacht, wollte er dort hingehen und seine Dämonenjägerausrüstung inspizieren.
Er streckte sich. „Auf alle Fälle ist die Wohnung schön, Schödel.“ Und das war sie, selbst nach seinen altmodischen Begriffen, tatsächlich. Drei Meter achtzig hohe Räume, von der Grundfläche her großzügig geschnitten, und die Möbel solide, gründerzeitliche Handwerksarbeit. Im Salon stand ein kleiner, gusseiserner Ofen. Sicher, die Fenster waren undicht. Er klappte das, das er geöffnet hatte, behutsam wieder zu und verriegelte auch die Fensterläden. Windböen fegten die Straße entlang, und der Himmel, der noch vor wenigen Minuten strahlend blau gewesen war, wirkte jetzt wie eine Schieferwand. Ein Unwetter jagte heran, und die Abkühlung kam ihm nach der barbarischen Hitze der letzten beiden Wochen durchaus gelegen. Er roch den Regen. Doch diese dunklen Wolken brachten Unheil, das spürte er. „Sehen wir uns auch noch das Schlafzimmer an, Schödel.“
Es schloss an das Eckzimmer an, ohne jedoch wie dieses eine Durchgangstür zu besitzen, war wie ein L geschnitten und groß wie ein Ballsaal, mit drei Fenstern auf der längeren Seite. Jan stieß bei einem davon die Holzläden auf und erblickte unter sich einen kleinen Gartenhof mit einem bescheidenen Rasenplatz, ein paar Mispeln und Granatapfelbüschen und einem uralten Brunnenhaus als Querbau. Der eingesunkene Giebel trug schwer an Moosen und Flechten, doch im Inneren ahnte man ein prächtiges Fußbodenmosaik. „Das sieht antik aus. Ein Nymphäum?“
„Ich weiß nicht, Stolnik.“
Das Brunnenhaus war nur einstöckig, dahinter wiegte sich der Schopf einer Palme. Jan sah aber auch eine Reihe Hausdächer, was ihn vermuten ließ, dass es hinter dem Nymphäum zwei Stockwerke tief hinunter ging. Vielleicht gab es dort sogar den obligatorischen Wasserfall, oder es hatte ihn einst gegeben. Stufen wären ihm noch willkommener gewesen. Schließlich brauchte er einen Hinterausgang, wenn er ungesehen in die Nacht verschwinden wollte für die Aufträge der CIA. Er schloss das Schlafzimmerfenster und fuhr mit dem Daumennagel über gesplitterten Lack.
„Das wird im Winter sicher etwas kalt.“
„Dafür haben Sie ja die Vorhänge.“
Das stimmte. Schwerer Damast hing an den Stangen über den Fenstern, und ein weiterer Vorhang verhüllte einen Alkoven, in dem ein altmodisches Bett stand. Er würde es kaum benutzen, schlafen konnte er sowieso nicht, und wenn er nachts nicht unterwegs war und lesen oder Radio hören wollte, waren die Sessel im Salon bequemer. Außerdem stand dort dieser hübsche gusseiserne Ofen. Die Aussicht, endlich wieder unbeobachtet mit lebendigem Feuer spielen zu dürfen, reizte ihn, obwohl seine Sucht längst nicht mehr so übermächtig war wie noch vor Jahren. „Wo ist das Bad?“
„Es gibt nur eine Toilette, aber Sie können sich in der Küche waschen. Es wurde dort ein elektrischer Heißwasserboiler und eine Duschtasse installiert.“
„Immerhin.“ Er betrachtete den Kronleuchter, der über der großen kahlen Fläche des Schlafzimmers hing. Seine Arme waren nachträglich verkabelt und mit Glühbirnen bestückt worden. Er drehte den Schalter neben der Tür und löschte das Licht. „Also gut, Schödel, ich nehme die Wohnung. Obwohl die Steinfußböden hallen.“
Er dachte amüsiert, dass Neville Signora Ruscellos Haus wahrscheinlich deshalb gewählt hatte, weil sie gerade nach der Art alter Hexe aussah, die jeden Schritt ihrer Mieter registrierte und bereitwillig weitermeldete. Sollte sie ruhig. Menschen rechneten selten ein, wie viel Aktivität er in den Stunden entfalten konnte, da sie schliefen. Außerdem war die Signora gar keine Hexe. Sie war etwas anderes. Nicht unbedingt eine Gefahr, zumindest nicht für ihn, aber doch fremd. Er trommelte gegen den Türrahmen des Schlafzimmers. Der aufziehende Sturm machte ihm Sorgen. Grausame Stimmen wisperten darin, ihre Bosheiten waren aber noch sehr leise und gerade so wahrnehmbar. Selbst er, der Ohren hatte, um Dämonen zu hören, verstand die einzelnen Worte in den Böen nicht. Noch nicht.
