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Ein Auszug aus »Blind Walk« von Patricia Schröder
Ausgesetzt im Nirgendwo, gefangen in einem teuflischen Spiel, aus dem es kein Entkommen gibt …
Die 17-jährige Lida nimmt zusammen mit anderen Jugendlichen am »Blind Walk« teil:
Sie werden in eine unbekannte Gegend gefahren und in der Wildnis ausgesetzt. Die angespannte Situation in der Gruppe eskaliert, als die Jugendlichen die Leiche von einem der Männer finden, die sie in den Wald gebracht haben. Ohne die Möglichkeit, Hilfe zu holen, irren die Blind Walk-Teilnehmer durch das ihnen unbekannte Gebiet, ständig mit dem unheimlichen Gefühl, beobachtet zu werden.
Von außen macht es nicht viel her. Aber so ist es ja oft. Gerade bei Menschen kann der äußere Eindruck täuschen, und man käme nie darauf, was insgeheim in ihnen vorgeht. Wozu sie imstande sind. Bei mir war alles so gut verborgen, dass selbst ich nichts geahnt habe.
Aiden hält vor dem heruntergekommenen Gebäude. Er sieht mich an. »Du brauchst keine Angst zu haben, Kyla.«
»Hab ich doch gar nicht«, protestiere ich, aber nachdem ich einen Blick auf die Straße geworfen habe, packt mich plötzlich doch die Panik. »Lorder«, zische ich und kauere mich in den Sitz. Hinter uns stoppt ein schwarzer Van und versperrt uns den Rückweg. Ich bin wie gelähmt, auch wenn alles in mir schreit: Lauf. Die Angst schleudert mich zurück in eine andere Zeit, zu einem anderen Lorder. Coulson. Die Waffe ist auf mich gerichtet und dann …
Ein Schuss!
Katrans Blut. Ein roter Strom hat sich über uns beide ergossen und ein Freund wurde mir für immer genommen. Vor Jahren war mein Vater auf ähnliche Weise ums Leben gekommen, Katrans Tod hat diese verschüttete Erinnerung freigelegt. Beide tot. In beiden Fällen ist es meine Schuld.
Aiden legt seine Hand auf meine, besorgt behält er sowohl mich als auch den Rückspiegel im Auge. Türen werden geöffnet, jemand steigt aus. Sie trägt nicht die schwarze Kleidung der Lorder. Eine schmächtige Frauengestalt, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Sie geht zur Eingangstür. Ihr wird geöffnet und sie verschwindet im Gebäude.
»Sieh mich an«, sagt Aiden mit ruhiger Stimme und ich reiße den Blick vom Wagen hinter uns los. »Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Verhalte dich einfach unauffällig.« Er dreht sich halb im Sitz herum und versucht, mich in seine Arme zu ziehen, aber ich bin vollkommen verkrampft. »Komm, spiel mit«, sagt er, und ich gebe mir große Mühe, mich zu entspannen. »Falls sie sich wundern, warum wir hier angehalten haben«, flüstert er, die Lippen in meinem Haar.
Ich atme tief durch. Die Lorder sind nicht hinter mir her. Die fahren gleich wieder. Die sind nicht hinter mir her. Und dann klammere ich mich an Aiden, der mich daraufhin noch fester umarmt. Ein Motor wird gestartet. Knirschende Reifen im Schotter.
»Sie sind weg«, sagt Aiden, lässt mich aber nicht los. Vor lauter Erleichterung lasse ich mich ganz in seine Arme sinken, vergrabe das Gesicht an seiner Brust. Sein Herz schlägt schnell, ein Hämmern, das neben Wärme und Geborgenheit noch mehr zu versprechen scheint.
Aber das geht doch nicht. Aiden ist nicht Ben.
Aus Angst wird Scham und dann Wut. Wut auf mich selbst. Ich entziehe mich ihm. Wieso bin ich nur so eine Memme, die sich von den Lordern so schnell einschüchtern lässt? Und wie konnte ich mich nur wegen so ein bisschen Angst gleich Aiden in die Arme werfen? Unterwegs hat er mich doch vorgewarnt, dass auch Lorder hierherkommen würden. Lorder, Funktionäre und ihre Familien. Leute mit Geld und Einfluss, die andere dazu bringen können, wegzuschauen und Stillschweigen zu bewahren. Die Frau von gerade eben ist wahrscheinlich mit einem Lorder verheiratet. Und sicher aus demselben Grund hier wie ich. Ich werde rot.
Aiden sieht mich mit seinen blauen Augen besorgt an. »Schaffst du das wirklich, Kyla?«
»Ja, natürlich. Und du sollst mich doch nicht mehr so nennen.«
»Das wäre leichter, wenn du dich endlich für einen neuen Namen entscheiden könntest.«
Dazu sage ich nichts, weil ich eigentlich schon einen ausgewählt habe. Aber ich glaube, der Name wird ihm nicht gefallen.
»Geh so rein, als würde der Laden dir gehören, dann nimmt keiner Notiz von dir. Ist doch alles anonym.«
»Okay.«
»Und beeil dich lieber, bevor noch jemand kommt.«
Lorder?
Ich steige aus dem Auto. Es ist Januar, ein kalter grauer Tag. Grund genug, einen dicken Schal um den Kopf zu wickeln, der mein Aussehen verbirgt, das sich schon bald verändern wird. Ich straffe die Schultern und laufe los. Die Eingangstür öffnet sich.
Ich trete ein und möchte am liebsten auf der Stelle umdrehen: Geh rein, als würde dir der Laden gehören. Dieser funkelnde Palast mit riesigen Plüschsesseln, sanfter Musik und einer freundlichen Krankenschwester? In der Ecke steht unauffällig ein Wachmann. Die Lorderfrau aus dem Van hat mit einem Glas Wein in der Hand in einem Sessel Platz genommen.
Lächelnd kommt die Krankenschwester auf mich zu. »Herzlich willkommen. Welche Nummer haben Sie?«
»7162«, sage ich. Die Nummer hat Aiden mir vorhin gegeben. Auch wenn mein Name lieber ungenannt bleiben sollte, war mir das mit der Nummer auch nicht geheuer. Nicht, nachdem ich geslatet wurde und ein Levo mit einer Nummer am Handgelenk tragen musste, das mich für alle Welt sichtbar als Kriminelle gebrandmarkt hat. Jetzt bin ich es zwar los und es sind auch keine Narben mehr zu sehen, aber die inneren Verletzungen bleiben.
Die Schwester schaut auf einem Handgerät nach und lächelt. »Warten Sie noch einen Moment. Ihr IMET-Berater wird gleich bei Ihnen sein.«
Ich setze mich und fahre erschrocken zusammen, als sich der Sitz meinem Körper anpasst. IMET: Image Enhancement Technology. Kaum bekannt, höllisch teuer und absolut illegal. Meinen Besuch hier habe ich Aidens Organisation MIA zu verdanken. MIA steht für Missing in Action, allerdings kümmern sie sich nicht nur um Vermisste, sondern prangern auch die Machenschaften der Lorder an. Sie schmuggeln zudem Menschen aus dem Land, die dringend verschwinden müssen, und schleusen im Gegenzug andere hinein: IMET-Berater, die einen lukrativen Schwarzmarktdeal wittern.
