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Thomas Bernhard

Meine Preise

Suhrkamp

Umschlagfoto: Johann Barth

© Sepp Dreissinger









ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

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www.suhrkamp.de

Umschlag: Michels, Göllner, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74280-8

Meine Preise

Der Grillparzerpreis

Zur Verleihung des Grillparzerpreises der Akademie der Wissenschaften in Wien mußte ich mir einen Anzug kaufen, denn ich hatte plötzlich zwei Stunden vor dem Festakt eingesehen, daß ich zu dieser zweifellos außerordentlichen Zeremonie nicht in Hose und Pullover erscheinen könne und so hatte ich tatsächlich auf dem sogenannten Graben den Entschluß gefaßt, auf den Kohlmarkt zu gehen und mich entsprechend feierlich einzukleiden, zu diesem Zwecke suchte ich das mir von mehreren Sockeneinkäufen her bestens bekannte Herrengeschäft mit dem bezeichnenden Titel Sir Anthony auf, wenn ich mich recht erinnere, war es Dreiviertelzehn, als ich den Salon des Sir Anthony betrat, die Verleihung des Grillparzerpreises sollte um elf stattfinden, ich hatte also noch eine Menge Zeit. Ich hatte die Absicht, mir, wenn schon von der Stange, so doch den besten Reinwollanzug in Anthrazit anzuschaffen, dazu die passenden Socken, eine Krawatte und ein Hemd von Arrow, ganz fein, graublau gestreift. Die Schwierigkeit, sich in den sogenannten feineren Geschäften gleich verständlich zu machen, ist bekannt, auch wenn der Kunde sofort und auf die präziseste Weise sagt, was er will, wird er zuerst einmal ungläubig angestarrt, bis er seinen Wunsch wiederholt hat. Aber natürlich hat der angesprochene Verkäufer auch dann noch nicht begriffen. So dauerte es auch damals im Sir Anthony länger als notwendig, zu den in Frage kommenden Regalen geführt zu werden. Tatsächlich waren mir die Umstände in diesem Geschäft von meinen Sockeneinkäufen her schon bekannt und ich selbst wußte besser als der Verkäufer, wo ich den gesuchten Anzug zu finden habe. Ich schritt auf das Regal mit den in Frage kommenden Anzügen zu und ich deutete auf ein ganz bestimmtes Exemplar, das der Verkäufer von der Stange herunternahm, um es mir vor die Augen zu halten. Ich prüfte die Stoffqualität und machte sogleich in der Kabine eine Probe. Ich beugte mich ein paarmal vor und lehnte mich zurück und fand, daß mir die Hose paßte. Ich zog den Rock an, drehte mich ein paarmal vor dem Spiegel, hob die Arme und senkte sie wieder, der Rock paßte wie die Hose. Ich ging ein paar Schritte mit dem Anzug durch das Geschäft und suchte mir bei dieser Gelegenheit das Hemd und die Socken aus. Schließlich sagte ich, daß ich den Anzug anbehalten und auch noch das Hemd und die Socken anziehen wolle. Ich suchte mir eine Krawatte aus, band sie mir um, zog sie so weit als möglich zu, begutachtete mich noch einmal im Spiegel, bezahlte und ging hinaus. Meine alte Hose und meinen Pullover hatten sie mir in eine Tasche mit der Aufschrift Sir Anthony gepackt, so, mit dieser Tasche in der Hand, ging ich über den Kohlmarkt, um mich mit meiner Tante zu treffen, mit welcher ich verabredet gewesen war im Restaurant Gerstner auf der Kärntnerstraße, im ersten Stock. Beim Gerstner wollten wir noch kurz vor der Feierlichkeit ein oder zwei Sandwiches essen, um im Laufe der Prozedur einer Übelkeit oder gar einer Ohnmacht vorzubeugen. Meine Tante war schon im Gerstner gewesen, sie hatte meine Verwandlung als akzeptabel eingestuft und ihr berühmtes Nunja gesagt. Ich