Andreas Peter












Impressum


Autor:             Andreas Peter

Verlag:           Stormanymail

 

© 2014 Andreas Peter 

TodesReich

 

























Kommissar Kowalski trat die Zigarette auf dem Bürgersteig aus und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Die Zigarette hatte er auf dem Weg von der Straßenbahnstation zum Präsidium entfacht und zu zwei Dritteln geraucht, ehe er sie unter seiner Schuhsohle erstickte. Er blieb noch einen Moment stehen und beobachtete die vorbeieilenden Passanten, dann machte er sich auf den Weg durch die halligen Gänge in den vierten Stock, wo sein Arbeitsplatz lag. Im Gebäude begegneten ihm bekannte und weniger bekannte Gesichter, von denen er einige mit einem Nicken grüßte. In seiner Abteilung war wie gewohnt wenig los, alle Schreibtische waren selten besetzt, weil sich die Arbeitszeiten der einzelnen Kräfte über den ganzen Tag und auch die ganze Nacht verteilten.

Kowalski begab sich unauffällig an seinen Arbeitsplatz. Unauffällig, das hieß mit gesenktem Kopf, um möglichst den Blickkontakt mit seinem Vorgesetzten zu vermeiden. Denn hatte man den erst einmal hergestellt, wollte der meist etwas von einem.

Gut. Er schien ihn gar nicht zu bemerken, sondern unterhielt sich mit jemandem, den er hinter dem T-Träger nicht sehen konnte. Das Büro seines Vorgesetzten wurde ansonsten durch eine Glasscheibe vom Rest der Anlage abgetrennt.

Er wuchtete sich auf seinen Bürostuhl und schmiss einen Pappbecher, den ein Witzbold mitten auf seinem Schreibtisch platziert hatte, in den Papierkorb. Oder vielleicht war er es vergangen Freitag auch selbst gewesen, der den leeren Behälter dort hatte stehen lassen. Soviel zur Arbeitsmoral der Putzkolonne, die hier am Wochenende angeblich wütete, dachte Kowalski.

 

 

Na schön. Erst mal die Emails checken. Würde eh niemand auf die Idee kommen ihm eine zu schicken. Nur die üblichen Geburtstagsspendenaktionen, die über den Verteiler jeder im Revier erhielt und natürlich die Spam-Mails, die Wunderpillen und Penisvergrößerungen feilboten.

„Kowalski.“

Shit. Sein Chef hatte ihn gefunden. Mit schmieriger Stimme, die klang, als hätte er Nivea-Creme gegurgelt, rief er seinen Namen. Dann schwang er seinen Hintern auf die Tischplatte, was Kowalski zum Heulen gebracht hätte, wäre er ein sentimentaler Typ gewesen.

„Brockmann“, antwortete er mit belegter Stimme, die seltsam tief und gebrochen klang. Ihm steckte das Wochenende noch in den Knochen und der Kaffee vom Frühstück.

„Ich hab hier was für sie!“, fuhr sein Chef in seinem hellen Singsang fort.

„Meine Kündigung oder meine Gehaltserhöhung?“, was beides ein Segen gewesen wäre. Er verzog keine Miene als er es sagte.

„Für wen halten sie mich? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich ihnen das Gehalt erhöhen würde?“, witzelte sein Chef und fuhr dann wieder ernst fort.

„Nein, nein. Ich hab hier ihren neuen Partner.“ Er deutete auf den Jungen an seiner Seite. Der konnte höchstens Anfang zwanzig sein.

Kowalski versuchte sich sein Entsetzten nicht anmerken zu lassen und fragte schließlich mit gequälter Stimme: „Partner?“

„Ja, ja“, versicherte ihm sein Chef. „Sie brauchen jemanden an ihrer Seite. Jemand der von ihrer Erfahrung profitieren kann“, fügte er hastig hinzu.

