Impressum

Ingrid Möller

Die Woge

Ein Hokusai-Roman

ISBN 978-3-95655-062-1 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1988 im Prisma-Verlag Zenner und Gürchott, Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Farbholzschnittes „Die große Woge“ von Hokusai aus der Serie „36 Ansichten des Fuj“.

 

© 2014 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: verlag@edition-digital.com
Internet: http://www.ddrautoren.de

 

Seit meinem sechsten Jahre

fühlte ich den Drang,

die Gestalten der Dinge abzuzeichnen.

Gegen fünfzig Jahre alt,

habe ich eine Unzahl von Zeichnungen veröffentlicht;

aber ich bin unzufrieden mit allem,

was ich vor meinem siebzigsten Jahre

geschaffen habe.

Erst im Alter von dreiundsiebzig Jahren

habe ich annähernd die wahre Gestalt und Natur

der Vögel, Fische und Pflanzen erfasst.

Folglich werde ich im Alter von achtzig Jahren

noch größere Fortschritte gemacht haben;

mit neunzig Jahren werde ich in das Wesen

aller Dinge eindringen;

mit hundert Jahren werde ich sicherlich

zu einem höheren, unbeschreiblichen Zustande

aufgestiegen sein und,

habe ich erst hundertzehn erreicht,

so wird alles - jeder Punkt, jede Linie - leben.

Ich lade diejenigen,

die so lange leben wie ich, ein,

sich zu überzeugen,

ob ich mein Wort halten werde.

Aus dem ersten Band der „Hundert Ansichten des Berges Fuji“, 1834

1. Kapitel

Früher als gewöhnlich nehmen sie heute ihren Tee ein, schweigsamer auch als gewöhnlich. Es ist nicht nur die Stille der frühen Morgenstunde, die ihre Sinne schärft für jedes leise Rauschen der schmalen Bambusblätter hinter dem Haus, für das Niedergleiten und Gurren der Tauben auf dem niedrigen Schilfrohrdach und das Abtropfen des Nachttaus. Auf ihnen lastet eine unausgesprochene Sorge.

Oyei scheint heute eine besonders große Sorgfalt auf die Zubereitung des Tees zu legen. Jede ihrer Bewegungen ist langsam und gemessen. Sie schlägt das grüne Pulver mit dem Bambusquast, bis es fast aus dem Gefäß schäumt. Und während sie das sprudelnd kochende Wasser in die irdenen Schalen gießt, scheint ihre Hand leicht zu zittern. Unter den rituellen Verbeugungen, die ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen sind, rutscht sie lautlos auf den Knien über die hellen Tatamimatten und stellt die Schale ihres Vaters in der vorgeschriebenen Weise vor ihn hin.

„Otemae chodai“, murmelt der Alte den Dank in unverständlichen Kehllauten. Oyei holt auch den winzigen Teller mit Gebäck. „Okashi - itashi masu“, murmelt der Alte abwesend. Oyei verbeugt sich wiederum, etwas tiefer als der Vater. Sie drehen die Teeschalen in der festgelegten Richtung in beiden Händen. Mit schlürfendem Geräusch ziehen sie in winzigen Schlucken den sehr heißen und sehr bitteren Tee in den Mund. Erst als Oyei sieht, dass ihr Vater die Schale völlig ausgetrunken hat, wagt sie nach einem flüchtigen Blick aus den Augenwinkeln die Bemerkung: „Die Maske ist heute Nacht heruntergefallen.“

Scheu, als fürchte sie den aufbrausenden Zorn ihres Vaters, beugt sie sich über das Teegeschirr und wischt die heiß ausgespülten Schalen öfter mit dem schönen Tuch aus, als es die Vorschrift verlangt.

„Hai!“, bestätigt Hokusai in kurzem, rauem Ton, wobei sich die zahllosen Querfalten auf seiner Stirn merklich vertiefen. Auch er ist besorgt, schließt Oyei daraus. Wenn die Maske herabfällt, gibt es Unheil! Wer weiß das nicht! Es ist zu heikel, darüber zu sprechen. Die Maske fiel auch herab, bevor Mutter starb und bevor damals das Haus abbrannte. Der Geist der Ahnen hat eine Botschaft an uns. Eine böse Botschaft. Aber welche? Verstohlen beobachtet sie ihren Vater. Wirkt er heute nicht müder als sonst? Allerdings, er hat sich wieder nicht rasiert. Überhaupt legt er zu wenig Wert auf sein Äußeres, schon immer. Einem fast Neunzigjährigen mag man das nachsehen, aber früher war er nicht anders. Trotzdem! Oyei betrachtet ihn mit Stolz. Wer hat schon einen solchen Vater! Einen, der mit fast Neunzig immer noch glaubt, das Eigentliche, die Hauptsache vor sich zu haben, der immer noch rastlos neuen Zielen zustrebt und sich nicht die geringste Ruhe gönnt! Jetzt hält er den Kopf genau so, wie Oyei ihn einmal gezeichnet hat, diesen eigenwilligen alten Mann mit dem kahlen Schädel, der fliehenden, faltenübersäten Stirn, den waagerechten breiten Brauen, den vor Falten kaum sichtbaren Augen, der langen schmalen Nase, dem breiten Mund und dem energischen Kinn. Alles ist noch genauso und doch anders. Die Knochen scheinen von innen mehr auf die Haut zuzuwachsen. Der Schädel drückt sich durch, die Jochbeine. Vater ist alt, sehr alt -! Weiter wagt Oyei nicht zu denken. Nicht daran, dass deshalb vielleicht die Maske von der Wand gefallen sein könnte, weil der Vater ... Dennoch, dass er ihre Bemerkung nicht mit Zorn, nicht einmal mit einem zurechtweisenden Blick als Unsinn und Weiberaberglauben abgetan hat, zeigt, dass auch ihm in dieser Nacht eine böse Ahnung zu schaffen gemacht hat.

Inzwischen steht die Sonne so hoch, dass der Strauß kunstvoll zusammengestellter Feldblumen im Tokonoma im Widerschein der seidenartig glänzenden Papierbespannung aufleuchtet. Der ganze Raum mit dem Braun der Holzpfosten, dem hellen Ockerton der Binsenmatten und dem Elfenbein der Wände scheint nur für diese eine, die vierte Wand geschaffen, um die sparsamen Farben der Blumen, des Rollbilds und der Maske zur Geltung zu bringen. Hokusai verweilt heute länger in der Betrachtung als sonst, als hätte er den ewig sich wiederholenden Prozess von Knospen, Blühen und Welken nicht an jedem Tag seines Lebens bewusst beobachtet und unzählige Male mit dem Zeichenpinsel festgehalten. Alles Lebende ist Gleichnis, stets neu zu überprüfen und zu überdenken. Heute aber, mehr als an jedem anderen Tag seines langen Lebens, hat er Grund, sich dieser ältesten aller Weisheiten zu entsinnen. Denn in der vorigen Nacht war es kein anderer als Emma-o, der Herr der Unterwelt, der an den Stützpfosten geklopft hat. Deshalb ist die Maske heruntergefallen.

