Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.

»Memoiren, gefunden in der Badewanne« ist alles vorausgeplant und vorausbestimmt, aber das Endergebnis ist ungefähr dasselbe, denn möglicherweise funktioniert die ganze hypertrophierte Staatsmaschinerie schon längst nach Zufallsprinzipien, wie das ganze Universum. Chaos und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit, Sinn und Unsinn fallen zusammen und sind prinzipiell unterscheidbar.

Das »Gebäude«, eine Spionagezentrale, ist »unbesiegbar«; im Verlaufe seiner Entwicklung ständig gewachsen, steht es im unaufhörlichen Kampf mit einem Antigebäude, einer gegnerischen Spionagezentrale, die es durchdrungen hat und von der es ebenso durchdrungen worden ist; aber ob es gegnerische Organisationen und jenes andere »Gebäude« gibt oder je gegeben hat, weiß niemand. Möglicherweise ist es nur eine Konstruktion, ein projiziertes Feindbild, wie jener Staatsfeind Goldstein in George Orwells »1984«.

Stanisław Lem

Memoiren, gefunden in der Badewanne

Mit einer Einleitung des Autors

Phantastische Bibliothek

Suhrkamp

Titel der polnischen Originalausgabe:

Pamiętnik znaleziony w wannie. Kraków: Wydawnictwo Literackie 1961

Aus dem Polnischen von Walter Tiel

Autorisierte Übersetzung

Einleitung aus dem Polnischen von Klaus Staemmler

Autorisierte Übersetzung

Umschlagfoto: Jerry Bauer

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© 1961 by Stanisław Lem

Alle Rechte an der deutschen Ausgabe Insel Verlag, Frankfurt am Main 1974

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74327-0

www.suhrkamp.de

Einleitung

Die Aufzeichnungen eines Menschen des Neogen sind eines der wertvollsten Relikte aus der weit zurückliegenden Vergangenheit der Erde. Sie stammen aus der letzten Phase der prächaotischen Kultur, die dem Großen Zerfall vorausging. Es ist ein ironisches Paradoxon der Geschichte, daß wir von den Zivilisationen des frühen Neogen, von den Urkulturen Assyriens, Ägyptens und Griechenlands mehr wissen als von den Zeiten der Uratomistik und der ursprünglichen Astrogation. Die archaischen Kulturen hinterließen allerdings dauerhafte Zeugnisse aus Knochen, Stein, Schiefer und Bronze, während im mittleren und späten Neogen zur Aufzeichnung allen Wissens das sogenannte Papyr diente.

Dieses Zellulosederivat, eine zarte, fast weiße Substanz, walzte man aus und schnitt sie zu rechteckigen Bögen, auf die mit dunkler Farbe alle Arten von Information gepreßt wurden, worauf man sie falzte und auf besondere Weise zusammennähte.

Um zu begreifen, wie es zu dem Großen Zerfall kam, zu jener Katastrophe, die im Laufe weniger Wochen die Errungenschaften von Jahrhunderten vernichtete, muß man sich um dreitausend Jahre zurückversetzen. Damals gab es weder die Metamnestik noch die Technik der Informations-Kristallisierung. Alle Funktionen der Mnemoren und Gnostronen von heute erfüllt das Papyr. Es gab zwar schon die Anfänge eines mechanischen Gedächtnisses, doch handelte es sich um riesengroße und schwer zu bedienende Maschinen, die im übrigen zu speziellen, eng begrenzten Zwecken verwendet wurden. Man nannte sie »elektrische Gehirne«. Das ist eine nur aus der historischen Distanz heraus verständliche Übertreibung, ebenso wie die Behauptung der Baumeister Vorderasiens, der Turm des Tempels Baa-Bel reiche bis in den Himmel. Wir wissen nicht genau, wann und wo die Epidemie der Papyrolyse ausbrach. Wahrscheinlich erfolgte das in den südlichen, wüstenhaften Regionen des damaligen Staates Ammer-Ku, wo die ersten kosmischen Landestellen erbaut wurden. Die Zeitgenossen begriffen die ihnen drohende Gefahr zunächst nicht. Es fällt uns schwer, das von vielen späteren Historikern ausgesprochene strenge Urteil über ihre Leichtfertigkeit zu teilen. Das Papyr zeichnete sich in der Tat nicht durch besondere Haltbarkeit aus, doch kann man die prächaotische Kultur nicht dafür verantwortlich machen, daß sie die Existenz des Katafaktors RV, auch bekannt als Hartius-Faktor, nicht voraussah. Die wirkliche Natur dieses Faktors entdeckte schließlich erst der Prodoktor Folses VI. in der galaktischen Epoche, als er festgestellt hatte, daß dessen Wiege der dritte Uranusmond war. Von einer der frühorbitalen Entdeckungsexpeditionen (nach dem Prognostor Phaa-Waak war es die achte malaldische Expedition) versehentlich auf die Erde verschleppt, rief der Hartius-Faktor einen lawinenartig fortschreitenden Zerfall des Papyrs auf dem ganzen Globus hervor. Die Einzelheiten der Katastrophe kennen wir nicht. Nach mündlichen, erst im vierten Galaktium kristallisierten Überlieferungen waren große Sammelstellen wissensträchtiger Papyre, sogenannte Bao-Blyo-Theken, die Zentren der Epidemie. Die Reaktion erfolgte fast momentan. Aus den unschätzbaren Lagerstätten des kollektiven Gedächtnisses wurden Haufen grauen Staubs, leicht wie Asche. Die prächaotischen Wissenschaftler meinten, sie hätten es mit einem das Papyr befallenden Infekt zu tun, und verloren viel Zeit mit vergeblichem Suchen. Man kann die Richtigkeit einer bitteren Bemerkung des vierten Tauridischen Histognostors schwerlich bestreiten, wonach ihre Verdienste um die Menschheit größer gewesen wären, wenn sie ihre Zeit benutzt hätten, die zerfallenden Texte in Stein zu meißeln.

