Eines Nachts macht der Physiker David Mahler im Traum eine merkwürdige Entdeckung. Viele Jahre lang hat er sich mit dem Problem der Zeit beschäftigt, mit der Frage, ob ihre Richtung wirklich ein unumstößliches Naturgesetz ist oder sich nicht doch etwas finden läßt, das ihren Lauf umkehrt. Nun hält er die Lösung in der Hand. Das älteste Gesetz der Natur ist in Frage gestellt, damit die Grundfesten der Welt. Wird endlich ein Menschheitstraum wahr? Mahler will seiner ungeheuren Entdeckung Gehör verschaffen, aber ohne Autorität im Wissenschaftsbetrieb gestaltet sich das ausgesprochen schwierig. Wie gehetzt sucht er den Beistand des Nobelpreisträgers Valentinov, doch seltsame Zufälle verhindern ein Zusammentreffen immer wieder. In suggestivem Ton macht Daniel Kehlmann die Zweifel und Ahnungen seines Helden nachvollziehbar und den Leser zum Zeugen eines Experiments: dem Verschwimmen der Zeit.
»Geschickt und mit einer kräftigen, unprätentiösen Sprache erzählt. Unter den vielen merkwürdigen Helden der neueren deutschen Literaturgeschichte ist David Mahler einer der sonderbarsten.«
Der Spiegel
»Ein Meisterstück suggestiver Leserführung.«
Berliner Illustrierte Zeitung
»Ein poetisches Gedankenexperiment von seltener Qualität.«
Süddeutsche Zeitung
Daniel Kehlmann, geboren 1975, lebt in Wien und Berlin. Er debütierte 1997 mit dem Roman Beerholms Vorstellung. Ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienen 1998 der Erzählband Unter der Sonne, 1999 Mahlers Zeit. Roman (st 3238), 2001 die Novelle Der fernste Ort (st 3627) und 2003 Ich und Kaminski. Roman (st 3653). Zuletzt erschienen Die Vermessung der Welt. Roman (2005) und Ruhm. Roman in neun Geschichten (2009).
Mahlers Zeit
Roman
Suhrkamp
Umschlagabbildung: Georges de La Tour,
Der Leierspieler (Ausschnitt), um 1635
Musée des Beaux-Arts, Nantes.
© The Bridgeman Art Library, London
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1999
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74345-4
www.suhrkamp.de
Who talks of Plato’s spindle;
What set it whirling round?
Eternity may dwindle,
Time is unwound.
(W. B. Yeats: Words for Music Perhaps)
Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen,
wenn neue Entdeckungen unerwartete Tiefen enthüllen.
Vielleicht möchte auch der eine oder andere behaupten,
die Natur habe unlautere Kniffe angewandt.
(Arthur Eddington: Das Weltbild der Physik)
In dieser Nacht machte David Mahler die wichtigste Entdeckung seines Lebens.
Ein Mann bewegte sich auf ihn zu. Er trug einen grauen Mantel, einen Hut und einen Aktenkoffer, und irgend etwas an ihm wirkte zugleich vertraut und bedrohlich. Er kam sehr schnell näher. Sein Mantel wehte hinter ihm, sein Hut saß etwas schief, der Koffer schlenkerte in seiner Hand. Dann war es kein Mann mehr, sondern eine Frau mit einer großen, viel zu großen Handtasche, dann ein kleines Mädchen mit dürren Armen und zwei Insektenflügeln, die über seinen Schultern zitterten ... David wollte loslaufen. Aber er fühlte sich erstarrt, als gehorchten ihm seine Beine nicht, als hätte er keine Beine oder überhaupt keinen Körper mehr; er wollte Luft holen und schreien, aber er hatte keine Stimme, und da war auch keine Luft; und die Gestalt war schon sehr nahe. Auf einmal zerrann sie, ihre Umrisse veränderten sich, wurden eins mit dem grünlichen Horizont, verschwanden. Und dann war selbst dieser Horizont nicht mehr da, und nur Davids Angst blieb, wie etwas Abstraktes, abgelöst von jeder Ursache, zurück. Für eine Weile, die er weder als lang noch als kurz empfand, sondern als eine seltsam zerdehnte Gegenwart, war ihm nichts anderes bewußt. Er war völlig allein mit seiner Furcht.
