Mit der Beschleunigung des sozialen Lebens in der Moderne ändert sich auch die Art und Weise, in der der Mensch »in die Welt gestellt« ist. Hartmut Rosa analysiert aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Veränderungen in der Welterfahrung, der Weltbeziehung und der Weltbearbeitung moderner Subjekte. Dabei entsteht umrisshaft das Programm einer kritischen Soziologie, in deren Zentrum die Bestimmung derjenigen sozialen Bedingungen und Voraussetzungen steht, die eine gelingende individuelle und kollektive Weltaneignung möglich machen.
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie und Sprecher der Kolleg-Forschergruppe »Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Dynamik und (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (stw 1760) sowie Soziologie – Kapitalismus – Kritik (stw 1923, mit Klaus Dörre und Stephan Lessenich).
Weltbeziehungen im Zeitalter
der Beschleunigung
Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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eISBN 978-3-518-78250-7
www.suhrkamp.de
Einleitung
I. Konzeptuelle Grundlegungen
1. Lebensformen vergleichen und verstehen
Eine Theorie der dimensionalen Kommensurabilität von Kontexten und Kulturen
2. Gerechtigkeit und starke politische Wertungen
Die prozedurale Gesellschaft und die Idee starker politischer Wertungen. Zur moralischen Landkarte der Gerechtigkeit
3. Das Ausgangsmodell
Vier Ebenen der Selbstinterpretation. Entwurf einer hermeneutischen Sozialwissenschaft und Gesellschaftskritik
II. Die Analyse der modernen Gesellschaft
4. Kapitalismus und Lebensführung
Perspektiven einer ethischen Kritik der liberalen Marktwirtschaft
5. Modernisierung als soziale Beschleunigung
Kontinuierliche Steigerungsdynamik und kulturelle Diskontinuität
6. Situative Identität
Zwischen Selbstthematisierungszwang und Artikulationsnot? Situative Identität als Fluchtpunkt von Individualisierung und Beschleunigung
III. Eine Kritische Theorie der sozialen Beschleunigung
7. Umrisse einer Kritischen Theorie der Geschwindigkeit
8. Wettbewerb als Interaktionsmodus
Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft
6IV. Schlussfolgerungen: Auf dem Weg zu einer Soziologie der Weltbeziehung
9. Politische Weltbeziehungen unter den Bedingungen sozialer Beschleunigung
Die Krise der Demokratie
10. Geworfen oder getragen?
Subjektive Weltbeziehungen und moralische Landkarten
Danksagung
Textnachweise
Literaturverzeichnis
Namen- und Sachregister
Ist es möglich, mit den Mitteln der modernen Sozialwissenschaften und auf der Basis der Einsichten der Sozialphilosophie eine Soziologie des guten Lebens zu entwerfen? Deren Aufgabe bestünde nicht darin, anzugeben, was die Ziele, die Werte oder die Inhalte eines gelingenden Lebens sind – diese zu bestimmen ist ein Anliegen der Philosophie des guten Lebens, doch sprechen gute Gründe für die Annahme, dass sich solche Ziele, Werte und Inhalte allenfalls formal bestimmen lassen –, sondern in der Identifizierung der sozialen Voraussetzungen und Bedingungen eines solchen Lebens.1 In dem vorliegenden Band möchte ich die Umrisse, Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Soziologie aus verschiedenen Blickwinkeln versuchsweise ausloten. Als Ausgangspunkt für die Organisation des Materials dient mir dabei die Vorstellung, dass sich die Frage nach dem gelingenden Leben als eine Frage nach dem Weltverhältnis oder der Weltbeziehung des Menschen reformulieren lässt und dass diese Weltbeziehung stets sozial, kulturell und historisch vermittelt ist. Der Begriff der ›Weltbeziehung‹ meint dabei die Art und Weise, wie Menschen in die Welt gestellt sind oder, besser: in der sie sich als in die Welt gestellt erfahren. Diese Stellung oder auch Haltung der Welt gegenüber umfasst sowohl die eher passive Seite der Welterfahrung als auch die aktive Weise des menschlichen Eingreifens in die Welt; mithin also sowohl die Beziehung zu dem, was den handelnden Subjekten ›entgegenkommt‹, als auch zu dem, was es ›zu tun gibt‹. In dieser (in der Grundintuition durchaus phänomenologisch inspirierten) Perspektive erscheint ›die Welt‹ dabei zunächst als alles, was ›begegnet‹, also als objektive, soziale und subjektive Welt zugleich. Anders als in Philosophie und Anthropologie üblich, geht es mir bei der Entwicklung dieser Fragestellung nicht um die ›allgemein menschliche‹ Weltbeziehung, weniger um die Conditio humana per se, als vielmehr um die Frage nach den kultur- und gesellschaftsspezifischen, den milieu-, alters- und 8geschlechterspezifischen Differenzen in der Form solcher Weltbeziehungen. Dass in einer Gesellschaft, deren Wirtschaftssystem kapitalistisch und deren Weisheit wissenschaftlich organisiert ist, die Subjekte durch eine andere Weltbeziehung charakterisiert, ja: konstituiert sind als in einer Agrargesellschaft, oder dass ein Waldarbeiter buchstäblich auf eine andere Weise in die Welt gestellt ist als ein Wissenschaftler oder ein Tänzer, scheint mir ebenso trivial wie in seiner Bedeutung unerforscht zu sein.