Hokusai weiß, dass ihm nur noch eine kurze Frist bleibt, aber er möchte diese Gewissheit für sich behalten. Oyei soll keinen Verdacht schöpfen, die Schüler nicht, überhaupt niemand.

Während Oyei fast geräuschlos das Teegeschirr wegräumt, bleibt Hokusai reglos sitzen und hält stumm Zwiesprache mit sich: Natürlich, kein Mensch lebt ewig, einmal musste diese Erkenntnis kommen. Aber so bestürzend plötzlich? - Eigentlich nicht plötzlich, Warnzeichen gab es schon früher. Der Schlaganfall damals. Damals - vor über zwanzig Jahren. Längst vergessen! Ein aufgeschobener Tod ist ein ferner Tod. War es Übermut, lauthals im ersten Band der „Hundert Ansichten des Berges Fuji“ zu verkünden, Hokusai würde einhundertundzehn Jahre alt werden? Es klingt fast so. Aber irgendwie habe ich daran geglaubt; je mehr ich diesem Alter näher rückte, desto sicherer wurde ich meiner Sache. Schließlich hatte ich ein gutes Recht, daran zu glauben, weil ich stets voll neuer Pläne war. Heißt es doch sehr richtig: Üben ist der Weg zur inneren Reife. Mein ganzes Leben war ein einziges Üben. Nie war ich mit mir zufrieden. Jede Zeichnung war mir nur Vorstufe einer noch besseren. Rastlos war ich, nie faul. Gewiss. Und es gibt niemand auf der Welt, der zu zählen vermag, wie viel Blätter sich unter meinem Tuschpinsel in Sinn- und Abbilder unseres Lebens verwandelt haben. Niemand. Selbst ich nicht. Es werden vielleicht Zehntausende sein! ... Man könnte sagen: das reicht. Andere schaffen in ihrem Leben nicht den kleinsten Bruchteil dessen. Versuchen es auch gar nicht - ganz gleich, auf welchem Gebiet. Trotzdem! Ich will nicht, dass das alles war! Es wäre keine gute Entscheidung, mich jetzt abzuberufen, Herr Emma-o! Ich bin noch nicht bereit für die Unterwelt, noch viel zu lebendig, noch immer unterwegs zu neuen Ufern.

Hundertundzehn Jahre! Das hieße, es lägen noch zwanzig vor mir! Zwanzig Jahre voll ungeahnter Möglichkeiten. Könnte ich sie doch nutzen! Weiß der Himmel, ich würde jeden Tag auszuschöpfen wissen, wie ich es bisher mit allen Tagen tat! Hokusai starrt auf die Tatamimatten vor seinen Knien, ohne etwas zu sehen.

Leben heißt, sich auf einen schönen Tod vorzubereiten. Welchem Japaner wird dieser Satz nicht von Kindheit an eingehämmert! Überwinde dein weibisches Selbstmitleid! Nimm den Kampf auf mit dem Tod. Widersetze dich ihm, biete ihm Trotz!

Hundertzehn Jahre - wie konnte ich nur ein solches Versprechen abgeben, und das auch noch schriftlich! Ein Spaß? Nein, das war es nicht! Vielleicht war es die jahrelange Beschäftigung mit dem ewigen Berg Fuji, der mich glauben ließ, es würde ein bisschen von seiner Ewigkeit, Dauerhaftigkeit, von seinem Stolz und seiner Majestät auf mich abfärben. Darüber mag ich vergessen haben, dass ich nur ein Mensch bin.

Was heißt nur? Herr Emma-o, ich stelle mich Euch! Ich weiß, Ihr werdet nicht lockerlassen. Jede Nacht werdet Ihr kommen und als Alb auf meiner Brust sitzen. Geduldig, in der Hoffnung, dass ich Euch irgendwann inständig bitten möge, mich endlich mitzunehmen. Aber darauf könnt Ihr lange warten. Ich werde Euch nicht bitten und schon gar nicht inständig. Mag ich nach Jahren alt sein, so ist mein Wille doch ungebrochen.

Ich weiß, Ihr werdet kommen, Nacht für Nacht. Denn Ihr habt menschliche Züge und seid hartnäckig. Zu den menschlichen Zügen gehört aber auch, dass Ihr neugierig seid. Und deshalb werde ich Euch in jeder Nacht einen Abschnitt meines Lebens erzählen. Ich verspreche Euch, Ihr werdet auf Eure Kosten kommen! Mein Leben war kein Allerweltsleben, kein Gehen auf ausgetretenen Pfaden, kein Ducken, kein Anpassen. Immer lebhaft, manchmal streitbar, immer ohne Pomp und Luxus. Mein Leben war alles andere als ein gerader Weg. Im Gegenteil! Dieser Weg hatte viele Abzweigungen, und bei jeder Richtungsänderung nahm ich als veränderter Mensch einen neuen Namen an. Etwa dreiunddreißigmal. Und dreiundneunzigmal wechselte ich das Dach über meinem Kopf. Erst unter dem hundertsten Dach wollte ich mich zur letzten Ruhe legen.

Ja, es stimmt! Ich bin stolz auf dieses Leben. Und so wirr es auch scheinen mag, ein Ziel hatte es immer, die größere Vervollkommnung meines Könnens als Zeichner und Maler, von Stufe zu Stufe. Glaubt mir, dem Gakiyo rojin, dem vom Zeichnen besessenen Greis!“

Hokusai lächelt. Er hat sein inneres Gleichgewicht zurückgewonnen. Langsam steht er von seinem Sitzkissen auf. Gut, dass niemand sehen kann wie langsam. Vor der Bildnische, dem Tokonoma, bleibt er eine kurze Weile stehen. Das Kakemono erscheint ihm nicht passend. Er ersetzt es durch ein anderes Rollbild. Das zeigt einen Kranich und eine Kiefer, Sinnbilder glücklichen Greisenalters und eines langen Lebens. Zufrieden betrachtet er sein Werk: Gut so. Alles mag man verlieren, aber nicht den Mut!

Schön sind die Schwingen des Kranichs, schön die skurril verformten Äste der Kiefer.

 

„Wenn die Schüler kommen, schick sie weg“', ruft er zur Küche hin, „ich habe heute viel vor und möchte nicht gestört werden. Von niemandem! Hörst du!“

Oyei hat es gehört und wagt keinen Einspruch. Ohnehin wollte sie gerade in den kleinen Hausgarten gehen und die Bäume gießen, bevor die Sonne hoch steht. Dort wird sie die Schüler abfangen.