Die Frau im Nachbarsessel wendet sich mir zu. Sie ist attraktiv, um die fünfzig. Wenn die Gerüchte stimmen, wird sie beim Verlassen der Klinik zwanzig Jahre jünger aussehen. Ihr neugieriger Blick scheint zu fragen: Und warum bist du hier? Ich ignoriere sie.
Eine Tür geht auf, Schritte nähern sich. Die Frau will schon aufstehen, aber der Mann geht an ihr vorbei und bleibt vor mir stehen. Ein Arzt? So einen habe ich jedenfalls noch nie gesehen. Er trägt OP-Kleidung, aber die ist knallig lila und aus glänzendem Stoff. Passt perfekt zu dem gesträhnten Haar und den violetten Augen samt künstlichem Schimmer.
Er streckt mir die Hände entgegen, hilft mir auf und küsst mich auf beide Wangen. »Hallo, Schätzchen. Ich bin Doc de Jour, aber nenn mich ruhig DJ. Hier entlang bitte.« Ein unbekannter Akzent, eine Art langsamer Singsang. Ist er Ire?
Ich verkneife mir das Grinsen, als ich das empörte Gesicht der Dame im Sessel sehe. Bestimmt fragt sie sich, warum ich Vorrang habe. Wenn die wüsste.
Wenn sie es wüsste, würde sie unverzüglich ihren Lorder-Ehemann informieren.
Doc de Jour ist enttäuscht von mir. »Mehr willst du nicht machen lassen? Nur das Haar? Braun.« Aus seinem Mund klingt es, als sei es ein Verbrechen, sich für eine so gewöhnliche Haarfarbe zu entscheiden. Aber ich will ja gerade unauffällig sein.
»Ja, braun.«
Er seufzt. »Du hast so herrliches Haar, ganz schwer hinzubekommen. Wie Narzissen im Sonnenlicht. Farbton 12. Die hellen Strähnen 9.« Mit prüfendem Blick fährt er mir durchs Haar, als wollte er es für die nächste Patientin kopieren. Dann inspiziert er mein Gesicht. »Wie sieht es mit der Augenfarbe aus?«
»Nein, ich mag Grün.«
»Die sind sehr markant. Ein Risiko«, sagt er und ich sehe ihn groß an. Was weiß er?
Doc de Jour zwinkert. »Interessanter Ton. Fast Apfelgrün 26, nur kräftiger«, sagt er und dreht den Stuhl, auf dem ich sitze, einmal herum und mustert mich von oben bis unten. Ich winde mich unter seinem Blick. »Wärst du nicht gerne ein bisschen größer?«
Ich hebe eine Braue. »Geht das denn?«
»Natürlich. Das braucht aber Zeit.«
In mir regen sich Widerstände. »Stört Sie meine Größe?«
»Nein. Wenn es dir nichts ausmacht, immer hochspringen zu müssen, um etwas sehen zu können.«
»Nur die Haare.«
»Braun. Du weißt, dass wir bei IMET mit beschleunigter Gentechnologie arbeiten. Die Veränderung ist dauerhaft. Für immer brünett. Du bist dann keine Blondine mehr, das Haar wird braun nachwachsen, es sei denn, du lässt dich erneut von mir behandeln.«
Er hält mir einen Spiegel vors Gesicht. Merkwürdiger Gedanke, mein Haar ein letztes Mal so zu sehen. Das Blond finde ich eigentlich gar nicht schlecht, nur ist mein Haar sehr fein, ich habe mir immer volleres gewünscht. Wie Amy. Ihr herrlich dichtes, dunkles Haar war das Erste, was mir bei meiner neuen Schwester aufgefallen ist, als ich nach dem Slating meine neue Familie kennengelernt habe. So lange ist das noch nicht her, erst ein paar Monate. »Warten Sie mal. Ich überlege gerade …«
Doc de Jour dreht den Stuhl zurück und starrt mich mit seinen lila Augen an. Diesem Blick kann man schwer ausweichen. »Ja?«
»Können Sie die Haare auch länger machen? Und dicker? Vielleicht … mit ein paar helleren Strähnen drin. Bloß nicht zu ausgefallen, es soll natürlich aussehen.«
Er klatscht in die Hände. »Wird gemacht.«
Wenig später werde ich gebeten, mich auf einen Tisch zu legen, der sich wie der Sessel im Warteraum um meinen Körper schmiegt. In einem Anflug von Panik versuche ich, wach zu bleiben. Ist das Slating auch so abgelaufen? Damals hatte ich keine Wahl, ich habe das Foto in der Akte gesehen. Wie einen Verbrecher hat man mich an einem Tisch festgeschnallt. Die Lorder und ihre OP haben mir meine Erinnerungen gestohlen, mir einen Chip ins Gehirn gepflanzt, der mich hätte umbringen können, solange ich noch das Levo getragen habe. Diesmal ist es anders. Es sind ja nur Haare. Und außerdem ist es meine eigene Entscheidung, niemand zwingt mich dazu.
Im Hintergrund spielt Musik. Alles ist unscharf und nebulös, mir fallen die Augen zu.
Es sind ja bloß Haare … aber es sind die Haare, durch die Ben beim Küssen mit seinen Fingern gefahren ist.
Seit die Lorder ihn weggebracht und sein Gedächtnis gelöscht haben, weiß er nicht mehr, wer ich bin. Aber was, wenn er gegen die Lorder auf begehrt und gegen das, was sie ihm angetan haben, kämpft und sich wieder erinnert? Zu verstehen beginnt, warum ich sein Traummädchen bin. Was dann? Wenn ich anders aussehe, wird er mich nie finden.
Ich schlucke, ringe nach Worten, will ihnen sagen, dass ich meine Meinung geändert habe und sie aufhören sollen.
Ben …
Gesichter tauchen auf und verschwinden wieder.
Wir rennen. Seite an Seite durch die Nacht, nur dass Ben mit seinen langen Beinen einen langsameren Rhythmus hat. Es regnet, aber das ist uns egal. Er läuft den Berg hinauf voraus, in dem schmalen, in den Fels geschlagenen Pfad steht das Wasser. In null Komma nichts sind wir durchnässt und schlammbespritzt. Als er oben auf dem Gipfel ankommt, streckt er lachend die Hände in den Himmel, der Regen wird stärker.
»Ben!« Ich schlinge die Arme um ihn und ziehe ihn unter einen Baum, kuschle mich wärmend an ihn.
Doch irgendwas stimmt nicht.
»Ben?« Ich löse mich von ihm, sehe in ein vertrautes Augenpaar. Braun wie geschmolzene Schokolade mit hellen Sprenkeln. Ein erstaunter Blick. »Was ist denn?«
Kopfschüttelnd stößt er mich weg. »Ich verstehe das nicht.«
»Was denn?«
»Ich dachte, ich kenne dich, aber das stimmt nicht, oder?«
»Ich bin es doch!« Meine Stimme verliert sich. Panisch suche ich nach einem Namen, nicht irgendeinem, sondern meinem Namen. Wer bin ich eigentlich?
Ben schüttelt den Kopf, wendet sich ab. Läuft den Pfad hinunter und ist nicht mehr zu sehen.
Ich lehne mich gegen einen Baum. Und jetzt? Soll ich ihm hinterherrennen? Oder allein zurück in die andere Richtung laufen?
Ein greller Blitz zuckt über den Himmel, Bäume und dichter Regen flackern kurz auf. Ein ohrenbetäubendes Krachen erschüttert mich bis ins Mark.
