»Man kann nicht einfach mal locker nach Deutschland fahren. So wie zum Beispiel nach Monaco, Portugal oder nach Ungarn. Nach Deutschland fahren, das ist Psychoanalyse.«

Der Erzähler von Dojczland, ein literarischer Gastarbeiter auf Lesereise kreuz und quer durch die Bundesrepublik, verbirgt nicht, daß er lieber auf dem Bukarester Gara de Nord als am Stuttgarter Hauptbahnhof angekommen wäre. So selbstironisch spielt Stasiuk mit Ängsten, Vorurteilen und Klischees, den eigenen, den fremden, daß ihn ein polnisches Skandalmagazin als »bezahlten Einflußagenten Berlins« anprangerte.

Andrzej Stasiuk, 1960 geboren, wuchs in Warschau auf und lebt seit 1986 in den Beskiden. Mit Monika Sznajderman leitet er den Verlag Czarne. Seit Jahren reist er durch Südosteuropa und wurde für seine poetischen Essays über untergehende Landschaften berühmt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane Der weiße Rabe (st 4216) und Hinter der Blechwand (2011).

Andrzej Stasiuk

Dojczland

Aus dem Polnischen

von Olaf Kühl

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel

Dojczland bei Czarne, Wołowiec.

© Andrzej Stasiuk, 2007

Umschlagfoto: © Plainpicture/Thordis Rüggeberg

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Lowlypaper. Marion Blomeyer

eISBN 978-3-518-75780-2

www.suhrkamp.de

Für Renate und Olaf

In Stuttgart auf dem Bahnhof gab mir ein alter Mann ein Kalenderblatt: »Freitag, fünfter August zweitausendfünf«. Auf dem Blatt stand ein Zitat aus dem Ersten Buch Samuel: »Du aber steh jetzt still, daß ich dir kundtue, was Gott gesagt hat.« Dann ging er. Ich sah, wie er sich in der Bahnhofshalle entfernte und versuchte, die nächsten zu beschenken. Groß, hager, grauhaarig und langsam inmitten der hastenden Menge. Manche nahmen es, die meisten aber wichen ihm aus, so wie man all diesen Verteilern von Handzetteln über billige Pizzas und Ausverkäufe ausweicht.

Ich war den fünften Tag unterwegs und konnte nicht stillstehen. Ich mußte nach Tübingen. Der Stuttgarter Bahnhof erinnerte an den Bukarester Gara de Nord. Es fehlten nur die Wachleute, die die Obdachlosen und Kleber schnüffelnden Kinder vertreiben. Der Rest war sehr ähnlich. So schien es mir. Ich war den fünften Tag unterwegs und mußte nach Ähnlichkeiten suchen, um das Gleichgewicht zu wahren. Ich mußte in Stuttgart an Bukarest denken, um mir Deutschland besser merken zu können. Jedenfalls war der Zugang zu den Bahnsteigen sehr ähnlich. Auf dem Gara de Nord habe ich einmal eine schwarze Bandana gekauft, deren Muster sich aus Dutzenden kleiner, weißer Skelette zusammensetzte. Die Skelette trieben es in allen möglichen Positionen miteinander. Ich war unterwegs ins Donau-Delta und hatte eine Mütze vergessen, deshalb mußte ich mir die Bandana kaufen. Aber jetzt wartete ich auf den Zug nach Tübingen. Der alte Mann in dem Bahnhofsgedränge sah aus wie der Rufer in der Wüste. Er streckte die Hand mit dem Blatt aus, wartete eine Weile auf Reaktionen, dann zog er sie zurück und ging weiter.

Der Zug war überfüllt, so eine Art Regionalexpreß. In ihm waren nur junge Leute unterwegs. Ich war der Älteste. Nach mir stieg ein Typ in Lederjacke ein. Unter dem Arm trug er neue Kennzeichenschilder. Er nahm sein Handy und sprach Serbisch, vielleicht Kroatisch, jedenfalls irgendwas von dort. Er streckte die Beine aus und redete, redete, redete. Ich versuchte, die Landschaft zu betrachten, doch der Serbe oder Kroate lenkte mich ab. Er quasselte, als wäre er bei sich zu Hause, als würde die Zeit nicht existieren, als säße er irgendwo im Schatten, würde trinken, rauchen und über die Politik, die Natur der Welt und Autotypen schwadronieren. Draußen war schwäbischer November, und ich fühlte den Sommer des Balkan. So was wie Belgrad, Tivat, jedenfalls die Gegend dort mit ihrer Geschwätzigkeit, Faulheit und Dreistigkeit. Er trug ausgelatschte Mokassins und Nylonstrümpfe. Endlich hörte er auf zu reden, weil der Bahnhof kam, an dem er aussteigen mußte.