selbst hatte bis zu diesem Zeitpunkt jahrelang keinen Anzug getragen, ja, ich war bis dahin immer nur in Hose und Pullover in Erscheinung getreten, selbst ins Theater war ich, wenn überhaupt, nur in Hose und Pullover gegangen, vornehmlich in einer grauen Wollhose und in einem knallroten derbgestrickten Schafspullover, den mir ein gutaufgelegter Amerikaner gleich nach dem Krieg geschenkt hat. In dieser Aufmachung war ich, erinnere ich mich, ein paarmal nach Venedig gefahren und in das berühmte Teatro La Fenice gegangen, unter anderem einmal in eine Aufführung des Tancred von Monteverdi, die Vittorio Gui dirigiert hat und ich war in dieser Hose und in diesem Pullover in Rom, in Palermo, in Taormina und in Florenz und in fast allen übrigen Hauptstädten Europas gewesen, ganz abgesehen davon, daß ich diese Kleidungsstücke zuhause beinahe immer getragen habe, je schäbiger Hose und Pullover waren, desto lieber hatte ich sie, jahrelang hatte man mich nur in dieser Hose und in diesem Pullover gekannt und noch heute fragen mich die Freunde von damals nach dieser Hose und nach diesem Pullover, ich habe diese Kleidungsstücke über ein Vierteljahrhundert getragen. Plötzlich, auf dem Graben wie gesagt und zwei Stunden vor der Verleihung des Grillparzerpreises, empfand ich aufeinmal diese mir in Jahrzehnten an den Leib gewachsenen Kleidungsstücke als unpassend für eine Ehrung, die mit dem Namen Grillparzer verbunden ist und die in der Akademie der Wissenschaften stattfinden sollte. Im Hinsetzen im Gerstner hatte ich aufeinmal das Gefühl, daß mir die Hose zu eng ist, aber ich dachte, das ist wahrscheinlich immer das gleiche Gefühl bei neuen Hosen, auch der Rock erschien mir aufeinmal zu eng und auch was den Rock betraf, dachte ich, das sei normal. Ich bestellte mir ein Sandwich und trank ein Glas Bier dazu. Wer denn vor mir diesen sogenannten Grillparzerpreis schon bekommen habe, fragte mich meine Tante und da fiel mir im Augenblick nur Gerhart Hauptmann ein, ich hatte das einmal gelesen und bei dieser Gelegenheit zum erstenmal von der Existenz des Grillparzerpreises erfahren. Der Preis wird nicht regelmäßig, sondern nur fallweise verliehen, sagte ich und ich dachte, daß zwischen den einzelnen Verleihungen schon sechs oder sieben Jahre liegen, vielleicht auch manchmal nur fünf, ich wußte es nicht, ich weiß es auch heute nicht. Auch diese Preisverleihung machte mich naturgemäß nervös und ich versuchte mich selbst und meine Tante von der Tatsache, daß es bis zum Beginn der Feierlichkeit nurmehr noch eine halbe Stunde war, abzulenken, ich berichtete von der Ungeheuerlichkeit, daß ich gerade auf dem Graben den Entschluß gefaßt hatte, mir einen Anzug für die Feierlichkeit zu kaufen und daß es für mich eine Selbstverständlichkeit gewesen sei, das Geschäft auf dem Kohlmarkt aufzusuchen, in welchem die englischen Anzüge der Firmen Chester Barry und Burberry zu haben sind. Warum sollte ich mir, wenn schon von der Stange, hatte ich wieder gedacht, nicht gleich einen erstklassigen Anzug kaufen, und nun war der Anzug, den ich anhatte, ein Anzug der Firma Barry. Meine Tante griff nur nocheinmal nach dem Stoff und war mit der englischen Qualität zufrieden. Sie sagte nocheinmal ihr berühmtes Nunja. Über den Schnitt nichts. Es war der klassische. Sie wäre sehr glücklich über die Tatsache, daß mir die Akademie der Wissenschaften heute ihren Grillparzerpreis verleihe, sagte sie, auch stolz, aber mehr noch glücklich als stolz und sie stand auf und ich folgte ihr aus dem Gerstner auf die