Das späte Neogen, die Zeit der Katastrophe, kannte weder die Gravitronik noch die Kyberkonomik oder die Synthephysik. Die Wirtschaft der einzelnen ethnischen Gruppen, Nationen genannt, trug relativ autonomen Charakter. Sie war absolut vom Papyrumlauf abhängig. Das betraf auch die Kontinuität der Lieferungen zum Mars, wo sich Tiberis Syrtica im ersten Baustadium befand. Die Papyrolyse ruinierte nicht nur das wirtschaftliche Leben. Man nennt diese Zeiten mit gutem Grund die Epoche der Papyrokratie. Das Papyr regelte und koordinierte alle kollektiven Tätigkeiten der Menschen und bestimmte darüber hinaus auf eine für uns schwer verständliche Weise (als sogenanntes »Personalpapyr«) das Schicksal der einzelnen. Im übrigen sind die Nutzungs- und Ritualbedeutungen des Papyrs im damaligen Folklore (die Katastrophe fiel in die Blütezeit der Kultur des prächaotischen Neogen) bislang nicht vollständig katalogisiert worden. Wir kennen die Bedeutung bestimmter Arten, von anderen sind nur leere Namen auf uns gekommen (Pa-Klate, Kasa-Zette, Baun-Knoote, Doku-Mente u. a.). In jener Zeit konnte man ohne Vermittlung des Papyrs weder geboren werden noch aufwachsen, sich bilden, arbeiten, reisen oder den Lebensunterhalt erwerben. In diesem Licht betrachtet, wird das Ausmaß der Katastrophe klar, die über die Erde kam. Alle Gegenmittel wie Quarantäne, Isolierung ganzer Städte und Kontinente oder der Bau hermetisch verschlossener Schutzräume enttäuschten. Die Wissenschaft der Zeit war ratlos angesichts der subatomaren Struktur des Katafaktors, der im Verlauf der anabiotischen Evolution entstanden war. Zum ersten Mal in der Geschichte drohte den sozialen Bindungen vollständiger Zerfall. Ein anonymer Sänger der Katastrophe hat es in die Wand eines Badezimmers der Ausgrabungsstätte von Fri-Sco (eine der besterhaltenen Städte des südlichen Ammer-Ku) geritzt: »Wolken zerfallenen Papyrs verdunkelten den Himmel, dann fiel vierzig Tage und Nächte lang ein schmutziger Regen, und so spülten Wind und Schlammfluten die Geschichte der Menschheit von der Erde hinweg.«

In der Tat, es war ein furchtbarer Schlag für den Stolz der Menschen des späten Neogen, die bereits nach den Sternen zu greifen glaubten. Der Alptraum der Papyrolyse verschlang alle Lebensgebiete. In den Städten brach Panik aus, die ihrer Individualität beraubten Leute verloren den Verstand, die Warenzustellung brach zusammen, es kam zu Gewaltakten; Technik, Wissenschaft und Schulwesen zerfielen und gingen zugrunde. Wenn die energetischen Zentralen stillstanden, konnte man sie nicht reparieren, weil die Pläne fehlten. Das elektrische Licht erlosch, und die Flammen großer Brände erhellten die entstandene Finsternis.

So trat das Neogen in die chaotischen Zeiten ein. Die sollten über zweihundert Jahre dauern. Aus dem ersten Vierteljahrhundert des Großen Zerfalls gibt es keine geschriebenen Chroniken – verständlicherweise. Wir können also nur ahnen, unter welchen Bedingungen die Regierung der ein halbes Jahrhundert zuvor entstandenen Weltföderation dem Zerfall der Gesellschaft vorzubeugen trachtete. Je höher eine Zivilisation steht, desto lebenswichtiger wird es für sie, den Informationskreislauf aufrechtzuerhalten, desto empfindlicher reagiert sie auf jede Störung desselben.

Dieser soziale Blutaustausch hörte auf. Die einzige Schatzkammer des Wissens war nunmehr das Gedächtnis der Fachleute, dieses hätte man vor allem fixieren müssen. Das anscheinend einfache Problem erwies sich als unlösbar. Das Wissen des späten Neogen war so aufgegliedert, daß kein Spezialist sein Gesamtgebiet beherrschte. Zur Wiederherstellung war also eine langwierige und mühselige Zusammenarbeit von Spezialistengruppen erforderlich. Hätte man sie sofort in Angriff genommen, so behauptet Laa Bar, der achte Polygnostor der Bermandischen Historischen Schule, wäre die Zivilisation des Neogen schnell rekonstruiert worden. Man muß dem hervorragenden Schöpfer einer chronologischen Systematik des Neogen antworten, das von ihm postulierte Vorgehen hätte vielleicht zu einer Ansammlung von Wissensbergen geführt, nur hätte, nachdem die Aufgabe erfüllt war, niemand sie nutzen können. Die Nomadenhorden, die die Ruinen der zerstörten Städte verließen, wären dazu nicht imstande gewesen, und ihre verwilderten Kinder kannten die Kunst des Lesens und Schreibens nicht mehr. Man mußte die Zivilisation in dem Augenblick retten, als die Industrie sich auflöste, die Bautätigkeit aufhörte, das Transportwesen stillstand, als die hungernden Massen auf den verschiedenen Kontinenten und die ohne Nachschub bleibenden, in ihrer Existenz bedrohten Kolonien auf dem Mars um Hilfe riefen. Die Spezialisten konnten die Menschheit nicht ihrem Schicksal überlassen, um in der Zurückgezogenheit neue Aufzeichnungstechniken zu schaffen.

Man unternahm verzweifelte Anstrengungen. Die Gesamtproduktion bestimmter Zweige der Unterhaltungsindustrie, z. B. die sogenannten Filme, wurden für das vorübergehende Notieren der eingehenden Informationen über die Bewegung der Raumschiffe und Raketen verwendet, denn die Katastrophen häuften sich. Die aus dem Gedächtnis rekonstruierten Pläne der energetischen Netze wurden in Textilien abgedruckt. Alle zum Beschreiben verwendbaren Kunststoffe wurden an die Schulen verteilt. Gelehrte Physiker beaufsichtigten die Atommeiler, die zu explodieren drohten. Fachkundige Rettungsmannschaften hetzten von einem Punkt des Globus zum andern. Doch das waren alles nur Bröckchen von Ordnung, Atome von Organisation, die im Ozean des sich ausbreitenden Chaos untergingen. Man darf die von unablässigen Erschütterungen geplagte, in ständigem Kampf gegen die Überschwemmung durch Analphabetismus, Ignoranz und Retardierung stehende chaotische Kultur nicht danach beurteilen, was sie vom Erbe der Geschichte vergeudet, sondern danach, was sie trotz allem zu retten vermocht hat. Die erste Welle des Zerfalls aufzuhalten, forderte die meisten Opfer. Man rettete die irdischen Brückenköpfe auf dem Mars und rekonstruierte die Technologie, dieses Rückgrat der Zivilisation. Bandotheken und Mikrophone ersetzten die Lagerstätten des vernichteten Papyrs. Auf anderen Gebieten waren die Verluste leider entsetzlich. Da die Produktion neuer Aufzeichnungsmittel nicht einmal den dringendsten Bedarf deckte, gab man, um die Grundlagen der Zivilisation zu retten, alles preis, was ihnen nicht unmittelbar zugute kam. Die schwersten Einbußen erlitten die Geisteswissenschaften. Man überlieferte das Wissen mündlich, in Form von Vorträgen, und die Zuhörer wurden später zu Erziehern der nächsten Generation. Dies war eine der verblüffenden Primitivitäten der chaotischen Kultur; sie bewirkten, daß die Erde aus der Katastrophe wieder auftauchte, allerdings unter nicht wiedergutzumachenden Verlusten im Bereich der Geschichte, der Geschichtsschreibung, der Paläologie und Paläoästhetik. Gerettet wurde nur ein geringer Bruchteil des literarischen Erbes. In Staub verwandelt waren Millionen Bände historischer Chroniken, die unbezahlbaren Relikte des mittleren und späten Neogen.