Bens Verschwinden tut wahnsinnig weh und durch meinen Kopf rast der Satz: Es ist gefährlich, sich bei Gewitter unter einen Baum zu stellen.
Aber wer bin ich wirklich? Solange die Frage nicht beantwortet ist, kann ich mich für keinen Weg entscheiden.
Ein paar Tage später reicht DJ mir zum ersten Mal einen Spiegel. Ich betrachte mich, strecke vorsichtig die Finger aus. Das Haar, mein Haar, fühlt sich sogar anders an, fremd. Irgendwie sehe ich nicht mehr aus wie ich. Natürlich, das ist ja auch Sinn der Sache. Im satten Braun glänzen goldene Strähnen, die meine grünen Augen so zum Leuchten bringen, dass ich mich frage, ob DJ nicht vielleicht doch ein paar Verbesserungen vorgenommen hat. Schließlich komme ich aber zu dem Entschluss, dass das noch dieselben Augen sind, mit denen ich geboren wurde. Im Gegensatz zu dem Haar, das mir jetzt seidig dick über die Schultern fällt. Als ich den Kopf hin- und herbewege, tut es richtig weh, so schwer ist es. Daran muss ich mich erst gewöhnen.
»Die Kopfhaut wird noch eine Weile empfindlich sein.« DJ hält eine kleine Pillendose hoch. »Schmerztabletten. Die solltest du diese Woche nehmen, aber höchstens zwei am Tag. Und …?«
Ich reiße mich vom Spiegel los und sehe den Arzt an. »Und was?«
»Gefällt es dir?«
»Und wie«, sage ich mit einem breiten Grinsen.
»Ich glaube, eine Kleinigkeit fehlt noch.« Mit zwei Fingern hebt er mein Kinn und sieht mir tief in die Augen. Bei jedem anderen wäre es mir unangenehm, aber bei ihm nicht. Irgendetwas prüft und begutachtet er, nur was? Die Haut, die darunterliegenden Knochen, das Gewebe? Als könnte er, wenn er nur lange genug hinsieht, die einzelnen Zellen und die DNA erkennen. Er nickt und dreht sich zu einem Schrank mit vielen Schubladen, öffnet erst eine, dann eine weitere, aus der er einen Gegenstand nimmt. Nicht gerade Hightech.
»Eine Brille? Ich brauche doch keine Brille.«
»Vertrau mir. Setz sie einfach auf«, sagt er. Gehorsam folge ich seiner Anweisung und sehe in den Spiegel. Mir bleibt fast die Luft weg, mein Blick wandert zu DJ, dann wieder zurück zum Spiegel.
Das Gestell aus silbergrauem Metall ist dezent und fügt sich so harmonisch in mein Gesicht, als wäre es für mich gemacht, aber erschrocken bin ich wegen meiner Augen. Obwohl die Gläser klar wie Fensterglas sind, verändern sie mich. Meine Augen sind nicht mehr grün. Eher blaugrau. Ich drehe den Kopf zur Seite, nehme die Brille ab und setze sie wieder auf. Eine Unbekannte starrt mir aus dem Spiegel entgegen. Dieses dunkelhaarige Mädchen ist mir fremd. Und älter wirkt sie auch. Nicht nur Ben hätte Probleme, sie wiederzuerkennen; wahrscheinlich könnte ich auf der Straße sogar unbemerkt an Mum und Amy vorbeilaufen.
»Das ist ja unglaublich. Sie sind unglaublich.«
»Ja, das bin ich.« Er lächelt. »Und diese technische Neuheit«, sagt er und tippt auf die Brillengläser, »kennt man hier in England noch nicht. Also wird niemand Verdacht schöpfen.«
DJ dreht mich im Stuhl herum, sodass wir uns direkt ansehen. »So, das blonde Mädchen mit den grünen Augen ist verschwunden. Nun gehst du ohne Problem für achtzehn durch, kannst dir einen Pass besorgen und auch reisen, falls du willst. Was hast du denn jetzt vor?« Auf mein Zögern lacht er nur. »Behalt es ruhig für dich. Ich hoffe, nein, ich bin mir sicher, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden.«
»Danke für alles.«
DJ neigt den Kopf, immer noch prüft und betrachtet er mich.
»Was ist denn?«
Er schüttelt den Kopf. »Nichts und alles. Du musst los.« DJ hält mir die Tür auf. »Sag Aiden, dass ich ihn sprechen will«, ruft er mir zum Abschied hinterher.
Am gleichen Tag noch sitze ich in einem kleinen Raum, der verborgen im hinteren Teil einer Fabrik liegt. In diesem dunklen Kabuff werden neue Identitäten geschaffen. Für viele beginnt hier ein neues Leben.
»Name?«, fragt mich der Unbekannte.
Nun wird es spannend. Ich bin nicht mehr Lucy, wie mich meine Eltern genannt haben. Oder Rain, wie ich mich selbst getauft habe, nachdem Nico und seine Regierungsterroristen – oder Free UK, wie er sie nannte – mich aufgegriffen und zu einer Waffe gegen die Lorder geformt haben. Kyla bin ich auch nicht mehr, den Namen haben sie mir im Krankenhaus verpasst, nachdem ich als Mitglied der RT gefangen genommen und geslatet wurde.
Ich allein bestimme, wer ich sein will.
»Name?«, tönt es erneut.
Ich bin keine von ihnen und alle zugleich.
»Riley. Riley Kain«, antworte ich.
Kurz darauf halte ich einen gefälschten Ausweis in der Hand. Riley Kain: eine 18-Jährige mit dunklen Haaren und blaugrauen Augen, die reisen und ihr eigenes Leben führen kann.
Und wie will ich es leben?
Der Bus rumpelt durch London, später über Land. Da ich mich mit dem neuen Ausweis und dem veränderten Aussehen nicht länger verstecken muss, habe ich darauf bestanden, allein zurückzufahren. Doch ausgerechnet heute hat man eine Bombe der RT in einem Londoner Zug gefunden, woraufhin das gesamte Netz lahmgelegt worden ist. Wohl um sämtliche Züge zu durchsuchen, aber das konnte ja keiner ahnen. Somit war der Bus die einzige Alternative. Jede Unebenheit auf der Straße spüre ich an der Kopfhaut, am liebsten würde ich die Haare die ganze Zeit hochhalten, damit sie nicht so wehtun.
Felder, Höfe und Dörfer ziehen vorbei, werden zunehmend vertraut. Wir nähern uns dem Dorf, in dem ich mit Mum und Amy gewohnt habe. An dem Tag, an dem mich Nicos ferngesteuerte Bombe fast umgebracht hätte, habe ich meine Sachen gepackt. Ich bin weggelaufen und Mac hat mich gleich bei sich versteckt. Mac ist ein guter Freund und ich vertraue ihm, dabei kennen wir uns noch gar nicht so lange. Er ist der Cousin von Amys Freund und hat irgendwie mit Aiden und MIA zu tun. Ohne dass Mac und Aiden genau wussten, was vorgefallen war, haben sie mir ihre Hilfe angeboten. Ein sicheres Versteck. Ein neues Leben. Mein altes mit Mum und Amy hat erst kürzlich geendet, aber es kommt mir schon unendlich weit weg vor. Ein weiteres Leben, das mir entgleitet.