Trotzdem versuchte er, den Traum festzuhalten. Vergeblich: Für einen Moment konnte er sich noch erinnern, aber er wußte nicht mehr, an was er sich erinnerte, und dann, durch eine Bewegung seines Körpers, schwankte alles und kräuselte sich und löste sich auf. Es war vorbei. Er öffnete die Augen.
Das Licht zeichnete weißliche, geschwungene Linien auf die Zimmerdecke, eine neben der anderen. Nachdem er einige Zeit hingesehen hatte, schienen sie sich zu bewegen und in Wellen überzugehen. Als ein Auto vorbeifuhr, flammten sie für eine Sekunde gelb auf. Dann hörte er ein Geräusch neben sich. Aber er drehte den Kopf nicht, und er wandte die Augen nicht von der Decke ab, über die jetzt schon ein lautloser Strom von Helligkeit floß. Er fühlte, wie etwas klar wurde.
Eine schimmernde Struktur von Zahlen. Sie wuchs, bildete neue Kristallflächen, ein System gläserner Schönheit, und er sah zu und verstand. Er wußte, daß er sich nicht bewegen durfte. Alles andere mochte sich bewegen – die Welt draußen und auch das Zimmer; sogar sein Bett schien langsam durch den Raum zu treiben. Nur er durfte sich nicht rühren.
Sein Herz klopfte schneller. Das Bett vollführte eine plötzliche Drehung, ein hoher, eigenartig klarer Ton füllte für Sekunden die Luft. David hörte auf zu atmen. Das Licht floß schneller über die Decke. Ihm war schwindlig. Und dann konnte er nicht mehr anders: Er setzte sich auf, schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett.
Er ging auf das Fenster zu. Es wich vor ihm zurück; er ging schneller und erreichte es. Direkt darunter, auf der Straße, stand eine Laterne. Aber irgend etwas damit stimmte nicht; von ihr ging kein Licht aus; etwas fehlte: Die Kugel aus Milchglas, die an ihrer Spitze gewesen war, lag zerbrochen auf dem Asphalt. Ein Mann ging vorbei, die Scherben knirschten unter seinen Schuhen. David lehnte sich an die Scheibe, sie fühlte sich kühl an. Er drehte sich um, im Bett lag jemand, gleichmäßig atmend, mit geschlossenen Augen, der ihm bekannt vorkam. Er kam ihm sogar sehr bekannt vor. Er war es selbst.
David zuckte zurück. Und öffnete die Augen.
Er lag im Bett. Das Zimmer war dunkel und leer. Er streifte vorsichtig die Decke ab, stand auf und ging zum Fenster.
Das Glas beschlug von seinem Atem. Er wischte über die Scheibe und sah hinunter auf eine zerbrochene Straßenlaterne. Ein Auto fuhr brummend vorbei. Er drehte sich um. Das Zimmer lag harmlos vor ihm. Aber die Laterne war zerbrochen. Gestern abend war sie noch ganz gewesen.
Er ging zurück zum Bett – der Teppich fühlte sich weich an unter seinen nackten Füßen – und legte sich wieder hin. Er lag still und schloß die Augen. Neben ihm, auf dem Nachttisch, tickte seine Armbanduhr.
Und da sah er es wieder. Es nahm Gestalt an. Ein Gebilde reiner Mathematik, zum ersten Mal in seinem Leben, nach so langer Arbeit, er mußte nichts dafür tun, es ging wie von selbst. Zahlen, die noch nicht ganz Zahlen waren, Begriffe, die ihre Bedeutung erst erhalten würden, Formen, noch nicht eingetreten in die Welt. Und das Ticken der Uhr erzeugte den Rhythmus, spannte ein Gerüst auf, an dem Formeln entlangglitten, sich aufreihten, sich ordneten. David hörte, wie seine Atemzüge in ein Keuchen übergingen, aber er hielt die Augen geschlossen, und er bewegte sich nicht. Die Uhr tickte. Und dann war dieses Ticken, die immer gleiche Spanne von Stille zwischen dem immer gleichen Laut, nicht mehr Begleitung, sondern hatte sich ins Innere der Gedanken selbst geflochten; es erschien plötzlich – verständlich. Auf der Straße heulte ein Motor auf, falsch geschaltet. Und in diesem Moment explodierte in ihm, in einem versteckten, noch niemals aufgesuchten Ort seines Bewußtseins, eine Gewißheit. Entsandte warme, funkelnde Wellen in sich weitenden Kreisen; voran, hinaus, voran, durch David.