Ich schleppte alles mit mir durch Deutschland, was ich je zuvor gesehen hatte. Ich mußte all diese Dinge mitnehmen, um mit den achtunddreißig deutschen Städten fertig zu werden. Man muß in Tulcea gewesen sein, um den Anblick von Frankfurt am Main bewältigen zu können, wenn der Zug von Norden einfährt und man fünf, sechs Sekunden lang von der Brücke das Flechtwerk der Gleise, die Hochhäuser und das Elektrizitätswerk sieht, und das ist groß, bedrohlich und schön wie eine babylonische Allegorie. Man muß einen Abdruck der rumänischen Steppe im Herzen tragen, um da heil rauszukommen.

Jetzt aber fuhr ich nach Tübingen, um vom Hotelfenster auf den Neckar zu blicken. Ich könnte wetten, daß auf den grünen Wellen Schwäne schwammen. Auf der anderen Flußseite stieg die Stadt zu Hügeln auf. Villen, kleine Paläste, allerliebster Zuckerbäckerstil, als wäre die Zeit vor hundert Jahren stehengeblieben. Der gnädige Spätherbst vergoldet diese Landschaft, umspinnt sie mit blauem Dunst, nimmt sie zwischen die Finger und hebt sie sanft aus der Wirklichkeit heraus wie ein kitschiges Souvenir. Ich trank Rotwein aus der Flasche und blickte über die Eberhardsbrücke flußaufwärts. Zu Füßen des Hölderlinturms waren mehrere schwarze Boote vertäut. Diese Farbe brachte mich auf den Gedanken an die Kähne von Sfîntu Gheorghe. Und die Boote von Gródek am Bug. Die einen wie die anderen stanken nach Teer, Fisch und Schlamm. Letztere wurden zum Fang der Teichmuschel benutzt, die man dann an die Schweine verfütterte. Am Ufer lagen Haufen von grünlich-ovalen Schalen. Das war in den siebziger Jahren. Manche Boote waren im Ufergestrüpp vertäut und liefen voll Wasser. Ihre Besitzer waren gestorben oder alt geworden.