Uns kommt ein langes schwarzes Fahrzeug entgegen, das einen Sarg transportiert; der Verkehr stockt auf beiden Fahrbahnen und es geht nur im Schneckentempo voran. Dem Leichenwagen folgt ein schwarzes Auto. Darin sitzen zwei Frauen Arm in Arm; eine junge mit dichtem schwarzem Haar und dunkler Haut und eine ältere, die sehr blass im Gesicht ist. Im nächsten Moment sind sie schon vorbeigefahren. Ich traue meinen Augen nicht.
Mum und Amy.
Der Bus hält am Ende der langen Straße, in der Mac wohnt, und ich renne sie förmlich hinauf. Auf wessen Beerdigung gehen die beiden? Mir ist unheimlich zumute. Nur die eisige Kälte lenkt mich ab und ich denke an Schnee. Warum erfüllt mich das mit Vorfreude? Ich kenne doch gar keinen Schnee. Als Kind muss ich Schnee erlebt haben, schließlich bin ich als Lucy im Norden, im bergigen Lake District, aufgewachsen, aber die Erinnerungen sind mit dem Slating ausgelöscht worden.
Hinter einer weiteren Kurve taucht endlich Macs Haus auf, das einzige Haus in der ganzen Straße. Der schmale weiße Streifen, der hinter dem schwarzen Eingangstor zu sehen ist, verrät mir, dass dort ein Lieferwagen parkt. Aidens?
Ich werde schon erwartet. Die Gardinen bewegen sich, und als ich vor der Tür stehe, geht sie auf: Mac.
»Wow. Bist das wirklich du, Kyla?«
»Ich heiße jetzt Riley.« Als ich mir die Mütze vom Kopf reiße, verziehe ich das Gesicht und pfeffere sie samt Schal auf einen Stuhl.
Aiden kommt dazu und sieht mir die Schmerzen an. »Ich hätte dich auch abgeholt. Wie geht es dir?«
Achselzuckend marschiere ich durch den Flur an ihm vorbei zum Computer. Skye, Bens Hund, springt an mir hoch und will mir das Gesicht ablecken, aber ich tätschle ihn nur kurz und gehe dann weiter. Macs Computer wird nicht von der Regierung überwacht, er ist illegal. Eigentlich wollte ich nur kurz die Lokalnachrichten aufrufen und nachsehen, ob eine Beerdigung erwähnt wird, aber aus irgendeinem Grund gehe ich als Erstes auf die Webseite von MIA.
Lucy Connor ist im Alter von zehn Jahren aus Keswick verschwunden. Seit Kurzem gilt sie als gefunden, das habe ich selbst eingegeben, in der Hoffnung, auf die Person zu stoßen, die mich vor so vielen Jahren vermisst gemeldet hat.
Nun ist Lucy mit dem Vermerk »verstorben« gekennzeichnet. Ich starre auf den Bildschirm, unfähig, dieses Wort zu verarbeiten.
Jemand legt die Hand auf meine Schulter. »Für eine Tote siehst du ziemlich gut aus. Tolle Frisur«, sagt Mac.
Ich drehe mich um. Aiden steht im Türrahmen. Er schaut mich so merkwürdig an. »Du hast es gewusst«, fauche ich.
Er schweigt und sagt damit alles.
»Warum verstorben?«
»Bist du doch. Offiziell«, antwortet Aiden. »In den Regierungsakten steht, dass du bei der Bombenexplosion ums Leben gekommen bist. Die Lorder haben dich für tot erklärt.«
»Aber es gab doch keine Leiche. So einfach lassen sich die Lorder doch nicht täuschen. Der Bus ist an einem Beerdigungszug vorbeigefahren. Mum und Amy sind einem Leichenwagen gefolgt. Ist das etwa meine Beerdigung?«
»Tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass sie heute stattfindet.«
»Aber du hast davon gewusst. Auch dass die beiden glauben, ich wäre gestorben.« Ich bin sauer und zugleich durcheinander. »Wieso sollten mich die Lorder für tot erklären?«
»Vielleicht wollen sie nicht zugeben, dass sie keinen Schimmer haben, was mit dir passiert ist?«, schlägt Mac vor.
»Ich kapier das nicht.«
Aiden legt den Kopf schief, er kann sich auch keinen Reim darauf machen, das sehe ich ihm an. »Oder sie wollen vertuschen, dass ihr Anschlag fehlgeschlagen ist.« Aiden geht immer noch davon aus, dass die Bombe eine Racheaktion der Lorder war, weil ich Ben geholfen habe, das Levo loszuwerden. Ich lasse ihn in dem Glauben. Aiden weiß nicht, dass ich ein doppeltes Spiel gespielt und sowohl die Lorder als auch Nico und die RT getäuscht habe. Deswegen plagt mich ein schlechtes Gewissen, für seine Hilfe bekommt er nur Schweigen. Aber auch er hat seine Geheimnisse.
Mir kommen die Tränen. »Mum und Amy sollen nicht glauben, dass ich bei der Explosion umgekommen bin!«
Aiden setzt sich neben mich und nimmt meine Hand. »Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Aber so ist es besser für alle. Was sie nicht wissen, kann auch niemand aus ihnen herausholen.«
Ich ziehe meine Hand weg. »Nein. NEIN. Das könnte ich nicht aushalten. Mir ist es schon schwergefallen, einfach ohne Nachricht abzuhauen, aber das ist ja noch viel schlimmer! Ich kann sie nicht in dem Glauben zurücklassen, dass ich tot bin.«
»Du darfst sie auf keinen Fall besuchen. Vielleicht werden sie überwacht, in der Hoffnung, dass du Kontakt zu ihnen aufnimmst. Es ist zu gefährlich«, sagt Aiden.
»Mit den Haaren erkennt mich doch keiner mehr.«
Aiden schüttelt den Kopf. »In Keswick wartet ein neues Leben auf dich. Setz das nicht aufs Spiel!«
»Aber Mum …«
»Sie würde nicht wollen, dass du dieses Risiko eingehst.«
Daraufhin verstumme ich. Aiden hat ja recht. Wenn ich Mum beiseitenehmen und um Rat fragen könnte, würde sie mir sagen, ich solle mich ja nicht in Gefahr bringen. Ich habe pochende Kopfschmerzen, drehe das Haar im Nacken zusammen und halte es hoch. Wer hätte gedacht, dass dickes Haar so wehtun kann? Am liebsten würde ich mich jetzt hinlegen, aber es gibt noch so viel zu regeln. Warum tauche ich auf der Webseite von MIA als verstorben auf? Nur weil die Lorder das behaupten?
»Alles okay?«, fragt Mac.
Ich zucke mit den Schultern und verziehe gleich darauf vor Schmerz das Gesicht. »In meiner Tasche sind Tabletten.« Mac holt sie und reicht mir ein Glas Wasser. Ich nehme eine Tablette.
»Du solltest dich ausruhen«, sagt Aiden.
