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Das Buch

Der Bahnhofsvorsteher Xaver Bolwieser ist frisch verheiratet. Seine Frau Hanni ist sein ganzer Stolz. Mit ihr hat er sich ein gemütliches Heim geschaffen. Ansonsten möchte Bolwieser seine Ruhe haben. Doch eines Tages trifft Hanni, reiche Tochter eines Brauereibesitzers, einen Jugendfreund wieder. Sie beginnt eine Affäre mit ihm. Als sie eine Weile später auch noch den Liebhaber wechselt, beginnt es in der kleinstädtischen Gerüchteküche heftig zu brodeln. Bolwieser hingegen schwört einen Eid auf Hannis »Unschuld«. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, denn dieser Meineid bringt ihn ins Gefängnis.

Oskar Maria Graf schrieb über sein Ehedrama aus der Provinz: »Mein ›Kleinbürger‹ Bolwieser ist irgendein Mensch, der einfach ins Tragische versinkt.«

Bolwieser erschien erstmalig 1931.

Der Autor

Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München. Bereits in Wien im Exil protestierte er 1933 mit seinem berühmten »Verbrennt mich!«-Aufruf gegen die Bücherverbrennung und gegen die Regierung der Nationalsozialisten. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.

In unserem Hause sind von Oskar Maria Graf bereits erschienen:

Das bayrische Dekameron · Bolwieser · Kalendergeschichten · Das Leben meiner Mutter · Unruhe um einen Friedfertigen · Die Weihnachtsgans und andere Wintergeschichten · Wir sind Gefangene

Oskar Maria Graf

Bolwieser

Roman einer Ehe

List Taschenbuch

»Beschaffenheit des Menschen: Haltlosigkeit, Langeweile, Angst.«

»Wäre unsere Beschaffenheit wirklich glücklich, so brauchten wir uns nicht zu scheuen, an sie zu denken, um glücklich zu sein …«

Pascal

»Nur eines ist in der Welt sicher: Das Weib. Du erwartest von ihr nichts als Süßes. Das Süße kommt aber nur von dir selbst. Etwas anderes erwartest du von ihr nicht, darum gibt es auch keinen Betrug.«

Aus »Der Russe redet«

I.

In einer Kleinstadt, an einem strahlenden Sommermorgen, ein unaufgeräumtes, nett möbliertes Schlafzimmer noch nicht lang verheirateter Leute – wenn aus den offenen Fenstern die blühweißen Decken und Leintücher gestülpt sind, und die Sonne allmählich den ganzen Raum erglänzen läßt – das hat etwas Bestrickendes!

Die Erinnerung an die vergangene Nacht umwebt noch jedes Möbelstück. Die heitere Helligkeit kriecht nach und nach in die heimlichsten Nischen. Die frische Morgenluft vermengt sich mit dem eigentümlich erregenden Körpergeruch, welcher sich noch nicht ganz verfl üchtigt hat, lockert ihn langsam auf und erfüllt den Menschen, der sich zufällig in dem betreffenden Zimmer aufhält, mit einem verschwiegenen, unbeschreiblich wohltuenden Triumph.

Ein Mann von fünfundzwanzig Jahren verfällt dabei in eine zärtliche Illusion. Ein neugebackener Ehemann Mitte der Dreißig aber steht gelassen da wie ein überlegener Sieger und empfindet ganz körperlich.

Er ist satt.

»Schön war’s! … Wunderschön!« resümiert er. Alle Geschehnisse der Nacht wachen wieder auf in ihm. Die Regungen, deren er sich entsinnt, hält er mit lüsterner Bedachtsamkeit fest. Er denkt an die lächerlichsten Kleinigkeiten. An vieles! Und es ist doch immer nur der Körper seiner Frau.

»Alles gehört dir! Ganz dir! Nur dir!« jauchzt er insgeheim und spürt Kraft und Leben. Jung, unsagbar jung glaubt er zu sein, und es ist ihm, als seien alle Frauen der Welt wie die seine, als hätten auch sie nur quellende Brüste, einen ebenso feuchten Mund, dieselben weichen Arme und die gleichen heißen, zuckenden Schenkel.

Dieses Gefühl steigert sich bis zur gierigen Zuversicht, daß jede Nacht so und nicht anders, ja, womöglich noch berauschender sein wird! Er taumelt in Gedanken in die verwegensten Lüste …

Solcherart stand der Bahnhofsvorstand Xaver Bolwieser im Schlafzimmer seiner Dienstwohnung vor dem großen Spiegel und zog an den beiden Enden seines karierten Selbstbinders. Er war ein mittelgroßer, leicht beleibter Mann, mit gesundem Gesicht und gutmütigen, braunen Augen. Sein unverbrauchtes Haar war glatt gescheitelt und hob die Rundheit des Kopfes noch mehr hervor. Zwischen den rosigen Backen hügelte sich die stumpfe, kurze Sattelnase, und darunter borstete sich ein dichter, sorgfältig zurechtgestutzter Schnurrbart.

Die Tür zum Gang stand offen, und von der nach hinten liegenden Küche kam Tellergeklapper und ein summendes Singen. Seine Frau bereitete das Frühstück. Der Duft des eben aufgebrühten Kaffees schwamm daher. Bolwieser schnupperte behaglich daran und bekam ein noch glücklicheres Gesicht. Er ließ den Selbstbinder los und atmete tief.

Draußen vor den Fenstern stand der freundliche Tag. Silbern funkelten die Gleise in der Sonne und liefen vielverschlungen unter die hohe, verrußte Brücke. Die Stadt mit ihren altertümlichen, ineinandergeschachtelten Häusern sah appetitlich aus, und der klare Himmel spannte sich wie eine durchsichtige Glasglocke darüber.

