Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
»Die Kunst, Vorworte zu schreiben, erhebt schon lange Anspruch auf ein Heimatrecht. Und ich spüre schon längst das Bedürfnis, diesem okkupierten Schrifttum Genüge zu tun, das seit vierzig Jahrhunderten in der Sklaverei der Werke, an die es gefesselt ist, über sich selbst schweigt.« Mit diesem ironischen Motto beginnt das Vorwort des Autors zu seiner Sammlung imaginärer Vorworte. Das erste Buch, zu dem wir eine Einführung von Stanisław Estel lesen, ist ein Bildband mit 139 Reproduktionen. Der Leser wird es sicher bedauern, in diesem Fall nur mit dem Vorwort vorlieb nehmen zu müssen. Weitere Vorworte geben Einführungen in die Eruntik, das ist die Lehre von den sprechenden Bakterien, in die Geschichte der Britischen Literatur – entstanden aus bits, den »Informationshäppchen«, mit denen Großcomputer in ihrer »Ruhezeit« frei assoziieren. Die letzte Einführung gilt dem Wirken des amerikanischen Großcomputers Golem XIV, der einer Generation von Prozeßrechnern mit Verstandesqualitäten angehört.
Imaginäre Größe
Aus dem Polnischen von
Caesar Rymarowicz und Jens Reuter
Phantastische Bibliothek
Band 47
Suhrkamp
Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner
Titel des Originals: Wielkość urojona
Warszawa: Czytelnik 1973
Für die Übersetzung Golems Antrittsvorlesung
© Insel Verlag Frankfurt am Main 1976
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© by Stanisław Lem 1973
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-74323-2
www.suhrkamp.de
Einführung
Cezary Strzybisz: Nekrobien
Reginald Gulliver: Eruntik
Juan Rambellais: Geschichte der bitischen Literatur
Vestrands Extelopädie in 44 Magnetbänden
Vestrands Extelopädie: Probebogen gratis!
Golem XIV
Vorrede
Vorwort
Belehrung
Golems Antrittsvorlesung
Die Kunst, Vorworte zu schreiben, erhebt schon lange Anspruch auf ein Heimatrecht. Und ich spüre schon längst das Bedürfnis, diesem okkupierten Schrifttum Genüge zu tun, das seit vierzig Jahrhunderten in der Sklaverei der Werke, an die es gefesselt ist, über sich selbst schweigt. Wann, wenn nicht in der Epoche der Ökumenisierung, das heißt der Ära der Allgründe, sollte man diese edle, bereits in der Entstehung gehemmte Gattung endlich mit Unabhängigkeit bedecken? Ich hatte zwar damit gerechnet, daß ein anderer diese Pflicht erfüllen würde, die nicht nur ästhetisch mit der Entwicklung der Kunst übereinstimmt, sondern auch moralisch dringlich geboten scheint. Leider habe ich mich verrechnet. So schaue ich vergebens und warte: Niemand unternimmt es, die Vorwortschreiberei aus dem Zwinger der Unfreiheit, aus der Tretmühle des Frondienstes herauszuführen. Also gibt es keinen anderen Rat: Ich muß selbst, obschon eher aus Pflichtgefühl denn aus einer Regung des Herzens, der Introduktionistik zu Hilfe eilen – um ihr Befreier und Geburtshelfer zu werden.
Dieses schwer geprüfte Gebiet hat sein niederes Reich, das der gedungenen Vorworte, der wergleinenen Zug- und Soldleistungen, da Sklaverei demoralisiert. Es kennt aber auch Hochnäsigkeit und Launenhaftigkeit, die banale Geste und die jerichonische Aufgeblasenheit. Neben den serienmäßigen Vorworten gibt es auch Chargen – Vorreden und Einleitungen, und auch die gewöhnlichen Vorworte sind einander nicht gleich, denn ein Vorwort zum eigenen Buch ist etwas anderes als das zu einem fremden. Auch ist es nicht dasselbe, ob man es einer ersten Auflage voranstellt oder ob man Mühe darauf verwendet, Vorworte für mehrere aufeinanderfolgende Auflagen zu vervielfältigen. Die Macht einer Sammlung selbst nichtssagender Vorworte, die ein Werk annimmt, das mit steter Zudringlichkeit verlegt worden ist, verwandelt das Papier in einen Felsen, der die Anschläge von Eiferern zunichte macht – wer nämlich wird es wagen, ein Buch mit einem solchen Brustpanzer anzugreifen, hinter dem man bereits nicht so sehr den Inhalt als vielmehr seine unantastbare Respektabilität erkennen kann.