»Gleich. Erst müsst ihr mir noch was erklären. Warum habt ihr mich auf der MIA-Seite als verstorben gemeldet? Überwachen die Lorder die Homepage? Ist das der Grund?«
Mac und Aiden tauschen Blicke. Mac antwortet: »Genau wissen wir es nicht. Die Links sind zwar gesichert und werden ständig geändert, aber zu schwer können wir es den Leuten auch nicht machen, sonst hätte ja keiner was davon. Ehrlich gesagt, gehen wir davon aus, dass die Seite regelmäßig kontrolliert wird.«
»Aber ich habe mich doch als gefunden gemeldet. Bekommen die das denn nicht mit?«
Aiden schüttelt den Kopf. »Die Meldung erscheint nirgendwo auf der Homepage; nur MIA wird davon in Kenntnis gesetzt. Und wie ich dir schon hundertmal erklärt habe, werden allein die unmittelbar Betroffenen informiert und auch nur, wenn es unbedingt nötig ist. Einträge werden bloß öffentlich gemacht, wenn es für alle Beteiligten sicher ist.«
Zu diesem Thema habe ich Aiden bereits heftig gelöchert: Wer weiß, wo ich jetzt bin und was ich vorhabe? Aber ich glaube ihm, dass Informationen nur bei Bedarf herausgerückt werden. Bislang hat er mir noch nicht mal verraten, wer mich überhaupt als vermisst gemeldet hat. Obwohl ich sicher bin, dass es meine richtige Mutter gewesen ist. Aiden muss mich für total paranoid halten, denn er hat ja keine Ahnung, warum ich ihm all diese Fragen stelle. Er weiß nicht, dass Nico einen Spitzel bei MIA hat, einen Fahrer, den ich rein zufällig im Camp bei Free UK erkannt habe. Ich will sichergehen, dass der Spion und somit Nico nicht herausbekommen können, dass ich mich selbst als gefunden gemeldet habe. Eigentlich sollte ich Aiden vor diesem Mann warnen, aber dann müsste ich ihm auch alles andere gestehen.
»Aber was passiert denn normalerweise, wenn jemand gefunden wird?«, frage ich. »Slater wie ich können doch nicht zurück in ihre Ursprungsfamilien. Das ist doch verboten.«
»So läuft das in der Regel auch nicht ab«, räumt Aiden ein. »Obwohl Slater manchmal heimlich mit ihren Verwandten in Kontakt treten, behalten sie trotzdem ihre getrennten Leben bei.«
»Manchmal. Und wie ist es in den meisten Fällen?«
Aiden und Mac sehen sich an. Aiden antwortet: »Wenn wir herausgefunden haben, was mit jemandem passiert ist … ist es meistens schon zu spät.«
»Du meinst, die sind dann wirklich tot?« Er nickt. »Aber bei mir ist es anders.« Bei Kyla ist immer alles anders.
»Aber offiziell bist du auch tot«, sagt Aiden. »Du kannst nicht wieder zurück in dein Leben hier. Es gibt ein paar Möglichkeiten, und du hast dich eben entschieden, unter falschem Namen in deine Vergangenheit zurückzukehren.«
»Ich kann nicht anders«, seufze ich. Dieses Thema hatten wir schon, wobei ich Aiden nie den wahren Grund dafür verraten habe. Den Tod meines Vaters und seine letzten Worte an mich habe ich ihm nie gestanden. Vergiss niemals, wer du bist! Und das habe ich doch. Ich muss herausfinden, wer ich gewesen bin, das schulde ich meinem Vater.
»Wie heißt du jetzt noch gleich?«, fragt Mac. Ich ziehe meinen Ausweis aus der Tasche und reiche ihn ihm. »Riley Kain«, sagt er. »Ungewöhnlich, aber gefällt mir.«
Aiden runzelt die Stirn. »Klingt ziemlich nach Kyla.«
»Na, so ähnlich sind sich die Namen nun auch wieder nicht«, sage ich. War ja klar, dass Aiden so reagieren würde. Wenn er wüsste, dass ich bei Free UK Rain genannt wurde, wäre er so richtig sauer. Aber die meisten, die mich unter diesem Namen kannten, sind tot. Nur Nico nicht, flüstert mir eine Stimme zu. Ich schiebe den Gedanken beiseite, denn dazu müsste Nico ja erst mal auf meinen neuen Namen stoßen. Und wie sollte er? Um die RT werde ich in Zukunft einen großen Bogen machen. Durch den Namen bleibe ich wenigstens mit den verschiedenen Teilen meiner Persönlichkeit verbunden. Was bleibt mir, wenn ich das auch noch aufgebe?
Mir ist schwindelig. Mac hilft mir nach oben, wo ich mich im Wohnzimmer mit einer Decke aufs Sofa lege. Mac und Aiden flüstern im Flur.
Nachdem ich darauf bestanden habe, alles über mein altes Leben in Erfahrung zu bringen, fürchte ich mich auf einmal davor. Was erwartet mich wohl?
»Ein paar Möglichkeiten?« Aidens Worte von vorhin fallen mir wieder ein. »Was für Möglichkeiten gäbe es denn noch?«
Aiden kommt herein, kniet sich neben mich und streicht mir das Haar aus dem Gesicht. »Du könntest deine Geschichte MIA erzählen, Kyla. Als Zeugin für uns aussagen.«
»Um wieder auf der Flucht zu sein?«
»So würde ich das nicht sehen. Während der Beweisaufnahme würden wir dich an einen sicheren Ort bringen oder du könntest ganz gehen. Bis wir so weit sind.«
»Um die Lorder vor aller Welt bloßzustellen. Damit das Volk die Regierung stürzt.«
»Ja.«
Aiden ist ein Träumer. Die Lorder würden nie sang- und klanglos verschwinden. Wenn sie überhaupt verschwinden würden. Dennoch ist es ein schöner Traum. Ich lächle ihn an und um seine Mundwinkel zuckt es.
»Auf Drogen bist du echt nett.«
»Halt die Klappe.«
»Und dein neues Haar ist umwerfend.«
»Es tut weh.«
»Willst du noch eine Tablette?«
Ich schüttle den Kopf. »Lieber nicht. Es gibt noch ein paar Dinge, die ich dir nicht erzählt habe.«
»Ich weiß. Alles zu seiner Zeit.«
Mit sanften Augen schaut Aiden mich an. Ob er mich auch noch so lieb anlächeln würde, wenn er wüsste, was ich getan habe? Er ist viel zu vertrauensselig für diese Welt. Ich muss es ihm sagen.
Ich seufze. »Eine Sache will ich jetzt gleich loswerden.«
»Was denn?«
»Dein Fahrer. Der, der dabei war, als wir Ben auf dem Sportplatz gesehen haben. Trau ihm nicht.«
Aiden wird mit einem Mal ganz ernst und verschlossen. »Das würde einiges erklären«, sagt er schließlich. »Wir gehen der Sache auf den Grund. Aber woher weißt du davon?«
Wie gerne würde ich Aiden einfach alles erzählen. Dann müsste ich die Last nicht mehr allein mit mir herumschleppen. Doch bevor ich den nächsten Satz herausbekomme, schüttelt Aiden den Kopf. »Nein, sag bitte nichts mehr. Nicht solange die Tabletten wirken. Erzähl mir deine Geheimnisse, wenn du auch wirklich dazu bereit bist.« Er steht schon auf, aber mich beschäftigt noch etwas.
»Warte mal. Ganz gehen? Was soll das heißen?«
»Na, das Land verlassen.«
»Das ist möglich?«
»MIA hilft Leuten, die in Gefahr sind. Wir helfen ihnen, über das Meer zu fliehen. Nach United Ireland oder sogar weiter weg.«
United Ireland soll ein freies Land sein, aber niemand weiß es genau. Vor Jahrzehnten hat es sich von UK gelöst, aber ist nie von der Regierung offiziell anerkannt worden. Ob es dort wohl besser wäre?