Gegen Ende des chaotischen Abschnitts kam es schließlich zu einem höchst paradoxen Zustand, als die Menschheit bei relativ gut entwickelter Technik und angesichts der Anfänge der Gravitronik und der Technobiotik, trotz großer Erfolge im cisgalaktischen Massentransport von der eigenen Vergangenheit nichts oder fast nichts wußte. Was vom ungeheuren Kulturgut des Neogen bis in unsere Tage überdauert hat, sind nur verstreute Überreste, bis zur Unverständlichkeit verstümmelte Tatsachenberichte, die durch vielfache Weitergabe in mündlicher Tradierung verunstaltet wurden. Eine derartige Geschichte mit einer bis heute auch für die wichtigsten Ereignisse unsicheren Chronologie, voll von Lücken und weißen Flecken auf den Erkenntniskristallen, ist unser Erbe geworden. Man kann nur mit dem Subgnostor Nappro Leise sagen, daß die Papyrolyse sich in ihren Folgen als Historiolyse erwiesen hat. Erst vor diesem Hintergrund wird in seinen wahren Proportionen das Werk des Prognostors Wid-Wiß erkennbar, der in einsamer Arbeit und im Widerspruch zur offiziellen Historiographie die Aufzeichnungen eines Menschen des Neogen entdeckte. Über den Abgrund der Jahrhunderte hinweg spricht zu uns die Stimme eines der letzten Einwohner des verschollenen Staates Ammer-Ku. Dieses Zeugnis ist von um so größerem Gewicht, als es nichts Gleichartiges gibt, denn es läßt sich nicht mit den Papyrfunden vergleichen, die von der archäologischen Expedition des Paläognostors Mnemonita Bradrah Syrticus aus den Mergeltonschichten des unteren Präneogen hervorgeholt worden sind. Sie beziehen sich auf die Glaubensvorstellungen, die in Ammer-Ku zur Zeit der VIII. Dynastie herrschten. Es ist dort die Rede von allerlei Gefahren wie der Schwarzen, der Roten oder der Gelben. Wahrscheinlich handelt es sich um Beschwörungen der damaligen Kabbalistik in Zusammenhang mit der rätselhaften Gottheit Ras-Sa, der angeblich Menschenopfer dargebracht wurden. Doch diese Interpretation ist strittig zwischen der Transadenischen Schule, der Großsyrtischen Schule und den Schülern des bedeutenden God-Waad. Der überwiegende Teil der Geschichte des Neogen wird – so muß man befürchten – für immer geheimnisvoll bleiben, denn nicht einmal die Methode der Chronotraktion vermag uns wesentliche Einzelheiten über das gesellschaftliche Leben zu liefern. Für die Darstellung des teilweise rekonstruierten Geschichtsfragments ist in dieser Einleitung kein Platz. Wir beschränken uns auf eine Handvoll Bemerkungen, die in das Wesen der Aufzeichnungen einführen. Die Entwicklung der antiken Glaubensvorstellungen verlief zweigliedrig. Im ersten Abschnitt (Archäocredon) gab es verschiedene Religionen, die auf der Anerkennung eines übernatürlichen, nicht materiellen, alles Existierende verursachenden Elements beruhten. Aus dem Archäocredon sind als fortdauernde Denkmäler die Pyramiden (frühes Neogen) und einige mesogene Ausgrabungsfunde (die spitzbogigen Tempel Lafranziens) übriggeblieben. Im zweiten Abschnitt, dem Neocredon, nahm der Glaube einen anderen Charakter an. Das metaphysische Element verkörperte sich gewissermaßen in der materiellen, irdischen Welt. Damals herrschte der besonders wichtige Kult der Gottheit Kap-Eh-Thaal (oder Kappi-Thaa in der Transskription der Notizen auf dem Palimpsest von Cremona). Diese Gottheit wurde auf dem gesamten Gebiet von Ammer-Ku verehrt, darüber hinaus umfaßte der Kult Australoindien und einen Teil der europäischen Halbinsel. Ein Zusammenhang der auf dem Gebiet von Ammer-Ku gefundenen Elefanten- und Esel-Nachbildungen mit dem Kap-Eh-Thaal-Kult scheint fraglich. Der Name Kap-Eh-Thaal selbst durfte nicht ausgesprochen werden (ein Verbot ähnlich denen in Is-Rael), in Ammer-Ku nannte man die Gottheit hauptsächlich Thoo-Llar. Sie hatte übrigens noch viele andere liturgische Namen, mit deren jeweiliger Wertung sich besondere Orden beschäftigten (z. B. die Makk-Ler). Die Marktschwankungen des Werts einzelner Namen (oder auch Eigenschaften?) der Gottheit Kap-Eh-Thaal sind bis heute ein Rätsel geblieben. Die Schwierigkeit, den Sinn dieser letzten prächaotischen Religion zu verstehen, beruht darauf, daß man Kap-Eh-Thaal ein übernatürliches Dasein absprach, es war also kein Geist, man hielt es auch nicht für ein lebendiges Wesen (das hätte totemistische Züge dieses Kults bezeugt, was in einer Ära weit entwickelter Naturwissenschaften ungewöhnlich ist) und identifizierte es, mindestens im praktischen Tun, mit den beweglichen und unbeweglichen materiellen Gütern. Dennoch ist nachgewiesen, daß man ihm Opfer von der Zuckerrohr-, Kaffee- und Getreideernte darbrachte, und zwar in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs, als wollte man die grausame Gottheit um Verzeihung bitten. Den oben erwähnten Widerspruch vertieft noch die Tatsache, daß es im Kap-Eh-Thaal-Kult Elemente der Offenbarung gab; dementsprechend basierte die Welt auf dem sogenannten Vat-Eigentum. Versuche, dieses Dogma anzutasten, wurden streng bestraft.

Bekanntlich gingen der Epoche der globalen Kyberkonomik gegen Ende des Neogen die Ursprünge der Soziostase voraus; je mehr irdische Territorien der in komplizierten korporativen Ritualen und Zeremonien organisierte Kap-Eh-Thaal-Kult mit der Zeit an die der weltlichen soziostatischen Wirtschaft verlor, desto mehr verschärfte sich der Konflikt zwischen dem Herrschaftsbereich dieses überlebten Glaubens und der übrigen Welt. Zentrum des fanatischsten Glaubens blieb bis zum Schluß, d. h. bis zur Entstehung der Weltföderation, der Staat Ammer-Ku, der von aufeinander folgenden Präsiniden-Dynastien regiert wurde. Sie waren keine Priester des Kap-Eh-Thaal im genauen Wortsinn. Die Präsiniden (oder Press-Denn-Thiden nach dem Wortgebrauch der Tharrischen Schule) erbauten zur Zeit der XIX. Dynastie das Pentagon. Was war dieser erste einer Reihe steinerner Giganten des ausgehenden Neogen? Die Prähistoriker der Aquilinischen Schule hielten sie analog zu den Pyramiden zunächst für die Grabmäler der Präsiniden. Diese Hypothese entfiel jedoch im Licht späterer Entdeckungen. Auch entfielen die Annahmen, es habe sich um Kap-Eh-Thaal-Tempel gehandelt, in denen die Kreuzzüge gegen die Ungläubigen und die Strategien für deren erfolgreiche Bekehrung geplant wurden.