Toll. Sein Chef hatte ihn gerade zum alten Eisen abgestempelt. Er war mit seinen Ende 50 nicht mehr der Jüngste, sicher. Aber das hieß nicht, dass er nicht mehr in Top Form war. Er hatte Augen wie ein Adler und einen messerscharfen Verstand und für Verfolgungsjagden hatte er einen verlängerten Arm: seine Waffe.

Was sollte er mit so einem Milchbubi? Konnte wahrscheinlich nicht mal eine Waffe halten, geschweige denn sie bedienen. Viel schlimmer: Ihm fehlte jegliche soziale Kompetenz im Umgang mit Tätern und Opfern und natürlich das, was es am meisten bedurfte: Feingefühl im Umgang mit Zeugen. Was sollte er mit diesem Küken?

Als hätte er seine Gedanken gelesen, unterbrach sein Chef Kowalskis Grübeleien: „Ihr junger Kollege muss Berufserfahrung sammeln und das geht natürlich nur im echten Polizeidienst. Die Praxis und das was man an der Polizeischule lernt, ja das sind zwei verschiedene Paar Stiefel.“

Kowalski hoffte, dass jetzt nicht wieder einer seiner Vorträge kommen würde, über die Polizei im Allgemeinen und seiner Abteilung im Speziellen, aber bevor er damit anfangen konnte, meldete sich zum ersten Mal der junge Kollege zu Wort.

„Hallo. Ich bin Steffen Weitzeger.“

Kowalski schaute ihn an wie einen Außerirdischen. Erst dann bemerkte er die ausgestreckte Hand des Jungen und nahm sie unbeholfen entgegen.

„Ja, die Herren kennen sich ja jetzt“, stellte Brockmann zufrieden fest und verschwand wieder in Richtung seines Büros.

Shit, dachte Kowalski. Shit. Shit. Shit. Brockmann, du alte Wildsau. Das zahl’ ich dir heim.

 

Der Vormittag ging relativ ereignislos dahin. Kowalski schickte seinen jungen Angetrauten dreimal aus, um Kaffee zu holen und einmal, um in der Materialausgabe Schreibtischreiniger zu besorgen, um die Kaffeeränder zu entfernen.

 

Es war bereits Mittag geworden, als das Telefon klingelte.

„Kowalski...ja, wir kommen sofort. Wiederhören.“

„Wir rücken aus“, entgegnete er dem fragenden Blick seines jungen Kollegen. Sollte dieser mal sehen, wie der echte Polizeialltag eines Kommissars aussah. Der Junge schien aber in keiner Weise verwundert oder missmutig darüber, dass er um seine Mittagspause gebracht wurde, die fünf Minuten später begonnen hätte, sondern folgte ihm ohne ein weiteres Wort.

„Brauch’ ich eine Waffe?“, fragte er schließlich, als sie durch die Gänge des Reviers hetzten. Kowalski musterte ihn von oben nach unten.

„Kannst es wohl gar nicht abwarten, was?“ Und nach einiger Pause: „Nein. Harmlos. Verschwundenes Mädchen. Seit gestern als vermisst gemeldet.“

 

Sie fuhren mit dem Dienstwagen zur angegebenen Adresse weit außerhalb der Stadt, in einer Siedlung in einem der Vororte. Unspektakulär, unauffällig und irgendwie spießig.

Kowalski hielt den Wagen direkt vor dem Anwesen der angegebenen Adresse, Kinder spielten auf der anderen Straßenseite. Er musterte das zweistöckige Gebäude, mit dem geschwungenen, schwarzen Ziegeldach. Vollkommen normal. Deutschland, Mittelstand. Sie liefen zu der breiten, weißen Haustür, die im rechten Drittel einer zurückversetzten Front lag, sodass das Dach des Hauses einen trockenen und windgeschützten Bereich bot, wo einige winterfeste Topfpflanzen in schweren Kübeln standen.

Kowalski klingelte, ein langer Dreiton entstand. Ein Haus der Neunziger, dachte er. Wann ein Haus erbaut wurde, erkannte man am Klingelton. Jedes Jahrzehnt hatte seinen eigenen.