Kärntnerstraße hinunter. Wir hatten nur ein paar Schritte zu gehen bis zur Akademie der Wissenschaften. Die Tasche mit der Aufschrift Sir Anthony war mir zutiefst zuwider gewesen, aber ich konnte es nicht ändern. Ich werde die Tasche vor dem Eintreten in die Akademie der Wissenschaften abgeben, sagte ich mir. Ein paar Freunde waren auch schon unterwegs gewesen, die meine Ehrung nicht versäumen wollten, wir trafen sie in der Eingangshalle der Akademie. Dort waren schon viele Menschen versammelt und es schien, als ob sich der Festsaal schon gefüllt hätte. Die Freunde ließen uns in Ruhe und wir schauten uns in der Halle nach einer Persönlichkeit um, die uns empfangen würde. Ich ging ein paarmal mit meiner Tante in der Eingangshalle der Akademie hin und her, aber kein Mensch nahm von uns auch nur die geringste Notiz. Also gehen wir hinein, sagte ich und dachte, im Saale wird mich eine Persönlichkeit empfangen und zu dem entsprechenden Platz führen mit meiner Tante. Alles in der Halle deutete auf eine ungeheuere Festlichkeit hin und tatsächlich hatte ich das Gefühl, als zitterten mir die Knie. Auch meine Tante hielt, so wie ich, ständig Ausschau nach einer Persönlichkeit, die uns empfangen wird. Vergeblich. So stellten wir uns ganz einfach unter die Eingangstür des Festsaals und warteten ab. Aber die Leute drängten an uns vorbei und stießen uns fortwährend an und wir mußten einsehen, daß wir uns die ungünstigste Wartestelle ausgesucht hatten. Ja, empfängt uns denn niemand? dachten wir. Wir blickten uns an. Der Saal hatte sich schon beinahe zur Gänze gefüllt und zwar zu dem alleinigen Zwecke, mir den Grillparzerpreis der Akademie der Wissenschaften zu verleihen, dachte ich. Und kein Mensch empfängt mich und meine Tante. Mit ihren einundachtzig Jahren sah sie wunderbar aus, elegant, intelligent und sie war mir in diesen Augenblicken so tapfer vorgekommen wie nie. Nun hatten auch schon einige philharmonische Musiker auf dem Podium vorn Platz genommen und alles deutete auf den Beginn der Feierlichkeit hin. Aber von uns, die wir doch der Mittelpunkt sein sollten, wie wir dachten, hatte kein Mensch Notiz genommen. So hatte ich plötzlich eine Idee: wir gehen ganz einfach hinein, sagte ich zu meiner Tante und setzen uns in der Mitte des Saales dorthin, wo noch ein paar freie Plätze sind und warten ab. Wir gingen in den Saal und suchten diese freien Plätze in der Mitte des Saales auf, viele Leute mußten aufstehen und beklagten sich bei uns, wie wir uns an ihnen vorbeizwängten. Da saßen wir nun in der zehnten oder elften Reihe in der Mitte des Festsaales der Akademie der Wissenschaften und warteten ab. Nun hatten schon alle sogenannten Ehrengäste Platz genommen. Aber das Fest begann natürlich nicht. Und nur ich allein und meine Tante wußten, warum. Auf dem Podium vorne liefen in immer kürzeren Abständen aufgeregte Herren hin und her, so, als suchten sie etwas. Und tatsächlich suchten sie etwas, nämlich mich. Dieses Hin- und herlaufen der Herren auf dem Podium dauerte eine Weile, in welcher sich schon Unruhe im Saal ausgebreitet hatte. Inzwischen war auch die Ministerin für Wissenschaft eingetroffen und hatte in der ersten Reihe Platz genommen. Sie war von dem Präsidenten der Akademie, der Hunger hieß, empfangen worden und an ihren Platz geleitet worden. Auch eine Reihe anderer, mir nicht bekannter sogenannter Würdenträger waren empfangen und in diese erste oder in die zweite Reihe geleitet worden. Plötzlich sah ich, wie ein Herr auf dem Podium einem andern Herren etwas