Stuttgart, wieder Stuttgart, wieder der Bahnhof ein paar Monate später, doch der Eindruck, das sei der Gara de Nord, ist geblieben, obwohl ich diesmal nüchtern wie ein Säugling unterwegs bin, diesmal kaufe ich im Bahnhofsladen keinen Rotwein für zehn Euro die Flasche und habe auch keinen Jim Beam im Rucksack. Der Beam ist leichter, praktischer und schmeckt im Grunde wie ein etwas stärkerer Wein, aber er raubt dir zu schnell den Verstand. Diesmal also nüchtern. Der Alte, der Kalenderblätter verteilt, ist nicht da. Es ist Samstag, der Tourismus boomt. Die Deutschen lieben ihr Land und besichtigen es am Wochenende. Der Bahnhof hat einen zehnstöckigen Turm aus behauenem Stein. Dort fährt man mit dem Fahrstuhl hoch und bewundert die Stadt. Sie machen das. Der Fahrstuhl ist überfüllt. Rote Dächer, Grün, irgendwo fließt der Neckar, aber vom Turm aus sieht man ihn nicht. Man zeigt und benennt einander konzentriert: das Planetarium, den Park, die Altstadt, das Schloß, die Stiftskirche… Oben auf dem Turm hat man einen großen, silbernen Mercedes-Stern montiert. Im Grunde genommen gehört die ganze Stadt Mercedes. Wenn nicht im Wortsinne, so doch mental. Hier fängt das an. Zehn, fünfzehn Jahre später geht es auf den Autofriedhöfen in Albanien, der Türkei oder Montenegro zu Ende. Die Mercedes fahren bis zum Schluß und leben von allen Autos am längsten. Die meisten sterben fern der Heimat: auf der Krim, in Anatolien, in Afrika. Das war eine gute Idee: etwas zu bauen, was auch noch nützlich ist, wenn es eigentlich schon unbrauchbar ist. Das wird die Zukunft sein. Jemand wird unseren Müll abholen und sich noch darüber freuen. Ich spaziere über den leeren Bahnsteig, da taucht sofort ein Fräulein in Bahneruniform auf und erklärt mir, daß der Zug heute woanders abfährt, sie bittet um Entschuldigung. Ich tröste sie damit, daß ich eigentlich auf die S-Bahn warte, die ein paar Etagen unter der Erde abfährt, aber lieber hier an der Oberfläche stehe, wo mich alles an den Gara de Nord erinnert. Um heil zu bleiben, trinke ich manchmal, und manchmal vergleiche ich. An viele Dinge erinnere ich mich nicht und muß sie mir neu ausdenken. Kürzlich habe ich mir sogar den deutschen Pascal gekauft. Ich komme zurück und lese, wo ich war. Oder ich lese vorher, wo ich sein werde, um keine Zeit mit dem Einprägen, Besichtigen und so weiter zu verlieren. Von Sehenswürdigkeiten habe ich immer lieber gelesen, als sie zu besichtigen. Das Besichtigen hat so etwas Zwanghaftes, da muß man Bewunderung und Interesse heucheln. Manchmal führt mir jemand stolz etwas vor, und ich fühle mich wie ein Betrüger, weil ich nicke, aber nichts, aber auch gar nichts für den Turm, das Tor, das Schloß oder was solcher Wunder mehr sind, übrig habe. Ich mag den Loreley-Felsen, diesen Ort mag ich wirklich. Zweimal bin ich dort auf dem Schiff vorbeigefahren, zehnmal mit dem Zug, und er macht noch immer Eindruck auf mich. Ich mag an die fünfzig Orte in Deutschland, aber außer der Loreley steht keiner von ihnen in meinem Pascal. Auch die Gegend um den Hauptbahnhof von Frankfurt am Main steht nicht darin, an einem Sonntagvormittag mit blutbeflecktem Klopapier auf dem Bürgersteig und Typen, die in den Kneipen um acht Uhr morgens auf den an der Decke hängenden Fernsehbildschirm starren. So war es im albanischen Saranda, so ist es hier. Sie sitzen und rauchen in Scharen, in ihren Stammesverbänden, sie sitzen und warten. Auf der Straße stehen blasse, verkaterte Kleinkriminelle mit den Frisuren der siebziger Jahre: vorne kurz, hinten wallt es schulterlang. Das sieht man nirgends mehr, nur am Frankfurter Hauptbahnhof. Sie stehen und warten. Blaß blond. Die vom Balkan, aus der Levante, sind schwarz und tragen normale Frisuren. Ich mag diese Gegend. Von der Lindenstraße, wo ich manchmal in der Suhrkamp-Gästewohnung übernachte, zum Bahnhof sind es zehn Minuten. Aus einem eleganten, stillen Viertel mitten hinein ins Emigranten-Babylon. Große, fette Russen stehen da mit ihren Goldketten und Schuhen mit halbem Meter langer Spitze. Speck