„Hör zu“, schwor er seinen Kollegen kurzfristig ein, ohne ihn dabei anzusehen. „Keine Alleingänge. Keine dummen Fragen. Auch wenn die Leute völlig bescheuert sind. Sie vermissen ihre Tochter und haben sich weiß Gott schon verschiedene Szenarien ausgemalt, ich kenne das. Das wichtigste ist, dass wir sachlich bleiben und keinesfalls ihre Ängste schüren, klar?“

„Klar.“

Von innen hörte man die Geräusche sich nähernder Schritte. Dann wurde die Tür schnell aufgezogen und sie sahen den hoffnungsvollen Blick einer jungen Frau, der sich - nachdem sie die beiden Männer gesehen hatte - in Resignation wandelte.

Ohne Zweifel die Mutter des verschwundenen Mädchens.

Kowalski zog mechanisch den Ausweis aus seiner Weste, dabei fiel ihm ein: Hatte man dem Jungen überhaupt schon einen ausgestellt? Er sah aus den Augenwinkeln: man hatte.

„Kommen sie rein“, sagte die Frau resigniert. Sie gingen an ihr vorüber und sie wies mit ausgestrecktem Arm den Weg ins Wohnzimmer zu ihrer Linken. Sie gebot ihnen auf dem Sofa Platz zu nehmen und setzte sich selbst auf einen Sessel gegenüber. Dann erhob sie sich wieder ruckartig, als stünde die Sitzfläche ihres Sessels unter Feuer. Doch es war die Höflichkeit die es ihr gebot, ihren Gästen etwas anzubieten.

„Wo bleiben meine Manieren! Möchten sie etwas trinken?“

„Nein, nein“, sagte Kowalski und ergänzte im Geiste: „und du auch nicht, sonst schlag ich dir die Zähne ein.“ Doch sein junger Kollege schüttelte ebenfalls den Kopf.

„Setzten sie sich doch wieder“, richtete Kowalski erneut das Wort an die Frau, „und erzählen sie uns genau, wann und wo sie ihre Tochter zum letzten Mal gesehen haben.“

Wie in Trance ließ sie sich wieder in den Sessel sinken. In ihre Gedanken versunken, als hätte sie nicht schon tausend Mal über jede Nuance des vergangenen Tages nachgedacht.

„Gestern Morgen. Beim Frühstück. Ich hab ihr Müsli gemacht. Dann ist sie gegen viertel vor Acht aufgestanden, hat sich ihren Ranzen umgeschnallt und ist losgegangen. Es sind doch nur zehn Minuten Fußweg bis zur Schule, durch bewohntes Gebiet.“

Sie war dabei die Fassung zu verlieren, ihre Augen füllten sich mit Tränen. In diesem Moment betrat ein Mann das Zimmer. Er war Anfang, Mitte dreißig, hatte schütteres braunes Haar. Er setzte sich zu der Frau auf die Lehne und legte seine Hände sanft auf ihre Arme.

„Warum hast du mich nicht gerufen?“ An die Polizisten gewandt erklärte er: „Ich bin Bernd Stegner. Nadjas Vater.“

Kowalski nickte. „Wann haben sie ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“

„Das war bereits vorgestern Abend“, antwortete er unvermittelt. „Ich verlasse das Haus bereits um 6.30 Uhr. Ich bin angestellter Architekt.“

„Ist ihnen in den letzten Tagen vor ihrem Verschwinden, oder auch in der Zeit nach ihrem Verschwinden etwas Besonderes aufgefallen, sei es in dem Verhalten ihrer Tochter - vor ihrem Verschwinden wohlgemerkt - oder in den äußeren Umständen?“, bohrte Kowalski weiter nach.

Beide Elternteile schüttelten synchron den Kopf.

Nun meldete sich Kowalskis junger Kollege zu Wort.