Bolwieser wandte sich wieder dem Spiegel zu und entdeckte darin das zart rosafarbige, reichbestickte Nachthemd auf dem Bett seiner Frau. Mechanisch griff er nach seinem Selbstbinder, aber seine Hände blieben untätig. Er betrachtete immer und immer dieses hübsche Hemd. Der weiche Batist rann über die Bettkante. Flach ausgebreitet war das Hemd und verriet trotzdem noch deutlich die Formen des Körpers, welcher es getragen hatte.

Der Bahnhofsvorstand bekam merkwürdig haltlose Züge. Seine Lippen öffneten sich ein wenig. Dann verschwamm ihm der Blick. Hm, ja, gestern nacht, hmhm!

Beim Greinbräu war er mit dem Oberförster Windegger und dem Oberinspektor Lederer zum Tarock gewesen.

»Zahlen jetzt, zahlen, Mariele!« sagte der Oberinspektor und legte die Karten hin. Jeder steifte den müdgekrümmten Rücken. Bolwiesers Kopf war dumpf und ein wenig drehrig. Die strammgewachsene, blutjunge Kellnerin kam herbei: »Drei Maß Helles, Herr Oberinspektor, und ein Gulasch.« Ihre sanft ausbuchtende Hüfte berührte die Schulter des Sitzenden, und dieser hob nickend sein unbelebtes, blasses Stubengesicht, lächelte verspielt und tätschelte wie zufällig den Hintern des Mädchens. Nur so …

Die drei im rauchigen Nebenzimmer waren die einzigen Gäste zu so später Stunde. Längst war draußen die Wirtsstube dunkel und still. Ausgelaugt vom Kartenspiel und leicht angeheitert vom Bier saß man da. Jeder blickte auf die Kellnerin. Die hatte ihren Oberkörper in den Tisch gebeugt und rechnete zusammen.

Drei sozusagen erprobte Ehemänner umgaben sie.

Bolwieser lugte in ihren Blusenausschnitt und entdeckte unter dem Gekräusel der bespitzten Unterwäsche eine prächtig erblühte, weiße, feste Brust. Er nahm etliche gierige Augen voll. Verborgen und geschwind. Das aber entging dem Oberförster Windegger nicht. Auch er fuhr jetzt angeregt über die prallen Hinterbacken des Mädchens und scherzte: »Mariele? … Mariele! Du scheinst ja direkt gar nichts unten drinn’ anzuhaben, was?« Die Kellnerin fand nichts Anstößiges an diesen Zudringlichkeiten und gab vorwitzig zurück: »›Ja, warten S’! Anpumpeln werd’ ich mich bei so einer Hitz’ wie eine Klosterfrau!« Das erheiterte.

»Hast recht, Mariele!« unterstützte sie Windegger lustig: »Ganz recht! Wo nichts ist, braucht man nichts wegräumen, wenn’s drauf ankommt.« Und keck kniff er sie, daß sie sich lässig wegwandte und ungeniert sagte: »Ah Sie! … Was Sie schon wieder alles meinen, Herr Oberförster!« Jeder amüsierte sich darüber. Dann ging man gemütlich.

Als Bolwieser später im ehelichen Schlafzimmer ankam, traf er sein Frau noch wach. Er beugte sich nieder und küßte sie, aber sie wischte wie enttäuscht mit der Hand über ihren Mund und schalt vorwurfsvoll: »Pfui! Du riechst so nach Bier! Pfui!« Sie streckte sich atmend: »Ach, ist das eine Hitze heut’! Nicht zum Einschlafen!« Er überflog sie mit jäh erweckten Augen, murmelte einige Entschuldigungsworte heraus und verschwand hastig durch die Türe. Im Bad machte er Licht, ließ das kalte Wasser über seinen Kopf rinnen und spülte sich gurgelnd den Mund aus.

»He! Du! … Xaver?« hörte er sie mittendrinnen halblaut rufen und gab ebenso Antwort: »Ja! Jaja! Gleich komm’ ich! Gleich!« Eilig trocknete er sich ab, und als er zurückkam, brannte das Licht auf ihrem Nachttisch. Sie lag erwartungsvoll bereit im aufgedeckten Bett und lächelte ihn sonderbar an. Ihr Haar war geordnet, ein feiner, süßer Duft entstieg ihrem Körper, und das rosa Nachthemd hatte sie an.

»Komm!« hauchte sie verhalten: »So spät ist’s schon!«

»E-entschuldige! Entschuldige!« stammelte er: »A-aber morgen hab’ ich ja keinen Dienst.« Er war ganz frisch.

»Komm! Komm doch!« hob sie ihre nackten, weichen Arme, und er erbebte. Das Licht erlosch erst, als die milchweiße Dämmerung durch die offenen, verhängten Fenster rann …

*

»Xaver! Na, was ist’s denn? Wie lang brauchst du denn noch?« erklang nun die helle Stimme der Frau Bahnhofsvorstand in der Küche. Bolwieser schrak zusammen und zog und zerrte heftiger an seinem Selbstbinder.

»Verdammt und noch mal verdammt!« knurrte er und rief lauter: »Hanni! Geh! So komm doch einmal her! Ich bring’ und bring’ die Krawatte nicht ein!«

»Mit diesen verdammten modernen Umlegkragen wird man ewig nicht fertig!« murrte er, als seine Frau daherkam. Die neckte ihn spöttelnd: »Ich sag’ ja! Ich sag’ ja! Ihr Männer! … Wie Kinder muß man euch anziehn!« Geschickt zog sie die Schleife zurecht. Auf seinem gereckten Hals stand der Kopf wie eine runde, rote Kugel. Seine Blicke ruhten beständig auf ihrem frischen, kirschbackigen Gesicht.

»Gott sei Dank!« atmete er auf. Ganz nah war sie. Er spürte ihren warmen Leib. »Du! … Ich weiß nicht – ich kann kaum ruhig stehen neben dir!« raunte er mit belegter Stimme und preßte sie an sich. Sie ließ ihn gewähren. Schmatzend küßte er ihre gespannte Wange. Sie riß sich endlich los von ihm und sagte mit freundlicher Resolutheit: »So, jetzt aber Schluß! Gockel!« Im Sonntagsstaat stand er da. Er mußte als Beisitzer zu einem Disziplinarverfahren gegen einen Kollegen nach München.