„Sie sind so still. Was überlegen Sie?“, fragte Schödel.
Er schüttelte den Kopf. Es ergab alles keinen Sinn. Was hatte Signora Ruscellos Schleier mit den Blauen Adepten zu tun? Warum wollte Schödel ihm und La Fiametta wirklich helfen? Was bewegte Deodatus Neville? Gier nach Macht oder schlicht Geldgier? Und nicht zuletzt: Warum zog gerade jetzt ein gewaltiger Sturm über Rom auf? Er kannte solche Unwetter bisher nur aus dem Mittelwesten der USA, den er jahrelang mit Gingerbread und seiner Freakshow als Feuerartist und Dämonenjäger bereist hatte. Der alte Magier war jetzt schon viele Jahre tot, und es hatte Jan nicht wirklich gefreut, drüben seine Nachfolge anzutreten. Trotzdem, der Gedanke ging ihm nicht aus dem Kopf: Hätte er vielleicht in den Staaten bleiben sollen? Was, wenn die Absicht des Ordens nur die gewesen war, ihn herzulocken und von La Fiametta zu trennen? Schödels Argumente, warum er in Italien auf ihre Ankunft warten sollte, hatten sich schlüssig angehört. Aber sie befand sich immer noch in Chicago, und er hoffte seit Monaten vergeblich darauf, dass sie kam. „Schödel, wer hat Sie damals wirklich nach Las Vegas geschickt?“
„Das wissen Sie doch! Ich war im Auftrag meiner Brüder dort, um Ihnen unsere Hilfe anzubieten. Die Dame Phönix ist in der Obhut der Kirche viel sicherer als irgendwo in den USA. Außerdem brauchen Sie beide einander.“
Wenn er sich nur auch so sicher gewesen wäre! Natürlich, als er sie 1774 in Venedig zum ersten Mal hatte singen hören, war er ihr mit Leib und Seele verfallen. Aber das war Besessenheit gewesen, keine Liebe, und bevor er den Zauber vielleicht durchschaut hätte, hatte sie sich samt dem Teatro di San Benedetto verbrannt. Sie war schon damals darauf fixiert gewesen, mit dem nächsten Morgenlicht aus ihrer goldenen Asche neugeboren zu werden. Doch das hatten die Hunde Gottes verhindert. Dominikanermönche hatten La Fiamettas Überreste noch in der Nacht aus den Ruinen des Theaters geborgen und in einer Urne eingeschlossen, und ihm hatte ein Priester den Schädel eingeschlagen. Auf diese Weise, halb bewusstlos und schwer verletzt, war es ihnen gelungen, ihn aus der Lagunenstadt abzutransportieren. Doch er hatte über hundert Jahre gebraucht, um ihre Gründe halbwegs zu verstehen. Niemand hatte ihm verraten, dass die Neugeburt des Phönix gefährlich war. Er hatte nur gespürt, instinktiv, dass La Fiametta nicht tot war, und war ihrer Urne bis 1897 von Stadt zu Stadt, von Land zu Land nachgejagt. Bis sie beim Brand des Bazar de la Charité in Paris quasi versehentlich wiederauferstanden war und dabei genau den Dämonensturm ausgelöst hatte, den die Kirche schon damals in Venedig befürchtet hatte.