Wegen des Fehlens grundlegender Fakten, die es erlaubt hätten, dieses unzweifelhafte Schlüsselproblem zum Verständnis der letzten Phase, der Regierung der XXIV. und XXV. Dynastie, zu entscheiden, wandten sich die Historiker um Hilfe an das Institut für Temporistik. Angesichts der Bereitwilligkeit des Instituts war es möglich, die neuesten technischen Erfindungen aus dem Bereich der Chronotraktion für die Klärung des Rätsels der Pentagone zu nutzen. Das Institut nahm zweihundertneunzig Sondierungen in die Tiefe der Vergangenheit vor und verbrauchte 17 Trillionen Erg von der in den satellitären Zeitraffern des Mondes gespeicherten Arbeit. Wie die Theorie der Chronotraktion besagt, kann man sich nur fern von den großen Materiemassen in der Zeit zurückbewegen, da die Annäherung an solche ungeheure Energiemengen verschlingt. Deshalb wurden die Vergangenheitsbeobachtungen von hoch in der Stratosphäre angeordneten Sonden durchgeführt. Ihr unverhofftes Erscheinen am Himmel und ihr ebenso unverhofftes Verschwinden muß für die Menschen des Neogen kein geringes Rätsel gewesen sein. Wie der Prodoktor Sturlprans II. behauptet, hat die Mündung einer retrochronalen Sonde in der Vergangenheit ähnlich ausgesehen wie ein gewölbter Diskus, der an zwei zusammengelegte, sich frei im Raum bewegende Teller erinnert.

Die rückwärts orientierten Chronosonden erbrachten reichhaltiges Material, u. a. erhielten wir mit ihrer Hilfe authentische Photographien des Ersten Pentagons während seiner Erbauung. Dieses Gebäude in Form eines regulären Fünfecks mit einer Seitenlänge von 460 inf war ein wahres Labyrinth aus Stein und Beton. Die Länge seiner Korridore berechnet der Histognostor Ser Een auf 17 bis 18 damalige Meilen. Die Eingänge zu dem Gebäude wurden Tag und Nacht von zweihundert niederen Priestern bewacht. Chroniken, die in den Ruinen von Was-En-Ton ausgegraben wurden, gestatteten – nach weiteren Zeitbohrungen – die Entdeckung eines Zweiten Pentagons, weniger ansehnlich als das erste, da ein bedeutender Teil davon in die Erde eingelassen war. Bestimmte Stellen der bereits erwähnten Chroniken weisen auf die Existenz eines Dritten Pentagons hin, ein angeblich vollständig unabhängiges Objekt, gewissermaßen ein Staat im Staate mit spezieller Tarnung und riesigen Vorräten an Lebensmitteln, Wasser und Sauerstoff. Als jedoch systematische chronaxiale Sondierungen über dem Gesamtterritorium Ammer-Kus im 20. Jahrhundert keine Spur dieses Gebäudes fanden, neigte die Mehrheit der Historiker zu der These, in den ausgegrabenen Chroniken sei von einem Dritten Pentagon nur in übertragenem Sinn die Rede, dieses Gebäude sei – als Werk des Glaubens, der Imagination – in den Köpfen der Bekenner errichtet worden und die Verbreitung von Gerüchten über seine Existenz hätte zur Stärkung der Herzen bei der schwindenden Zahl der Kap-Eh-Thaal-Gläubigen gedient.

Dies war die offizielle Version der irdischen Historiographie, als der damals noch junge Prognostor Wid-Wiß seine archäologische Tätigkeit aufnahm.

Nachdem er aufgrund einer eigenen Methode alle zugänglichen Materialien studiert hatte, veröffentlichte er eine Arbeit, in der er behauptete, die Präsiniden hätten, als ihre Macht schwand und ihr Territorium schrumpfte, den Bau eines neuen Machtzentrums fern von den Wohnsitzen der Menschen, in einer abgelegenen Berggegend Ammer-Kus begonnen, und zwar tief unter den Felsen, um diese letzte Zuflucht der Gottheit für die Nichteingeweihten unzugänglich zu machen. Wid-Wiß war der Ansicht, das hypothetische Pentagon der Letzten Dynastie sei eine Art von kollektivem Kriegshirn gewesen; es habe die Aufgabe gehabt, sowohl über den reinen Glauben an Kap-Eh-Thaal zu wachen als auch jene Nationen zu bekehren, die diesen Glauben verlassen haben.

Wid-Wiß’ Hypothese wurde in Fachkreisen kühl aufgenommen, weil sie der Mehrzahl der bekannten Tatsachen widersprach. Besonders Kritiker wie die Supergnostoren Yoo Na Waka, Quirlsto und Pisuovo von der Marsianischen Schule für vergleichende Paläographie zeigten innere Widersprüche in dem von Wid-Wiß postulierten chronologischen System der Ereignisse auf. Entscheidend ist, daß nach Wid-Wiß’ Analyse das Letzte Pentagon nur wenige Jahrzehnte vor der Papyrkatastrophe erbaut wurde. Falls, hob die Kritik hervor, ein Drittes Pentagon wirklich existierte, hätten die dort versteckten Präsiniden sich ohne Zweifel bemüht, die anarchischen Zustände, die nach der Katastrophe herrschten, zu nutzen; sie hätten ganz zu Beginn der chaotischen Zeiten nach der Macht über die Erde gegriffen. Auch wenn dieser Anschlag auf die Herrschaft der Föderation unterdrückt worden wäre, hätte sich doch eine Spur in den mündlichen Überlieferungen erhalten. Doch habe die Historiographie nichts dergleichen notiert.