Beim Frühstück fragte Hanni einmal nebenher: »Kommst du heut’ noch zurück, oder dauert’s wieder länger, meinst du?«

Die Signale drunten im Stationsgebäude läuteten scheppernd. Ab und zu pfiff eine Lokomotive schrill und fauchte lang hin. An- und abfahrende Züge ließen das Haus leise erzittern. Bolwieser hörte durch dieses vertraute Geräusch nur den Wunsch der eben gesprochenen Worte.

»Jaja, sicher! Sicher komm’ ich heut’ noch! Sicher«, erwiderte er und zerkaute mit größtem Appetit die zurechtgemachten röschen Buttersemmeln. Zufrieden schlürfte er den Kaffee in sich hinein. Der Kanarienvogel trillerte hell und munter im Bauer. Die Pendeluhr an der Wand tickte gemächlich. Auf den tauglänzenden Topfblumen, welche das Fenster umrahmten, stand die blinkende Sonne. Von den Straßen herauf drang der fleißige Lärm des Tages. »Herrgott, so ein dienstfreier Tag ist doch was sehr Schönes!« sagte der Bahnhofsvorstand und setzte zweideutig zwinkernd hinzu: »Und nach so einer Nacht, da schmeckt mir das Frühstück immer noch mal so gut.« Hannis Blikke umflogen ihn wohlgefällig. Er aß und aß. »Es wär’ mir schon sehr recht, wenn du heut’ noch heimkämst«, sagte sie abermals und betonte dabei das Wörtchen »sehr«. Gesund und füllig saß sie ihm gegenüber. Ihr dichtes schwarzes Haar war streng nach hinten gekämmt und gab ihrem frischen Gesicht eine erregende Nacktheit. Wie zwei rosige Muscheln klebten die Ohren an den Kopfseiten. Eine einfache, gestreifte Waschbluse trug sie, die ihre Formen vorteilhaft verriet. Ihr ebenmäßiger Hals verlief im dreieckigen, mit einem schmalen, weißen Krägelchen umsäumten Ausschnitt, und darunter lugte die zartgebuchtete Brustgrube hervor.

»Ich komm’, sobald ich kann«, versprach er erneut und weidete sich an ihrer Erscheinung. Endlich erhob er sich, streckte sich ein paarmal, machte sich fertig und ging.

Prüfend durchschritt er drunten noch einmal alle Stationsräu me und zeigte dabei eine ernste, pfl ichtwichtige Miene. Laut, daß es jeder hören mußte, regierte er herum. Kurz und sachlich erteilte er seinem Stellvertreter, dem dürren, devoten Sekretär Mangst, nebensächliche Anweisungen. Dann wünschte er allen herablassend einen »Guten Morgen« und trat durch den Stellwerkraum auf den Perron hinaus.

Es warteten nur wenige Leute auf den Zug. Der Oberförster Windegger war darunter und gesellte sich zu ihm. Er mußte drei Stationen weiter zur Holzrevision fahren. Während des Fahrens kamen sie ins schönste Gespräch.

»Gestern – das war einmal wieder ein handfester Männertarock«, meinte Windegger und kam auf den Oberinspektor Lederer zu sprechen, von dem jeder Bekannte wußte, was für eine bissige Frau er hatte.

»Gestern war er aufgekratzt, der Oberinspektor«, erzählte der Förster geschwätzig weiter: »Ja, wissen S’, Herr Vorstand, seine Frau ist augenblicklich verreist … Da darf er ja ausbleiben … Da macht’s nichts. Aber sonst! Oje! Oje! Wenn er da nicht um elf Uhr daheim ist, da kracht’s grausam … Hmhmhm, so ein patenter Mensch, hm, und so ein Drachen! Ganz Werburg spricht darüber … Förmlich zum Gespött hat er sich schon gemacht, der arme Mensch … Mein Gott, so was!« Er kam immer mehr in Fluß: »Na, ich kann’s verstehen, daß man seiner Frau Gemahlin da und dort ein wenig nachgibt. Nichts einzuwenden gegen eine schickliche Rücksicht, aber so was von unterm Pantoffel, das geht denn doch schon über die Hutschnur!« Bolwieser kam gar nicht zu Wort. Er konnte nur ab und zu nicken oder den Kopf schütteln.

»Ein Mann in seiner Stellung und dabei so verträglich. Trinkt nicht, wirft das Geld nicht ’naus, hmhm, und ewig ist er krank auch noch … Keine Sorgen haben die zwei Leut’ln, keine Kinder … Ich versteh das nicht. Ganz vergrämt ist er schon. Und gestern, da hat man’s wieder gesehen. Humor hätt’ er sogar …«

»Jaja, gestern war er fidel«, wollte der Bahnhofsvorstand einfallen, doch schon redete sein Begleiter darüber hinweg: »Ich kenn’ ihn, seit er in Werburg ist. Das sind jetzt vierzehn Jahr’ … Entgegenkommend, kulant, pfl ichttreu und absolut ohne jeden Stolz. Jeder mag ihn – daheim aber, bei ihr, da hat er die reinste Höll’! … Direkt aufschnaufen tut er jedesmal, wenn er unter die Leut’ kommt.«

»Bedauerlich! Bedauerlich so was«, brummte Bolwieser: »Sie wird doch nicht etwa gar eifern, die Frau Oberinspektor?«

»Eifern? Ah! Er ist doch weit über fünfzig!«

»Soso … Ausschauen tut er wie siebzig … Recht was Leidendes hat er«, sagte der Bahnhofsvorstand wiederum.