ins Ohr flüsterte und gleichzeitig in die zehnte oder elfte Reihe zeigte mit ausgestreckter Hand, nur ich allein wußte, er hat auf mich gezeigt. Jetzt geschah Folgendes: der Herr, der dem anderen Herren etwas ins Ohr geflüstert hatte und der auf mich gezeigt hatte, ging in den Saal und zwar genau bis zu meiner Reihe und verschaffte sich in dieser Reihe Einlaß bis zu mir. Ja, sagte er, warum sitzen Sie denn hier, wo Sie doch die Hauptperson sind in diesem Festakt und nicht vorn in der ersten Reihe, wo wir, er sagte tatsächlich wir, wo wir für Sie und Ihre Begleitung zwei Plätze reserviert haben? Ja wieso denn?, fragte er nocheinmal und es schien, als seien alle Blicke im Saal auf mich und den Herrn gerichtet. Der Herr Präsident, sagte der Herr, bittet Sie nach vorne zu kommen, bitte kommen Sie doch nach vorne, gleich neben der Frau Minister ist Ihr Platz Herr Bernhard. Ja, sagte ich, wenn das so einfach ist, aber natürlich gehe ich erst in die erste Reihe, wenn der Herr Präsident Hunger persönlich mich dazu aufgefordert hat, selbstverständlich nur, wenn der Herr Präsident Hunger mich persönlich dazu auffordert. Meine Tante schwieg zu dieser Szene und die Festgäste blickten alle auf uns und der Herr ging wieder durch die ganze Reihe und dann nach vorne und flüsterte dort, neben der Frau Minister, dem Präsidenten Hunger etwas ins Ohr. Daraufhin war große Unruhe im Saal gewesen, die nur von den Probezupfern der Philharmoniker an ihren Instrumenten nicht etwas ganz und gar Fürchterliches gewesen war und ich sah, daß sich der Präsident Hunger zu mir bemühte. Jetzt heißt es, standhaft sein, dachte ich, die Unnachgebigkeit beweisen, den Mut, die Konsequenz. Komme ihnen nicht entgegen, dachte ich, wie sie dir nicht entgegen gekommen sind im wahrsten Sinne des Wortes. Als der Präsident Hunger bei mir angelangt war, sagte er, daß er bedauere, was genau er bedauere, hatte er nicht gesagt. Ich möge mit meiner Tante nach vorn in die erste Reihe kommen, mein und meiner Tante Platz sei zwischen der Frau Minister und ihm. So folgten meine Tante und ich dem Präsidenten Hunger in die erste Reihe. Als wir uns gesetzt hatten und ein undefinierbares Murmeln durch den ganzen Festsaal gegangen war, hatte die Feier beginnen können. Ich glaube, die Philharmoniker spielten ein Stück von Mozart. Dann wurden ein paar kürzere oder längere Vorträge über Grillparzer gehalten. Als ich einmal zu ihr hinblickte, sah ich, daß die Frau Minister Firnberg, so ihr Name, eingeschlafen war, was auch dem Präsidenten Hunger nicht entgangen war, denn die Ministerin schnarchte, wenn auch sehr leise, sie schnarchte, sie schnarchte das leise Ministerschnarchen, das weltbekannt ist. Meine Tante verfolgte den sogenannten Festakt mit größter Aufmerksamkeit, ab und zu blickte sie zustimmend, wenn eine Wendung in einer der Reden zu dumm oder auch nur zu komisch gewesen war, auf mich. Wir beide hatten unser Erlebnis. Schließlich, nach etwa eineinhalb Stunden, stand der Präsident Hunger auf und ging auf das Podium und verkündete die Verleihung des Grillparzerpreises an mich. Er verlas ein paar lobende Worte über meine Arbeit, nicht ohne ein paar Titel von Schauspielen zu nennen, die von mir sein sollten, die ich aber gar nicht geschrieben hatte und zählte eine Reihe von Berühmtheiten Europas auf, die vor mir mit dem Grillparzerpreis ausgezeichnet worden sind. Herr Bernhard bekäme den Preis für sein Theaterstück Ein Fest für BorisDanke! ja, wo ist denn der Dichterling? Sir Anthony Sir Anthony Sir Anthony