Wid-Wiß verteidigte seine These mit der Behauptung, als die Bevölkerung des Staates Ammer-Ku auf die Seite der »Ungläubigen« übergegangen sei und sich mit der Föderation vereint habe, hätten die Beherrscher des Letzten Pentagons seine vollständige Abschließung befohlen. Der unterirdische Moloch, der sich so von der gesamten Menschheit abtrennte, habe bis zur Papyrkatastrophe und zur chaotischen Zeit fortgedauert, ohne irgendwelchen Kontakt mit dem zu besitzen, was auf der Erdoberfläche vor sich ging. Wid-Wiß räumte ein, eine so vollkommene, hermetische Selbst-Abriegelung der hypothetischen Gemeinschaft aus Priestern und Kriegsdienern des Kap-Eh-Thaal von der Außenwelt wirke unwahrscheinlich. Er ging bis zu der Behauptung, das Letzte Pentagon habe Methoden gekannt, um zu beobachten, was auf der Erde vor sich ging, doch sei das kollektive Kriegshirn der Letzten Dynastie weder zu Invasionshandlungen noch zu Sabotageakten imstande gewesen. Es habe keinen Angriff oder Anschlag auf die Föderation unternehmen können, weil es sich, einmal unter den Felsen vergraben und von der weiteren Entwicklung der Geschichte abgeschnitten, nicht nur durch Mauern, sondern auch durch das System seiner inneren Verhältnisse eingekapselt habe; jetzt habe es nur noch vom Mythos gelebt, von der reinen Legende über die einstige Macht Kap-Eh-Thaals, es habe die Häresie in sich selbst erforscht, kontrolliert und bekämpft.

Diese letzten Thesen von Wid-Wiß überging die Historiographie mit Stillschweigen. Doch der Forscher gab sich nicht geschlagen. Siebenundzwanzig Jahre lang unternahm er mit einer Handvoll treuer Anhänger systematische Suchaktionen entlang der gesamten Kette des Felsen-Gebirges. Seine Hartnäckigkeit triumphierte schließlich, als man ihn fast vergessen hatte. Am 28. Maa 3146 der galaktischen Epoche stand die Spitzengruppe der Archäologen, nachdem sie viele Hundert Tonnen Felsgeröll zu Füßen des Haar-Vurda-Berges weggeräumt hatte, vor einem durch Tarnfarben maskierten, vorzüglich erhaltenen, gewölbten Metallschild, dem Eingang zum Letzten Pentagon. Die Erforschung des unterirdischen Gebäudes erwies sich als ein Unternehmen, das ungewöhnliche Kräfte und Mittel benötigte, denn zweiundsiebzig Jahre nach seiner Abschließung von der Welt war das Pentagon der Letzten Dynastie von einer Naturkatastrophe heimgesucht worden. Infolge einer unbedeutenden Verschiebung im Granitkern des Hauptbergmassivs platzte die Bodenschicht, und es entstand eine unmittelbare Verbindung mit dem tiefer liegenden Magma. Die in die Felsen eingefügte Schutzschale aus Beton hielt dem Druck nicht stand. Flüssige Lava drang in das Gebäude und füllte es von unten bis oben; so verwandelte sich der Ameisenhaufen jener unterirdischen, rätselhaften Tätigkeit der letzten Präsiniden in eine tote Versteinerung, die tausendsechshundertachtzig Jahre lang auf ihren Entdecker wartete.

Es ist nicht unsere Sache, den unendlichen Reichtum der Ausgrabungen im Dritten Pentagon darzustellen. Wir verweisen den Leser auf diesbezügliche Spezialarbeiten. Anzufügen sind nur noch einige Bemerkungen zur Einführung in die Lektüre der Aufzeichnungen.

Entdeckt wurden sie im dritten Ausgrabungsjahr auf einem Stockwerk vierten Ranges, im System der inneren Korridore, wo sich die Baderäume befinden. In einem davon, der wie alle anderen mit versteinerter Lava angefüllt war, fand man Teile zweier menschlicher Skelette und unter ihnen ein Papyrkonvolut, das Original der Aufzeichnungen.

Wie sich der Leser überzeugen wird, erwiesen sich die kühnen Vermutungen des Histognostors Wid-Wiß ganz überwiegend als richtig. Die Aufzeichnungen stellen das Schicksal einer unter der Erde eingeschlossenen Gemeinschaft dar, die, ohne das Wissen um die wirklichen Vorgänge an sich heranzulassen, so tat, als ob sie Hirn und Stab einer sich in die fernsten Galaxien erstreckenden Großmacht wäre, bis das So-tun-als-ob zum Glauben wurde und der Glaube zur Gewißheit. Der Leser wird zum Zeugen dessen, wie die fanatischen Diener des Kap-Eh-Thaal den Mythos eines sogenannten »Antigebäudes« geschaffen, wie sie das Leben durchsetzt haben mit gegenseitiger heimlicher Beobachtung, mit Untersuchungen der Rechtgläubigkeit und Hingabe an die legendäre »Mission«, selbst dann noch, als der letzte Anschein von Realität jener Mission sich bereits aus ihren Köpfen verflüchtigt hatte, so daß ihnen allein das immer tiefere Versinken in den Abgrund kollektiver Besessenheit geblieben ist. Die Geschichtswissenschaft hat das letzte Wort über die Aufzeichnungen nicht gesprochen, die man wegen des Fundorts auch Memoiren, gefunden in der Badewanne, nennt. Ferner besteht keine Einigkeit über die Entstehungszeit der einzelnen Manuskriptteile – die Hyberiadischen Gnostoren sehen die ersten elf Seiten als ein späteres Apokryph an. Für den Leser sind diese Spezialistenstreitigkeiten nicht wesentlich, und für uns ist es an der Zeit zu verstummen, damit die letzte, auf uns gekommene Überlieferung aus der neogenen Papyrepoche mit eigener Stimme sprechen kann.

Stanisław Lem

I

... das Zimmer mit der Nummer, auf die der Passierschein lautete, konnte ich nicht finden. Ich traf zuerst auf die Abteilung für Veristik, dann auf die Abteilung für Desinformation, wo mir irgendein Beamter der Hochdruck-Sektion empfahl, mich in die achte Etage zu begeben, doch dort wollte niemand auch nur mit mir sprechen. Ich irrte inmitten einer Menge von Chargen umher, jeder Korridor war voller energischer Schritte, Türknallen und lauter Absatztritte, und in diese martialischen Geräusche mischte sich mit gläserner Musik der Klang ferner Glöckchen wie von Schlitten-Janitscharen. Von Zeit zu Zeit trugen Bürodiener dampfende Teekessel hin und her, ich geriet aus Versehen in Toilettenräume, in denen sich Sekretärinnen eilig puderten und schminkten; als Liftboys verkleidete Agenten knüpften Gespräche mit mir an – einer, mit einer imitierten Invaliden-Prothese, hatte mich schon so oft von Etage zu Etage gefahren, daß er mir bereits von weitem zunickte und sogar schon aufgehört hatte, mich mit einem Apparat zu photographieren, der als Nelke in seinem Knopfloch steckte. Gegen Mittag begann er bereits, mich zu duzen und zeigte mir sein Hobby – ein unter dem Fußboden des Fahrstuhls verborgenes Magnetophon – doch bei immer schlechterer Laune hatte ich keinen Sinn dafür.