Sie war auferstanden, aber nicht neugeboren worden. Er kannte diesen bedeutsamen Unterschied auch erst seit wenigen Jahren. Sie wurde nur dann wieder jung, wenn ihre Asche die ersten Strahlen der Morgensonne küsste. Das war 1897 aber nicht der Fall gewesen. Er hatte es damals nur nicht gesehen, denn die Angriffe der Dämonen hatten ihn vollauf beschäftigt, außerdem war sie in Vogelgestalt geflohen. Jan schmeckte Bitterkeit im Mund. Wieder hatte die Kirche dafür gesorgt, dass sie nicht zusammenkamen. Nach dem Brand hatte man ihn gefangen gehalten in einem Verlies, und sie hatten sich erst nach zwei Weltkriegen in Amerika endlich wiedergesehen. Mit dem bekannten Ergebnis: Eine Weile war sie bei ihm geblieben, dann hatte sie ihn durch Sirmione ersetzt. Er seufzte lautlos. Mit ihr zu schlafen war phantastisch, sie war genau, was er im Bett brauchte, wild und unersättlich. Doch sonst? Manchmal glaubte er, sie hatte ihn damals in Venedig nur auf die Probe gestellt und vor kurzem in Amerika wieder. Hatte er sich bewährt, hatte er versagt? Er konnte es nicht sagen, denn er kannte die Aufgabenstellung nicht. Wenn es überhaupt eine gab. Vielleicht hatte sie die ganze Zeit nur mit ihm gespielt.
Aber jetzt saß sie im Unglück, und er brachte es nicht übers Herz, sie im Stich zu lassen. Wer wenn nicht er wusste, was Gefangenschaft hieß, was es bedeutete, keinen Menschen zu sprechen, niemanden zu sehen? Er hatte das nach ihrer Auferstehung in Paris 1897 fast zwanzig Jahre lang ertragen, als Gefangener der Inquisition, in einem lichtlosen Loch, wo ihn Dämonen heimgesucht hatten und er Ratten gegessen hatte. „Wissen Sie, Schödel, ich traue Ihnen, aber sonst niemandem von Ihrem Orden. Und schon gar nicht Ihrem Neville.“
„Ich nehme es Ihnen nicht übel. Es waren Dominikaner, die Sie in Frankreich nach La Fiamettas Auferstehung zum Tode verurteilten. Was ich Sie schon lange fragen wollte: Wieso haben Sie damals eigentlich überlebt?“
„Ganz einfach, der Strick ist gerissen.“
Das war die geschönte Version. Die Dominikaner hatten sich für den Galgen entschieden, weil ihm die Guillotine vielleicht einen Halswirbel zerschlagen hätte. Ihm den Kopf vom Rumpf zu trennen hätte ihn wahrscheinlich wirklich getötet. Sie wollten sein Skelett aber unbeschädigt, um ihn samt den verkrüppelten Flügeln präparieren und ausstellen zu können. Und genau das hatte ihm das Leben gerettet. Als ihm der Strick die Luft abgeschnürt hatte, hatte er so lange heftig mit den Schwingen geschlagen und Feuer gespuckt, bis er den Galgen zum Einsturz gebracht hatte. Leider hatte er damals noch nicht gewusst, dass ihn Eisen bannte, und so war es ihnen gelungen, ihn bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs festzuhalten, in dem bewussten Verlies, unter einem Eisengitter. „Die ursprüngliche Absicht war wohl, mich einfach zu vergessen. Sie müssen gehofft haben, dass ich verdurste. Aber auch in diesem Punkt ging die Rechnung nicht auf. Einer ihrer Vorgänger, ein Blauer Adept, befreite mich. Damals gab es den Orden vom Sonnenkreuz allerdings nicht mehr. Bellefleur handelte auf eigene Faust.“
„Darüber steht nichts in den Akten.“
„Das wundert mich nicht. Es war kein Ruhmesblatt für die Inquisition.“
„Glaubenskongregation“, korrigierte Schödel automatisch. Der Monsignore kannte sämtliche Berichte. Das Büro für Okkulte Angelegenheiten in Paris hatte sein Leben seit 1897 lückenlos dokumentiert. Wobei ihm siedend heiß einfiel, dass Bellefleurs Rolle mit seiner Befreiung aus dem Verlies ja nicht beendet gewesen war. „Schödel – was wissen Sie über die Feen der Fagne Tirifaye?“
„Seien Sie beruhigt, Stolnik. Louis Bellefleur, der augenblickliche Rudelchef, hat längst seine Bereitschaft erklärt, an unserer Seite gegen die Dämonen zu kämpfen.“
„Das meinte ich nicht.“
„Hätten Sie es lieber gesehen, die Werwölfe hätten uns ihre Unterstützung verweigert?“
„Sehen Sie Ihre Freunde gerne in Gefahr?“
Er öffnete die letzte Tür der Wohnung, die zur Küche. Sie besaß sogar einen winzigen Balkon, doch draußen im Garten herrschte jetzt solche Dunkelheit, dass Schödel erschrak. „Sind wir schon so lange hier? Es ist doch nicht etwa wirklich schon Nacht?“
„Nein, das ist nur die Mutter aller Gewitter.“
Das Nymphäum glich in der schwefligen Finsternis einem verfallenen Erdhügel, und der Schopf der einzelnen Dattelpalme tanzte und schwankte im Sturmwind. Böen zausten ihre Krone, brachen einzelne Wedel heraus und wirbelten sie davon. Dazu klatschten dicke Regentropfen gegen die Scheiben der Balkontür.