»Ja eben! Eben! Na, wie lang wird er denn schon noch das Leben haben? … An der Leber soll’s ihm fehlen. Höchstens fünf oder zehn Jahr’ geb’ ich ihm noch … Und was hat er alsdann gehabt von seinem Leben? Radikal nichts wie Kummer und Verdruß!« sagte Windegger und schloß mit der üblichen Betrachtung: »Ein Mann will seinen Frieden, weiter nichts; aber so ein Weib, das ist der Teufel auf der Welt.«

Bolwieser zog sein Taschentuch und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ihn interessierten anderer Leute Angelegenheiten wenig. Er blickte flüchtig durch das Fenster. Erntegelbe Felder und abgemähte Wiesen fl ogen vorüber. Fern an den buckligen Hügeln hingen dunkle Wälder, und kein Windhauch rührte sie.

»So eine mordialische Hitze heut’«, bog der Bahnhofsvorstand das Gespräch in eine andere Richtung.

»Ja, und ewig will’s nicht regnen, ewig nicht«, pfl ichtete Windegger bei und betrachtete ebenfalls die vorüberkreisende Landschaft: »Überall klagen die Bauern.« So plätscherte das Gespräch inhaltslos weiter, bis der Zug mit einem harten Ruck in Plandorf anhielt. Herzlich verabschiedete sich Windegger. Bolwieser war froh, als er allein war. Er knöpfte seine Weste auf, streckte die Füße gradaus und machte sich’s bequem auf seinem Sitz. Ab und zu fielen seine Augenlider herab. Einem ruhigen Nachdenken gab er sich hin.

Der Oberinspektor Lederer kam ihm in den Sinn. Was für ein mürbgewordener, kränklicher Mensch! Wie gestern dieses verkümmerte Gesicht auf einmal erschimmerte, als er die Kellnerin tätschelte.

Mitleid mit diesem Mann überkam ihn. Er sah Lederer vor sich und sah dessen Frau, sah beide öd und schweigsam in einem ewig aufgeräumten, unbehaglich sauberen Wohnzimmer – sie häkelt womöglich unentwegt, er sitzt da und liest uninteressiert die Zeitung, langweilt sich, möchte reden, aber sie gibt karge Antworten. »Könntest mir doch wenigstens was vorlesen!« sagt sie muffig. Er möchte ganz etwas anderes, hätte Lust auf eine Zigarre oder sich mit jemandem zu unterhalten und fängt tonlos und gleichgültig zu lesen an. Sie sitzt da mit ihrem zerfallenen, abgeblühten Gesicht. Ihre lichtlosen Augen hebt sie nach einer Weile, ihr magerer zänkischer Hals bekommt noch mehr Buchtungen, und dann weist sie ihn feindselig zurecht: »Danke! Danke! … Wenn du nicht fortgehen kannst, bockst du mir was vor!« Er schweigt, wagt nicht einmal zu seufzen und geht schließlich zu Bett …

»Die sollten Kinder haben, dann wär’s vielleicht besser«, brümmelte Bolwieser gedankenversunken vor sich hin: »Die schon …« Überraschend zwängte sich eine Erinnerung in seine trüben Betrachtungen. In der Hochzeitsnacht, als sich ihre bis zum Platzen erregten Körper ineinander verkrampften, hatte Hanni fast ängstlich herausgestoßen: »Aber gell, Xaverl, kein Kind vorläufig! Kein Kind, ja kein’s, gell! Da warten wir noch!« Eigentümlich – er erschrak damals fast darüber. Später aber, an ruhigen Tagen, waren sie übereingekommen, daß ihre Ehe viel reizender ohne Kind sei. Auf einmal zerrann all die Traurigkeit um Lederer. Aus dem Bereiche dieses unfrohen Beispiels wechselte Bolwieser in sein eigenes hinüber. Er spürte plötzlich wieder Hanni in sich. Beinahe etwas wie ein schadenfroher Übermut überwältigte ihn, als er Lederers Ehe mit der seinen verglich.

Es gibt nichts Grausameres als glückliche Ehemänner!

Kurz vor seiner Beförderung zum Bahnhofsvorstand in Werburg – knappe zwei Jahre war es erst her – hatte Bolwieser die Brauereibesitzerstochter Hanni Neithart aus Passau geheiratet, und alles an ihr war wie für ihn bestellt: Drei Jahre jünger als er, längst über die Mädchenschwärmereien hinaus, ganz aufgeblüht, tüchtig und reif, lebhaft und heiter.

Und?

Bolwieser suchte nach einem Wort. Erst kurz vor München fand er den richtigen Ausdruck.

»Ganz aufeinander eingefahren«, fiel ihm ein: »Ganz und gar.« Sein Beruf gab ihm oft solche Bezeichnungen ein. In der besten Stimmung verließ er den Bahnhof.

II.

Wenn ein kleinstädtischer Familienmensch, der gewohnt ist, tagaus, tagein streng eingeteilt seine liebgewonnene Arbeit zu verrichten, auf einmal zwei, drei Stunden in einer fremden, heißen, lärmenden Großstadt wartend zubringen muß, das macht ihn müde und unlustig. Anfangs hat er noch einen klaren Kopf. Er überlegt geruhig, wie er seiner Frau eine Freude machen könnte. Tausend wünschenswerte Dinge sieht er in den Auslagen aufgestapelt. So viele Nettigkeiten entdeckt er darunter, daß ihm die Wahl schwer wird. Endlich geht er doch in einen Laden, kauft schüchtern etwas, freut sich darüber, aber schon drei, vier Schritte weiter, in einer anderen Auslage oder im Warenhaus, fällt ihm weit Schöneres in die Augen und ist womöglich noch billiger. Er ärgert sich, daß er sich beim ersten Antrieb gleich so überrumpeln ließ. Die Fülle der Abwechslung verwirrt ihn. Die Menge stumpft ihn schnell ab. Er sieht zuletzt überhaupt nichts mehr und will auch nichts mehr sehen. Er läuft planlos durch die Straßen und weiß nicht, was er unter den vielen hastigen Menschen anfangen soll. Jeder und jede fliehen an ihm vorüber, seine Blicke wollen verweilen, wollen ein Bild, ein Ganzes, aber ehe er richtig zum Schauen kommt, ist alles schon wieder weggeweht. Die grellen Farben kühner Damenkleider, ein schöngeschwungenes, glänzend bestrumpftes Bein, verstörte und heitere Gesichter, eine geschwinde Welle Duft, ratternde Trambahnen, surrende Autos, Schutzmannshelme, Hupen, Klingeln, Signale, Krachen und Wortfetzen – alles wirbelt als undeutliches Gemeng durch ihn, und er wird mehr und immer mehr interesselos. Verhetzt kommt er in ein Café, durchblättert gleichgültig die Zeitungen, er verdöst da und dort die Zeit, steht zum Schluß noch verdrießlicher auf, geht wiederum zwecklos herum und kommt sich ganz ausgepumpt und verloren vor.