Eine Weile lag er da wie ein Toter. Die Uhr tickte, sonst war es still. Er öffnete die Augen.
Die Zimmerdecke hing über ihm, eine Fläche aus geglätteter Dunkelheit. Möbel formten graue Silhouetten. Das Viereck des Schrankes, die Umrisse des Schreibtisches, die gezackte Form des Sessels davor. Er wollte sich auf die Seite drehen, aber ihm fehlte die Kraft. »Endlich«, sagte er leise und fand, daß seine Stimme seltsam klang. »Endlich!«
Dann war etwas geschehen. Er versuchte einzuatmen, doch nun ging das nicht mehr; etwas preßte seine Lunge zusammen, schnürte ihm den Atem ab; sein Herz trommelte. Er streckte die Hand aus, tastete auf dem Nachttisch nach der Dose mit dem Nitrospray, stieß Gegenstände zur Seite, etwas fiel hinunter, er wußte nicht was, und die Dose war nicht da, nicht da ... Da spürte er sie in seiner Hand. Er führte sie zum Mund, umschloß das Mundstück mit den Lippen, atmete den bitteren Geschmack ein.
Er wartete. Die Uhr tickte zehn, fünfzehn ... zwanzig Mal. Jetzt war es besser. David atmete vorsichtig ein und aus und wieder ein. Die Spraydose glitt aus seinen Fingern und verschwand irgendwo im Bett. Sein Puls war nun langsamer, auch das Zittern hörte auf. Er drehte sich zur Seite.
Er widerstand der Versuchung, sich das Gebilde noch einmal vor Augen zu stellen. Das würde er morgen tun und übermorgen und dann immer, jeden Tag, es gehörte jetzt ihm. Er spürte, wie der Schlaf näherkam: Ein tiefer, sehr angenehmer, nicht bedrohlicher Schlaf. Hinter dem Ticken der Uhr und den Motorgeräuschen von draußen trat allmählich, wie ein leises Rauschen, die Stille hervor.
David lächelte.
Ein Pfeifen zerriß die Dunkelheit. Mechanisch streckte er die Hand aus und stellte den Wecker ab. Halb acht! David öffnete die Augen, drückte seinen Körper gegen das Gewicht des Schlafes und richtete sich auf.
Es regnete. Tropfen schlugen gegen das Glas und malten durchsichtige, nach unten zerrinnende Kreise. Er hatte Kopfschmerzen. Sein Mund war ausgetrocknet, bis tief hinunter in die Kehle. Er räusperte sich, schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett.
Einen Moment lang war ihm schwindlig. Die Formeln in seinem Gedächtnis: Ja, sie waren da, sie waren alle noch da. Er ging zum Fenster und öffnete es. Feuchtigkeit wehte ihm ins Gesicht; er kniff die Augen zusammen. Auf der Straße bewegten sich aufgespannte Regenschirme; ein Mann hielt sich eine Zeitung über den Kopf; ein Kind in einem Gummimantel sprang in eine Pfütze, das Kind sah auf, und für einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke: es lächelte. Ein Straßenkehrer fegte Glasscherben zusammen, das Wasser rann von seiner Pelerine. Neben ihm ragte eine Laterne kopflos auf.
David trat zurück, schloß das Fenster und ließ sich in den Sessel fallen. Er starrte lange auf seinen Schreibtisch. Dann griff er nach dem Telefonhörer.
»Ja?« Frau Wimmer, die Sekretärin, kam immer schon vor acht ins Institut.
»Ich bin es«, sagte er, »ich kann nicht kommen. Ich fühle mich nicht gut.«
»Grippe?«
»Wahrscheinlich. Sie müssen jemanden für die Einführung finden.«
»Herr Doktor Mahler, dafür erreiche ich jetzt wirklich keinen ...«
»Sie müssen aber. Ich kann nicht!« David hörte sie Luft holen, aber er kam ihr zuvor und legte auf.
Er überlegte einen Moment. Dann nahm er einen Bleistift, setzte die Spitze auf ein Blatt Papier und – begann. Es mußte aufgezeichnet werden. Er zögerte einen Moment: die Vierecke auf dem Papier lösten sich in einander kreuzende Schlangenlinien auf. Er rieb sich die Augen. Die Linien flossen aufeinander zu und erstarrten wieder zu winzigen, gleichmäßig leeren Kästchen. Quadrate, die darauf warteten, gefüllt zu werden. Die bereitstanden, alles, was er wußte, aufzunehmen.
