Ai Weiwei / Hans Ulrich Obrist
Ai Weiwei spricht
Interviews mit
Hans Ulrich Obrist
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
Mit einem Vorwort von Hans Ulrich Obrist
Carl Hanser Verlag
Titel der Originalausgabe:
Ai Weiwei Speaks with Hans Ulrich Obrist
This collection first published 2011
First published in Great Britain in the English language by the Penguin Group
The acknowledgements on pp. 140 ff. constitute an extension of this copyright page
All rights reserved
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ISBN 978-3-446-23847-3
This collection copyright © Hans Ulrich Obrist, 2011
Alle Rechte der deutschen Übersetzung: © Carl Hanser Verlag München 2011
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von © imago/UPI Photo
Layout und Satz: Iris Kochinka, München
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Inhalt
7Vorwort
Gespräche
13Digitale Architektur – analoge Architektur
41Nachhaltigkeit – Ein postolympisches Gespräch
59Die vielen Dimensionen des Ai Weiwei
95Die Retrospektive
131Kartographie
Anhang
140Danksagung
141Bildnachweis
| Bildnachweis |
Vorwort
Mit den Arbeiten von Ai Weiwei kam ich erstmals in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Berührung. Als ich zusammen mit Hou Hanru unsere Ausstellung Cities on the Move vorbereitete, hielten wir uns in der Schweizer Botschaft in Peking auf, zusammen mit dem damaligen Botschafter Uli Sigg. Uli Sigg ist ein großer Förderer und Sammler zeitgenössischer Kunst, und überall im Botschaftsgebäude fanden sich chinesische Kunstwerke. Seitdem habe ich Ai Weiwei viele Male getroffen, und wir haben über zehn Jahre hinweg immer wieder Interviews geführt. Ai Weiwei arbeitet unablässig daran, den Kunstbegriff zu erweitern: Er ist Künstler, Dichter, Architekt, Kurator, Fachmann für altchinesisches Kunsthandwerk, Verleger, Stadtplaner, Sammler, Blogger und so weiter. Die parallelen Wirklichkeiten in seinem Werk sind höchst vielschichtig, und das macht ihn so einzigartig.
Geboren wurde Ai Weiwei 1957, als Sohn des Dichters Ai Qing, der als einer der bedeutendsten Lyriker des modernen China gilt. 1958 wurde Ai Qing antikommunistischer Umtriebe beschuldigt, erhielt Schreibverbot und wurde in die Provinz Xinjiang verbannt, wo Ai Weiwei seine Jugend verbrachte. Später ging Ai Weiwei dann nach Peking und lernte bei verbotenen Künstlern – Freunden seines Vaters – das Zeichnen. Diese Kunstform wurde für ihn zu einer alltäglichen Praxis, und noch heute hält er viele seiner Ideen mit ein paar schnellen Strichen fest. Ende der 1970er Jahre gehörte er einer Gruppe junger Künstler in Peking an und war bestrebt, seine persönliche und künstlerische Freiheit zu erweitern. 1981 beschloss er, China zu verlassen und nach New York zu gehen. Ai freundete sich mit dem Beatpoeten Allen Ginsberg an und tauchte in die lokale Kunstszene ein. Damals gab er die Malerei auf, weil er erkannte, dass sich ein Künstler jedes Objekts und jedes Mediums bedienen konnte. Er wandte sich der Fotografie zu und bearbeitete mit ihrer Hilfe politische Themen wie die Diaspora chinesischer Künstler in New York. In Amerika schuf er zudem seine ersten Installationen.
1993 erkrankte sein Vater schwer, und Ai Weiwei kehrte nach China zurück; Ai Qing starb 1996. Ai Weiwei begann nun damit, in seinen Kunstwerken über das Spannungsverhältnis zwischen traditioneller Kultur und der sich rasant wandelnden Moderne nachzudenken. Und da es keine Institutionen für zeitgenössische Kunst gab, bemühte er sich auch um die Konstituierung einer lokalen Kunstszene: Er veröffentlichte drei Bücher – The Black Cover Book (1994), The White Cover Book (1995) und The Grey Cover Book (1997) –, die Interviews mit zeitgenössischen chinesischen Künstlern enthielten und ihre Werke vorstellten. Diese Bücher bildeten eine Art Manifest der chinesischen Avantgardekunst. Darüber hinaus arbeitete er als Ausstellungskurator und gründete 1997/98 den alternativen Ausstellungsraum der China Art Archives and Warehouse, das »China Kunstarchiv und Warenhaus«. Davor war Kunst vorwiegend in Hotels, Wohnungen und Rahmengeschäften präsentiert worden.
1999 baute sich Ai Weiwei im Norden Pekings sein eigenes Atelier. Inspirieren ließ er sich dabei unter anderem von einem Buch über das Haus, das der Philosoph Ludwig Wittgenstein 1926–1928 für seine Schwester in Wien entworfen und errichtet hatte. Ai Weiwei entwarf das Atelier selbst, und zwar allein aus praktischen Gründen, doch als es wegen seiner einfachen Strukturen und Materialien große Beachtung und Zustimmung fand, ergab sich daraus für ihn schon bald ein weiteres Tätigkeitsfeld als Architekt; inzwischen hat er über fünfzig Projekte realisiert. Seitdem er zusammen mit dem Schweizer Büro Herzog & de Meuron das Olympiastadion in Peking (2008) entworfen hat, gehört er sogar zu den bekanntesten Architekten Chinas. In seiner Kunst und seiner Architektur verwendet er oftmals ganz einfache Objekte und gibt ihnen dann eine ganz neue Perspektive. Ai Weiweis breitgefächertes Interesse an Kunst, Architektur und Literatur erinnert mich an die großen Künstler der Renaissance.