„Hören Sie, Schödel, Sie sollten zusehen, dass Sie in Ihr Mutterhaus im Vatikan kommen. Wenn Sie noch länger warten, müssen Sie heute Nacht bei mir ausharren.“
„Nun, Sie könnten mir aus Ihrem Leben erzählen. Ich denke zum Beispiel an Napoleon. Sie müssen mit vielen berühmten Persönlichkeiten gesprochen haben!“
Er verbarg mit Mühe seinen Schrecken. Dass der Orden vom Sonnenkreuz seine Vergangenheit so weit zurückverfolgt hatte! Aber wenigstens schienen sie nichts von Persien und Ägypten zu wissen. Oder Schödel wusste nichts davon.
Er sagte: „Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe den Kaiser nur ein-, zweimal aus der Nähe gesehen, in den Tuilerien, aber gesprochen habe ich mit ihm nie. Auch nicht mit Wellington, obwohl ich mehrere Jahre als Kanonier mit seiner Armee durch Spanien gezogen bin.“
„Dann waren Sie sicher auch in Waterloo dabei?“
„Nein, da war ich schon in Wien.“
Dort hatte er versucht, zur Exkaiserin Marie Louise vorgelassen zu werden, um sie davon zu überzeugen, ihm La Fiamettas goldene Asche auszuhändigen. Aber sie hatte die Urne lieber an die bayerische Königin Marie weitergegeben, und die hatte La Fiametta wieder eine Generation später an ihre Nichte Sophie d’Alençon verschenkt. Aus ihren Händen hätte er die Asche der Dame Phönix dann 1897 erhalten sollen, wäre nicht der Bazar de la Charité in Brand geraten, bei dem die Duchesse umgekommen war. Hundertdreiundzwanzig Jahre Suche, und er hatte die Dame Phönix nur kurz in Vogelgestalt fliegen sehen, bevor er zwischen die anrückenden Dämonen gefahren war, damit sie La Fiametta nicht zerrissen. Die bösen Stimmen draußen im Sturm lachten. Warte nur, heute holen wir sie uns, Sohn eines Drachen.
Jetzt konnte sie auch Schödel hören. Er blickte Jan starr vor Entsetzen an. „Ich weiß nichts davon“, stammelte er. „Wenn sie jetzt schon in einem Flugzeug sitzt, ist das nicht unser Werk. Neville hätte mich unterrichtet.“
„Mit anderen Worten, die Inquisition hat den Orden vom Sonnenkreuz nur benutzt.“
„Glaubenskongregation. Aber nein, das glaube ich nicht. Die Kirche würde nicht …“ Er drehte unbewusst den Ring der Blauen Adepten am Finger. Jan wusste, dass seine Gedanken rasten. Wenn ihr Flugzeug in diesem Sturm abstürzt … Eine Explosion draußen auf dem Meer … Katastrophe … Stolnik würde uns nicht nützen …
Weißes Feuer erhellte den Flur. Das ganze Haus erzitterte unter einem gewaltigen Donnerschlag, gleichzeitig setzte ein Wolkenbruch ein. Der Wasservorhang, der vom Himmel rauschte, verstellte die Sicht genauso wie 1950 in Atlanta. Damals war es Gingerbreads irregeleiteter Ehefrau Cordelia beinahe gelungen, Die, die nicht sein dürfen aus der lichtlosen Tiefe in die Wirklichkeit zu rufen, was mehrere Menschen das Leben gekostet hatte, darunter ein kleines Mädchen. Die Orisha Papa Legba und Erzulie hatten den Versuch vereitelt, und vor gewöhnlichen Dämonen fürchtete Jan sich nicht. Aber was die Welt unter der Knute Derer, die nicht sein dürfen erwartete, mochte er sich gar nicht erst vorstellen. „Erinnern Sie sich an das Desaster von Atlanta, Schödel? Ich möchte fast die Hand dafür ins Feuer legen, dass Die, die nicht sein dürfen auch jetzt bei diesem Unwetter hier wieder mitmischen.“
„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand.“ Schödel bekreuzigte sich im gleißenden Licht eines neuen Blitzes. Der rollende Donner schlug sie beide für eine halbe Minute mit Taubheit, und sobald sich Jans Ohren erholt hatten, hörte er, wie unten im Garten gleich reihenweise Dachziegel zersplitterten. Dafür war das Quaken des Radios in der Wohnung im Erdgeschoss verstummt, das er bisher nur unbewusst wahrgenommen hatte. Ein neuer Blitz brannte sich in seine Netzhaut. Es krachte, und danach standen sie im Finstern.