Der gemeinsame, wenngleich nicht immer explizit gemachte Fokus der folgenden Untersuchungen liegt nun in der Vermutung, dass die Frage, unter welchen Bedingungen menschliches Leben gelingt, sich übersetzen lässt in die Frage nach der Qualität oder den Qualitäten der jeweiligen Weltbeziehung und dass dabei ein fundamentaler, ja kategorialer Unterschied besteht zwischen einem Modus des In-die-Welt-gestellt-Seins, bei dem diese Welt (in der subjektiven, objektiven und/oder sozialen Dimension) dem Subjekt als ein antwortendes, tragendes, atmendes ›Resonanzsystem‹ erscheint, und einer Weltbeziehung, der jene Welt als stumm, kalt und indifferent – oder sogar als feindlich – erscheint. In der Traditionslinie der Kritischen Theorie, aber auch weit darüber hinaus diente lange Zeit der Begriff der ›Entfremdung‹ als Chiffre für diese letztere Form der Welterfahrung. Entfremdungstheorien (in materialistischen wie existentialistischen Varianten) identifizieren dabei das Stumm-, Fremd- oder Indifferentwerden der Dingwelt oder der Natur, der Sozialwelt oder sogar der eigenen leiblichen und psychischen Existenz als Kern einer (sozial verursachten oder aber unvermeidlichen) pathologischen Weltbeziehung. Dieses Konzept ist im weiteren Verlauf der sozialphilosophischen und soziologischen Debatte jedoch nach und nach aus der Mode gekommen. Diskreditiert wurde der Entfremdungsbegriff dabei insbesondere dadurch, dass ihm als gelingende Form der Weltbeziehung die Idee der ›Eigentlichkeit‹ oder Authentizität entgegengesetzt wurde, die ihrerseits mit der Vorstellung entweder einer ›wahren‹ Natur des Menschen (und daher einer ›richtigen‹ Form des menschlichen Lebens) oder aber zumindest eines feststehenden ›inneren Kerns‹ des Individuums verknüpft ist.2 Weil sich diese Vorstellung aber als 9kaum haltbar erwiesen hat, machen jüngere Arbeiten den Versuch, dem Zustand der Entfremdung nicht die Eigentlichkeit oder Authentizität, sondern nur die Idee der Autonomie, der Selbstbestimmung, entgegenzusetzen.3 Weltbeziehungen und Weltaneignungen gelingen nach dieser letzteren Auffassung dann, wenn Menschen sich selbst zu bestimmen und selbstbestimmt zu handeln in der Lage sind. Wenngleich vieles für diese Rekonzeptualisierung spricht, reicht sie meines Erachtens nicht aus, weil sich einerseits insbesondere unter spätmodernen Bedingungen vielerorts beobachten lässt, dass just die Ausweitung und Steigerung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten und die Verminderung von Begrenzungen und Abhängigkeiten zu neuen und verstärkten Entfremdungserfahrungen führt, während andererseits die Auffassung, dass alles menschliche Leben, das nicht im modernen Sinne als selbstbestimmt verstanden werden kann, als entfremdet zu gelten habe, schlechterdings unplausibel ist. Hinzu kommt, dass das Autonomiekonzept meines Erachtens in einer unübersehbaren Spannung zu anerkennungstheoretischen Ansätzen steht, die Entfremdungserfahrungen eher dort identifizieren, wo sich Subjekte als minderwertig, als missachtet oder wertlos erfahren, und deshalb der Entfremdung tendenziell das Konzept der Anerkennung entgegensetzen. Deshalb möchte ich vorschlagen, dem Zustand oder der Erfahrung der Entfremdung nicht länger den Autonomie- oder den Authentizitätsgedanken entgegenzusetzen und auch nicht den Zustand der Anerkennung und Wertschätzung, sondern das Konzept der Resonanz: Gelingende Weltbeziehungen sind solche, in denen die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ›gütiges‹ ›Resonanzsystem‹ erscheint.
Anerkennung ist dabei ohne Zweifel eine (wichtige) Ermöglichungsbedingung von Resonanz, wenngleich Anerkennung und Resonanz nicht identisch sind: Wenn Person A von Person B wertgeschätzt oder sogar geliebt wird, bedeutet das keineswegs, dass sich zwischen A und B eine Resonanzbeziehung einstellt. Diese 10entsteht erst und nur da, wo A und B sich ›berühren‹, wo sie in eine Beziehung des wechselseitigen Antwortens eintreten. Darüber hinaus machen Subjekte Resonanzerfahrungen aber auch außerhalb der Sphäre sozialer Interaktion. In der Moderne haben sich die Sphären der Ästhetik und der Naturerfahrung als Resonanzsphären sui generis etabliert: Wer etwa von Musik zutiefst ergriffen, berührt und erschüttert wird, wer auf diese Weise einen Moment des ›Einklangs‹, der ›Tiefenresonanz‹ zwischen sich und einer (wie immer gearteten) akustischen Welt ›da draußen‹ erfährt, macht eine Resonanzerfahrung – ebenso wie der- oder diejenige, die unter den Sternen am Meeresstand oder bei Sonnenaufgang auf einem Berggipfel die Welt ›atmen hören‹. Als eine weiterhin wirksame zusätzliche Resonanzsphäre kann darüber hinaus der Bereich der religiösen Erfahrungen gedeutet werden: In Gebet, Lied oder Abendmahl beispielsweise ›erfahren‹ (christliche) Gläubige ein antwortendes ›Du‹, eine Beziehung zwischen Subjekt und (Über-)Welt, die über eine instrumentelle oder kausale Wechselbeziehung hinausgeht.4 Dass sich in allen dreien dieser Sphären (Ästhetik, Natur, Religion) die Resonanzerfahrung nicht manipulativ sicherstellen bzw. fixieren lässt – dasselbe Musikstück, die identische Szenerie, das gleiche Ritual, welches ein Subjekt an einem Tag bis ins Innerste ergreift, kann es am nächsten Tag völlig ›kalt lassen‹ –, macht dabei deutlich, dass wir es hier mit einem Moment der Subjekt-Welt-Beziehung zu tun haben, das über instrumentelle, kausale und/oder epistemologische Relationen hinausgeht.
Daraus lässt sich der Gedanke formulieren, dass menschliches Leben (zumindest momenthaft) dort gelingt, wo Subjekte konstitutive Resonanzerfahrungen machen, dass es dagegen misslingt, wo Resonanzsphären systematisch durch ›stumme‹, das heißt rein kausale oder instrumentelle Beziehungsmuster verdrängt werden. Sofern Resonanzbeziehungen sich nur dort ausbilden können, wo die Aneignung oder Anverwandlung von Weltausschnitten gelingt, kann dann das Fehlen von Autonomie und/oder sozialer Anerkennung, insbesondere unter den Bedingungen der Moderne, weiterhin als eine zentrale Ursache für Entfremdungserfahrungen gelten.
Wenn die Beiträge in diesem Buch daher unter der organisierenden Idee einer Analyse von ›Weltbeziehungen‹ zusammengeführt 11werden können, so ist damit ein Thema bezeichnet, das zwar in enger Verwandtschaft zur Disziplin der Wissenssoziologie steht, diesen Titel und diese Zuordnung aber insofern nicht verdient, als es nicht oder zumindest nicht primär um eine ideengeschichtliche oder weltanschauliche Untersuchung des subjektiven oder kulturellen Weltverhältnisses, ja letztlich überhaupt nicht um die kognitiven oder propositionalen Gehalte moderner Subjekt-Welt-Beziehungen geht. Auf dem Prüfstand stehen also nicht das Weltwissen oder auch nur die ›Mentalitäten‹ moderner Subjekte, sondern ihr Weltverhältnis (und damit unvermeidlich auch: ihr Selbstverhältnis) per se, und dieses ist stets und primär ein leibliches, emotionales, sensuelles und existentielles und erst danach ein mentales und kognitives. Weltbeziehungen können mithin im Sinne der angedeuteten Überlegungen ›stumm‹ oder ›resonant‹ sein, und sie können dies ohne Zweifel in mannigfaltigen Formen und Mischverhältnissen, die zu untersuchen eine ebenso reizvolle wie schwierige intellektuelle Herausforderung darstellt, da bisher weder die Philosophie noch die Psychologie oder die Soziologie dafür über ein geeignetes analytisches Instrumentarium zu verfügen scheinen.