Und er schrieb.
Von Zeit zu Zeit sah er auf: Der Wind wurde kräftiger. Sprühregen prasselte gegen Hauswände und Fenster; auf der Straße bückten sich Menschen, senkten die Köpfe, schoben beim Gehen eine Schulter vor oder stellten sich in Hauseingänge und warteten. Auf den Autofenstern schlugen die Scheibenwischer hin und her. Drei kleine Mädchen liefen vorbei, die Münder offen, die Gesichter naß dem Himmel zugekehrt, ein Hund folgte ihnen mit am Körper klebendem Fell. Da hörte der Regen auf. Aber erst nach einigen Minuten klappte ein Schirm zu, dann der nächste, dann fast alle. Der Himmel war überzogen von weißen Schlieren; sie wuchsen, schienen in die Breite zu fließen, und dann, wie durch eine chemische Umwandlung, wurde das Grau zu verschwimmender Helligkeit, leuchtendem Dunst. Vom Asphalt stiegen Schwaden weißer Feuchtigkeit. Ein Hund wälzte sich in einer schrumpfenden Pfütze. Die Wolken rissen auf; und endlich, umrahmt von einem Stück Blau, als bleiche Rundung gespiegelt in allen Pfützen, allen Windschutzscheiben, allen ihr zugewandten Fenstern, war die Sonne da. Der Hund rollte sich aus der Pfütze, zögerte einen Moment, trank einen Schluck des sich verfärbenden Wassers und rannte davon. Eine Glasscherbe am Rand des Bürgersteigs blinkte auf, gekrümmt wie ein hohler Spiegel, Splitter eines zerbrochenen Laternenkopfes.
David erschrak. Er fror. Für einen langen Moment wußte er nicht, wo er sich befand. Etwas war geschehen. Als wäre ein Riß durch ihn gegangen, als hätte ein Teil von ihm ihn verlassen; und plötzlich spürte er eine Bewegung: Etwas kam auf ihn zu. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Stoß von dreißig beschriebenen Blättern, bekritzelt in einer großen, zittrigen Schrift: leicht schiefe Kolonnen von Zahlen, Skizzen, Kurven, die sich in weiten Bögen über das Papier schlängelten, Diagramme, die keinen Sinn zu haben schienen, beschriftet mit Zeichen, die er hatte erfinden müssen; aber all das war, wenn man es begriff, von leuchtend perfekter Klarheit. Wie spät war es? Die Sonne blendete ihn, brannte in seinen Augen, legte ein Gefühl feuchter Wärme auf seine Stirn.
David stand auf. Seine Glieder taten weh, seine Beine waren steif, und es fiel ihm schwer, die Arme auszustrecken. Auf dem Nachttisch lag noch immer seine Armbanduhr. Es war fast drei.
Er schaltete die Kaffeemaschine ein. Im Badezimmerspiegel betrachtete er eine Weile sein Gesicht. Dick und rötlich, mit einer breiten Nase und deutlich abstehenden Ohren; er hatte dieses Gesicht noch nie gerne gesehen. Er rasierte und wusch sich, ging in die Küche, trank drei Tassen Kaffee und spürte beunruhigt, wie sein Herz schneller pochte.
Er ging zu seinem Schreibtisch zurück. Im Bücherregal darüber standen aufgereiht die Werke von Newton, Boltzmann, Zermelo, Mach, Einstein, Prigogine, Valentinov. Daneben zehn Jahrgänge der Facetten der Physik in fünf dicken Sammelordnern, die er auswendig kannte. Tatsächlich auswendig: er wußte jedes Wort, das darin stand. Er griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.
»Ja?« sagte Marcels Stimme. »Was?«
»Ich habe es geschafft. Ich habe die Lösung.«
»David, das paßt mir gerade nicht gut. Ich bin beim Weggehen ...«
»Ich habe es gelöst.«
Marcel schwieg. Dann hustete er. »Wirklich?«
»Ja.«
»Gratuliere«, sagte Marcel. »Treffen wir uns morgen? Um zehn?«
David antwortete nicht.
»Schön«, sagte Marcel, »dann bis morgen! Du solltest das feiern. Na ja, das machen wir morgen. Gratuliere!«
Es klickte, Marcel hatte aufgelegt.
David dachte einen Moment nach, dann wählte er eine andere Nummer.