So kam Bolwieser viel zu früh in den Justizpalast. Mißmutig suchte er die Türe des auf seiner Vorladung bezeichneten Sitzungssaales, doch sie war verschlossen.

Was nun? Etwa wieder auf die Straßen? Die restliche Zeit abermals so sinnlos in einem Café oder Wirtshaus verwarten? Unschlüssig tappte er in den leeren, kühlen, hochgewölbten Gängen hin und her. Einsam hallten seine Schritte auf dem glatten Steinpfl aster.

In seiner Mappe hatte er zwei Paar Seidenstrümpfe für seine Frau und eine nettbedruckte Schachtel wohlriechender Seife. In einem daneben baumelnden Päckchen trug er ein Hemdhöschen, Größe 44. Die Nummer hatte er sich einmal gemerkt. Sie paßte. Er sah Hanni in dem anschmiegsamen, fließenden Crêpe de Chine und wurde sekundenlang freudig erregt. Doch das Päckchen genierte ihn fürchterlich. So verräterisch sichtbar stand die Firma auf dem weißen Papier. Jeder Mensch witterte schnell, was er bei sich trug, und belächelte ihn insgeheim.

Was hatte er nicht ohnehin schon beim Einkauf ausgestanden! Tölpisch und mit beklommener Verlegenheit verlangte er, und die Verkäuferin zeigt ihm eine verführerisch wirre Auswahl der neuesten Modelle. Sie richtete kecke Fragen an ihn, und er wußte kaum zu antworten. Er empfand ihre Überfreundlichkeit als beschämenden Spott, als eine derartige Bloßstellung seiner geheimsten Regungen, daß er brandrot wurde und sich das teuerste Ding willenlos aufschwatzen ließ.

Und jetzt? Er schämte sich noch mehr. Hilfl os schaute er auf das Päckchen. Endlich nahm er sich ein Herz und pfropfte es in die Mappe, die sich nun prall bauchte. Mit aller Kraft zog er die Schließe zu. Gott sei Dank! Er war wieder ein Mensch ohne jede Verfänglichkeit. Sein Geheimes war wieder geheim und unsichtbar.

Aus purer Langeweile ging er in den nächstbesten Zuhörerraum einer Schwurgerichtsverhandlung. Er wollte eigentlich nur ausrasten und setzte sich still zwischen die vielen Leute. Seine Mappe legte er auf den Schoß. Langsam verebbte das tausendfache Geräusch der Straßen in ihm. Beruhigt atmete er und hörte anfangs kaum hin. Vorläufig vergewisserte er sich nur über seine Umgebung. Er betrachtete den langschädeligen, bebrillten Vorsitzenden mit dem grauen Bart, er schaute der Reihe nach jedes Gesicht am Richtertisch an. Wie ein praller Steinpilz sah der schiefbekappte Kopf des Staatsanwaltes aus. Dicke, rote Schmisse waren auf den Backen. Die beiden Beisitzer lispelten einander manchmal etwas ins Ohr, dann spielte der eine wieder mit seinem Bleistift. Die meisten Geschworenen starrten wie Ölgötzen geradeaus und hatten ihre Hände auf dem Tisch. Zwei Bauern waren darunter mit breiten, braungerösteten Schädeln. Die hatten lebhaftere Augen. Der Gerichtsschreiber beugte sich hin und wieder tief ins Papier und schrieb hastig.

Ausschließlich bäuerliche Leute saßen auf der Zeugenbank: Dörfler mit ledernen Gesichtern und hängenden Bärten, zerfaltete Weiber mit enganliegenden Spenzern, langen, wallenden Röcken und Kopftüchern, festgewachsene, unruhig dreinschauende Mägde, ein Gendarm und etliche Knechte.

Bolwieser hatte draußen vor der Tür nicht einmal das Register gelesen und wußte nun nicht, was hier verhandelt wurde. Auch zu fragen wagte er niemanden, da alle höchst gespannt lauschten. Das beeinflußte auch ihn. Seine Gleichgültigkeit wich. Nach den ersten vier oder fünf Fragen war auch er gebannt.

Eine rothaarige Magd stand vor den Richtern. Ein breitbeiniges, kräftiges Gestell machte sie her und redete merkwürdig gehemmt. Sie fiel vom halbwegigen Hochdeutsch immer wieder in den Dialekt. Sie fing an wie ein benommenes Schulkind, kaum aber war sie im Schwung, so wurde sie sicherer.