Der vorgelegte Band ist indessen noch nicht der Ort für die systematische Entfaltung dieser Idee. Er kann jedoch als breit angelegte Vorstudie für eine solche umfassende ›Soziologie der Weltbeziehung‹ dienen, indem er auf unterschiedlichen Wegen die kulturellen, politischen, aber auch ökonomischen Kontexte und Differenzen moderner Weltbeziehungen und die methodischen Schwierigkeiten bei der Verfolgung dieser Konzeption exploriert.
Gerade weil die Arten und Differenzen menschlicher Weltbeziehung sich nicht auf Unterschiede der kognitiven Repräsentation von Welt reduzieren lassen, erfordert ihre Analyse die Rekonstruktion kultureller Lebensformen als Ganzen. Erst in dem Ensemble aus Institutionen und Praktiken, aus Sprache und Habitus und den durch sie erzeugten Emotionen und Interaktionen formt sich die historisch und kulturell je spezifische Weise einer Weltbeziehung. Um einen Sinn für die Differenzen zwischen solchen Weltbeziehungen zu gewinnen, sind komplexe hermeneutische Operationen erforderlich, die es erlauben, mit den Mitteln der Sprache die Unterschiede auch in den nichtsprachlichen Modi der Welterfahrung, Weltaneignung und Weltbearbeitung spürbar werden zu lassen. Der erste hier aufgenommene Beitrag »Lebensformen vergleichen 12und verstehen« knüpft an das Paradigmen-Konzept des Wissenschaftshistorikers Thomas S. Kuhn und an Überlegungen Charles Taylors an, um die Grundlinien eines solchen hermeneutischen Verfahrens herauszuarbeiten. Charles Taylors Philosophie dient dabei als wichtiger Ankerpunkt und als Inspirationsquelle nicht nur für diesen, sondern auch für die übrigen Beiträge des ersten Teils dieses Buches – und darüber hinaus auch für die Idee, Resonanzerfahrungen zum Ankerpunkt einer Analyse der Bedingungen gelingenden Lebens zu machen.5 Tatsächlich liegt in ihr, wie ich im zehnten Kapitel zu zeigen versuchen werde, die innere Verbindung zwischen meinen an Taylor orientierten früheren und den ›beschleunigungsdominierten‹ späteren Arbeiten.
Die Lebensform der Moderne in ihrer umfassenden Gestalt wird dabei in besonderem Maße von der Vorstellung ihrer politischen Gestaltbarkeit bestimmt: Seit der Aufklärung entwickelte sich (zunächst in Europa und Nordamerika, dann aber auch weit darüber hinaus) die Politik – und insbesondere die demokratische Politik – zum zentralen Instrument der Aneignung oder ›Anverwandlung‹ der kollektiven Lebenswelt. Im Modus der Politik werden die kollektiven Strukturen gleichsam ›zum Sprechen‹ gebracht; die soziale Welt bildet für die Bürgerinnen und Bürger demokratischer Gemeinwesen insofern eine Resonanzsphäre, als sich ihre geteilten Werte und ausgehandelten Entscheidungen darin widerspiegeln, weil sie sich in die Institutionen gleichsam einbringen und in ihnen wiedererkennen können. So jedenfalls lautet die Kerneinsicht des republikanischen und kommunitaristischen Politikverständnisses. Dem steht indessen ein stärker liberal-individualistisches Politikverständnis gegenüber, dem zufolge der Staat und die öffentlichen Institutionen gerade nicht als ›Resonanzsphären‹ für die Bürger missbraucht werden dürfen, sondern hinsichtlich deren unterschiedlichen und pluralen Identitäten und Wertvorstellungen als 13neutral, unparteilich und unbestechlich erscheinen müssen: Indifferenz erscheint dem liberalen Politik- und Gerechtigkeitsverständnis als ein Vorzug und nicht als ein Problem der politischen und rechtlichen Institutionen. Damit aber, so lautet das im zweiten Beitrag entwickelte Argument, könnte es zusammenhängen, dass die tatsächliche Wohlstands- und Chancenverteilung in den entwickelten Gesellschaften nicht den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bürger folgt, sondern ›blinden‹ (kapitalistischen) Sachzwängen und dass sich Entfremdungsgefühle gegenüber den Strukturen des Gemeinwesens ausbreiten, welche die Form einer wachsenden ›Politikverdrossenheit‹ annehmen.
Der dritte Beitrag versucht, die individuellen und kollektiven Elemente des menschlichen ›Weltverhältnisses‹ einerseits und seine kognitiven, ideengeleiteten sowie die habitualisierten, ›verkörperten‹ oder emotionalen Momente andererseits systematisch zueinander in Beziehung zu setzen. Ausgehend von der für die hier wiedergegebenen Studien grundlegenden Einsicht, dass Selbst-Welt-Beziehungen stets das Ergebnis konstitutiver Selbst- (und Welt-)Interpretation sind, entwickelt er ein konzeptuell angelegtes ›Vier-Felder-Schema‹ der Selbstinterpretation. Die Weltbeziehung von Subjekten wird demnach gleichermaßen bestimmt (1) durch ihr reflexives Selbstverständnis (›Identität‹), (2) durch ihre verkörperte, habitualisierte, zu einem großen Teil unbewusste Welthaltung, (3) durch die institutionellen Kontexte und die sozialen Praktiken, an denen sie partizipieren und in die sie eingebunden sind, und (4) schließlich durch die Selbstbeschreibungen und Leitbilder der kulturellen Gemeinschaft, der sie zugehören. Diese Konzeption legt den Gedanken nahe, dass tiefe Resonanzerfahrungen in jenen (seltenen und unvermeidlich transitorischen) Momenten entstehen, in denen sich diese vier Ebenen in Übereinstimmung befinden – dass aber Entfremdung aus der dauerhaften Unvereinbarkeit von habitualisierter und expliziter, institutionalisierter und politischer Selbst- und Weltdeutung resultiert.