„Wäre es möglich, dass ihre Tochter davon gelaufen ist?“

Kommissar Kowalski biss sich auf die Zunge. Unvermeidlich schoss ihm das Blut in den Kopf. Dieser Idiot! Was für eine taktlose Bemerkung! Er hätte die Frage auch gestellt, sicher. Aber mit mehr Fingerspitzengefühl. Sofort widersprach die Frau vehement.

„Unsere Tochter ist keine Ausreißerin! Es gab hin und wieder Streit, sicher. Bei welchen Eltern einer 15jährigen ist das anders? Aber abgehauen, das wäre sie niemals.“

„Schon gut“, beschwichtigte Kommissar Kowalski und erhob sich vom Sofa. „Falls ihnen noch irgendetwas einfällt, oder sich etwas in der Sache bewegt, lassen sie es und wissen und dasselbe werden wir natürlich für sie tun.“

Er schüttelte Herrn und Frau Stegner die Hand und ging dann zur Tür. Sein Kollege tat es ihm gleich. Draußen auf dem schmalen Pfad zum Hoftor blieb er nicht stehen, sondern lief schnurstracks zum Wagen. Erst als sie eingestiegen waren und sein Kollege die Tür zugezogen hatte, holte er aus um ihn anzufahren:

„Sag mal geht’s noch?! Was war das für eine Nummer? Den Eltern so eine Frage zu stellen! Lernt man denn an der Polizeischule nur, wie man Briefmarken leckt?“

„Ach, sie hätten die Frage doch sicher auch gestellt, Herr Kommissar.“ Die Art und Weise wie der Junge die letzten Worte betonte, gefielen ihm nicht.

„Das ist doch bei der Polizei so üblich, dass man in erster Linie nicht von einem Verbrechen ausgeht, solange man keine Indizien dafür hat. Vor allem dann nicht, wenn man mit Angehörigen spricht.“

„Gewiss“, bestätigte Kommissar Kowalski. „Aber man muss etwas Taktgefühl aufbringen, in der Art und Weise, wie man das vermittelt. Die Leute müssen das Gefühl haben, dass man sie ernst nimmt.“

„Wie hätten sie es denn zum Ausdruck gebracht?“

Kowalski holte Luft und breitete die Hände aus, als würden auf ihr die passenden Worte liegen. „Ich hätte gesagt: Manchmal verschwinden Jugendliche und kommen dann nach ein paar Tagen wieder. So sind Kinder eben.“

Steffen Weitzeger legte den Kopf schief. „Sie hätten auch sagen können: Manchmal werden Jugendliche aufgeschlitzt und ausgeweidet. So sind Serienmörder eben.“

Kowalski blickte den Jungen finster an: „Ich sollte sie erschießen für diese Bemerkung, aber die Kugeln in meiner Dienstwaffe sind abgezählt.“

„Also, was machen wir jetzt?“, fragte Weitzeger völlig unbeeindruckt.

„Wir fahren zur Schule. Mal sehen ob wir dort mehr herausfinden können.“

 

Sie fuhren zu der einen Kilometer entfernten Realschule. Ein roter Pädagogenklotz, wie man sie in den 80ern errichtet hatte. Auf dem Pausenhof standen einige Jugendgruppen, im Inneren liefen einige wenige Schüler durch die weitläufige, lichtdurchflutete Aula.

Kowalski hielt eine Schülerin an und fragte sie nach dem Weg zum Sekretariat. Sie wurden in einen schmalen Seitengang gewiesen, wo sie zunächst auf das Lehrer- und ein Krankenzimmer stießen, bevor sie das dritte Türschild auf das Sekretariat hinwies.

Es stellte sich heraus, dass sie für heute zu spät gekommen waren. Die Tür war bereits abgeschlossen.

Im Lehrerzimmer fanden sie einen zerfahrenen BWL-Lehrer vor. „Einen armen Irren“, wie Weitzeger es später ausdrücken würde. „Einer der es in der freien Wirtschaft nie schaffen würde, weil er zu verblendet ist. Der typische Lehrer eben.“

Sie beschlossen morgen Vormittag noch einmal zu kommen und dann von Klasse zu Klasse zu gehen. Kowalski hatte bereits das Fahndungsfoto bei sich, mit dem Nadjas Eltern ihre Tochter am Vortag für vermisst gemeldet hatten.