„Glauben Sie, dass eine Sicherung herausgesprungen ist, Jan?“
Er ging zur Balkontür und spähte hinaus in den Garten. Ringsum war alles dunkel, und auch die Lichtglocke über Rom war verschwunden. „Wahrscheinlich ist in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen.“ Aber wenigstens hörte er über sich kein verdächtiges Knacken und Knistern. Er roch auch nichts. Es brannte nicht, der Blitz hatte den Dachstuhl wie durch ein Wunder nur gestreift, doch Schödel, der im Gegensatz zu ihm überhaupt nichts sah, tastete aufgeregt um sich. „Sie haben nicht zufällig ein Feuerzeug, Stolnik? Ich bin wie blind.“
„Gehen wir in den Salon. Ich leite Sie.“ Er packte den Monsignore am Ärmel und zog ihn quer über den Gang, durch die Tür und zu einem Sessel. Danach ging er zum Ofen, neben dem ein Korb mit Holzscheiten stand. Er zog eines heraus, entzündete es mit einem kleinen Fauchen und kehrte damit zu Schödel zurück. „Bitte sehr, Monsignore.“
„Wie …? Wir sollten ins Erdgeschoss hinuntergehen und nach Signora Ruscello sehen.“ Der Monsignore war vor dem bisschen Drachenfeuer mehr erschrocken als vor dem Blitz. Er piepste wie eine Maus und musste sich mehrmals räuspern, bis er wieder normal sprechen konnte. „Die alte Dame wird sich bei dem Gewitter sicher fürchten.“
„Möglich. Kommen Sie, sehen wir nach ihr!“ Zugluft jaulte durch das Treppenhaus, als Jan die Wohnungstür öffnete. Er barg seine primitive Fackel in der hohlen Hand, während sie hinuntergingen. Schödel klopfte an der Wohnungstür und rief, doch Signora Ruscello antwortete nicht. Schließlich drückte Jan die Klinke und betrat ihre Wohnung, ebenfalls prächtige Räume, die im unsicheren Schein des brennenden Holzscheits mit ihrer Muschel- und Schneckendekoration fast an eine barocke Grottenanlage erinnerten. Aber Signora Ruscello war nirgends zu finden. Jan schaute sogar kurz in ihr Bad, in dessen Dunkelheit Perlmutt- und Spiegelintarsien schimmerten.
„Sie wird doch nicht bei dem Gewitter hinausgegangen sein?“ Schödel schritt zur Hintertür und wollte sie aufklinken, doch der Sturm riss sie ihm aus der Hand, durchnässte seine Soutane mit einem einzigen Regenschwall und drosch ihm einen fliegenden Ast gegen die Schienbeine.
„Autsch!“ Der Monsignore rieb sich, Jan drückte ihm das wild flackernde Holzscheit in die Hand und schrie ihm gegen den brausenden Sturm ins Ohr: „Verriegeln Sie hinter mir. Ich klopfe, wenn ich zurückkomme!“
Schödel nickte. Gegenüber, unter dem Dach des Nymphäums in der Dunkelheit gerade noch zu erkennen, stand eine kleine Gestalt im Matrosenanzug. Dann blies der Sturm die primitive Fackel aus, und Jan warf sich hinaus in den Garten, wo die Naturgewalten sofort an seinen Schwingen rissen und zerrten. Menschen hielten ihn in der Regel wegen der Stummelflügel für bucklig, doch er besaß ein zweites, sehr mächtiges Paar unsichtbarer Schwingen, die nicht von dieser Welt waren. Im Alltag spürte er sie selten, aber jetzt fuhr der Sturm in die ledrigen Häute, die sich zwischen seinen Flugfingern spannten, beutelte und blähte sie und führte ihn in Versuchung, sich in den Aufwind zu werfen und hoch in den Sturm reißen zu lassen. Es wäre ihm jedoch schlecht bekommen. Er konnte nicht fliegen, er litt unter Höhenangst, seit er als Kind, lange bevor er die magischen Schwingen entdeckt hatte, einmal von einem Turm des Stadtschlosses in Dresden gesprungen war und sich beim Aufprall alle Knochen gebrochen hatte. Außerdem musste er Signora Ruscello retten.