Nach der in diesen drei Beiträgen versuchten konzeptuellen, methodischen und theoretischen Grundlegung einer Soziologie der Weltbeziehung widmet sich der zweite Teil der hier vorgelegten Studien verstärkt der Analyse der spezifisch modernen Form des Subjekt-Welt-Verhältnisses. Den drei folgenden Beiträgen gemeinsam ist dabei die Überzeugung, dass die Art und Weise, wie moderne 14Subjekte die Welt erfahren und sich in der Welt bewegen, grundlegend bestimmt wird durch die Steigerungslogik der modernen Gesellschaft. Das fundamentale Charakteristikum dieser Gesellschaft ist die Tatsache, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, was bedeutet, dass sie nicht nur kontingent (in besonderen Situationen), sondern strukturell und dauerhaft auf Wachstum, Innovationsverdichtung und Beschleunigung angewiesen ist, um sich in ihren Strukturbedingungen zu erhalten und zu reproduzieren. Dies führt zu einer fortwährenden Dynamisierung (und damit zugleich zu einer Ent-Ontologisierung) des modernen Weltverhältnisses: Die Beziehung des modernen Subjektes zur Dingwelt, zur Sozialwelt und zu sich selbst ist fundamental dadurch bestimmt, dass sich jene Welten in permanenter Veränderung und immer schnellerer Bewegung befinden. Von elementarer Bedeutung für die alle Formen und Sphären der modernen Weltbeziehung durchdringenden Dynamisierungs- und Steigerungszwänge ist ohne Zweifel das dominante Wirtschaftssystem der Moderne. Nicht nur Karl Marx, sondern auch Max Weber, als sein soziologischer Antipode, hat auf dieses konstitutive Grundfaktum für jede Form moderner Soziologie hingewiesen, als er den Kapitalismus als die »schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens« bestimmte.6 Das vierte Kapitel unternimmt daher den Versuch, die (weitgehend verborgenen) Wirkungsweisen und Einflussmechanismen dieser ›marktpaternalistischen Schicksalsbeziehung‹ aufzudecken und ihnen – gewissermaßen als kollektive Selbstschutzmaßnahme – das Konzept eines demokratisch-deliberativen ›Auto-Paternalismus‹ gegenüberzustellen. Damit soll zugleich die spezifisch kapitalistische Form der Weltbeziehung genauer bestimmt werden.
Die Beiträge über »Modernisierung als Beschleunigung« und »situative Identität« betonen demgegenüber expliziter die Zeitlichkeit der menschlichen Weltbeziehung. Die Art und Weise, wie Menschen – individuell und kollektiv – in die Welt gestellt sind, wie sie sich selbst und die Welt erfahren und wie sie sich Welt aneignen, sich in ihr positionieren und sich bisweilen auch vor ihr zu schützen versuchen, hängt elementar davon ab, wie sie in die Zeit gestellt sind. Die Moderne ist aber dadurch gekennzeichnet, dass sich diese Beziehung systematisch und kontinuierlich verändert 15durch jenen Prozess, den ich in einem früheren Buch als Prozess der Beschleunigung7 interpretiert habe. Im fünften Kapitel versuche ich daher noch einmal deutlich zu machen, warum jene in der Soziologie oft als ›Modernisierung‹ apostrophierten Veränderungen in der epistemischen und ökonomischen, sozialen und emotionalen, politischen und ästhetischen Weltbeziehung als ein seit nunmehr fast dreihundert Jahren andauernder Vorgang sozialer Akzeleration beschrieben werden können, ja müssen. Daran anschließend geht dann der sechste Beitrag der Frage nach, wie dieser Beschleunigungsprozess mit jenen Entwicklungen zusammenhängt, die sich unter dem Stichwort der Individualisierung beschreiben lassen, und welche Konsequenzen sich aus ihm für die Möglichkeiten und Zwänge individueller Identitätsbildung und Lebensführung ergeben. Die aktuelle Form subjektiver Weltbeziehungen, so lautet die dort entwickelte These, ist wesentlich bestimmt durch das spätmoderne Stadium einer entfesselten Beschleunigungsdynamik, der gegenüber inhaltliche bzw. ideelle und normative Fragmente und Differenzen der Selbstbestimmung geradezu als sekundär erscheinen.
Damit aber ist der Punkt erreicht, an dem die soziologische Zeitdiagnose und Moderneanalyse in eine kritische Theorie der Gesellschaft übergeht. Die beiden Beiträge des dritten Teils versuchen daher die Umrisse einer kritischen Theorie der Zeitverhältnisse zu entwerfen. Das siebte Kapitel unternimmt dazu den Versuch, das gesellschaftskritische Potential der Beschleunigungstheorie explizit in die Traditionslinie der Kritischen Theorie zu stellen und dabei deutlich zu machen, welchen Beitrag jene zu den beiden großen aktuellen Versionen dieses intellektuellen Unternehmens – Honneths Kritik der Anerkennungsverhältnisse und Habermas’ Kritik der Kommunikationsverhältnisse – zu leisten vermag. Darüber hinaus unternimmt dieser Beitrag aber auch den Versuch, die beschleunigungsbedingte Veränderung unserer Beziehung zu den Dingen und zu den Menschen, mit denen wir interagieren, zu den Räumen und Orten, an denen wir leben, und zu unseren eigenen Wünschen, Werten und Bedürfnissen auf ihr Entfremdungspotential hin zu analysieren. Die Dynamisierung unserer Weltbeziehungen, so lautet die dabei entwickelte These, unterminiert tendenziell die Neigung und die Möglichkeit, sich Weltausschnitte (in Erfahrungen) ›anzu16verwandeln‹ und Resonanzbeziehungen aufzubauen – und steigert damit die Wahrscheinlichkeit von Entfremdungserfahrungen: Die beschleunigt erfahrene und durchschrittene Welt bleibt tendenziell ›stumm‹. Dass diese Form der Weltbeziehung indessen weniger eine Frage individueller Einstellungen oder kultureller Werthaltungen als vielmehr eine Folge sozialstruktureller Dynamisierungsimperative ist, möchte der achte Beitrag deutlich machen. Dieser identifiziert das Wettbewerbsprinzip als die zentrale Triebfeder der neuzeitlichen Dynamisierungs- und Beschleunigungslogik. Indem die Konkurrenz zum zentralen Allokationsmodus wurde – nicht nur die ökonomische Verteilung folgt ihrer Logik, sondern generell die Vergabe von Positionen und Privilegien (in der Politik, in der Wissenschaft, der Kunst etc.), aber auch von Freundschaft und Beziehungen und von Status und Anerkennung –, ist es der modernen Gesellschaft gelungen, die materielle und die soziale Welt buchstäblich in Bewegung zu versetzen und darüber enorme Wohlstandsgewinne zu erzielen. Der Preis dafür ist jedoch eine permanente Beunruhigung, deren Unerbittlichkeit sämtliche Sphären menschlicher Weltbeziehung immer stärker zu ›kolonialisieren‹ scheint.