Könnte ich einfach alles hinter mir lassen? Ich schließe die Augen. Es gibt so vieles, das ich Aiden bis jetzt verschweige. Ich habe mir eingeredet, es wäre zu seinem Schutz, dass es für ihn ungefährlicher ist, nicht zu viel zu wissen. Aber ist das der eigentliche Grund? Will ich nicht vielmehr verhindern, dass er alles erfährt, damit die Wärme in seinem Blick nicht verschwindet? Ich habe nur wenige Freunde, da kann ich es mir nicht leisten, noch einen zu verlieren.
Ob nun aus freiem Willen oder nicht, ich war bei Free UK. War eine Terroristin. Und auch wenn ich mich von ihnen und ihren Methoden losgesagt habe, kann ich unmöglich als Zeugin für MIA auftreten!
Übers Meer …
Aber wohin? Ins Unbekannte.
Einfach weg von hier.
Ich schleppe mich den steilen Pfad hinauf. Höher und höher, so schnell mich meine kurzen Beine tragen. Bald sind Straßen und Häuser außer Sicht. Stille. Endlich für mich.
Ich bin aufgeregt, aber ich finde den Weg, auch wenn ich noch nie allein hier war. Ohne Begleitung kommt er mir länger vor, und ich bin erleichtert, als ich das Gatter erreiche.
Ein unheimlicher Nebel umhüllt die Steine. Halb verborgen schlummern sie im Weiß. Die Sonne scheint und die Berge umgeben ihre schlafenden Kinder wie strahlende Wächter. Ich laufe durchs Gras in den Nebel und presse das Gesicht an einen Stein. Die Sonne dringt nicht durch den Nebel, der Stein ist kühl und aus der Nähe riesig. Aber sobald man einen Schritt zurücktritt und auf die Berge schaut, wirken die Steine winzig.
Die Kinder der Berge, so nennt Daddy sie und ich auch, obwohl ich in der Schule gelernt habe, dass der Steinkreis von Castlerigg das Werk von Druiden und Bergbewohnern ist. Abertausend Jahre ist das her. Ich gehe im Kreis umher, berühre jeden Stein und zähle.
Nachdem ich über die Hälfte hinter mir gelassen habe, ruft eine Stimme: »Wusste ich doch, dass ich dich hier finde.« Es ist Daddy.
Ich antworte nicht, zähle weiter. Die Berge haben viele Kinder. Ich bin Einzelkind.
Daddy geht auf mich zu. »Zahl?«, fragt er.
»Vierundzwanzig«, sage ich und nun geht er mit und ich zähle laut.
»Fünfundzwanzig.«
»Sie macht sich große Sorgen.«
»Sechsundzwanzig.«
»Wenn sie nicht weiß, wo du bist, hat sie Angst, dir könnte etwas zustoßen.«
Ich stöhne. »Siebenundzwanzig.«
»Ich weiß, dass es mit ihr nicht immer leicht ist.«
»Achtundzwanzig.«
»Aber sie liebt dich.«
»Neunundzwanzig.«
»Du solltest nicht einfach weglaufen.«
»Das tust du doch auch! Dreißig.« Wir bleiben stehen. »Und sie macht mich verrückt.«
Daddy lacht. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?« Verstohlen sieht er sich um. »Manchmal macht sie mich auch verrückt. Komm, wir gehen nach Hause und sind alle zusammen verrückt.«
»Erst will ich zu Ende zählen.«
»Natürlich.«
Zusammen zählen wir laut, bis wir bei vierzig angelangt sind.
»Geschafft«, sage ich und wir laufen zum Gatter. Ich schaue noch einmal zurück. Der Nebel verzieht sich allmählich. Die Steinkinder werden sich freuen, wenn sie im Sonnenschein aufwachen. Und wenn wir fort sind, haben sie noch einander zum Spielen.
Später muss ich versprechen, nie wieder wegzulaufen, aber dabei halte ich die Finger gekreuzt.
Ich wache früh auf und bin völlig steif. Warum kann ich mich nicht bewegen? Dann merke ich, dass Skye auf das Sofa gesprungen ist und es sich auf meinen Beinen gemütlich gemacht hat. Es fühlt sich an wie eine schwere Golden-Retriever-Decke, die nicht im Traum daran denkt aufzuwachen und standhaft alle Versuche ignoriert, sie abzuschütteln.
Ich tapse in die Küche, um Tee zu kochen, und sehe aus dem Fenster. Die Welt ist mit Frost überzogen und sofort bekomme ich Lust zu zeichnen. Wunderschöne weiße Muster zieren Zaun und Bäume, schmücken die Autos und Ersatzteile in Macs Hinterhof, der eher einer Werkstatt als einem Garten gleicht. Schnee liegt keiner, noch nicht. Am allerbesten aber ist, dass der weiße Lieferwagen fehlt, Aiden ist also unterwegs. Das vereinfacht die Pläne für heute. Sobald es welche gibt.
Nachdem ich meinen Zeichenblock gefunden habe, mache ich es mir mit Hund und Tee wieder auf dem Sofa bequem; eigentlich will ich zarte Eiskristalle zeichnen, aber stattdessen entsteht ein Steinkreis auf dem Papier. Ein kleines blondes Mädchen – ich mit acht? – presst die Hände gegen einen Stein. Gibt es diesen Ort aus meinem Traum wirklich? Alles deutet darauf hin. Vielleicht finde ich ihn, wenn ich erst in Keswick bin, dann kann ich jeden Stein berühren, die Kinder der Berge wieder zählen. Nur diesmal wird er dort nicht nach mir suchen. Er ist für immer fort.
Dad ist vor fünf Jahren ums Leben gekommen, als er versucht hat, mich aus Nicos Fängen zu befreien. Aber erinnern kann ich mich erst seit Kurzem wieder daran, und weil die Erinnerung so lange verschüttet war, kommt es mir vor, als wäre es gestern passiert.
Was treibt mich eigentlich zurück? Dad wird nicht da sein. Ansonsten erinnere ich mich an niemanden aus der Zeit. Bin ich in dem Traum vor meiner richtigen Mutter weggelaufen?
Sie liebt dich, hat er gesagt. Ich habe versprochen, es nie wieder zu tun, gekreuzte Finger hin oder her. Als Kind hatte ich damals keine Wahl, aber jetzt habe ich eine. Ich muss zurück.
Aber ich kann nicht gehen, ohne mich zu verabschieden. Diesmal nicht. Mum und Amy müssen erfahren, was wirklich geschehen ist.
Als ich mir die Stiefel anziehe, taucht Mac vollkommen verschlafen auf und gähnt.
Er hebt eine Augenbraue. »Lass mich raten, du willst mit dem Hund Gassi gehen. Nur eine kleine Runde über die Felder und zurück.«
»Ja, genau.« Bei dem Wort »Gassi« klopft Skyes Schwanz begeistert auf den Boden.