Die Turbulenzen im Garten warfen ihn immer wieder zurück, erst als er seine Schwingen in seine eigenen Hosenbeine krallte, kam er vorwärts. Signora Ruscellos weißes Haar leuchtete in einem Blitz auf, und er hob den Fuß zu einem letzten Schritt. Doch in diesem Moment zwitscherte Elektrizität an ihm hoch, kochte seine bis auf die Haut nassen Kleider nd entlud sich heiß wie tausend Sonnen durch seinen ganzen Körper. Er brüllte vor Schmerz und verlor für einen Sekundenbruchteil die Kontrolle über seine Schwingen. Sie trugen ihn hoch über das Haus und den Garten, sein Herz raste, ihm war speiübel, aber dann drehte er sich instinktiv und faltete die Flügel zusammen. Er schoss nach unten, der Rasen kam unaufhaltsam näher, doch im letzten Moment öffneten sich die Schwingen weit, es warf ihn nach vorne, seine Krallen gruben sich ins Erdreich, er prellte sich schmerzhaft beide Flughände und landete auf den Knien dicht vor dem Nymphäum. Doch es war keine Zeit zu verlieren, er rappelte sich auf, hob Signora Ruscello auf seine Arme und stolperte mit ihr zurück zum Haus.
Regen peitschte seine Flügel und lief ihm in den Kragen, aber der Sturm trieb ihn in null Komma nichts an die Hintertür. Er prallte dagegen, Schödel öffnete, und wieder knallte eine wütende Bö die Tür gegen die Wand. Jan und Signora Ruscello taumelten ins Haus, irgendwie trafen sie den Monsignore dabei an der Hüfte, er rutschte aus und landete wuchtig auf dem Hintern. Jan setzte Signora Ruscello schnell ab. Er hätte ein bisschen Hilfe gut gebrauchen können, ihm war schwindlig, und alle seine Knochen schmerzten noch von dem Blitz. Aber Schödel schnappte nach Luft, Sturzbäche von Regen schütteten durch die offene Tür ins Haus, und der Terrazzofußboden schwamm, also stemmte er sich allein gegen die Tür. Es kostete ihn gewaltige Anstrengung, aber nach einer schier unendlichen Zeitspanne gelang es ihm, sie gegen den Druck des Sturms zu schließen. Er legte den Riegel vor.
Doch damit standen sie wieder einmal im Stockfinstern. Schödel saß auf dem Boden und stöhnte. Signora Ruscello lachte gut gelaunt. „Signori, ich danke Ihnen. Warten Sie hier, ich hole Licht.“ Ein neuer Blitz zeigte, wie die kleine Alte leichtfüßig durch das Wasser im Flur zu ihrer Wohnung tänzelte. Jan war sich zwischen mehreren krachenden Donnerschlägen nicht sicher, doch ihm schien, dass sie sogar sang. Er selbst fühlte sich in den klatschnassen Klamotten äußerst unwohl. Seine gesamte Haut juckte und ziepte von dem Blitz, er spürte, wie sich hunderttausend Schuppen von seinem Rücken, seinen Flügeln, Armen und Beinen lösten. Am schlimmsten aber schmerzten ihm die Ellenbogengelenke.
„Jan?“, ächzte Schödel. „Helfen Sie mir bitte, ich glaube, ich habe mir das Steißbein gebrochen. Ich komme nicht hoch.“
Er zog den Monsignore auf die Füße, und inzwischen kehrte auch Signora Ruscello wieder zurück. Sie trug in beiden Händen eine Lampe, die aus vier großen Jakobsmuschelschalen bestand und von grünlichem Meeresleuchten erfüllt war. Ihr Gesicht wirkte in diesem Schein plötzlich jung und glatt, und vor allem verriet das Elmsfeuer die zarten Schwimmhäute zwischen ihren gespreizten Fingern. Jan fragte sich leicht ärgerlich, warum er eine Nixe aus einem Nymphäum hatte retten müssen.