Unentwegt ging ich von Zimmer zu Zimmer und stellte Fragen, auf die man mir falsche Antworten gab, stets befand ich mich außerhalb der das Gebäude belebenden, ständigen Zirkulation des Geheimnisses, aber ich mußte doch, zum Teufel, irgendwo an irgendeiner Stelle darin eindringen – zweimal geriet ich, ohne es zu wollen, in den unterirdischen Tresor und blätterte in den obenauf liegenden Geheimakten, doch fand ich in ihnen nicht den geringsten Fingerzeig für mich. Nach einigen Stunden, bereits sehr hungrig und gereizt, denn die Mittagszeit war schon vorüber, und es war mir nicht gelungen, eine Kantine zu finden, beschloß ich, eine andere Taktik anzuwenden.

Mir fiel ein, daß die höchsten, grauhaarigen Chargen sich in der vierten Etage befanden, also fuhr ich dort hinauf, und durch eine Tür mit der Aufschrift Nur nach Voranmeldung gelangte ich in ein Untersekretariat, das augenblicklich leer war, von dort durch eine Seitentür mit der Aufschrift Klopfen in einen Saal voller trocknender Mobilmachungspläne, und hier stand ich vor einem Problem, denn zwei Türen führten weiter – die eine mit einem Täfelchen: Nur für Balanceure – die andere mit einem: Kein Durchgang. Nach einigem Nachdenken öffnete ich die zweite, und es zeigte sich, daß ich gut daran getan hatte, denn ich befand mich nun in dem Sekretariat des Oberbefehlshabers, des Kommanderals Kashenblade. Da ich durch diese Tür kam, fragte mich der diensthabende Offizier nach gar nichts, sondern führte mich ohne weiteres zum Chef.

Auch hier zitterte in der Luft ein sanftes, gläsernes Klingen. Kashenblade rührte in einem Glase Tee. Er war ein gewaltiger, kahler Greis. Sein Gesicht mit schlaffen Wangen, die wie Schürzen herabhingen, und mit faltiger Haut unterm Kinn, ruhte auf den Uniformaufschlägen mit Abzeichen von galaktischen Symbolen. Auf dem Schreibtisch vor ihm standen Telephonapparate in zwei Reihen, zu deren Seite Nachrichtenapparate, in der Mitte aber – Glasbehälter mit Etiketten der verschiedenen Exemplare, doch außer dem Spiritus konnte ich nichts weiter darin sehen. Er hatte eine Glatze voll geschwollener Adern. Er war damit beschäftigt, auf verschiedene Knöpfe zu drücken, was zur Folge hatte, daß die sich jeweils mit einem Klingelzeichen meldenden Telephonapparate verstummten. Meldeten sie sich mehrmals, so schlug er mit der Faust auf die ganze Klaviatur, so auch bei meinem Anblick. Eine Stille folgte, in der er eine Weile mit dem Teelöffel klimperte.

»Ah, Sie sind es«, bemerkte er. Seine Stimme war gewaltig.

»Zu Befehl, ich bin es«, erwiderte ich.

»Warten Sie – sagen Sie nichts – ich habe schon mein Gedächtnis«, murmelte er, mich unter seinen buschig herabhängenden Brauen anschauend. »X 27, Retranspulsion kontra stellarische Cygnis Eps, he?«

»Nein«, sagte ich.

»Nein? Ah! Na! Ba!! Mobilatrynx, BK u K – einundachtzig, Komma, Unternehmen Schlammbutt? Bi, wie Bipropoda?«

»Nein«, sagte ich und versuchte, ihm meine Vorladung unter die Augen zu schieben, doch er wies sie unwillig von sich.

»Nnnein ...?« sagte er murrend. Er sah sich in seinem Stolz gekränkt und wurde nachdenklich. Er rührte in seinem Teeglas. Ein Telephon klingelte. Er erstickte es mit der Gebärde eines Löwen.

»Ein Plastikaler?« schleuderte er mir ins Gesicht.

»Ich?« sagte ich erstaunt. »Nein, vielmehr ein – Gewöhnlicher ...« Kashenblade erstickte mit einem Hieb die seit einer Weile lärmenden Telephone und schaute mich noch einmal an.

»Unternehmen Hypergott ... Mammacyklogastrosaurus ... Enta – ma, penta – kla ...« versuchte er noch einmal, sich mit der Lücke in seiner Unfehlbarkeit nicht abfindend, und als ich keine Antwort gab, stemmte er sich mit seinen gewaltigen Händen auf die Tasten und donnerte:

»Los!!«

Es sah so aus, als werfe er mich zur Tür hinaus, aber ich war allzu entschlossen und auch allzu zivil, um ohne Widerspruch zu gehorchen. Ich blieb weiter stehen, die Hand ausgestreckt, in der ich die Vorladung hielt. Kashenblade nahm sie schließlich an, ohne hinzusehen, und scheinbar absichtslos warf er sie in den Spalt eines neben ihm stehenden Apparates, der anfing zu summen und ihm etwas zuzuflüstern. Kashenblade horchte und horchte, Wolken gingen über sein Gesicht, Blitze zuckten in seinen Pupillen. Er warf einen finsteren Blick auf mich, und begann auf Knöpfe zu drücken. Zuerst klingelten die Telephone so zahlreich, daß eine konkrete Musik entstand; er dämpfte sie und drückte weiter. Die ihn umringende Brigade der Apparate überschrie sich um die Wette mit Ziffern und Kryptonymen. Er blieb nachdenklich, zuhörend, mit zuckenden Lidern, doch sah ich nun schon, daß das Gewitter vorüberzog. Er runzelte die Augenbrauen und knurrte:

»Geben Sie Ihren Wisch her!«

»Ich habe ihn Ihnen bereits gegeben.«

»Wem?«

»Ihnen.«

»Uns?«

»Dem Herrn Kommanderal ...«

»Wann? Wo?!«

»Vor einer Sekunde, – dort haben Sie ihn hinein ...« begann ich, doch verbiß ich mir das Weitere. Der Kommanderal warf mir einen Blick zu und riß das unterste Schubfach des Apparates heraus. Es war leer. Gott weiß, wohin mein Dokument gewandert war; offenbar wollte es ihm nicht in den Kopf, daß er es unvorsichtigerweise dorthin geworfen hatte. Schon seit einiger Zeit vermutete ich, daß das Oberkommando des Kosmischen Bezirks, – offenbar allzu groß geworden, um jede der Trillionen von Angelegenheiten individuell zu steuern – zu einem System von Schicksalstätigkeiten übergegangen sei; denn, indem jede Akte zwischen Myriaden seiner Schreibtische zirkulierte, mußte sie ja schließlich auf dem landen, wofür sie bestimmt war. Eine ähnliche, zwar zeitraubende, aber unfehlbare Methode wendet der Kosmos selbst an; für eine Institution von gleicher unvergänglicher Dauer wie er, brauchte das Tempo jener Zirkulationen und Perturbationen natürlich nicht in Betracht gezogen zu werden.