Im vierten und letzten Teil des Buches plädiere ich daher für den Versuch einer – positiv an der Möglichkeit von Resonanzerfahrungen und negativ an der Idee einer Vermeidung strukturell verursachter Entfremdung orientierten – Revision der spätmodernen Weltbeziehung. Leitidee ist dabei die Vorstellung einer gelingenden ›Wiederaneignung‹ oder ›Anverwandlung‹ von Welt – einerseits, kollektiv, im Modus demokratischer Politik, welche noch immer das Versprechen der Antwort- oder ›Resonanzfähigkeit‹ der kollektiven Strukturen und Voraussetzungen unseres Lebens birgt, und andererseits, individuell, durch den Entwurf einer veränderten Konzeption gelingenden Lebens. Lebensqualität, so versuche ich im zehnten und letzten Beitrag zu zeigen, hängt nicht vom erreichten oder erreichbaren materiellen Wohlstand und auch nicht von der Summe an Lebensoptionen ab – sondern von der Möglichkeit zu und vom Reichtum an Resonanzerfahrungen. Bei diesem Beitrag handelt es sich um meine bisher unveröffentlichte Jenaer Antrittsvorlesung aus dem Jahre 2006. Sie enthält, wenngleich in überaus holzschnittartiger, vorläufiger und tastender Form, wesentliche Kernelemente einer Soziologie der Weltbeziehung, wie ich sie in meiner nächsten Monographie systematisch entwerfen möchte.
Eine Theorie der dimensionalen Kommensurabilität von Kontexten und Kulturen
Was sind die Voraussetzungen dafür, dass wir sagen können, wir hätten in Kontexten der Verständigung einen anderen Menschen, eine andere Kultur, eine differente Weise des (wissenschaftlichen, moralischen oder ästhetischen) Denkens und Handelns verstanden und seien daher in der Lage, ein vergleichendes Urteil über unsere eigene und die fremde Situation, Denkungsart oder Handlungsweise zu fällen? Was könnte den kategorialen Boden für ein solches Urteil bilden? In welchen Fällen stellt die Aufgabe eines derartigen Verstehens und Vergleichens eine ernsthafte Herausforderung dar, und unter welchen Bedingungen vollzieht sie sich nahezu ›von selbst‹?
Solche Fragen sind traditionelle Kernfragen der philosophischen Hermeneutik. Ich möchte im Folgenden im Anschluss an Überlegungen des Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn und des kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor ein Modell der dimensionalen Kommensurabilität von Verstehenshorizonten vorschlagen, das vielleicht ein wenig Licht in das nach wie vor recht undurchdringliche Halbdunkel jenes Problemzusammenhangs zu bringen vermag.
Eine fundamentale Schwierigkeit im Hinblick auf die menschliche ›Grundoperation‹ des Verstehens – gleichgültig, ob es sich auf Kulturen oder Lebensformen, auf Formen der Moral, ästhetische Stilrichtungen oder sogar auf Wissenschaftsauffassungen richtet – besteht zweifellos darin, dass sie sich stets auf dem Boden eines holistischen Geflechts von Auffassungen, Begriffen, Überzeugungen, Bewertungen, Annahmen und Fragestellungen vollzieht. Jeder auf diese Weise gebildete Verstehenshorizont scheint einerseits zwar ›universalistisch‹ insofern zu sein, als er den gesamten zur Disposition stehenden Phänomenbereich abdeckt, sieht sich andererseits aber anderen, ebenso holistischen Verstehenshorizonten gegenüber, welche denselben Phänomenbereich mit Hilfe anderer Auffassungen, Begriffe, Überzeugungen, Fragestellungen und Handlungsweisen 20erfassen, die sich gegenüber den eigenen insofern als inkommensurabel erweisen, als es keinen neutralen Standpunkt gibt, von dem aus die jeweiligen Vor- und Nachteile abgewogen werden können oder bei abweichenden Phänomenbeurteilungen oder inkompatiblen Handlungsweisen über richtig und falsch entschieden werden könnte. Mit der Inkommensurabilität von Verstehenshorizonten ist dabei nicht einfach deren Inkompatibilität gemeint, wie häufig fälschlich angenommen wird.8 Die Aussagen »Das Spiel beginnt um 18 Uhr« und »Das Spiel beginnt um 20 Uhr« sind inkompatibel, aber nicht inkommensurabel. Inkommensurabilität sollte daher definiert werden als das Verhältnis zweier Systeme, deren Begriffe oder Bedeutungseinheiten sich nicht adäquat, das heißt nach den Vorgaben der logischen Einschließung, Ausschließung und Überschneidung, ineinander übersetzen lassen, so dass sich das im einen System Intendierte nicht restlos in der vorgegebenen Begriffs- und Bedeutungsmatrix des anderen Systems darstellen lässt. Sie kann dann natürlich (und wird es häufig) Inkompatibilität implizieren, wenn es eine Hinsicht oder eine Reihe von Konsequenzen aus diesen Systemen, Perspektiven oder Horizonten gibt, derentwegen sich nicht beide zugleich einnehmen oder vertreten lassen. Besteht eine solche Art von Inkommensurabilität zwischen zwei Systemen (Lebensformen, Kulturen, Theorien), ohne dass sich eine absolute Entscheidung zugunsten des einen oder anderen begründen lässt, so rechtfertigt dies nach Bernard Williams9 die Verwendung des Begriffs Relativismus.
Die Abwesenheit einer neutralen Metasprache oder eines Standpunktes, von dem aus sich unterschiedliche Verstehenshorizonte vergleichen oder überblicken ließen, und die daraus resultierende ›Partikularität‹ alles Verstehens begründet im Anschluss an Wittgenstein, Gombrich und Kuhn die These von der ›Priorität des Paradigmas‹, sie liegt auch Hans-Georg Gadamers Einsicht in die (universale) Rolle der ›Vorurteile‹ als nahezu transzendentale Bedingung des Verstehens zugrunde.10 Alles Verstehen ist demnach unauf21hebbar kontextgebunden, weil es Fragen generierende Vorstrukturen voraussetzt, welche »die Blickbahnen des Verstehens im Voraus bestimmen«.11
Das Kernproblem, mit dem ich mich im Folgenden befassen möchte, wird deshalb nicht sein, wie Verstehen überhaupt, das heißt vom festen Boden eines bestimmten Paradigmas oder Verstehenshorizontes aus, möglich ist, sondern wie sich das Verstehen und a fortiori die Verständigung zwischen unterschiedlichen Paradigmen oder Horizonten vollziehen könnte.