Auch Schödel riss erstaunt die Augen auf. Aber bevor der Monsignore etwas sagen konnte, legte ihm Graziella Ruscello sacht eine Hand aufs Herz. „Schlafe!“, sagte sie. Schödel fielen die Lider zu. Er sackte zusammen und wäre erneut zu Boden gesunken, dieses Mal laut schnarchend, hätte ihn Jan nicht festgehalten. „Bring ihn in meine Wohnung und leg ihn dort auf ein Sofa. Wir müssen reden“, sagte die Nixe Graziella.
„Ich werde ihm auch die nassen Sachen ausziehen.“
„Meinetwegen. Das Unwetter, das die Dämonen über uns gebracht haben, verhindert gleichzeitig, dass sie uns belauschen können. Aber es wird nicht ewig toben.“
Draußen krachte ein neuer Donnerschlag. Drinnen kräuselte er das Wasser, das im Flur inzwischen knöcheltief stand und Jan in die Schuhe lief. Graziella Ruscello leuchtete vor ihm her, und er folgte ihr mit Schödels schlaffem Körper über der Schulter in ihre Wohnung. Dort heulte der Sturm, alle Fensterläden im Salon ratterten, und es zog wie Hechtsuppe. Er fror, während er Schödel die nasse Hose vom Körper zog und den Schlafenden in die Soutane wickelte. Lichtreflexe wie von Wellen liefen dabei über die Wände in Graziella Ruscellos Salon, und das Meeresgetier, das auch hier über die Stuckdecke herrschte, schien mit den Flossen zu spielen. „Komm mit ins Badezimmer“, sagte die Nixe, „lass mich dir die Drachenschuppen von der Haut waschen.“
Rom, Via Merulana 259; Sonntag, der 4. Juli 1965, wahrscheinlich nicht später als 18 Uhr, im Wüten des Sturms.
Das Badezimmer wurde zu einer schimmernden Barockgrotte mit drei Nischen, als Graziella Ruscello ihr Muschellicht hineintrug. Das Elmsfeuer erhöhte die Perlmuttintarsien im bläulichen Lüster, leuchtete grünlich aus Bergkristallbrocken zurück, die glitzernde Bogen um alle Kuppelzwickel formten, und glänzte in den vielen Spiegeln, obwohl sie von dem dampfenden Wasser in der gläsernen Wanne beschlugen. Die glich beim Nähertreten eher einem hüfthohen Aquarium, in dem algengrünes Wasser bis zum Rand reichte. Es roch gut nach Kräutern, doch er bezweifelte, dass Sauberkeit der einzige Zweck dieser Wanne war. Tatsächlich stand ihr gegenüber in einer weiteren kleineren Nische des Badezimmers ein Ruhebett aus Stein, aber noch ungewöhnlicher fand er, dass im Fußbodenmosaik mittig eine durchbrochene Messingplatte eingelassen war. Erst dachte er, das leise Rauschen im Raum sei ein Echo des Gewitterregens, doch dann begriff er. „Du hast einen eigenen Brunnen.“
„Jede Nixe hat einen. Im eigenen Haus nicht in unser ureigentliches Element zurückkehren zu können, das wäre unerträglich.“ Sie schlang die Arme um ihn, sehr weiße, sehr glatte Arme. Graziella Ruscello war aus ihrem Matrosenanzug geschlüpft, ohne dass er es bemerkt hatte, und darunter bis auf einen Gürtel aus goldenen Kaurimuscheln nackt. „Nimm mich“, sagte sie, „schenke dich mir, und ich erzähle dir alles, was du wissen musst. Hilf uns bei unserem Kampf gegen Die, die nicht sein dürfen, und wir helfen dir.“ Dabei zog sie ihm sehr geschickt das nasse Jackett von den Schultern. Doch er machte den Fehler, es reflexartig wieder hochzuziehen, und sie öffnete ihm dafür die Gürtelschnalle seiner Hose und den Reißverschluss. Flinke Finger gruben sich in seine Unterhose und packten seinen Schwanz. „Oh“, sagte Graziella, „du bist aber wirklich gut gebaut.“