Wie nun auch die Dinge lagen – die Vorladung war verschwunden. Kashenblade stieß das Schubfach heftig zu und schaute mich eine Weile blinzelnd an. Ich stand bewegungslos da, mit herabhängenden Händen, mit dem unangenehmen Gefühl ihrer Leere. Er blinzelte mich immer zudringlicher an; da blinzelte ich zurück – und das schien ihn etwas zu beruhigen.

»Nnna ...« murrte er und begann, auf einige Knöpfe zu drücken. In den Apparaten brauste es auf. Verschiedenfarbige Bänder begannen aus ihnen auf den Schreibtisch hervorzukriechen. Er trennte Stücke davon ab, las sie, und manchmal warf er sie, ohne hinzusehen in andere Apparate, die Kopien anfertigten, und die Originale gingen automatisch in den Papierkorb. Schließlich kroch aus einem der Apparate eine weiße Folie mit der Überschrift: ZUM INSTRUKTORAT B66PAPRALÖBL in so großen Buchstaben, daß ich es über den Schreibtisch hinweg lesen konnte.

»Sie werden – beordert – in spezieller Mission«, skandierte der Kommanderal, »Tiefe Penetration, es handelt sich um eine umstürzlerische Tätigkeit; waren Sie schon dort?«

»Wo?«

»Dort.«

Er hob den Kopf und blinzelte mehrmals mit den Lidern. Ich gab keine Antwort.

Er sah mich verächtlich an.

»Ein Agent«, sagte er endlich. »Ein Agent, was? Ein Agent ... ein Agent von heutzutage ...« Allmählich verdüsterte er sich. Er sprach dies Wort so und so aus, auf eine gedehnte, spöttische Weise, höhnte mit ihm, zischte es durch eine Zahnlücke, die Selbstlaute quälend; auf einmal erstickte er nervös die Telephone und platzte heraus:

»Alles muß man euch erklären! Lest ihr keine Zeitungen?! Die Sterne! Na, was tun sie denn, die Sterne? Na?!«

»Sie leuchten«, sagte ich unsicher.

»Und das soll ein Agent sein!! Sie leuchten! Ba! Wie?! Wie leuchten sie?! Wie? Na?!« Er zwinkerte mich vielsagend an.

»Sie ... sie blinzeln ...« sagte ich, unwillkürlich die Stimme senkend.

»Wie scharfsinnig er ist! Endlich! Sie blinzeln! Ja! Sie blinzeln zu! Und wann? ... Das wissen Sie nicht?! Natürlich!! So ein Material wird einem hergeschickt! ... In der Nacht! In der Nacht!!! Sie blinzeln, sie zittern im Dunkeln! Was heißt das? Wer blinzelt?! Wer, im Dunkeln? Wer zittert?!«

Er brüllte wie ein Löwe. Bleich stand ich da, stramm wie eine Saite, wartete, bis der Gewittersturm vorüber sei, aber er ging nicht vorüber. Kashenblade, blau angelaufen, geschwollen, mit gesträubten Haaren um die Glatze, donnerte über das ganze Arbeitszimmer, über das ganze Gebäude hin:

»Und die Flucht der Sternennebel! Was?! Haben Sie nicht davon gehört?! Die Flucht!! Was ist das?! Wer flieht?! Das ist verdächtig – mehr noch – das ist ein Schuldbekenntnis!!«

Er zermalmte mich mit einem Blick, atemlos, endlich senkte er die schweren Augenlider und warf entschlossen, mit stählerner Stimme hin:

»Sturer Klotz!«

»Sie vergessen sich, Herr Kommanderal!!« stieß ich hervor.

»Was? Was? Sie ... Sie vergessen sich? ... Was ist das? Ah, eine Parole! Eine Parole – na schön. Ja – das ist etwas anderes. Parole ist Parole ...«

Er begann, mit den Fingern gewaltig in die Klaviatur hineinzuhauen. Die Apparate rauschten auf wie Regen auf einem Blechdach. Aus ihnen kamen grüne und goldene Bänder zitternd hervorgekrochen, sich auf dem Schreibtisch zu Haufen windend. Der Alte las sie gierig.

»Gut!« sagte er, die Bänder zerknüllend. »Ihr Auftrag, an Ort und Stelle zu prüfen, zu erkunden, zu erforschen, eventuell zu provozieren, zu berichten. Punkt. Am Tage N, zur N-ten Stunde, im N-ten Sektor des Bezirks werden Sie ausgeentet vom Deck der Einheit N. Punkt. Begabtengruppe Kryptonym Knirps, Planetardiäten mit Sauerstoffzulage, sporadische Verrechnung je nach Gewichtigkeit der Meldungen. Laufend berichten. Verbindungen – lumenisch, Maskierung Format Lyra – PIP; falls Sie bei der Aktion fallen – posthume Auszeichnung mit dem Orden der Geheimen Stufe, volle Ehrenbezeugungen, Salut Ehrengedenktafel mit lobender Eintragung in die Akten ... Reichts?!« warf er dieses letzte Wort nach.

»Und wenn ich nicht falle?« fragte ich. Ein breites, nachsichtiges Lächeln erhellte das riesige Gesicht des Kommanderals.

»Klugredner ...« sagte er. »Ein Räsoneur, was? Hehe ... ein Räsoneur ... Wenn, hehe ... dann ... Genug! Bei mir gibt’s kein Wenn! Hast du den Auftrag erhalten? Du hast ihn erhalten, und basta! Und weißt du, was das heißt? He?« sagte er aus breiter Brust heraus. Die Wangen wogten ihm sanft, ein Leuchten ging über die goldenen Vierecke der Orden. »Eine Mission – das ist eine große Sache! Nun, und gar eine spezielle, ba! Eine Sondermission! Na! Zur rechten, enten Stunde! Mach dich auf, Junge, und laß dich nicht zu Mist machen!«

»Ich werde mir Mühe geben«, erwiderte ich. »Und meine Aufgabe? ...«

Er drückte auf einige Knöpfe, hörte auf die Klingelzeichen der Apparate, ließ sie verstummen. Seine vorhin verdüsterte Glatze wurde allmählich rosig. Er schaute mich gütig wie ein Vater an.

»Außergewöhnlich!« sagte er. »Außergewöhnlich gefahrvoll! Aber das macht nichts! Nicht für mich ist das! Nicht ich beauftrage! Die Allgemeinheit! Das Wohl! O, du, du ... enter ... eine schwierige Sache ... einen schwierigen Körper hast du erhalten. Du wirst sehen! Schwierig, aber es muß sein, denn ... denn dieser ...«

»Dienst«, sagte ich eingebend. Er heiterte sich auf. Er erhob sich. Die Orden auf der Brust schaukelten, erklangen, die Apparate und Telephone verfielen in Schweigen. Die Leuchtzeichen erloschen. Die untereinander verworrenen, vielfarbigen, kleinen Kabel hinter sich herschleifend, trat er an mich heran und reichte mir die gewaltige, behaarte Greisenhand eines Strategen. Er sah mich mit bohrendem Blick an, die Brauen zogen sich ihm zu gewölbten Hügelchen zusammen, etwas von ein wenig kleineren Falten unterstützt, und so standen wir, im Händedruck verschmolzen – der Oberkommandierende und der Geheimkurier.