Hokusai aber greift nach seinem grauen Arbeitskimono und geht mit kleinen Schritten in sein unordentliches Arbeitszimmer, um ungestört seinen Erinnerungen nachzuhängen. Dort, vor seinem Zeichenpult, verfällt er in einen Zustand schlafähnlicher Versunkenheit. Seine Gedanken wandern sehr weit zurück. Krampfhaft sucht er sich an die Züge seiner Eltern zu erinnern. Der Vater hieß Nakajima Ise und war Spiegelmacher des Shogun. Wie stolz er darauf war! Für ihn konnte es nichts Wichtigeres geben als Spiegel. Ohne Spiegel, pflegte er zu sagen, wüssten selbst die Größten und Mächtigsten nicht, wie sie aussehen. Ohne Spiegel würde es den Weisen schwerfallen, sich selbst zu ergründen. Ohne Spiegel könnten selbst die Schönsten der Schönen ihre Schminke nicht anbringen oder doch wenigstens überprüfen. Und schließlich: Was wären die Shintoschreine ohne den Spiegel, das Auge des Himmels, in dem die Götter leben! Spiegel sind schon wichtig.

Plötzlich sieht Hokusai die Werkstatt des Spiegelmachers ganz deutlich vor sich. Da war Leben! Da wurde schwer gearbeitet. Es war nicht leicht, das Metall so kreisrund zu schneiden, dass kein Zacken entstand und wenig Abfall. Und es gehörte Kraft dazu, die Oberfläche des Metalls so zu polieren, bis kein blinder Fleck mehr darauf war.

Streng ging es zu in der Werkstatt. Bummelei wurde nicht geduldet und auch nicht gewagt. Aber geschwatzt wurde zuweilen, wenn der Meister nicht da war.

Und Hokusai? Er war noch in jenem Alter, wo man spielen darf. Er spielte mit den blanken, scharfkantigen Abfällen, mit denen sich so schöne Muster legen ließen. Oft verwarnt von den Erwachsenen wegen der messerscharfen Schnittflächen, aber immer wieder gefesselt von den achtlos verworfenen Möglichkeiten. Abgelenkt von diesem Spiel wurde er nur durch die Kunden, die ihre besonderen Wünsche nicht bei den ausgestellten Stücken des Verkaufsstandes erfüllt sahen. Sie gingen durch die Reihen, sahen jedem von oben auf die Finger, ließen sich dieses und jenes erklären und meldeten dann ihre ausgefallenen Wünsche an: Perlmutt, Filigran.

Es kamen unterschiedliche Leute, nette und hochnäsige, wohlerzogene und plumpe, geheimnisvolle. So hieß es von den schönen Frauen mit dem vorn gebundenen Obi, sie wohnten in der Straße der fünfzig Teehäuser und hätten als „verwehte Blüten des gefüllten Kirschbaums“ den schlimmen Vertrag über den Verkauf ihres Leibes unterschrieben. Dabei zwinkerten sich die Männer zu, und der kleine Hokusai verstand kein Wort. Er staunte nur über die Pracht der goldbestickten Kimonos, die kunstvollen Frisuren mit den unterschiedlichen Lackkämmen und gönnte ihnen die schönsten Spiegel. Angst aber hatte er vor den Samurai. Hörte er sie kommen, lief er davon. Sie hatten etwas so Lärmendes, Polterndes, waren nicht die Ehrenritter der alten Romane. Sie waren verhinderte Streiter, die stets Streit suchten. Ihretwegen ließen die Anwohner der Hauptstraße ihre Fenster vergittern, damit sie nachts im Rausch nicht mit ihren großen, aber überflüssigen Schwertern die Fenster zerschlugen und in die Häuser eindrangen. Aber wenn der Knabe sich auch versteckte, ganz weg lief er nie. Aus seinem Versteck beobachtete er sie genau. Zu abenteuerlich sahen sie aus mit ihrem Helm und ihren zwei Schwertern. Auf unheimliche Art anziehend! Der kleine Hokusai riss die Augen auf. Ob so auch die Gefolgsleute des Kira ausgesehen hatten, von denen einer, Heichachiro Kobayashi, der Vorfahr seiner Mutter gewesen sein soll?

Er wurde nicht müde, sich diese berühmteste aller japanischen Heldengeschichten wieder und wieder erzählen zu lassen, bis er selbst lesen konnte.

Wie im Dämmerzustand hat Hokusai den Tuschstein zu sich herangezogen, den Pinsel in die Wasserkuhle getaucht und auf dem Tuschstein verrieben, bis sich der Quast mit tiefschwarzer Farbe vollgesaugt hat. Jetzt setzt er die Spitze aufs dünne Papier und zieht in einem schnellen Bogen den Umriss eines Kriegers. Ja! Genauso sahen sie aus, die Samurai, die Gefolgsleute der Daimyo, der Feudalherren! Hokusai hält sich das Blatt am gestreckten Arm in den richtigen Augenabstand. Jeder Strich sitzt. Hat genau dort seinen Sinn. Noch hat seine Hand nichts von der Sicherheit und Leichtigkeit bei der Strichführung eingebüßt.

„Seht her, Herr Emma-o!“, murmelte er, „findet Ihr etwa das leiseste Zittern in diesen Linien? - Nein, beim besten Willen nicht!“ Und wie von Dämonen getrieben, malt er weiter, Blatt für Blatt, eine ganze Serie. Kampfszenen, Abschiedsszenen, das feierliche Ritual der ritterlichen Selbsttötung, Überwindung der Todesfurcht.

Die schwarze Tusche wird ihm zum Mittel der Befreiung von inneren Zwängen und Ängsten. Solange er malen kann, lebt er. Leben und Malen waren schon immer zwei Begriffe, die für ihn zusammenfielen. Mithilfe der schwarzen Tusche gelingt es dem Greis, jenen Faden zurückzuspulen, den wir Zeit nennen, zurück bis dorthin, wo alles anfing. Denn ein Leben kann nur vorwärts erzählt werden, weil es vorwärts gelebt werden muss. Rückwärts ergäbe es keinen Sinn. Schon fühlt Hokusai sich als der Knabe, der auf den Namen Tokitaro hörte ...

2. Kapitel

„Am zweiten Januartag jeden Jahres machte der Vizegouverneur des Shogun im kaiserlichen Palast von Kyoto seine Aufwartung, um dem Kaiser die Neujahrsglückwünsche des Shogun zu überbringen. Und in jedem Frühling sandte der Kaiser zur Zeit der Kirschblüte seine Gesandten nach Edo zu einem Erwiderungsbesuch. Im Kalender des Shogun war das ein feierliches Ereignis von größter Bedeutung, denn es bestätigte dem ganzen Lande die herzlichen Beziehungen zwischen Kyoto - dem Kaisersitz - und Edo - dem Shogunsitz. Jedes Jahr beauftragte der Shogun zwei Daimyo damit, die kaiserlichen Gäste zu empfangen. Im Jahre 1701 hießen diese beiden Asano und Date. Date war um die Hälfte jünger als Asano, noch keine zwanzig, und sein Lehen war halb so groß wie das des Asano.