Aber sie hob nicht ab, es war nur ihr Anrufbeantworter. Die Maschine pfiff, rauschte, hörte ihm zu.
»Das wirst du vielleicht nicht glauben«, sagte er langsam. »Aber ich bin gestern ... heute durch Zufall darauf gekommen. Ich habe es geschafft. Das wird alles ändern. Ich dachte, daß es dich interessiert. Vielleicht können wir uns ... treffen.« Er zögerte. »Ich gehe jetzt spazieren. Entschuldige, ich bin noch etwas ...« Er legte auf.
Hastig zog er sich an: Strümpfe, Hose, einen Pullover. Auf einmal hatte er Probleme mit den Schuhen: die Bänder widersetzten sich, es gelang ihm nicht, Schleifen zu binden. Im Treppenhaus grüßte ihn jemand, er antwortete nicht. Er schob die Hände in die Hosentaschen und trat auf die Straße.
Er blieb stehen und legte den Kopf in den Nakken. Die Sonne: rund und feurig und verschwimmend, eine warme Berührung auf seinem Gesicht; eine orange gefärbte Dunkelheit, wenn er die Augen schloß. Sein Magen knurrte, er hatte Hunger. Jemand rempelte ihn an, eine Schulter berührte seinen Oberarm, eine Hundeschnauze beschnüffelte seine Beine. Er fühlte hinter sich die zerstörte Laterne, sehr deutlich, wie eine schmerzende Stelle an seinem Körper. Und spürte auf seinem Gesicht, wie die Sonne hervortrat, verdeckt wurde, hervortrat, als versuchte sie, jemandem Signale zu geben.
Langsam ging er los. Der Boden fühlte sich hart und nicht ganz eben an, von den Plakaten am Straßenrand starrten Gesichter auf ihn herunter; tatsächlich auf ihn; ihm war, als ob er im Mittelpunkt einer verwirrend starken Aufmerksamkeit stand. Aber nein, sagte er sich, das ist eine Täuschung; das muß eine Täuschung sein! Er bog um die Ecke und stand an einer breiten, dröhnenden Straße.
Und spürte es, einige Sekunden, bevor er noch irgend etwas gesehen oder gehört hatte. Er senkte den Kopf und zog die Arme an sich. – Dann erfüllte ein metallenes Knirschen die Luft; und als David herumfuhr, sah er einen grünen Lastwagen, von der Fahrbahn abgekommen, an einer Hauswand entlangschrammen. Eine Frau schrie auf, ein Mann brüllte etwas; Menschen rannten davon, sprangen weg, ein Hund zog seine nutzlose Leine hinter sich her, ein Chor von Autohupen schwoll an und blieb schwerelos, leicht oszillierend, in der Luft stehen ... und der Augenblick gefror.
Der Lastwagen stand, ganz ruhig, auf zwei Rädern. Im Gleichgewicht und schwerelos. Als könnte es so bleiben. Und auch die Menschen waren erstarrt. Mitten auf der Straße, im Laufen, unter den schwebenden Akkorden der Hupen. Nur eine Taube durchkreuzte langsam, mit gleichmäßigen Flügelschlägen, den Himmel.
Dann war es vorbei. Der Lastwagen landete krachend auf der Seite. Die Menschen, immer mehr davon, rannten, die Hupen wurden übertönt vom Geschrei, und die Taube war nicht mehr zu sehen. Die Menschen rannten – David stellte sich auf die Zehenspitzen, um es besser sehen zu können – und wichen zurück, zurück ... wovor? Dann sah er es.
Vor der durchsichtigen Flüssigkeit, die ausrann und einen süßlichen Geruch verströmte. Sie breitete sich aus, in einem wachsenden Halbkreis; schon blitzte, spitz und lebendig, eine Flamme auf. Und noch eine, und jetzt waren es viele. Über der Flüssigkeit, um den umgestürzten Lastwagen herum, auf ihm, neben ihm. – Da öffnete sich, senkrecht nach oben, die Tür der Fahrerkabine. Ein Mann in einem blauen Overall zwängte sich heraus, sprang hinunter, schaffte es irgendwie, auf die Füße zu kommen, und rannte los. Er hatte einen Schnurrbart und lange Haare, und über seine Stirn rann ein dünner Faden Blut. Seine Augen waren leicht gegeneinander verschoben, etwas an seinem Gesicht schien verformt ... Fast hätte er es geschafft.