»Ja«, erzählte sie, »das ist g’wesen am Rosenkranzsonntag. Da hat der Baur zu mir gesagt, ich soll ihm den Wagen reinschieben helfen … Es regnet ihn sonst voll, sagt er. Und wie wir in der Tenn’ g’wesen sind, geht er von der Deichsel hinterwärts und sagt: ›Wart a bissl, Liesl!‹ Ich hab auf und davon wollen, aber er hat mich packt und gesagt hat er: ›Liesl, auf Ehr und Seligkeit, ich heirat’ di, wenn die Oit’ hin is! Es daurt sowieso nimmer lang bei ihr. Dofür konn i einsteh’!‹«

Der Vorsitzende nahm sie fest aufs Korn und fragte: »Können Sie sich ganz genau erinnern, daß er gesagt hat: ›Dafür kann ich einstehen‹?« Mit lauernd vorgebeugtem Kopf saß er da. Rundum stockte es.

»J- ja, g-nau so«, stotterte die Magd zaudernd.

In diesem Augenblick erhob sich der Angeklagte, ein riesenhafter Bauer mit viereckigen Schultern, und schrie dazwischen: »Dös is lauter Lug und Trug! Dö lüagt, wenn s’ ’s Mäu aufmacht!«

Der Verteidiger wollte ihn mit einer Handbewegung besänftigen. Doch der Bauer stand steil da und schrie schon wieder: »Jed’s do herinn’ hot si’ geg’n mi verschwor’n!«

»Ruhe! Wenn Sie nicht endlich Ihre Zwischenrufe lassen, werden Sie abgeführt. Reden Sie, wenn Sie gefragt werden!« donnerte ihn der Vorsitzende an. Aufregung schwirrte durch den Saal.

»Na, gor it bin i stad … Gor it aa! I loss mi it ’neireiten von dö Saumenscher!« plärrte der Bauer. Zwei Schutzleute näherten sich auf ein Zeichen des Vorsitzenden dem Angeklagten. Er machte eine Gebärde, als wolle er auf sie losspringen, und brüllte wild auf: »Ungerechtigkeit …!« Da faßten ihn die beiden Polizisten und zerrten ihn aus dem Saal. Noch an der Türe schrie er zurück: »Wenn Sie fünf Johr lang a lahm’s Weib hob’n und san g’sund, nachher gehnger S’ aa neb’n naus!«

Einige Zuhörer waren halb aufgestanden. Ein Gemurmel ging um. Wie gelähmt saßen die Zeugen da. Die Magd vor dem Richtertisch hatte sich umgedreht und sah unruhig in die Gegend der Türe. Ihr sommersprossiges Gesicht wurde blaß, dann ebenso schnell rot. Ihre kleinen stechenden Augen flackerten kurz auf.

»Ruhe!« wiederholte der Vorsitzende und wandte sich erneut an die Zeugin: »Also er hat gesagt: ›Dafür kann er einstehen, daß seine Frau nicht mehr lange lebt‹?«

»Daß ’s nimmer lang daurt bei ihr«, verbesserte ihn die Magd.

»Jajaja, aber gemeint hat er doch, daß sie nicht mehr lang lebt?« beharrte der Vorsitzende: »Oder wie haben Sie das verstanden, Fräulein Hocheder?«

»Sie is ja scho hübsch schwaar dro’gwen, d’ Bichlerin … Ob er grod gmoant hot, er raamt s’ weg, dös will i’ it behaupten«, redete sich die Magd geschickt hinaus. Es ging eine Zeitlang hartnäckig hin und her. Der Ausdruck: »Dafür kann ich einstehen« galt als erwiesen.

»Also und dann, damals am Rosenkranzsonntag nachts um neun Uhr … Wie ist das dann weitergegangen?« half der Vorsitzende der etwas eingeschüchterten Zeugin nach, und sie fuhr fort: »Und ich hab zu ihm g’sagt: ›I mog net. Baur! A Schand’ is’s! Wennst a Wittiber waarst, nachher tat i nix sog’n.‹ Und auf das hin bin i dieselbige Nacht noch auf und davon, weil ich mich gforchten hab.«

»Und dann sind Sie aber doch wieder zurückgekommen am Dienstag drauf? Warum haben Sie denn das gemacht?« erkundigte sich der Vorsitzende. Die Magd schien schwer zu überlegen.

»Nach dem was vorgefallen war, hätten Sie doch auch wegbleiben können – oder?« ließ der Vorsitzende nicht nach.

Da sagte sie endlich: »Ja, aber ich hab das G’red’ von dö Leut’ net ming …«

»Und die Frau Bichler ist Montag nachts gestorben?« warf der Vorsitzende ganz arglos dazwischen. Jetzt schauten alle vom Richtertisch auf die Zeugin. Die zappelte schweigend. So totenstill wurde es, daß man eine Maus hätte laufen hören.

»Jaja, daß d’ Bichlerin g’storben is, das haben mir die Leut’ schon voreh g’sagt«, antwortete die Magd holperig.

»Welche Leute waren denn das?« wollte der Staatsanwalt wissen. »Tja mei’ … D’ Leut’ halt … Der Mesma, glaab i, hat mir’s am ersten g’sogt«, erwiderte die Magd.

»Genau wissen Sie das nicht mehr?« fragte der Vorsitzende.

Eine eisgraue, zusammengedrückte Bäuerin auf der Zeugenbank fing leise zu weinen an. Die Magd wandte unwillkürlich den Kopf danach. Viel jammernder gab sie an: »Ich hab dem Bichler nie nicht eing’redt, daß er sei’ Bäurin wegraama sollt’ … Gor it aa!« Sie verfiel langsam in ein Schluchzen und wehrte sich in einem fort: »Wegn meiner hätt’ er it so a Schlechtigkeit macha braucha! I hob eahm nix wolln … Er hot mir ja nia koa Ruah lossn!«

Immer bröckelnder kamen die Klagelaute aus ihr. Immer deutlicher wurde es: Da war ein gesunder Bauer, der hatte ein lahmes Weib und fünf Jahre lag es da. Es kamen drei Mägde, zwei liefen weg, als der Bauer zudringlich wurde, aber diese dritte, die Kreszenzia Hocheder, die sagte: »Wenn du ein Wittiber wärst!« und kam wieder, als die Bäuerin ganz plötzlich gestorben war. Und er sagte zu ihr: »Jetzt, wo ich das getan hab’, wennst jetzt nicht magst, bring’ ich dich um und häng’ mich auf.«

Der Bürgermeister vom Dorf trat vor die Richter und stellte dem Bauern das beste Zeugnis aus.