Zuerst versuchte Asano die Ehrung abzulehnen unter dem Vorwand, er verstehe nichts von höfischer Etikette. Man versicherte ihm jedoch, er sei dieser Dinge nicht weniger kundig als jeder andere Daimyo, und Herr Kira, der Zeremonienmeister, werde ihn in alle Einzelheiten einweihen.

Dies war eine der Gelegenheiten, von denen Kira träumte. Er wurde dadurch nicht nur zum Mittelpunkt des Interesses, sondern erhielt auch Geschenke in nicht abreißendem Strom von den Daimyo, die sich in gutes Licht setzen wollten.

Dates Gefolgsleute ließen es an nichts fehlen, was ihren jugendlichen Höfling fördern konnte. Ihre Geschenke waren üppig: Gold und kostbare Seide. Kira frohlockte. Wenn dies schon von Date kam, was war dann erst von Asano zu erwarten? Asanos Lehen wurde aufs Doppelte von Dates geschätzt, und alle Welt wusste, dass Salzgewinnung sein Einkommen weit über alle Vermutungen hatte anwachsen lassen.

Asano aber unterließ es, Kira zu bezahlen für das, was ohnehin seine Pflicht war, und übergab ihm nur die unter Freunden übliche Gabe: einen getrockneten Fisch. Begreiflich, dass Kira vor Zorn raste. Kira machte von da an Asano das Leben zur Hölle. Nichts verriet er ihm über die Zeremonien. Der einzige Rat, den Kira ihm gab, war der schneidende Vorschlag: ,Vor allem seid freigebig in Euren Geschenken an die Gesandten, denn Freigebigkeit wiegt viele Fehler auf.‘ Asano änderte seine Haltung nicht.

Drei Tage dauerten die Zeremonien. Asano überstand die ersten beiden Tage, indem er dem Beispiel Dates folgte, der sehr gut ausgebildet war. Am letzten Tag um acht Uhr morgens, als die Korridore vor dem Audienzraum von den letzten Vorbereitungen summten, tappte Asano immer noch im Dunkeln, war nervös und unsicher. Er wagte Kira zu fragen, ob er die Gesandten oben oder unten an einer bestimmten Treppe empfangen solle. Kira brüllte ihn an, ohne die Frage zu beantworten. In diesem Moment trat ein Diener der Mutter des Shogun zu Asano und bat um Benachrichtigung, sobald die Audienz vorüber sei, weil seine Herrin eine Botschaft für die Vertreter des Kaisers habe.

,Was gibt es?‘, mischte sich Kira schroff ein, ‚wenn es sich um die Gesandten handelt, tätet Ihr besser daran, es mir zu sagen. Auf einen Stümper wie Herrn Asano ist kein Verlass.‘

Nun war das Maß voll. Asanos Schwert blitzte auf. ,Seht Euch vor!‘, schrie er und griff Kira an. Er schlug zweimal zu, bevor er überwältigt wurde.

Der Hof geriet in Aufruhr. Der Shogun, der die Nachricht von dem Vorfall beim morgendlichen Bad vernahm, befahl erzürnt, Asano festzunehmen. Ein anderer Daimyo wurde an seiner Stelle ernannt und die Audienz an einen anderen Ort verlegt. Sobald die Zeremonien vorüber waren, berief der Shogun seinen Rat ein. Ihren Vorschlag, den Fall genau zu untersuchen und die Gemüter sich erst beruhigen zu lassen, überging er und verkündete seine Entscheidung: für Kira sein Mitgefühl und die Hoffnung auf eine baldige Besserung, damit er wieder seinen Pflichten nachgehen könne, für Asano Selbstmord noch am selben Abend und die Beschlagnahme seines Lehens.

Asano wurde also in die Sänfte für Gefangene gesetzt und wie ein gewöhnlicher Verbrecher mit einem Netz gefesselt. Man brachte ihn zum Herrensitz eines anderen Lehnsherren, wo man ihm das Urteil vorlas. Als letzte Erniedrigung zwang man ihn, den Selbstmord nicht im Hause, sondern im Garten zu verüben. Dort setzte er würdevoll in der Abenddämmerung seinem Leben ein Ende.

Unmittelbar danach brachen die ersten Boten nach Ako, dem Heimatort des Asano auf, um die Nachricht zu überbringen. Nach viereinhalb Reisetagen kamen sie halb irr im Schloss an. Der Hauptkämmerer Oishi hörte zu, als sie ihre Geschichte atemlos vorbrachten, und rief danach alle dreihundert Ronin zusammen. Drei Tage wurde die Lage beraten. Es bildeten sich zwei Parteien. Einig waren sie sich in der Frage, dass die Wiedereinsetzung des Lehens und eine Weiterführung der Familie unter Asanos jüngerem Bruder erwirkt werden müsse. Über die nächsten Schritte aber gab es Uneinigkeit. Der Vermögensverwalter wollte das Schloss so bald wie möglich kampflos übergeben. Der Hauptkämmerer Oishi hielt das für feige und würdelos.

Oishis feste Haltung setzte sich durch. Man sandte zwei Vertreter nach Edo zu den Beauftragten des Shogun, die das Schloss übernehmen sollten. In der Botschaft wurde Asanos Schuld zugegeben und gleichzeitig betont, dass seine Gefolgsleute im Schloss sterben müssten, um den guten Namen der Sippe zu retten. Das war eine höflich formulierte Kampfansage.

Darauf mobilisierte das Shogunat alle Daimyo der benachbarten Lehen und deren Gefolgsleute.

In einer erneuten Versammlung forderte Oishi die dreihundert Ronin auf, ihre Bereitschaft, das Schloss zu verteidigen, zu beschwören. Von den dreihundert schworen nur einundsechzig. Oishi ließ sie ihr Gelübde mit Blut besiegeln, verpflichtete sie zur Geheimhaltung und weihte sie in sein Vorhaben ein. Das Schloss zu verteidigen habe er nur vorgegeben, um die Wankelmütigen auszusondern, sagte er. In Wahrheit gehe es um zwei Dinge: erstens müsse die Sippe unter Asanos jungem Bruder stehen, und zweitens müsste an Kira Rache geübt werden. Der Beifall war laut. Scheinbar drehte sich nun alles um die Übergabe des Schlosses. Inventarlisten wurden aufgestellt, das in Umlauf gesetzte Papiergeld eingezogen und in Silber getauscht, ein Witwengeld ausgesetzt.

Am 18. April trafen die Offiziere des Shogun ein, und Oishi ritt ihnen aus Höflichkeit zur Begrüßung entgegen. Er geleitete sie ins Schloss und in das Zimmer des Asano und bat um die Rehabilitierung der Familie. Tief beeindruckt von dem Empfang versprachen die Offiziere, ihr Bestes zu tun.

Seiner Pflichten enthoben, kaufte sich Oishi ein Haus im Dorf Yamashima bei Kyoto und lebte ganz zurückgezogen mit seiner Familie. Alle guten Posten lehnte er ab. Die Blutrache an Kira ließ er nicht ins Register eintragen, um den Erfolg nicht zu gefährden.