Zunächst liegt hier natürlich die Vermutung nahe, dass es die Phänomene oder die Fakten des in Frage stehenden Phänomenbereiches selbst sind, welche die Vermittlung zwischen konkurrierenden Paradigmen oder Verstehenshorizonten leiten und Inkommensurabilitäten zumindest dort, wo sie zu Inkompatibilitäten führen, auflösen können. Während es offensichtlich ist, dass ein solches vergleichendes Verfahren im Hinblick auf die Gegenüberstellung von Moralsystemen, ästhetischen Auffassungen oder Kultur- und Lebensformen auf große Schwierigkeiten stößt, vor allem hinsichtlich der Bestimmung der relevanten Fakten, scheint diese Annahme insbesondere im Bereich der klassischen Methodologie der Naturwissenschaften plausibel zu sein, die ja auf der Überzeugung beruht, dass die Falsifizierbarkeit von Hypothesen im Experiment eine unvoreingenommene Entscheidung zwischen konkurrierenden Forschungsprogrammen ermöglicht. Daher ist es von besonderem Interesse, dass eine Wissenschaftstheorie wie diejenige des Physikers Thomas S. Kuhn12 eine entscheidende Wende in der postempiristischen Wissenschaftstheorie insofern einleitete, als sie auch und gerade für die Naturwissenschaften die Priorität des Paradigmas nachzuweisen versuchte. Ich möchte nun im Folgenden zunächst anhand einer Rekonstruktion des Kuhnschen Paradigmenbegriffs die kategorialen Strukturen holistischer Verstehenshorizonte gleichsam exemplarisch am Beispiel der Wissenschaft herausarbeiten, um daran anschließend und in Anknüpfung an Überlegungen Charles Taylors gewissermaßen eine Ebene tiefer 22zu steigen und nach der Struktur der konstitutiven Verstehenshorizonte von Kulturen oder Lebensformen zu fragen. Von dort ausgehend werde ich dann mein Modell dimensionaler Kommensurabilität entwickeln, um die Möglichkeit und die Voraussetzungen interkontextuellen und interkulturellen Verstehens und Sich-Verständigens auf dem Wege einer Horizontverschmelzung zu erkunden. Abschließend möchte ich einige Überlegungen dazu anstellen, wieso eine so begründete Arbeit an den Grenzen des je eigenen Horizontes für moderne westliche Gesellschaften möglicherweise eine Aufgabe von höchster Dringlichkeit darstellt.
Der Grundgedanke von Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen besteht darin, dass eine wissenschaftliche Gemeinschaft konstituiert und geleitet wird durch den Besitz eines gemeinsamen Paradigmas. Solche Paradigmen haben dabei sowohl eine kognitive als auch eine normativ-soziale Funktion. Aus diesem Grunde sind sie mehr als einfach nur Begriffssysteme.13
Paradigmen strukturieren und, wie Kuhn in einer eigenen Wahrnehmungstheorie zu zeigen versucht, programmieren in gewissem Sinne sogar unsere Erfahrungen. Sie selbst bleiben daher der (zumindest direkten) empirischen Überprüfung entzogen, während das mit einem Paradigma Verglichene durch den Vergleich verifiziert oder falsifiziert wird. In kognitiver Hinsicht kann ein Paradigma als »System von Überzeugungen ontologischer, erkenntnistheoretischer und methodologischer Natur verstanden werden, durch das die generellen Ziele, Möglichkeiten und legitimen Vorgehensweisen wissenschaftlichen Arbeitens festgelegt werden«.14 Ein Paradigma definiert und generiert also die wissenschaftlich zu 23bearbeitenden und relevanten Fragen und bestimmt das, was als zulässiger Lösungsweg gelten kann, sowie das Spektrum möglicher Antworten auf Forschungsfragen. Implizit enthalten sind dabei auch ontologische Annahmen über den Aufbau der Welt und die in ihr vorhandenen Einheiten sowie eine Konzeption dessen, was ›wichtig ist‹ oder ›worauf es ankommt‹ in dieser Welt. Entscheidend ist dabei allerdings, dass Paradigmen nicht über formallogische und theoretische Regeln, Systeme und Entwürfe konstruiert werden, sondern zunächst immer von konkreten wissenschaftlichen Lösungen, das heißt einzelnen paradigmatischen Musterbeispielen (exemplars)15 ausgehen. Methodologien und metaphysische Annahmen werden aus solchen in der wissenschaftlichen Praxis entwickelten Musterlösungen abgeleitet oder sind implizit in ihnen enthalten oder mit ihnen verknüpft; sie werden aber nur in Krisenzeiten, in denen sich eine Disziplin ihrer Grundlagen unsicher geworden ist, explizit formuliert und theoretisch reflektiert.
In der Terminologie Kuhns lassen sich somit drei Abstraktionsebenen des Begriffs unterscheiden. Die konkreteste Verwendung von Paradigma begegnet, wie dargelegt, in der Bedeutung von ›Musterbeispiel‹ (exemplar), modellbildender Einzellösung. Für die mittlere Abstraktionsebene hat Kuhn in seinen späteren Arbeiten den Begriff der wissenschaftlichen oder disziplinären Matrix vorgeschlagen.16 Diese Matrix umfasst die genannten Musterbeispiele, also die ›untere‹ Ebene, aber auch symbolische Verallgemeinerungen, heuristische und ontologische Modelle, welche den Wissenschaftlern bevorzugte Analogien und Metaphern liefern, sowie die maßgebenden normativen Orientierungen, die verbindliche Urteile darüber erlauben, was als wissenschaftliche Fragestellung und Lösungsmethode zulässig und relevant ist. Sie liefert somit die Methodologie und das Instrumentarium für den geordneten Forschungsgang der ›normalen Wissenschaft‹, wie sie vor allem über die Lehrbücher vermittelt werden. Der Ausdruck ›disziplinär‹, den Kuhn einführt, weil die Matrix »der gemeinsame Besitz der Ver24treter einer Fachdisziplin ist« und durch ›Gruppenfestlegungen‹ bestimmt wird,17 weist dabei natürlich schon auf die soziale Dimension von Paradigmen hin. Auf der höchsten Abstraktionsebene, aber eben erst dort und nicht von vornherein und ausschließlich, besitzen Paradigmen einen metaphysischen Charakter; sie sind hier Weltanschauungen oder Weltbilder. Dies besagt, dass jedes Paradigma mit einer ganz bestimmten »Art und Weise, die Welt zu sehen und die Wissenschaft in ihr auszuüben«, verknüpft ist. Denn jede Wissenschaft muss, bevor sie tätig werden kann, gewisse Grundannahmen machen hinsichtlich Fragen wie: »Welches sind die Grundbausteine des Universums? Wie wirken sie aufeinander und auf die Sinne ein? Welche Fragen können sinnvoll über diese Bausteine gestellt […] werden?« Daher gründet normale Wissenschaft zwangsläufig »auf der Annahme, daß die wissenschaftliche Gemeinschaft weiß, wie die Welt beschaffen ist«.18 Wie bereits bemerkt, geht Kuhn hierbei davon aus, dass solche Paradigmen sogar unsere Wahrnehmungsprozesse zu steuern vermögen. Dies erklärt die ›Priorität des Paradigmas‹ vor aller wissenschaftlichen Beobachtung und Überlegung. Die genannten drei Abstraktionsstufen stehen dabei natürlich in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis: Veränderungen auf der einen Ebene können – oder müssen in manchen Fällen sogar – auch Veränderungen auf den anderen Ebenen nach sich ziehen. Modifikationen des Weltbildes können so zu einer Anpassung der disziplinären Matrix und eventuell zu einer Neubestimmung kanonischer Musterlösungen führen, während bahnbrechende Einzellösungen umgekehrt Rückwirkungen auf die Methodologie einer Disziplin und eventuell auch auf das in ihr angelegte oder aus ihr hervorgehende Weltbild haben können. In der Regel setzen jedoch nach Kuhns Modell der Wissenschaftsentwicklung Veränderungen an den konkreteren Ebenen ein und wirken dann zu den abstrakteren fort.