Dienst!« sagte er. »Ein harter Dienst, mein Junge! Dienst ... Leb wohl!!«

Ich salutierte, machte kehrt und ging hinaus, noch an der Tür vernehmend, wie er den erkalteten Tee trank. Er war ein gewaltiger Alter, Kashenblade ...

II

Noch unter dem Eindruck des Gesprächs mit dem Oberkommandierenden trat ich in das Sekretariat. Die Sekretärinnen schminkten und puderten sich und rührten in den Teegläsern. Aus dem Rohr der pneumatischen Post fiel ein Stoß von Papieren mit meiner Ernennung, mit dem Zeichen des Kommanderals unterfertigt. Eine der Beamtinnen versah sie der Reihe nach mit dem Stempel Streng geheim und übergab sie einer anderen, die das ganze Faszikel in die Kartothek eintrug, wonach die Kartothek mit einer Maschine chiffriert wurde, der Schlüssel wurde kommissarisch vernichtet, alle Originale aber verbrannt; die Asche wurde nach dem Durchsieben und der Registrierung in einem Umschlag versiegelt; der mit meiner Ziffer versehen war. Dieser wurde mit einem Aufzug in den unterirdischen Tresor geschickt. Alles das, obgleich es unmittelbar vor mir geschah, betrachtete ich mit der Distanz der Verblüfftheit, die mich durch eine so unerwartete Wendung meines Schicksals befallen hatte. Die rätselhaften Bemerkungen des Kommanderals hatten sich bestimmt auf derart geheime Angelegenheiten bezogen, daß sie nur durch Anspielungen erwähnt werden durften. Früher oder später mußte man mich mit ihrem Inhalt bekannt machen, denn anders hätte ich die Mission nicht erfüllen können. Ich wußte nicht einmal, ob sie etwas mit der verlorengegangenen Vorladung zu tun hatte, doch dies verblaßte angesichts meiner so plötzlichen Karriere.

In diesen Überlegungen wurde ich unterbrochen durch das Erscheinen eines jungen Brünetten in Uniform mit Säbel. Er stellte sich mir vor als geheimer Adjutant des Kommanderals, Leutnant Blanderdash, und nachdem er mir bedeutungsvoll die Hand gedrückt hatte, sagte er, er sei meiner Person zugeteilt. Er bat mich in ein Arbeitszimmer, das auf der anderen Seite des Korridors lag, bot mir Tee an und begann, sich mit Erhebungen über meine Fähigkeiten auszulassen, die seiner Meinung nach unschätzbar wären, da Kashenblade mir eine solche Nuß zu knacken anvertraut habe. Er äußerte sich ebenfalls begeistert über die Natürlichkeit meines Gesichts, besonders der Nase, bis mir klar wurde, daß er das eine wie das andere für künstlich und angeklebt hielt. Schweigend rührte ich im Teeglas, da ich der Meinung war, Zurückhaltung wäre am besten angebracht. Nach etwa einer Viertelstunde führte mich der Leutnant durch einen Gang für Offiziere zum Dienst-Fahrstuhl, den wir entsiegelten und mit dem wir nach unten fuhren.

»Aber, aber!« warf er hin, als ich den Fuß bereits in den Korridor setzte, »neigen Sie denn zum Gähnen?«

»Nicht, daß ich wüßte ... wieso denn?«

»Nichts weiter, – einem Gähnenden kann man bis ins Innerste sehen, wissen Sie ... Und schnarchen Sie etwa?«

»Nein.«

»Na, das ist gut. Durch Schnarchen enden so viele unserer Leute ...

»Was ist mit ihnen geschehen?« sagte ich unvorsichtigerweise.

Er lächelte und berührte ein Futteral, das die Abzeichen der Uniform bedeckte.

»Wenn Sie das interessiert, schauen Sie sich vielleicht unsere Kollektion an? Sie ist gerade hier in dieser Etage ... dort, wo die Säulen sind ... dies ist die Abteilung der Sammlungen ...«

»Sehr gerne«, erwiderte ich, »aber ich weiß nicht, ob wir so frei über die Zeit verfügen dürfen?«

»Aber gewiß«, sagte er, mit einer leichten Verbeugung die Richtung weisend. »Das wird übrigens nicht nur eine gewöhnliche Befriedigung von Neugier sein. Je mehr man in unserem Fache weiß, um so besser.«

Er machte vor mir eine gewöhnliche, weißlackierte Tür auf. Dahinter glänzte eine Panzertür. Nachdem er das Chiffre-Schloß eingestellt hatte, schob sie sich auf, und der geheime Adjutant ließ mich vorangehen. Wir befanden uns in einem großen, hell erleuchteten Saal ohne Fenster. Die kassettierte Decke ruhte auf Säulen, die Wände waren mit prächtigen Gobelins und Wandteppichen bedeckt, die in vorwiegend schwarzen, goldenen und silbernen Tönen gehalten waren. Noch nie hatte ich ähnliche gesehen: das Material, aus dem sie gefertigt waren, erinnerte an Pelzwerk. Zwischen den Säulen standen Schaukästen und Vitrinen auf gebohnertem Parkett, sowie mit Samt ausgeschlagene Kästen mit offenen Deckeln. Die allernächsten enthielten kleine, wie Kleinode glänzende Gegenstände; ich erkannte sie als Kragenknöpfe. Es waren ihrer wohl an die Millionen. Aus einem anderen Kasten ragte ein Haufen längliche Perlen. Der Leutnant führte mich zu den Vitrinen; hinter Glasplatten ruhten gut beleuchtet auf samtenen Unterlagen künstliche Ohren, Zahnbrücken, Nasen, Imitationen von Fingernägeln, von Warzen, von Augenwimpern, nachgeahmte Fluxionen und Buckel, manche anschaulich in einem Querschnitt, um ihre innere Struktur erkennbar zu machen; manche darunter war hohl, vorwiegend aber war Filz zu sehen. Zurückgehend stieß ich an eine Kiste mit Perlen und erbebte. Das waren Zähne – gabelförmige und kleine wie Perlen, flache, mit einem kleinen Loch und ohne, Milch-, Mahl- und Weisheitszähne ...

Ich sah meinen Begleiter an, der mit zurückhaltendem Lächeln auf den nächsten Gobelin zeigte. Ich schaute ihn mir aus der Nähe an. Gewirkt war er aus ellenlangen Bärten, Favoriten, Perücken, die so raffiniert auf die Fäden des Untergrunds gefädelt waren, daß die goldhaarigen auf dem Hintergrund des Ganzen das Staatswappen darstellten.