Kira war zwar vom Shogun gedeckt worden, sonst aber wurde er gemieden und sein Verhalten missbilligt. Seine Frau hatte ihm zum Selbstmord geraten. Er aber baute sein Anwesen in Edo aus und ließ Oishi bespitzeln. Kiras Spione tarnten sich als Arbeiter und Handwerker, als Gärtner und Straßenhändler. Wie Spürhunde verfolgten sie Oishis Schritte.

Oishi wollte zunächst Asanos Clan rehabilitieren, während die Ronin nur an Rache dachten. Oishi reiste nach Edo, um sie zu beschwichtigen. Dort besuchte er im Sengaku-Tempel Asanos Grab. Und er besuchte Asanos Witwe, die Nonne geworden war, sowie mehrere Beamte.

In einer geheimen Versammlung mit den getreuen Ronin wurde der März, der Jahrestag von Asanos Tod, zum Tag der Rache bestimmt. Nach Yamashima zurückgekehrt, stürzte sich Oishi in ein Leben übelster Ausschweifungen und ließ sich von seiner Frau scheiden. Sollte seine überall bekannte Zügellosigkeit Kira in Sorglosigkeit hüllen?

Der Neujahrstag des Jahres 1702 rückte näher. In Edo würde ruchbar, Kira habe sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen und die Familienführung seinem Sohn überlassen. Er wollte mit seiner Frau Zuflucht in einem Schloss tief in den Bergen suchen. Diese Nachrichten drohten die Pläne der Verschwörer zu durchkreuzen. Trotzdem sollte zuerst die Wiedereinsetzung der Asano-Familie in ihre alten Rechte angestrebt und erreicht werden.

Am 18. Juli aber wurde das endgültig abgelehnt, Asanos Bruder in Haft genommen und die Asano-Sippe aus den Büchern gestrichen. Am 28. Juli verkündete Oishi in einer Versammlung, er werde im Oktober nach Edo gehen.

Für Oishi war wichtig, seine Verbündeten noch einmal auf Herz und Nieren zu prüfen und die Unentschlossenen auszusondern. Einhundertfünfundzwanzig der ehemaligen Gefolgsleute hatten den Schwur inzwischen geleistet. An alle schrieb er einen gleichlautenden Brief: Jetzt, da das Unvermeidliche eingetreten und es sinnlos geworden ist, weiterhin die Asano-Sippe zu rehabilitieren, sende ich Euch das Unterzeichnete Gelöbnis zurück und entbinde Euch von allen weiteren Verpflichtungen in dieser Sache. Ich selber denke daran, mich auf dem Lande mit meiner Frau und meinen Kindern niederzulassen und den Rest meiner Tage in freudvoller Zurückgezogenheit zu verbringen. Mögt Ihr meinem Beispiel folgen oder Euch so verhalten, wie es Euch beliebt.'

Von den einhundertfünfundzwanzig nahm etwa die Hälfte diese Gelegenheit wahr, abzufallen. Die andere Hälfte sandte ihr Gelöbnis zurück mit neuen Loyalitätserklärungen.

Oishi reiste nach Edo. Als er erfuhr, dass am 6. Dezember bei Kira eine Teezeremonie stattfinden sollte, wurde der Angriff auf die Nacht vor dem 6. Dezember anberaumt, musste aber wegen der Verschiebung der Zeremonie auf den 14. vertagt werden. Die Ältesten der Verschworenen trafen sich im Sengaku-Tempel und beteten an Asanos Grab. Noch einmal gingen sie ihren Plan durch. Sie wollten sich in zwei Gruppen teilen. Die eine sollte mit Oishi das Haupttor angreifen, die zweite mit Oishis Sohn Chikara das rückwärtige Tor. Sie gaben die Losung aus und gingen auseinander, um sich nachts bei Kira zu treffen.

Die achtundvierzig Ronin kleideten sich von Kopf bis Fuß in neue Gewänder, denn sie gingen nicht nur in den Kampf, sondern auch zu einer rituellen Handlung. Das Untergewand bestand aus weißer gefütterter Seide und war weich und warm; darüber trugen sie ein Panzerhemd, einen gesteppten Kimono aus schwarzer Seide mit dem Wappen des Trägers, hosenartige Hakama, dazu Gamaschen, Handschuhe, einen Helm und schließlich einen schwarz-weißen Kapuzenmantel. Einige wahrten einen uralten Schlachtenbrauch: Sie verbrannten Weihrauch in ihrem Helm, damit der Gegner den Kopf duftend fände, falls er abgeschlagen würde.

Um zwei Uhr nachts schritten sie schweigend durch die verlassenen, schneebedeckten Straßen. Sie waren jetzt nur noch siebenundvierzig, denn ein Mann war noch am letzten Tag abgefallen.

Dicht vor Kiras Haus verteilten sie sich. Schweigend glitten sie durch den Schnee und überwältigten die Torwachen, die sich in ihren Hütten an Holzkohlenfeuern wärmten. Das Haupttor war so massiv, dass sie keinen Versuch machten, es aufzubrechen, sondern es mit Leitern überstiegen. Das rückwärtige Tor schlugen sie ein. Damit waren sie im Innenhof. Von dort brachen sie ins Haus ein. Einige von Kiras Leuten setzten sich zur Wehr und starben, die meisten aber warfen ihre Schwerter weg und rannten davon. Die Angreifer schlugen sich zu Kiras Schlafzimmer durch und fanden dort sein Bett noch warm, aber leer. Eine Stunde lang durchsuchten sie das Haus nach ihm. Dann brachen ein paar der Angreifer in einen alten Schuppen des Hinterhofs ein, in dem Holz und Kohle lagerten. Zwei Männer stürzten fechtend heraus, wurden aber bald überwältigt. Ein dritter wurde mit dem Speer verwundet, kam heraus, schwang ein kurzes Schwert und wurde von einem weiteren Speer niedergestreckt. Der Tote hatte auf dem Rücken eine Narbe, die Asanos Schwert ihm zugefügt hatte: Kira war gefunden.

Pfiffe verkündeten es. Der Mann, der Kira getötet hatte, schlug ihm den Kopf ab und wickelte ihn in dessen Kimono ..."

 

„Dir verdammtem Lausebengel schlage ich auch noch mal den Kopf ab!“

Zu spät klappt Tokitaro das Buch zu und versteckt es hinter seinem Rücken. Bedrohlich groß steht sein Brotgeber vor ihm. Vor Schreck versagen Tokitaros Beine. Er müsste längst aufgesprungen und an seine Arbeit gestoben sein! Dass er den Alten auch nicht kommen hörte! Es ist nicht das erste Mal, dass er ihn beim Lesen ertappt hat. Blass und schuldbewusst starrt Tokitaro zu dem Leihbibliothekar hoch. Selbst die Entschuldigung bleibt ihm im Hals stecken. Das Buch - wie soll er es nur erklären? - hat ihn so völlig in seinen Bann geschlagen. Er wollte nicht faul sein. Bestimmt nicht! Er kann doch gar nichts dafür. „Dieses Buch ...“, stammelt er und bricht ab.