und Schnaps. Da stehen sie und gucken und bilden sich ein, das alles gehörte ihnen. Sie könnten genausogut Pelzhauben und bodenlange Seidenröcke tragen. Nichts hat sich verändert. Der Morgen ist träge und verschlafen. Die Puffs schlafen, die Pornokinos schlafen. Aufgestanden ist nur, wer es vor lauter Kater und Fixerhunger nicht aushielt und Rettung sucht. Und dann diese Typen aus den Kneipen, die im Morgengrauen aufstehen und sich gleich treffen müssen, weil sie nicht ohne einander leben können. Direkt vor dem Bahnhof prüfen zwei Bullen die Papiere bei einem kahlgeschorenen Typen in Lederjacke. Der Kerl ist groß und massiv und hat slawische Züge. Er guckt über die Köpfe der Bullen weg, in eine unbestimmte deutsche Leere. Sein Gesicht drückt absolute Gleichgültigkeit aus. Aber das alles steht in keinem Pascal und in keinem Lonely Planet. Dort fehlen auch die fünfundfünfzig deutschen Bahnhöfe, an denen ich eingestiegen bin, gewartet habe oder umsteigen mußte. Begonnen hat alles in Leipzig vor sieben oder acht Jahren im März. Ich war vor Mitternacht aus dem Zug gestiegen, und niemand wartete auf mich, obwohl er hätte sollen. Jemand aus Polen. Ich war aus Krakau gekommen, mit zwanzig Mark und ohne Adresse, ohne eine Telefonnummer. Trotz der späten Stunde waren am Bahnhof große Maschinen in Betrieb, ein Umbau oder eine Renovierung, Bagger, Bulldozer, Rammen, etwas in der Art. Niemand wartete auf mich, und davon kommt bestimmt meine deutsche Einsamkeit. Ich wanderte bis zum Morgengrauen umher. Ich guckte mir Leipzig an. Ging zum Bahnhof zurück und dann wieder angucken. Ich war erschöpft und hatte manchmal den Eindruck, die ganze Stadt mit dem schwarzen Himmel würde unter die Bahnhofskuppel passen. Bullen und Skins streiften in meiner Nähe umher. Beide in ein und demselben gemächlichen Patrouillenschritt. Ich wäre gern unsichtbar gewesen. Ich ging raus. Ich sah mir die Thomaskirche an. Dachte über Johann Sebastian Bach nach. Zum Glück hatte ich genug Zigaretten dabei. Ich sah mir das Rathaus an. Die Straßen waren leer. Ich hörte das Echo meiner eigenen Schritte. Es war kalt. Deutschland schlief. Eigentlich hätte ich wütend sein sollen, empfand aber nur Verwunderung. Da war ich nun in Deutschland. Alles ertrank in Stille und Dunkelheit. Nur die Bullen und die Skins waren lebendig. Ich dachte an den Krieg und an die zerbombten, entvölkerten Städte. Auf dem Bahnhof war alles zu. Kein Essen, kein Kaffee, nur diese dröhnenden Maschinen, Scheinwerfer und Typen in Blaumännern, aber um Mitternacht verschwanden auch sie. Ja, innen drin war Deutschland kalt. Ich ging im Kreis. Durch die Abgründe der Nacht spukten DDR-Plattenbauten. Acht Stunden lang sagte ich kein Wort. Ich brummelte in mich hinein. Um sieben wurde der Imbiß geöffnet. Ich kaufte Kaffee und Kuchen. Mir war alles egal, von mir aus hätte ich zurückfahren können. Ich hatte Deutschland gesehen, mein Gewissen war rein. Ich hatte meine Pflicht getan. Jeder Mensch sollte Deutschland gesehen haben, und sei es nur aus der Ferne und im Dunkeln.

Ich wollte zurück. Ohne Fahrkarte einsteigen und mich nicht rauswerfen lassen. Gegen Mittag ging etwas nach Polen. Ich hatte noch ein paar Mark, konnte einen Kaffee trinken und noch ein Stück Kuchen essen. Aber irgendwann gegen acht traf ein Zug aus Polen ein. Zehn Schriftsteller stiegen aus und wurden begrüßt von denen, die mich nicht abgeholt hatten. Das heißt, denen vom Polnischen Institut in Leipzig. Irgendein Idiot hatte sich geirrt und mir die falschen Fahrkarten geschickt. Ich ging mit ihnen, um mich aufzuwärmen und satt zu essen. Das war die Buchmesse. Sechs- oder siebenundneunzig, vielleicht auch achtundneunzig. Sie fand noch am alten Ort statt, in der Nähe des Marktplatzes.

Ich wollte ein bißchen schlafen, doch die, die gekommen waren, die Schriftsteller, wollten Wodka trinken. Ich war der Jüngste und hatte nicht den Mut, nein zu sagen. Ich trinke nicht gern Wodka am Morgen mit anderen, schon gar nicht mit Schriftstellern. Morgens trinke ich gern allein. Ganz allein.