Anschließend fuhren sie wieder zu ihrem Elternhaus, um von dort die nähere Nachbarschaft und sämtliche Anwohner auf dem Weg zwischen der Schule und ihrem Zuhause zu befragen. Das Ergebnis war niederschmetternd: Kein einziges Indiz. Zwar hatten einige Anwohner gesehen, wie das Mädchen das Haus verlassen hatte und auch auf dem Weg zur Schule war sie mehrmals gesichtet worden - es schien so, als würden einige Nachbarn genau beobachten, was in ihrer Umgebung vor sich ging, einer konnte sogar genaue Uhrzeiten nennen - aber keiner konnte etwas zu ihrer Rückkehr sagen. Offensichtlich hatte sie den Nachhauseweg nie angetreten. Die Eltern dürften sich in den nächsten Tagen jedenfalls über zahlreiche verstohlene und mitleidige Blicken freuen.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Steffen ziemlich resigniert, nachdem sie das letzte Haus abgearbeitet hatten.

Kowalski musterte ihn von oben bis unten: „Jetzt schauen wir uns an, wie du mit einer Waffe umgehen kannst.

 

Kowalski rüstete seinen jungen Kollegen mit ein paar Ohrenschützern und einer Leihwaffe aus dem gesicherten Waffenschrank im Keller des Reviers aus. Einzig und allein dafür bestimmt, um auf unbewegliche Ziele aus Papier zu schießen. Eine eigene Dienstwaffe hatte Brockmann für Weitzeger schon beantragt, sie würde morgen eintreffen.

Sie gingen zu den Schießscharten und stellten sich nebeneinander. Kowalski breitbeinig und mit beiden Händen an der Waffe. Weitzeger mit dem Körper leicht nach links geneigt und den linken Fuß nach hinten versetzt, die Waffe hielt er in einer Hand.

Neumodischer Schnickschnack, dachte Kowalski. Hätte der Junge eine Schrotflinte, würde er mit dem Rückschlag an die Wand fliegen.

Sie begannen auf die unbeweglichen Ziele in 12 Metern Entfernung zu schießen. Kowalski traf einmal in die Stirn, wirbelte dann die Haarmähne der Silhouette auf und fetzte schließlich das linke Ohr ab. Weitzeger traf mitten in den Kopf, landete einen zweiten Treffer direkt daneben und versenkte den dritten offensichtlich im Loch des ersten, denn die Einschussstelle weitete sich kaum merklich aus.

„Vielleicht sollte ich mal auf ihre Scheibe zielen“, witzelte Weitzeger. „Damit sie noch eine Chance haben.“ Wieder hatte Kowalski den Drang, seinem jungen Kollegen eine Kugel in den Kopf zu jagen, aber er beherrschte sich. Vor zehn Jahren vielleicht, dann hätte er direkt aus dem Knast in die Rente gehen können. Aber jetzt schien eine neun Quadratmeter Zelle nicht mehr so verlockend. Außerdem war er offensichtlich nicht mal mehr in der Lage, zielsicher eine Papierwand zu durchlöchern. Da war ein Hering wie Weitzeger kein sicheres Ziel.

Sie feuerten noch einige Schüsse ab, wobei sich Weitzeger einen Spaß daraus machte, eine gerade Linie in den Kopf seiner Zielperson zu feuern. Offensichtlich war das keine auslastende Angelegenheit für ihn. Kowalski bemühte sich zumindest, überhaupt die Silhouette zu treffen, gab sich aber bald keine Mühe mehr, was zu einigen überraschenden Treffern führte.

Alsbald packten sie ihre Sachen und räumten im Umkleideraum die Utensilien zurück in den vorgesehenen Wandschrank. Weitzeger kommentierte Kowalskis Leistung nicht, aber Kowalski hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen.