„Man sollte es dir um die Ohren schlagen! Füttere ich dich vielleicht durch, damit du alle Bücher durchliest, die wir gegen Geld verleihen? Scher dich endlich wieder an die Arbeit! Heute Abend gibt es eine Kelle Reis weniger für dich!“

Tokitaro atmet auf. Noch hat der Alte ihn nicht hinausgeworfen. Nur der hämische Blick des anderen, so mustergültigen Gehilfen stört ihn. Ob der gepetzt hat?

Scheinbar ungerührt schleppt Tokitaro einen Bücherstapel herbei und beginnt, die Bücher wieder an ihren Platz im Regal zu stellen. Es geht ihm flink von der Hand. Plötzlich aber stutzt er. Wieder die Geschichte mit den siebenundvierzig Ronin, aber diesmal mit farbigen Bildern dazu! Und wieder vergisst Tokitaro alle guten Vorsätze. Wieder kommt dieser Zwang über ihn: Er muss es aufschlagen. Unwiderstehlich juckt es ihm in den Fingerspitzen. Bilder zu dieser abenteuerlichen Geschichte. Wie mögen die aussehen?

Tokitaro schnappt sich das Buch, verschanzt sich hinter einem hohen Bücherstapel und beginnt, sich in die Farbholzschnitte zu vertiefen. Das Blut steigt ihm zu Kopf vor Aufregung. Toll, einfach toll! Der Selbstmord des Asano - das ungerührte Gesicht, während der Dolch den Bauch zerschneidet, und die würdevolle Haltung. Ein wirklicher Held!

Er blättert weiter: der feige Kira, der kampfentschlossene Oishi, die abtrünnigen und schließlich die standhaften siebenundvierzig Ronin. Weiter blättert er. Jetzt muss gleich ihr Ende kommen, das gleiche Ende wie das des Asano. Ja, hier! Er beugt sich noch tiefer über das Buch. Welcher der anderen mag wohl mein Vorfahr gewesen sein? Vergeblich sucht er nach Ähnlichkeiten. Die Helme und Rüstungen lassen alle ähnlich erscheinen. Überhaupt, dieser Holzschneider macht alle Gesichter gleich!

Tokitaro blättert zurück. Tatsächlich! Als hätten Menschen nicht lauter verschiedene Gesichter! Als würde das Leben nicht in jedem Gesicht andere Spuren hinterlassen!

Plötzlich ernüchtert, beginnt Tokitaro in Gedanken Korrekturen anzubringen, findet das eine Rot zu matt und das andere zu kräftig, eine Szene zu vordergründig betont und die andere zu nebensächlich behandelt. Das alles ließe sich doch viel, viel besser machen! Seine eigenen Zeichenversuche kommen ihm in den Sinn. Sollte es wirklich namhafte Künstler geben, die nicht besser zeichnen können als er, der vierzehnjährige Tokitaro?

Dieser Gedanke setzt sich in ihm fest. Er kommt ins Grübeln. Und schon holt er Papier, Pinsel und Tuschstein heran. Statt der täglichen Eintragungen, für die das Arbeitsmaterial gedacht ist, beginnt Tokitaro es mit Figuren und Landschaften, mit Tieren und Pflanzen zu bedecken. Der Garten des Kira mit dem Schuppen, in dem der Feigling sich versteckt hat. Die Ronin, wild um sich schlagend, jeder ein ganzer Mann.

Die Fantasie geht mit Tokitaro durch. Zu lebendig sind all die Gestalten der Heldengeschichte in ihm. Und wieder hört er das verräterische Knarren der Dielen zu spät. Erneut steht das Strafgericht leibhaftig vor ihm. Diesmal ohne jede Bereitschaft zur Nachsicht. Was zuviel ist, ist zu viel!

„Schick deinen Vater zu mir!“

 

Die Unterredung zwischen dem Buchhändler und Tokitaros Vater verläuft umständlich. Vergeblich versucht Tokitaro zu horchen. Er kann sich ausmalen, was geredet wird: Zunächst gegenseitige Komplimente, dann Unverbindliches über das Wetter und über bevorstehende Feste, über den Verlauf der Welt, wie alles wächst, auch die Kinder, die plötzlich keine Kinder mehr sind. Und dann erst, schonend, würde der peinliche Punkt berührt werden, dass Tokitaro leider so faul sei.

Tokitaro lauscht. Beim besten Willen aber ist nicht mehr zu hören als Gemurmel. Er vermag die Stimmen zu unterscheiden, ermisst an den Pausen, wie gespannt die Stimmung sein mag, mehr nicht. Kein lautes Wort, schon gar kein Lachen. Enttäuscht schiebt er den schmalen Spalt der Reispapierschiebetür zu und geht an seinen Arbeitsplatz. Zwei Jahre war er nun hier, und eigentlich gern. In diesen zwei Jahren ist ihm eine neue Welt erschlossen worden, das heißt, er hat sie sich aufgebrochen, die Welt der Bücher und der Buchillustrationen. Er möchte sich nicht davon trennen.

Noch immer Stille.

Ob ich will oder nicht, steht nicht infrage, grübelt er. Natürlich muss ich gehen.

Zum ersten Mal in seinem Leben hat Tokitaro das Gefühl, selbst eine Entscheidung treffen zu müssen und damit die Kinderschuhe auszuziehen.

Als sein Vater ihm zum Gehen winkt, hört er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen: „Vater, lass mich das Holzschneiden lernen!“

3. Kapitel

Für einen Augenblick schließt der Halbwüchsige die Lider. Träum ich oder wach ich?

Nein, alles um ihn herum ist wirklich und tatsächlich, mit allen Sinnen fassbar: Es riecht nach Holz, Farben und Leim. Man hört, wie die scharfen Messer durch das dünne Papier hindurch auf das harte Kirschbaumholz aufgesetzt werden und die feinen Späne abspellen, wie die tiefen Stellen ausgemeißelt werden. Nur die Stege bleiben stehen, die der Zeichner durch Linien auf dem Papier markiert hat, Linien, die jetzt von der Rückseite her seitenverdreht durchschimmern.

Wie still es ist, dass jedes Geräusch so genau zu hören ist!

„Tetsuzo!“

Der Halbwüchsige zögert. Er hat sich noch nicht an seinen neuen Namen gewöhnt. Dann aber sind seine Bewegungen fast übertrieben hastig. Er springt auf, nimmt dem glatzköpfigen Holzschneider die fertige Druckplatte ab und geht damit auf den Hof, um auch die letzten feinen Holzspäne und Stäubchen abzupusten und abzuwischen. Dabei betrachtet er die Arbeit. Schwer liegt die Platte in seinen Händen. Noch niemals hat er eine solche Druckplatte gesehen, geschweige denn in den Händen gehalten. Ein Schatz ist ihm anvertraut worden. Wissbegierig folgen seine Augen den Stegen, mit denen die Linien in einer bestimmten Farbe gedruckt werden sollen. Für jede Farbe muss eine neue Platte geschnitten werden. Dabei müssen die Passmarken genau stimmen, jede kleine Verschiebung beeinträchtigt das Bild. Viel hat Tetsuzo zu lernen und zu üben, bis er diese Fähigkeit erlangt! Und dann das Drucken! Die Wasserfarbe so verteilen, dass an jeder Stelle genau die beabsichtigte Menge abgedruckt wird, das Papier so zu feuchten, dass keine Farbe verläuft!