»Es ist ein rechtes Elend gewesn, meine Herrn, und hat Kost’n und Kost’n gmacht mit die Dokter, und grad gut gestanden ist der Bichler auch net … Um und um is er g’sund g’wesn, der Bichler … Mein Gott, koaner kann’s beim Hirn außischwitz’n! Wenn sei’ Bäurin grod so gsund gwesn waar, hätt’ nix gfeit … Voreh’s der Schlog troffa hot, d’ Bichlerin, do hobn do zwoa Leut’ln z’sammglebt wia dö Turtltaubn«, erklärte er und fuhr würdiger fort: »Als Amtsperson muß ich aussag’n: Er ist ein sehr ein guata Mensch g’wesn, der Bichler. Er hat gespart und g’rackert Tog und Nocht. Er hot it gsuffa und it g’stritten und er ist am O’fang ganz narrisch g’wesn auf sei Bäurin.«

Kleinigkeiten kamen heraus. Der einen Magd, einer schiefmäuligen, mit einem angefetteten Körperbau, habe der Bauer einmal einen Ring geschenkt und zu ihr gesagt, mehr zieren müßte sie sich, dann hätte er sie gleich lieber. Und auch das kam zum Vorschein: Die Lahme habe ihrem Mann ewig zugesetzt mit Eifersucht und ihm stets vorgeworfen, bloß deswegen bringe er keinen richtigen Doktor, weil sie sterben sollte, damit er mit seinen »Menschern« freien Schwung habe. Oft an Sonntagen, bestätigten Zeugen übereinstimmend, habe der Bauer den ganzen Nachmittag am Bett der Kranken sitzen müssen, einfach dasitzen, und da sei das unleidige Weib dann aufsässig geworden: »Gell, dös is dir arg! Gell, dös host dick! Gell, dös tuat dir weh, daß d’ it auskonnst und umananderhuarn!«

Die alte Mutter vom Bichler kam an die Reihe. Bolwieser sah auf die Uhr. Es war Zeit. Er mußte weg. Er sah das alte Weib noch stelzig an den Richtertisch treten und hörte es seufzen: »Sie is’ nia guat g’wesn zu eahm …«

Er kam bedrückt auf den kühlen Gang. Immer noch klang der Schrei des abgeführten Bauern in seinen Ohren, immer noch sah er diese rothaarige Magd, und wenn er weiterdachte, an die lahme, rachsüchtige Bäuerin beispielsweise, dann faßte ihn ein Grauen. Er riß sich zusammen, schüttelte gleichsam all diese Eindrücke von sich ab, und trat mit vertrauter Amtsmiene ins Vorzimmer des Saales, in welchem das Disziplinarverfahren gegen den Bahnhofsvorstand Karl Berger stattfinden sollte. Nach kurzer Begrüßung und Vorstellung begann die Sitzung. Man kam ziemlich schnell vorwärts. Der Vorsitzende verlas gleichgültig die Anklageschrift und die Begründung des erstrichterlichen Urteils. Berger stand die ganze Zeit beschämt da und gab unsichere, halblaute Antworten. Er war ein ruinierter Mensch und verteidigte sich nicht einmal. Die längeren Ausführungen seines Rechtsbeistandes zerflatterten im weiten, leeren Saal.

»Ich gebe zu bedenken, daß mein Mandant seit Jahren schwer gichtleidend ist. Er hat Frau und drei Kinder, und von der unterschlagenen Summe von dreitausendachthundert Mark sind bereits zweitausendfünfhundert wieder aufgebracht. Ein Mensch, der einen neununddreißigjährigen Dienst hinter sich hat und nur durch eine unglückselige Spekulation zugunsten seiner Familie soweit gekommen ist, ein Beamter, der sein ganzes Leben dem Staat und seiner Behörde geopfert hat – ich weiß nicht, meine Herren, ob man einem solchen Opfer mißlicher Verhältnisse einfach den Stuhl vor die Tür setzen sollte. Es geht nicht an, daß man ihn einfach den Wohlfahrtsämtern aufhalst!« plädierte der Verteidiger. Er hatte eine unangenehm klanglose Stimme, die bei Betonungen zu scheppern schien. Er nahm nicht ein für sich. Die Herren atmeten hörbar auf, als er fertig war. »Wünschen Sie noch was zu sagen?« fragte der Vorsitzende den Angeklagten.

»Ich schließe mich den Ausführungen meines Herrn Verteidigers an«, antwortete der klapprige, grauhaarige Mensch und sah verloren ins Leere. Die Herren zogen sich zurück und kamen schon nach knappen zehn Minuten wieder aus dem Beratungszimmer. Dem Verurteilten wurde ein Drittel seiner rechtmäßigen Pension zugebilligt. Er war aus dem Bahndienst entlassen.

»Besten Dank, die Herren«, verbeugte sich Berger hölzern. Zerbrochen folgte er dem Schutzmann.

Bolwieser verließ den Justizpalast zusammen mit seinem Kollegen Treuberger, den er seit seiner Aspirantenzeit kannte.

»Weiß Gott, ob ihn nicht seine anspruchsvolle Frau soweit gebracht hat … Von allein macht ein Beamter das nicht«, meinte Treuberger. Er war seit fünf Jahren Witwer und hatte eine üble Ehe gehabt. Seitdem war er Weiberverächter.

Die Sonne leuchtete abgeschwächt. Abend zu ging es schon. Bolwieser war noch immer verwirrt von den Erlebnissen und wollte auf der Stelle nach Hause fahren. Doch sein trinklustiger Kamerad trompetete alle seine Einwände nieder und zerrte ihn mit in eine rauchige Spektakelwirtschaft.