»Wo gehst du hin?«
»Das weißt du doch.«
»Aiden wird ausrasten.«
»Aber du nicht. Du verstehst doch, dass ich nicht anders kann.«
Mac sieht mir ruhig ins Gesicht. »Es gibt einfach Momente, in denen man eingreifen oder den Mund aufmachen muss, egal wie gefährlich es ist. Ist das so ein Moment?«
»Ja. Mum soll es erfahren. Sie hat schon so viele Menschen verloren.« Gerade Mac sollte dafür Verständnis haben, schließlich lebt er schon seit sechs Jahren, seit dem Anschlag auf den Schulbus, mit Schuldgefühlen. Zum einen weil er überlebt hat, doch vor allem, weil er nicht über das Schicksal der anderen Überlebenden gesprochen hat. Darunter war auch Mums Sohn Robert, der vermutlich weggebracht und anschließend geslatet wurde. Spurlos verschwunden. Auch Mums Eltern, der erste Premierminister und seine Frau, sind einem Bombenattentat der RT zum Opfer gefallen, da war ihre Tochter noch jünger als ich jetzt. Deshalb kann ich Mum unmöglich in dem Glauben lassen, dass mir das Gleiche widerfahren ist.
Skye sinkt zwischen uns auf den Boden, offenbar ist selbst dem Hund klar, dass es mit dem Spaziergang nichts wird, jedenfalls nicht mit mir.
»Ich gehe nachher mit dir«, verspricht Mac ihm. »Neulich bin ich rein zufällig bei euch durchs Dorf gefahren.«
»Echt?«
»Euer Haus ist noch unbewohnbar. Dort lebt keiner. Wo könnten sie denn jetzt sein?«
»Oh, daran habe ich gar nicht gedacht. Wahrscheinlich sind sie bei Tante Stacey unterkommen.« Ich überlege. Tante Stacey und Mum stehen sich nah und sie scheint in Ordnung zu sein. Nur Staceys Bruder ist Mums Exmann – und ein Lorder. Würde Stacey es für sich behalten, wenn sie mich sieht? »Ich versuche, Mum einfach bei der Arbeit zu erwischen. In der Mittagspause geht sie meistens eine Runde spazieren. Vielleicht kann ich sie auf dem Weg abfangen.«
»Hört sich nicht wirklich vielversprechend an.«
»Was Besseres fällt mir gerade nicht ein.«
»Soll ich dich fahren?«
»Nein, ohne Begleitung bin ich unauffälliger.« Das sage ich zwar so, aber eigentlich geht es mehr darum, dass ich das allein machen muss. Trotz veränderter Haare und neuem Ausweis besteht immer noch Gefahr. Sollte jemand wirklich Ausschau nach mir halten, weiß ich nicht, ob er sich täuschen ließe.
»Nimm mein Rad.«
»Okay.« Ich lächle. »Danke.«
»Na dann. Aber pass auf dich auf. Und iss erst mal was zum Frühstück.«
Für Mums Mittagspause bin ich noch zu früh dran, und irgendetwas bringt mich dazu, am Friedhof anzuhalten. Das Fahrrad lehne ich an die halb zerfallene Mauer. Frost liegt auf den kahlen Bäumen, die Grabsteine strahlen gespenstisch weiß. Hinter dem Tor folge ich dem schmalen Weg, mein Atem hängt mir wie ein Schleier vor dem Gesicht.
Es ist ein kleiner Dorffriedhof mit einer Kapelle, das frische Grab ist unschwer zu finden. Einen Stein gibt es noch nicht, wenn es ihn überhaupt jemals geben wird, aber der Boden ist umgegraben. Ein brauner Fleck im raureif bedeckten Gras, darauf vereinzelte Blumen.
Wurde hier ein anderes unbekanntes Mädchen begraben oder war der Sarg leer, womöglich mit Steinen beschwert, damit niemand Verdacht schöpft?
Ich knie mich hin, ziehe die Handschuhe aus und berühre behutsam eine eingefrorene Lilie. Bewahrt die Kälte ihre zerbrechliche Schönheit? Nein. Denn bei der Berührung bricht ein Blütenblatt entzwei.
»Hallo.« Eine Stimme durchdringt die Stille, ich fahre zusammen. Die Stimme kenne ich.
Ich stehe auf und drehe mich zu ihr um, unfähig, etwas zu sagen.
»Bist du eine Freundin von Kyla gewesen?«, fragt Mum.
»Erkennst du mich denn nicht?«
Sie runzelt die Stirn. Irgendwie wirkt sie älter, obwohl es noch nicht lange her ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ihre Augen sind müde und rot verweint. »Sind wir uns schon begegnet?«
Mir kommen die Tränen. Ich nehme die Brille ab und raffe das Haar zur Seite. »Ich bin’s. Kyla«, sage ich leise.
Mum erbleicht, schüttelt den Kopf.
»Mum?« Als ich die Hand nach ihr ausstrecke, weicht sie vor mir zurück und blickt sich suchend auf dem Friedhof um.
»Setz die Brille wieder auf.« Ich gehorche und sie hakt mich unter. Zieht mich hinter die Kapelle und marschiert mit schnellen Schritten aus dem Tor in den dahinterliegenden Wald. Hinter einer Biegung teilt sich der Weg und wir folgen der schmaleren Abzweigung.
Schließlich bleibt sie stehen. Etwas atemlos blickt sie mich an.
»Du bist es wirklich. Dir geht es gut.«
Wieder kommen mir die Tränen und dann fängt auch sie an zu weinen. Sie zieht mich in ihre Arme und so stehen wir eine Weile stumm und reglos da.
Irgendwann löst sie sich von mir. »Was ist mit deinen Haaren?« Sie fasst hinein. »IMET?«
Ich nicke.
»Wie bist du da rangekommen? Nein, sag nichts. Stecken die … die Lorder dahinter?«
»Nein, die haben keine Ahnung, wo ich bin. Und die hatten auch mit dem Anschlag nichts zu tun, aber aus irgendeinem Grund haben sie behauptet, ich wäre dabei umgekommen. Ich verstehe das nicht!«
»Also haben die Lorder die Bombe nicht gelegt? David hat das zwar auch behauptet, aber …« Mum zuckt die Achseln, sie braucht den Satz nicht zu beenden. Sie hat ihm kein Wort geglaubt. Warum sollte sie auch ihrem Exmann glauben, nach dem, was er uns alles angetan hat?
»Nein. Es waren die RT.«
Mum wird ganz blass. »Sind die etwa hinter dir her?«
»Die glauben, ich hätte sie an die Lorder verpfiffen.«
»Hast du?«
Ich schüttle den Kopf. »Nicht mit Absicht. Die Lorder sind mir bis zu ihrem Unterschlupf gefolgt.« Den Rest behalte ich für mich. Laut Nicos Anweisungen hätte ich zu genau dem Zeitpunkt nicht das Versteck der RT aufsuchen, sondern mit Mum, Dad und Amy neben Premierminister Gregory stehen sollen. Dann wollte Nico nämlich die Bombe zünden, die ich unwissentlich an meinem Körper getragen habe. Doch stattdessen bin ich losgezogen, um meine Ärztin Dr. Lysander aus den Händen der Terroristen zu befreien. Dr. Lysander ist die Ärztin, die das Slating erfunden hat. Und wenn Nico erfährt, dass ich noch am Leben bin, wird er seine ganz persönliche Rache an mir nehmen.