Weil es nun aber (synchron und diachron) unterschiedliche forschungsleitende Paradigmen gibt und weil diese Paradigmen nicht nach einem formallogischen Algorithmus miteinander verglichen und bewertet werden können, so dass es keine eindeutigen Verfahren gibt, mit deren Hilfe man die Überlegenheit eines Paradigmas gegenüber einem anderen beweisen könnte, ist die soziale Dimension 25von Paradigmen neben der kognitiven von entscheidender Bedeutung. Da jedes Paradigma seine eigene Sprache, seine eigenen Rätsel, Lösungswege und Rationalitätsstandards produziert – nicht zufällig hielt Kuhn zeitlebens an der Idee fest, dass diejenigen, die unterschiedlichen Paradigmen folgen, in ›verschiedenen Welten‹ leben19 –, kommt es beim Versuch transparadigmatischer Verständigung zu massiven Kommunikationsstörungen. Die Begriffe verschiedener wissenschaftlicher Gemeinschaften sind genuin inkommensurabel in dem oben dargelegten Sinne,20 weil Theorien, Daten und Sprache in einem komplexen Interdependenzverhältnis stehen: Paradigmen treffen nicht nur eine unterschiedliche Auswahl und Gewichtung der jeweils für relevant erachteten Fakten, sondern sie konstituieren diese Daten (wenigstens zum Teil) erst, indem sie die Wechselwirkung zwischen Stimulus und Empfindung (mit-)bestimmen.
In einem noch unbekannten Ausmaß ist die Herstellung von Daten aus Stimuli ein erlernter Vorgang. Nach dem Lernen ruft der gleiche Stimulus ein anderes Datum hervor. Ich komme zu dem Ergebnis, daß Daten zwar die Minimalelemente unserer individuellen Erfahrung sind, aber gemeinsame Reaktionen auf einen gegebenen Stimulus nur bei Mitgliedern einer verhältnismäßig einheitlichen Gemeinschaft: einer Ausbildungs-, einer wissenschaftlichen oder einer Sprachgemeinschaft [sic!].21
Wie beim Phänomen des Gestaltwechsels von Vexierbildern, bei denen der Betrachter etwa einmal eine Vase und dann, ohne Übergang, plötzlich zwei Gesichter sieht, so verändert sich daher auch die Welt des Wissenschaftlers nach einem Paradigmenwechsel.
26Der Übergang von einem Paradigma zu einem anderen enthält deshalb nach Kuhn – und dies hat entscheidend zu seiner kontroversen Popularität beigetragen – auch in den vermeintlich so harten Naturwissenschaften ein psychologisches und soziales Moment der ›Bekehrung‹. Im normalen Fortgang der Wissenschaft sichert eine paradigmengeleitete Scientific Community rigoros eine einheitliche Sozialisierung, wissenschaftliche Orientierung und interne Strukturierung und lässt Abweichungen nicht zu. Mit anderen Worten, sie sorgt dafür, dass ihre Mitglieder nicht die falschen Fragen stellen oder falsche Methoden verfolgen. Wissenschaftliche Revolutionen, die dann eintreten können, wenn eine Disziplin in eine Krise geraten ist, in der ihre Standards in Frage gestellt werden, sind daher stets eine Folge gruppendynamischer (sozialpsychologischer) Prozesse, wobei Kuhn wissenschaftliche Rationalität nicht normativ-absolut, sondern jeweils soziologisch bestimmt sieht: »Wissenschaftliche Kenntnisse sind wie die Sprache das Gemeineigentum einer Gruppe, oder es gibt sie nicht«, lautet eine seiner zentralen Einsichten.22
In späteren Arbeiten hob Kuhn zunehmend die konstitutive Rolle der Sprache für die paradigmengeleitete Tätigkeit einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, die er als Diskursgemeinschaft begriff, hervor. Paradigmen können daher als ›Begriffsnetze‹ verstanden werden, welche die Welt auf je spezifische Weise konzeptualisieren. Solche Begriffsnetze – und damit die Bedeutung einzelner Begriffe – sind dabei nicht nach formallogischen Ein- und Ausschlusskriterien bestimmt, sondern über Ähnlichkeitsrelationen (auch hierin folgt Kuhn Wittgenstein). Die Gesamtheit solcher Ähnlichkeitsrelationen bezeichnete der späte Kuhn als ›Lexikonstruktur‹, in der unser Wissen ›über die Welt‹ enthalten ist, so dass diesem konzeptuellen Lexikon auch eine weltkonstituierende Rolle zukommt.23 Dies verdeutlicht noch einmal, inwiefern konkurrierende Paradigmen inkommensurabel, das heißt nicht ineinander übersetzbar oder aufeinander rückführbar sind und wieso der For27scher nach einem Paradigmenwechsel in einer ›anderen Welt‹ lebt. Denn eine Übersetzbarkeit im strengen Sinne erfordert, dass für jeden Begriff der Quellsprache ohne intensionale oder extensionale Bedeutungsverschiebung ein Begriff in der Zielsprache gefunden werden kann. Rivalisierende Paradigmen besitzen aber unterschiedliche Lexikonstrukturen, weshalb für einen Vergleich genuin hermeneutische Erkenntnisleistungen24 erforderlich sind, da die Bedeutung eines einzelnen Begriffs erst durch das Erfassen der (lexikalischen) Gesamtstruktur erkannt werden kann und vice versa. Inkommensurabilität meint damit also auch nicht Unvergleichbarkeit per se, sondern lediglich die Unmöglichkeit eines Vergleichs unter formallogischen Gesichtspunkten. In diesem letzteren Sinne wird eine Wahl zwischen konkurrierenden Paradigmen zu einer politischen Entscheidung, deren höchste Norm »die Billigung durch die jeweilige Gemeinschaft«25 ist.