Er sagte ärgerlich: „Langsam!“ Aber sie schälte ihn einfach erneut aus dem Jackett, dieses Mal erfolgreich, und dafür, dass er seine rutschenden Hosen festhielt, zog sie ihm einen Schuh aus. „Man könnte meinen, du hast noch nie mit einer Frau verkehrt! Komm, ab mit dir in die Wanne. Du wirst sehen, du fühlst dich gleich wohler, wenn du diese ganzen Schuppen los bist.“ Er konnte sich wehren, wie er wollte, ihre Arme (und Beine) waren biegsam wie die eines Kraken, und sie war sehr, sehr stark. Außerdem hatte er Hemmungen, eine Frau brutal niederzuringen, und das merkte sie. „Du kannst gegen mich nicht gewinnen. Dieses Haus gehört dem Wasser, hier bin ich stärker.“
Das würde sich zeigen müssen, aber er hatte natürlich nicht die Absicht, diesen Kampf zu gewinnen. Er sagte: „Okay, ich gebe auf. Darf ich mich dafür selbst ausziehen?“
„Gut.“ Sie zog die Haarpfeile aus ihren beiden dicken Knoten, schüttelte ihre Mähne aus, die ihr tatsächlich bis fast zu den Füßen reichte, setzte sich auf den Rand der Wanne und sah ihm erwartungsvoll zu. Sie war wirklich ein Anblick, und allein die Aussicht, in die schimmernde Pracht ihres Haares greifen zu dürfen, erregte ihn mehr, als er selbst wahrhaben wollte. Er bekam Schwierigkeiten, das Jackett und sein Hemd knirschten, weil beides vollkommen durchweicht war, und die Hose klebte erst recht an ihm. Noch dazu saß sie im Schritt jetzt entschieden zu eng. Graziella lachte und streckte beide Arme nach ihm aus. Anders als die Dschinnis, mit denen er in Persien geschlafen hatte, war ihr Körper trotz seiner Biegsamkeit und Glätte keine Illusion, und als sie ihre langen Beine über den Rand schwang und sich zu ihm setzte, verdrängte sie eine erstaunliche Menge des grünlichen Wassers. Es lief über den Rand, überschwemmte den Mosaikfußboden und gurgelte durch das Messinggitter in den darunterliegenden Brunnen. Jan stellte fest, dass das Wasser in der Wanne salzig war und trotz der aufsteigenden Dämpfe kalt. Die Feuchtigkeit, die alle Spiegel beschlagen ließ, war Nebel.
„Was?“, fragte Graziella. „Wir leben in Flüssen und Meeren. Die Temperatur ist vollkommen normal.“
„Das ist aber kein Meerwasser.“
Sie verdrehte die Augen. „Dachtest du, mein Volk hätte von Ostia bis hierher eine Meerwasserleitung legen lassen? Wir sind heutzutage schon froh, wenn Wasser nicht gechlort aus den Hähnen kommt. Das hier …“, sie plätscherte mit der Hand auf dem Wasser, „… ist Badesalz mit Heilkräutern. Hilft bei Hautproblemen.“
Sie nahm einen Bimsstein und rieb damit über seine grauen Schienbeine, die davon selbst in dem grün gefärbten, kalten Wasser sofort eine rosige Farbe annahmen. Weißliche Schuppen stiegen unter ihrem Reiben an die Oberfläche, größere und ganz kleine. „Du bist doch ein Drachensohn. Hat dir keiner gesagt, dass deine Haut durch mehrmaliges Baden im Feuer die Eigenschaften des Salamanders annimmt?“
„Aber nicht die eines echten Lurchs.“
„Natürlich nicht. Ein echter Feuersalamander stirbt im Feuer, aber du bist ein Drache. Du schuppst dich nur, nachdem du dir die Haut verbrannt hast wie eben bei dem Blitz.“ Sie schauderte ein ganz klein wenig. „Ich möchte sogar wetten, dass es dir auch noch Spaß macht, bei jeder Gelegenheit mit dem Feuer zu spielen.“
Er fasste sie sanft unterm Kinn. „Ist das schlimm?“
„Nein.“ Sie lachte und schlang ihm die Beine um die Hüften, aber die hatten sich zu seinem Schrecken in zwei Fischschwänze gewandelt, und die Füße in erstaunlich harte Flossen mit Stacheln. Sie strich ihm damit über den Rücken und rückte ihm ganz nah, bis sich ihre Schamlippen, die perfekt weiblich geblieben waren, an seinen Schwanz schmiegten. Begehren fuhr in ihn, und bevor er nachdachte, hatten seine Hände ihre Hüften gepackt.
Sie lachte sehr. „So ist es gut.“
„“