Im Jahr 2006 begab sich Ai Weiwei auf ein weiteres neues Feld und begann mit seinem Internetblog; die nachfolgenden Gespräche zeigen, wie bedeutsam dieser Schritt war. Ein großes Internetunternehmen bot ihm an, einen Blog zu verfassen, und unterstützte ihn in technischen Fragen. Der Blog entwickelte sich schon bald zu einem täglichen Notizbuch, in dem er auch Tausende von Fotos »postete«, um seinen künstlerischen und privaten Alltag zu dokumentieren – ganz ähnlich seiner Zeichenpraxis in den 1970er Jahren. Jeden Tag besuchten über 100 000 Menschen seinen Blog, bis ihn die Regierung im Mai 2009 sperrte. Anfang 2011 veröffentlichte MIT Press die englische Übersetzung des Blogs; eine deutsche Ausgabe erschien im gleichen Jahr. Es ist ein Buch über Leben und Kultur in China. Es geht darin um Liebe, Sex, Identität, Interviews, Essen, die Spannung zwischen Geschichte und Moderne, die Olympischen Spiele, Musik, Fernsehen, Shoppen, den Tod, die Regierung, Religion und so weiter. Ai Weiwei hat ein schier unglaubliches Netz aus Gedanken und Worten gewoben. Das Bloggen schafft Wirklichkeit, statt sie einfach nur abzubilden. Ai Weiwei gehört zu den kundigsten Führern auf diesem neuen Terrain. Im Lauf der Jahre sind all diese verschiedenen Aktivitäten Teil von Ai Weiweis erweitertem Kunstbegriff geworden. Sein ganzheitlicher Ansatz lässt sich mit dem von Joseph Beuys vergleichen und in dessen Sinne als »Soziale Plastik« betrachten.
In unseren Interviews sprachen wir über all diese Dimensionen seiner Arbeit, aber auch über das, was sie miteinander verbindet. In gesammelter Form bieten diese Gespräche eine Einführung in die bemerkenswerte Vielschichtigkeit des künstlerischen Denkens und Schaffens von Ai Weiwei. In einem dieser Gespräche beschrieb er seinen Ansatz so: »Tatsächlich sind wir ein Teil der Wirklichkeit, und wenn wir das nicht erkennen, sind wir völlig verantwortungslos. Wir sind produktive Wirklichkeit. Wir sind die Wirklichkeit, aber dieser Teil der Wirklichkeit bedeutet, dass wir eine andere Wirklichkeit erzeugen müssen.« Das ist nicht nur ein künstlerisches Statement, sondern auch ein politisches. Es erinnert uns daran, wie essentiell wichtig kulturelles und politisches Handeln in der gegenwärtigen Situation sind.
Als er noch ein Kind war, so hat Ai Weiwei mir einmal erzählt, musste sein Vater sämtliche Bücher, die er besaß, verbrennen. Und als Ai Weiwei 1993 nach China zurückkehrte, begann er sofort Bücher wie das Schwarzbuch, das Weißbuch und das Graubuch zu produzieren. Er besitzt eine Affinität zu Büchern. Das hier vorliegende Buch soll ihm Unterstützung sein und die zahlreichen Dimensionen seines Tuns sichtbar werden lassen.
Hans Ulrich Obrist
London, im Mai 2011
| Bildnachweis |
Den Künstler Ai Weiwei kannte ich seit den 1990er Jahren, doch besonders interessant fand ich die Tatsache, dass er auch mit seiner Architektur Erfolg hatte, wo er doch stets für sein künstlerisches Schaffen bekannt gewesen war. Mich interessierte dieser Moment, wenn Künstler sich auf neue Felder begeben. Vor allem eine Frage trieb mich besonders um: Wie funktioniert das, wie geht das vor sich? Inwiefern verfügt ein Künstler über die Fähigkeit und die Möglichkeit, außerhalb der Kunst zu arbeiten?
Als ich – zusammen mit Phil Tinari – Ai Weiwei häufiger traf, merkte ich ziemlich schnell, dass es fast unmöglich ist, ihn in einem einzigen Interview so richtig zu erfassen, denn er besitzt verschiedene Ateliers für unterschiedliche Wirklichkeiten: Kunst, Architektur und Design. Teil I des folgenden Gesprächs fand im September 2006 in Ai Weiweis Studio bei ihm zu Hause in Peking statt. Teil II fand im Mai 2006 statt und wurde erstmals in der Zeitschrift Domus veröffentlicht (Ausgabe Juli/August 2006), anlässlich der Fertigstellung des Jinhua Architecture Park, eines Gemeinschaftsprojekts, das von Ai Weiwei und seinem Architekturbüro organisiert wurde.