„Bild dir darauf nichts ein, Junge. Die wahre Stärke eines Kommissars liegt nicht in der Treffsicherheit mit seiner Dienstwaffe, sondern der Treffsicherheit seiner Worte und Gedankengänge.“

„Sicher“, antwortete Weitzeger und Kowalski konnte nicht sagen, ob er es ironisch oder ernst meinte.

„Wir machen jetzt Feierabend und morgen treffen wir uns um halb acht wieder im Revier, damit wir pünktlich um acht Uhr an der Schule sind. In Ordnung?“

Weitzeger nickte und ließ ein Grinsen sehen. „Dann bis morgen Kollege.“

 

Kowalski betrat seine drei Zimmer Wohnung. Das war großzügig für die Gegend, aber die Inneneinrichtung ließ zu wünschen übrig. Die Möbel waren abgewetzt und die Tapeten hätten schon vor 20 Jahren raus gemusst. Aber es war ja nur vorübergehend sagte er sich. Ein Provisorium. Ein ewiges Provisorium.

Er ging in die Küche und blickte in den Kühlschrank. Er ernährte sich recht anständig. Das würden ihm 40 Jahre, in denen er viel zu viel Müll in sich hinein gestopft hatte, nicht wieder gut machen, aber er konnte gut und gerne 79 werden, oder so. Er entschied sich für ein Fertiggericht. Brokkoliauflauf mit Zwiebelstücken. 20 Minuten im Backofen oder fünf Minuten in der Mikrowelle. Er entschied sich für die Mikrowelle.

Die heiße Aluschale stellte er auf einen Teller und nahm sie mit vor den Fernseher. Er schaufelte die Brocken in sich hinein und verbrannte sich dabei mehrmals die Zunge. Zur Abkühlung goss er ein Glas Rotwein hinterher. Lustlos begann er durch die Programme zu zappen, blieb kurz bei einem Städtequiz hängen und ließ sich schließlich von einer Naturdokumentation einlullen.

Er war schon in einem Dämmerzustand, als plötzlich das Telefon klingelte. Beim Aufstehen übersah er den Teller, der immer noch auf seinem Schoß stand. Er fiel klirrend zu Boden, zerbrach aber nicht, weil er von seinem Fuß abgefedert wurde. Fluchend hüpfte er kurzzeitig auf einem Bein herum, bevor er seine Wut auf das Telefon kanalisierte und den Hörer heftig von der Feststation riss.

„Jaaa, Kowalski! Wer denn?!“

„Ja hier Steffen Weitzeger. Alles klar, Herr Kommissar? Sie klingen so aufgebracht.“

Diesmal hätte er es getan. Diesmal hätte er ihn erschossen. Aber am Telefon ging das so schlecht. Stattdessen versuchte er ihn im wörtlichen Sinne zu Tode zu telepathieren.

„Weitzeger, wissen sie wie spät es ist?“

„21.30 Uhr würde ich sagen.“

„Was rufen sie hier an? Bin ich die Seelsorge?!“

„Ich hab da so eine Idee.“

„Ich auch, aber sie würden sie nicht überleben!“

„Ich hab gerade einen Bericht im Fernsehen gesehen. Über einen verschwundenen Jungen in Moers.“

„Na und?“

„Er ist seit letzter Woche für vermisst gemeldet. Könnte doch etwas mit unseren Fall zu tun haben, oder?“

„Könnte, könnte...es wird ständig irgendjemand vermisst. Moers ist 50 Kilometer von uns entfernt.“

„Die haben keinerlei Anhaltspunkte was passiert sein könnte.“

Dann ist die einzige Gemeinsamkeit, die Unfähigkeit der Polizei dort und hier, dachte Kowalski, sagte aber stattdessen: „Es gelten laufend 200 Personen in Deutschland als vermisst. Ob ausgerissen, eingesperrt, ermordet, keiner weiß es.“

„Vielleicht ein gut organisierter Serienkiller.“