»Dann ist es doch gut, dass die Lorder dich für tot erklärt haben. Vielleicht glauben die Terroristen das.« Mum streicht mir über die Wange. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht, aber du hättest nicht herkommen sollen. Es ist zu gefährlich. Und woher hast du überhaupt gewusst, dass du mich hier finden würdest? Mein Besuch hier war gar nicht geplant. Ich wollte nur frische Luft schnappen, meine Füße haben wie von selbst hergefunden.«
»Ich hab’s gar nicht gewusst. Eigentlich wollte ich es bei der Arbeit probieren. Ich konnte dich doch nicht in dem Glauben zurücklassen, ich wäre tot.«
Sie umarmt mich fest. »Gibt es denn einen sicheren Ort für dich, an dem du unterkommen kannst?«
»Ich glaube schon. Ich lasse dir eine Nachricht zukommen.«
»Lieber nicht. Viel zu riskant.«
»Was ist mit Amy? Wie geht es ihr?«
»Sie ist verzweifelt.Aber ich werde ihr nichts sagen. Noch nicht.«
Wieder laufen mir die Tränen über die Wangen. Amy ist meine große Schwester, seit ich nach dem Slating der Familie Davis zugeteilt wurde. Und wenngleich wir nur ein paar Monate miteinander verbracht haben, würde Amy mich nie mutwillig in Gefahr bringen. Aber könnte sie solch ein großes Geheimnis bewahren?
»Für Amy ist es sicherer, wenn sie nichts davon erfährt«, sagt Mum. »Ich kümmere mich schon um sie.«
»Das weiß ich doch. Okay.«
»Dr. Lysander hat angerufen und Blumen geschickt. Dein Tod scheint sie wirklich mitgenommen zu haben.«
Mir versetzt das einen weiteren Stich. Auch Dr. Lysander hätte die Wahrheit verdient, aber es gibt keine Möglichkeit, sie gefahrlos zu benachrichtigen.
Mum sieht mich lange an, als wollte sie sich mein Gesicht einprägen, dann küsst sie mich rechts und links auf die Wange. »Ich muss los. Lass mir einen kleinen Vorsprung.« Noch einmal nimmt sie mich in den Arm, dann wendet sie sich ab. Hastet den Weg zurück.
Ich lehne mich an einen Baum und schlinge die Arme um mich.
Alle haben Kummer: Mum, Amy, ich. Und dieses Spektakel mit meiner Beerdigung. Wofür? Warum tun die Lorder so, als wäre ich gestorben?
Wenig später stapfe ich zurück durch den Wald. Bei der kleinen Kapelle verharre ich noch einen Moment, überzeuge mich, dass ich allein bin, bevor ich mein Rad hole und mich auf den weiten Rückweg mache.
Es dauert gar nicht lange, da fallen schon die ersten dicken weißen Flocken, wirbeln sanft durch die Luft. Ich strecke die Hand aus, um sie im Flug zu fangen. Die Flocken legen sich auf meine Mütze und mein Haar, das nun mehr weiß als braun ist. Sie verstecken meine Maske, hüllen mich komplett ein. Je mehr Schnee auf dem Boden liegt, umso schwieriger wird das Radfahren, nach einer Weile steige ich ab und schiebe.
Als ich endlich in meinem neuen Zuhause ankomme, bin ich klitschnass und halb erfroren. Mac ist erleichtert, mich zu sehen, und zieht mich zum Kamin.
Skye klebt am Fenster, hektisch verfolgt er jede Flocke. »Irgendwie scheint der Hund bei dem Wetter etwas durchzudrehen«, sage ich.
»Ach, das ist noch gar nichts. Du solltest Skye mal bei Gewitter erleben, da verkriecht er sich zitternd unterm Bett. Apropos verkriechen, Aiden hat in der Zwischenzeit angerufen.«
»Und?«
»Ich habe behauptet, du wärst spazieren.« Macs Gesicht spricht Bände.
»Ich gehe davon aus, dass er es dir nicht abgekauft hat und jetzt sauer ist.«
»Wie hast du das nur erraten? Und wie lief es bei dir? Warst du erfolgreich?«
»Ja.«
»Bereit, den nächsten Schritt zu tun?«
»Kann ich mich erst aufwärmen?«
»Dir bleibt noch Zeit bis morgen früh. Die Züge sind wieder in Betrieb und es liegen Fahrkarten für dich bereit. Heute Abend musst du dich mit deinem neuen Leben vertraut machen, die Datei findest du im Computer. Und Aiden kommt um neun.«
Ein letzter Abschied bleibt mir noch. Spät in der Nacht, nachdem Mac schlafen gegangen ist, stehe ich auf einem Stuhl in der Küche und hole die Eulenskulptur vom Kühlschrank. Ich stelle sie auf den Tisch und fahre mit dem Finger vorsichtig über Schnabel und Schwingen. Der Vogel ist aus Metallresten gefertigt, aber alles harmoniert wunderbar. Er wirkt täuschend echt. Bens Mutter hat ihn nach einer von meinen Zeichnungen angefertigt. Mir kommt es vor, als wäre das alles ewig her. Nun ist auch sie tot, zusammen mit ihrem Mann wurde sie von den Lordern umgebracht. Bloß weil sie nach Bens Verschwinden zu viele Fragen gestellt hat.
Als ich der Eule über den Rücken streiche, spüre ich den Zettel. Mit den Fingernägeln ziehe ich ihn heraus.
Darauf stehen Bens letzte Worte an mich, die letzten Worte von meinem Ben.
Liebe Kyla,
wenn du diese Nachricht liest, ist alles schiefgegangen. Es tut mir leid, dass ich dir Kummer mache. Aber ich habe es so gewollt, es war ganz allein meine Entscheidung. Niemand sonst ist schuld. In Liebe, Ben
Trotzdem habe ich mich damals dafür verantwortlich gefühlt, dass Ben sich das Levo abschneiden wollte. Und auch für das, was dann folgte: Ben bekam Krämpfe, seine Mutter rief die Sanitäter und schickte mich fort. Schließlich haben die Lorder ihn weggebracht, ohne dass ich wusste, ob er noch am Leben war. Später hat MIA ihn aufgespürt. Irgendetwas haben die Lorder mit ihm angestellt, denn Ben erkannte mich nicht mehr. Bei unserer letzten Begegnung habe ich wirklich alles versucht, um zu ihm durchzudringen und ihn anzustacheln, sich gegen die Lorder zu wehren. Und für den Bruchteil einer Sekunde habe ich sogar gedacht, er würde mir glauben und mich verstehen. Nun kann ich nur noch hoffen.
Viel später erst habe ich herausbekommen, dass es Nico war, der Ben dazu gebracht hat, sich das Levo abzuschneiden – in der Hoffnung, dass durch den Schmerz des Verlustes meine verschütteten Erinnerungen aus der Zeit bei den RT wiederkommen. Dennoch fühle ich mich nach wie vor schuldig. Wäre ich nicht gewesen, hätte Nico keinen Grund gehabt, Ben zu manipulieren.
Ich starre auf die Nachricht in meiner Hand. Soll ich den Zettel mitnehmen? Aber irgendwie gehört er dorthin, wo ich ihn zum ersten Mal gefunden habe. Ich falte den Zettel zusammen, stecke ihn in die Eule und stelle die Skulptur zurück auf den Kühlschrank. Bei Mac ist er sicher.
Vielleicht holen Ben und ich die Eule eines Tages. Gemeinsam.
Am nächsten Morgen ist alles unter einer dicken Schneedecke begraben, die Zugangsstraße ist unbefahrbar. Nachdem er mit Aiden telefoniert hat, sagt Mac, dass er mit mir zur Hauptstraße laufen werde.