»Nichts wird heimgefahren jetzt, basta!« polterte er, als man endlich vor dem schäumenden Bierkrug saß: »Einen Durst hab ich, daß ich inwendig krach’! Jahr und Tag sieht man sich nicht, und jetzt willst du auch schon wieder auf und davon. Eine Art und Manier ist das! … Prost, Xaverl! Sauf!« Er schluckte massig und stellte den Krug hin: »Hast etwa gar schon Angst vor deiner Alten? Hat s’ schon die Hos’n an?«

»Tja, freilich – sonst nichts! Weil du zehn Jahr’ einen Drachen g’habt hast, meinst, jetzt müßt’s überall so sein!« parierte Bolwieser schlagfertig: »Gott sei Dank, mir ist sauwohl dabei. Ich könnt’ nicht klagen … Saumüd bin ich. Da herinn’ in München wirst ja ganz damisch.«

»Saumüd wirst sein! Red mir bloß nichts ein. Ich kenn’ die Gaudi! … Du bleibst ganz einfach da jetzt! Wenn du jetzt schon anfangst und überall nachgibst, ich sag’ dir, in Null Komma fünf bist der schönste Pantoffelheld, Freunderl!« stichelte Treuberger.

Weiß Gott, wo das herkommt, daß Ehemänner einander das Glück nicht glauben. Kaum sitzen sie richtig beisammen, da geht das gegenseitige Herabmindern an. Das bringt den Schwächeren in Rage. Er will mit Gewalt sein Mannestum zeigen. Er übertreibt, bloß um dem andern nicht recht zu geben, und der Angreifer freut sich diebisch darüber und wird immer ausfälliger. Mit boshafter Gemütlichkeit hetzte Treuberger weiter, und Bolwieser blieb ihm nichts schuldig. Sie kamen ins Trinken und wußten nicht wie. Sie wurden lustig und vergaßen die Zeit. Hinterlistigerweise wurde Treuberger mittendrinnen manchmal herzhaft, klopfte seinem Kameraden auf die Schulter und rief: »Herrgott, Xaverl! Grad schön ist’s, daß wir uns heut’ wieder sehen! Für so ein Beisammensein gäb’ ich oft Gott weiß was!« Diese schlau abgewogene Wärme rührte Bolwieser.

»Ja, Hans«, stimmte er bei: »Schad’ ist’s, gar nimmer trifft man sich jetzt!« Auf so etwas schien Treuberger bloß gewartet zu haben. Sofort hieb er wieder los: »Aha, aha! Gell, du gibst mir recht … Auweh! Also auch mit deiner Freiheit ist’s aus! Schon bist d’ drinn’ unterm Rock und raus kommst nimmer.« – »Kannst’s ja glauben, wennst magst«, warf Bolwieser ungetroffen hin: »Aber wie ich seh’, wirst du immer magerer. Bei mir ist’s umgekehrt …« Sein Kopf war bereits bierschwer.

»Jaja, die Weiber – die Weiber, die wissen’s schon! Grad aufkochen tun s’ dir und grad gemütlich machen sie’s dir«, hörte er Treuberger spotten: »Schön heben s’ dir den Speck hin und wunderbar gehst d’ auf ihren Leim!« Er lachte und prostete. Leicht verschwommen sah ihn Bolwieser in seinen glasigen Augen.

»Prost, Hans!« hob er den Krug. Alles schwankte um ihn. Ein tausendfaches Geplapper umschwirrte ihn. Er riß sich gewaltsam in die Höhe, sah auf seine Uhr und sagte fest: »Den Zug um neunundvierzig krieg’ ich noch! … Zahlen!« Das brachte Treuberger außer Rand und Band. In einem fort schob er die Kellnerin weg und wollte Bolwieser auf die Bank niederziehen. Der aber blieb standhaft. Alles Einreden, alle Spitzigkeiten seines schwadronierenden Kameraden halfen nichts. Er stritt fast mit ihm und torkelte aus dem Wirtshaus. Ein Auto nahm er und kam gerade noch recht zum Zug.

Auf der ganzen Fahrt hockte er zusammengefallen im Abteil. Sein Kopf war auf die Brust herabgesackt. Der Speichel stand in seinen Mundwinkeln. Eine fade Stimmung hielt ihn nieder.

Der Zug rüttelte und rüttelte. Bolwieser spürte nach und nach ein Würgen im Magen. Seine Glieder schienen allmählich auszulaufen. Sein Atem ging kurz und kürzer, und in seinen Gedärmen riß es. Er zog sich mit letzter Kraft am offenen Coupéfenster hoch. Der Schweiß brach jäh aus allen seinen Poren. Eine zitternde Schwäche überlief ihn. Sein Mund brach auf. Er stöhnte. Magen und Därme schien’s ihm herauszureißen, und auf einmal erbrach er sich. Mit jedem Ruck stach es in seinem Kopf. Die Augen trieben wie gequollen an den Rand der Höhlen, und unablässig ergoß sich ein stinkender, ekelhafter, gallebitterer Strahl aus ihm.

»Aa-aah-aach! A-aaach!« ächzte er und klammerte sich an die Fensterkanten. Der kühle Nachtwind umpfi ff sein nasses Gesicht. Ganz verzweifelt war er.

Als er auf den Sitz niedersank, spuckte er noch immer wie angeekelt und wischte sich mit dem Taschentuch fort und fort ab. Endlich wurde es klarer in seinem Kopf. Von Zeit zu Zeit hauchte er schwer den Gestank aus seinem klebrigen Mund. Ein rasendes Verlangen nach Wasser hatte er.

Zu alledem kam eine zentnerschwere Traurigkeit. Bittere Vorwürfe machte er sich. So spät war es. Er hätte doch Hanni anrufen können, fiel ihm ein. Die einleuchtendsten Ausreden ersann er und schämte sich ihrer.