Unabhängig davon, ob sich diese Konzeption bezüglich ihrer Theorie des Wechsels von normaler und revolutionärer Wissenschaft für die Naturwissenschaften tatsächlich erhärten lässt, haben die zahlreichen Versuche, sie auf die Sozial- und Kulturwissenschaften zu übertragen, nach meiner Einschätzung zu einem erstaunlichen Ergebnis geführt.26 Zunächst einmal fällt auf, dass es in diesen Wissenschaften keine geschlossenen Scientific Communities mit rigider Sozialstruktur im Sinne Kuhns, sondern konkurrierende Schulen gibt, deren Gegenstände nicht als eindeutig lösbare ›Rätsel‹ aufgefasst werden können, weshalb es in der Regel auch kaum eindeutige Modelllösungen gibt. Vor allem aber sind die sozialwissenschaftlichen Forschergemeinschaften nicht autonom gegenüber der Gesamtgesellschaft, von der in der Regel die Wahrnehmung von (mit den vertrauten Methoden nicht zu bearbeitenden) Anomalien ausgeht und deren Veränderungen vor allem den Forschungsgegenstand der Ersteren verändern. Die Forschergemeinschaft und die untersuchte Gemeinschaft stehen in den Sozialwissenschaften in einem doppelt-reflexiven Wechselverhältnis: Nicht nur verän28dern gesellschaftliche Wandlungen den Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften und haben maßgeblichen Einfluss auf deren Lexikonstruktur, sondern Erkenntnisse und Begriffsneudefinitionen der Letzteren haben mitunter auch Rückwirkungen auf Erstere. Sozialwissenschaftliche Theoriebildung und soziale Praxis stehen somit in einem unauflöslichen Wechselbezug, in dem Theorien selbst konstitutiver Bestandteil der kulturellen Wirklichkeit sind, und es ist dieser Aspekt, der uns im Folgenden beschäftigen soll. Denn während es wenig Sinn hat, sozialwissenschaftliche Forschergemeinschaften als solche als autonome, paradigmengeleitete Gemeinschaften im strengen Kuhnschen Verstande zu betrachten, gewinnt Kuhns Entwurf dann wieder entscheidende Relevanz und Erklärungskraft, wenn die soziale oder kulturelle Gemeinschaft selbst als paradigmengeleitet und die soziale Wirklichkeit als paradigmenkonstituiert verstanden wird. Er kann dann entscheidend dazu beitragen, die ›Priorität des Paradigmas‹ im Hinblick auf die soziale Wirklichkeit von Kulturen und Lebensformen zu verstehen und damit die ›ontologische Dimension‹ von Verstehenshorizonten auszuloten.
Die Idee, dass nicht nur die Entwicklung wissenschaftlicher, sondern auch diejenige sozialer, kultureller oder politischer Gemeinschaften mit Hilfe des Paradigmenkonzeptes zu untersuchen sein könnte, wird von Kuhn selbst nahegelegt, wenn er nicht nur den Revolutions- und Krisenbegriff in expliziter Analogie zu politischen Umwälzungen bestimmt, sondern (wiederum in Anlehnung an Wittgenstein) den Paradigmenwechsel auch als Übergang zwischen unvereinbaren Lebensweisen der Gemeinschaft27 beschreibt und darüber hinaus hinzufügt, dass seine Theorie der Entwicklung von Gemeinschaften keineswegs neu sei, sondern in anderen Bereichen – etwa der politischen Geschichtsschreibung – längst Anwendung finde.28 Sein Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen schließt
29mit der Unterstreichung der Notwendigkeit ähnlicher, vor allem vergleichender Studien der entsprechenden Gemeinschaften auf anderen Gebieten. Wie wählt man, und wie wird man zum Mitglied einer bestimmten wissenschaftlichen oder nichtwissenschaftlichen Gemeinschaft gewählt? Worin bestehen der Prozeß und die Stadien der Sozialisation in der Gruppe? Was sieht die Gruppe kollektiv als ihre Ziele an? Und wie wird sie mit unzulässigen Abweichungen fertig?29
In der Tat scheint es schon auf den ersten Blick in politischen und kulturellen Gemeinschaften alle diejenigen Elemente zu geben, die fehlen, wenn man die Entwicklung der Sozialwissenschaften isoliert betrachtet: Es gibt kürzere Phasen revolutionärer Umwälzungen und längere Phasen regelgeleiteter, stetiger gesellschaftlicher Entwicklung; es gibt eine mehr oder weniger rigide Sozialstruktur und wertevermittelnde, konsensschaffende Sozialisationsprozesse, und es gibt institutionalisierte Entscheidungsmechanismen, welche gesellschaftliche Konflikte (heute etwa Verteilungskonflikte) auf eine Weise lösen, die an Kuhns ›rätsellösende Tätigkeit‹ erinnert. Mehr noch, Krisen des sozialen und politischen Systems werden durch Entwicklungen ausgelöst, die, wie Kuhn selbst explizit festhält, dem Auftreten wissenschaftlicher Anomalien vergleichbar sind:30
Politische Revolutionen werden durch ein wachsendes […] Gefühl eingeleitet, daß die existierenden Institutionen aufgehört haben, den Problemen, die eine teilweise von ihnen selbst geschaffene Umwelt stellt, gerecht zu werden. Ganz ähnlich werden die wissenschaftlichen Revolutionen durch ein wachsendes Gefühl […] eingeleitet, daß ein existierendes Paradigma aufgehört hat, bei der Erforschung eines Aspektes der Natur, zu welchem das Paradigma selbst den Weg gewiesen hatte, in adäquater Weise zu funktionieren.
Wenngleich es in der Diskussion um Kuhn nur einige wenige und begrenzte Versuche gegeben hat, das Paradigmenkonzept auf solche Weise auf die Gesellschaft als Ganzes, das heißt auf die kulturelle, soziale und politische Realanalyse hin, auszudehnen,31 blieben die 30Möglichkeiten, die sich daraus für die Erforschung der Entwicklung kultureller Gemeinschaften und der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ergeben, bisher weitestgehend ungenutzt.32
31Wahrnehmungsweise33