Er ahnt, wie lang der Weg zur Meisterschaft sein wird. Aber diese Ahnung schreckt ihn nicht, sie spornt ihn an. Tetsuzo ist überglücklich. Besser konnte es sich nicht fügen. Er darf in Edo bleiben, der pulsierenden Hauptstadt, dem Shogunsitz, sogar im Stadtviertel Yokoami-cho, in dem er aufwuchs. Und er ist Lehrling eines angesehenen Holzschnittmeisters.

Immer noch starrt er auf das Wunderwerk in seinen Händen. In seiner Fantasie ergänzt er die fehlenden Linien, denkt sich Farben dazu und kann es nicht erwarten, den fertigen Druck zu sehen. Vorsichtig geht er in den weichen Strohschuhen den erhöhten Bohlenweg entlang, der das Haus in der Breite des Dachüberstands umgibt. Plötzlich hält er in der Bewegung inne. Seltsame Töne weht der Wind vom Nachbarhaus herüber, hart im Ansatz, verschwebend im Ausklang. Die Koto. Natürlich, jemand spielt Koto. Wie gebannt horcht Tetsuzo. Wer mag da spielen? Ein junges Mädchen sicher, zierlich, das blauschwarze Haar kunstvoll hochfrisiert, die dunklen Mandelaugen versonnen auf die Saiten gesenkt, ganz konzentriert auf ihr Spiel. Welche Farbe mag ihr Kimono haben? Gelb, Orange, Blassblau oder Rosa? Rosa sicher, mit eingewebten blassblauen Blütenranken. Und der Obi? Aus weißer Seide wird er sein und die zerbrechliche Taille fest umschließen.

Ganz seltsam wird Tetsuzo zumute, ahnungsvoll und traurig zugleich. Eine Unruhe befällt ihn, die er sich nicht erklären kann.

In der Tür zur Druckerwerkstatt prallt er mit dem älteren Lehrling fast zusammen.

„Ach, du also bist der Neue?“

Tetsuzo nickt, zustimmend und grüßend zugleich.

„Bist wohl ganz benommen von dem Anfängergeklimper nebenan!“

Der Ältere mustert ihn. „Damit das gleich klar ist: mach dir keine falschen Hoffnungen, wenn jemand bei der ankommt, dann höchstens ich.“

„Kennst du sie denn?“

Tetsuzo überhört den feindseligen Ton des anderen.

„Klar. Bei so enger Nachbarschaft lässt sich das nicht vermeiden.“

Der Ältere nimmt die Druckplatte an sich, schiebt die Tür zu und lässt Tetsuzo draußen stehen. Der aber denkt nicht mehr daran, dass er eigentlich auf die Druckerwerkstatt so neugierig war. Das Mädchen von nebenan geht ihm durch den Kopf. Wenigstens nach dem Namen hätte er fragen sollen!

 

Jeden Tag um die gleiche Stunde übt das Mädchen im Nachbarhaus ihr Kotospiel. Aber wie oft Tetsuzo sich auch an der Schiebetür zu schaffen macht, nie bekommt er sie zu Gesicht. Einmal nur glaubt er, ihren Schatten abends auf den Reispapierscheiben ihrer Schiebetür kurz gesehen zu haben. Aber auch der ältere Lehrling scheint aufgeschnitten zu haben. Wie sehr Tetsuzo ihn auch heimlich bewacht, nie trifft er sich mit dem Mädchen.

Unterdessen entbrennt ein geheimer Wettkampf zwischen Tetsuzo und dem anderen Lehrling. Das Jahr Lehrzeit, das jener ihm voraushat, möchte Tetsuzo aufholen. Mehr noch, er möchte besser sein. Er möchte, wenn er eines Tages vor ihr steht, sagen können: Sieh her, dies alles habe ich gemacht, gezeichnet, geschnitten und gedruckt. Er stellt sich vor, wie bewundernd sie ihn dann ansehen wird. Und schon allein bei dieser Vorstellung verdoppelt er seinen Eifer. Manches geht bereits ganz gut. Selten haben die Gesellen Gelegenheit, ihm Fehler anzukreiden. Jedenfalls nicht beim Schneiden, obgleich das hier als das Schwierigste gilt. Manchmal gibt es Streitereien mit einem Zeichner, der behauptet, seine Vorlage habe anders ausgesehen. Beweisbar aber ist das nicht, weil die Zeichnung ja beim Schneiden zerstört wird.

Nebenbei nimmt Tetsuzo auch Unterricht im Drucken. Das verlangt viel Fingerspitzengefühl. Es muss das rechte Maß getroffen werden, nicht zu viel oder zu wenig Farbe, nicht zu viel oder zu wenig Wasser. Das Papier muss ebenso die richtige Feuchte haben. Und dann kommt das gleichmäßige oder absichtsvoll ungleichmäßige Verreiben der Farbe mit dem Druckerballen, schnell genug, damit nichts zu früh trocknet oder die Farbpigmente zusammenlaufen. Fragend sieht Tetsuzo in das Gesicht des Meisters, der seine Bewegungen genau verfolgt. Zustimmung. Also kann er es wagen, jetzt das kostbare Maulbeerbaumpapier aufzulegen. Jedes Mal wieder bringt ihn das ins Schwitzen, als ob er Fieber hätte. Nur nichts verrutschen lassen! Jetzt anpressen, vorsichtig!

Als er das Blatt abzieht, nickt der Meister zufrieden. Tetsuzo hängt es zum Trocknen auf.

Jeden Tag wiederholen sich die Arbeitsgänge. Tetsuzo gewinnt immer größere Sicherheit, und mit der Sicherheit auch Selbstvertrauen. Er lernt unterscheiden zwischen guten und weniger guten Vorlagen, weiß bald, welche Zeichnungen sich am günstigsten in Schnitte umsetzen lassen, welche Farben am besten zueinander passen. Bald werden ihm die kniffligsten Aufträge zugeschoben. Eines Abends wird er unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs. Er hört, wie der Meister zum ersten Gesellen sagt: „Dieser Junge ist mir unheimlich. Was andere sich mühsam aneignen müssen, kann er auf Anhieb!“

Tetsuzo schießt das Blut in den Kopf. Dieses Wort kann nur auf ihn gemünzt sein. Warum sagt man es ihm nicht selbst? Einerlei! Vielleicht meint der Meister, dass Lob stolz macht und den Charakter verdirbt. Mag es sein, wie es will! So jedenfalls denkt man über ihn. Tetsuzo ist überglücklich.

Das Lob beflügelt ihn. Er zeichnet und zeichnet, jede freie Minute. Er möchte einen Farbholzschnitt nach eigener Vorlage drucken, den er der Kotospielerin im Nachbarhaus als Neujahrsgabe schenken möchte. Dann müsste man ihn zu ihr lassen!

Was könnte einem jungen Mädchen gefallen? Eine Blüte? Ein Tier? Eine Szene aus einem Frauengemach? Ein Schauspieler in grimmiger Pose? Ein Dämon? - Wer weiß! Tetsuzo versucht vieles und verwirft es dann wieder. Es will sehr genau überlegt sein. Er muss sparen, um sich das teure Material zu leisten. Alles Suchen nach verwendbaren Abfällen war bisher vergebens.

Auf Schritt und Tritt saugt er Eindrücke in sich auf, sucht sich Formen und Farben einzuprägen, beobachtet Bewegungsabläufe, Muskelspiele. Zu Haus dann wirft er die Eindrücke aufs Papier, oft enttäuscht von seinem Unvermögen, manchmal beglückt durch eine gelungene Winzigkeit, immer aber mit dem Gedanken an das Mädchen, das er kennenlernen und beschenken möchte.

So fliegt die Zeit dahin, ständig ausgefüllt mit Arbeit und zunehmendem Erfolg. Tetsuzo stellt sich immer schwierigere Aufgaben. Schließlich entscheidet er sich für ein Schauspielerporträt in der Frauenrolle der Dichterin Murasaki, die um das Jahr eintausend im Ise-Heiligtum den Roman vom Prinzen Genji niederschrieb. Noch einmal liest Tetsuzo die ganze Geschichte durch und verharrt bei den besonders gefühlvollen Stellen:

„... Seine Augen waren trunken, wunschlos und matt. Blasser Dunst lag auf dem Garten; eine junge Dienerin führte ihn hinaus. Sinnerfrischend dufteten und blühten die Bäume, farbige Winden umschlangen das Gewirr der Äste. Genji blieb träumend stehen, sein Blick fiel auf das ihn geleitende Mädchen. Sie war anmutig, durch ihr hellgrünes Seidengewand schimmerte die zierliche Gestalt. Genji betrachtete sie gerührt, führte sie zur Gartenlaube und setzte sich ihr zur Seite ...“

Auch das wäre ein Bild! Aber nein! Die Darstellung eines Liebespaares könnte das Mädchen für anstößig halten.

Tetsuzo arbeitet seinen Entwurf aus, die Dichterin Murasaki unter den hohen Zedern und Dächern des Ise-Heiligtums.

Fast schmerzt es ihn, die eigene Zeichnung durch Aufkleben auf Holz und durch Zerschneiden zu zerstören. Ein Druck in drei Farben soll es werden, also müssen drei Platten geschnitten werden. Tetsuzo wartet auf den Feierabend. Sein erstes eigenes Werk beschäftigt ihn ständig und drängt nach Vollendung. Schließlich ist der erste Abzug fertig. Schwarz, grün und rosa stehen die Farben gegeneinander. Ginge es besser? Selbstkritisch überprüft er alle Einzelheiten, streicht die Platten neu ein und druckt ein zweites Mal. Ja, die Passmarken stimmten genau überein, jede Farbe sitzt richtig, und das Rosa im Gewand der Dichterin leuchtet jetzt kräftiger. Tetsuzo atmet tief durch und schließt die Augen. Das Holzschneiden beherrsche ich, das Drucken auch, jetzt wünsche ich Größeres: Maler möchte ich sein!

 

Bis zum Neujahrsfest sind es noch einige Tage. Tetsuzo wartet. Heute spätestens müsste der Künstler Katsukawa Shunsho seine Drucke abholen und die neue Bestellung aufgeben. Immer häufiger hat in letzter Zeit der Meister ihm die Verhandlung überlassen. Wenn es doch nur nicht so regnen würde! Das monotone Geräusch lässt die Zeit stillstehen. Und bei dem Wetter, wer geht da schon gern auf die Straße! Tetsuzos Ungeduld wächst. Endlich, gegen Abend, lässt der Regen nach und Katsukawa Shunsho kommt.

Günstiger kann die Gelegenheit nicht sein. Niemand weiter ist im Raum. Tetsuzo verneigt sich tief: „Kombanwa!“

„Kombanwa!“

Er schiebt dem Gast das schönste der Sitzkissen hin und kniet selbst ohne Kissen auf die Tatamimatte nieder.

„Die Drucke liegen bereit. Bitte sagt mir, ob Ihr mit meiner Arbeit zufrieden seid!“

Shunsho lässt sich Blatt für Blatt vorlegen und betrachtet jedes einzelne ausgiebig mit hochgezogenen Brauen. Dann nickt er zufrieden.

„Du hast ein erstaunliches Geschick und einen sicheren Spürsinn für Abstufungen, Tetsuzo. Man möchte fast meinen, dass in dir ein Künstler steckt.“ Nun ist das Stichwort gefallen. Tetsuzo gibt seinem Herzen einen Stoß und holt sein eigenes Blatt hervor.

Shunsho stutzt. „Das ist doch nicht von mir! Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Nein! Lass mich raten.“ Er nennt Namen.

Tetsuzo lächelt, stolz, dass er mit richtigen Künstlern verglichen wird. Schließlich kann er nicht an sich halten: „Ratet nicht weiter, es ist von mir.“

Überrascht sieht Shunsho ihn an. „Wirklich? Dann solltest du überlegen, ob du nicht mein Schüler werden willst.“

Das ist mehr, als Tetsuzo sich erträumen konnte. Plötzlich aber besinnt er sich, für wen er den Holzschnitt entworfen und ausgeführt hat. Zu Shunsho - das hieße weg aus diesem Haus, weg von diesem Mädchen, das er immer noch nicht kennt, so kurz vor seinem Ziel.

Shunsho merkt ihm die Verwirrung an. „Du musst dich nicht gleich entscheiden, aber du solltest es dir gut überlegen. Ich biete dir eine Möglichkeit. Überschlaf es.“

Tetsuzo stammelt Dank. „Lasst mich am Neujahrstag, wenn der Schrein geöffnet wird, die Götter befragen, was ich tun soll. Solange bitte ich um Bedenkzeit.“

„Einverstanden. Ich rechne mit dir, auch wenn ich dich ungern als Holzschneider verliere.“

Tetsuzo verneigt sich mehrmals, um seinen Dank für so viel Komplimente auszudrücken. Dann springt er auf, um Shunshos Drucke regensicher zu verpacken und die neu mitgebrachten Zeichnungen mit ihm zu besprechen. Dazu reicht das Tageslicht nicht mehr aus. Tetsuzo steckt die Kerzen in den Lampions an, und beide beugen sich über die Skizzen.