Das Vorwort pflegt, aus Würde oder aus Stolz, eine maßvolle Ankündigung zu sein, ein vom Autor unterzeichnetes Obligo, dann wieder – eine durch Rücksichten erzwungene, flüchtige, obschon freundschaftliche Bekundung eines im Grunde geheuchelten Engagements einer Autorität für ein Buch: also sein eiserner Brief, das Geleitschreiben, der Passierschein für die große Welt, ein Viatikum aus mächtigem Mund – aber ein vergeblicher Kunstgriff, der das nach oben zieht, was doch wieder versinken wird. Unzahlbar sind diese Wechsel – und selten nur wird einer Gold ausschütten oder gar Prozente erbringen. Doch ich möchte das alles übergehen. Ich beabsichtige nicht, mich auf eine Wertung der Introduktionistik oder auch nur auf eine grundlegende Klassifizierung dieser bisher geringgeschätzten, an der Kandare gehaltenen Gattung einzulassen. Kutschpferde und Schindmähren pflegen gleichermaßen im Gespann zu gehen. Mögen sich die Linnäusse mit dieser Zugseite der Dinge befassen. Kein Vorwort von dieser Art soll meine kleine Anthologie der Befreiten Vorworte einleiten.
Man muß hier in die Tiefe gehen. Was kann ein Vorwort sein? Gewiß – eine Reklame, die einem offen ins Gesicht lügt, aber auch ein Rufen in der Wüste wie bei Johannes dem Täufer oder bei Roger Bacon. Die Überlegung zeigt uns also, daß es neben den Vorworten zu Werken auch Vorwort-Werke gibt, denn sowohl die heiligen Bücher jeglichen Glaubens als auch die Thesen und Futuromachien der Gelehrten sind Einführungen – ins Diesseits und ins Jenseits. Die Reflexion verrät also, daß das Reich der Vorworte ungleich umfassender ist als das Reich der Literatur; was diese nämlich zu verwirklichen versucht, verkünden die Vorworte nur aus der Ferne.
Die Antwort auf die bereits bohrende Frage, warum zum Teufel man sich in einem Kampf um die Befreiung der Vorworte einlassen solle, um sie als ein souveränes schriftstellerisches Genre vorzuschlagen, wird aus dem soeben Gesagten ersichtlich. Man kann sie entweder im Nu erteilen oder aber unter Zuhilfenahme der höheren Auslegekunst. Zunächst läßt sich dieses Projekt ganz unpathetisch – mit dem Rechenbrett in der Hand begründen. Bedroht uns nicht die Sintflut der Information? Und liegt nicht darin ihre Ungeheuerlichkeit, daß sie das Schöne durch das Schöne zermalmt und die Wahrheit durch die Wahrheit vernichtet? Und dies, weil die Stimme von einer Million Shakespeares genau denselben Radau und wütenden Lärm darstellt wie das Brüllen einer Büffelherde in der Steppe oder das Tosen der Wellen auf dem Meer. So bringen Milliardensinne, wenn sie zusammenstoßen, dem Denken keine Ehre, sondern Untergang. Ist nicht in Anbetracht dieser Fatalität nur noch das Schweigen die rettende Arche des Bündnisses zwischen Autor und Leser, da der erstere sich ein Verdienst erwirbt, indem er dem Ersinnen jeglicher Inhalte entsagt, und der zweite – indem er einem so erwiesenen Verzicht Beifall zollt? Gewiß ... und man könnte sich sogar des Schreibens der Vorworte enthalten, aber dann würde ja der Akt der manifestierten Zurückhaltung gar nicht wahrgenommen und somit auch das Opfer nicht akzeptiert werden. Daher sind meine Vorworte Ankündigungen solcher Sünden, deren ich mich enthalten werde. Diese auf der Ebene einer kühlen und rein äußerlichen Überlegung. Aber diese Kalkulation erklärt noch nicht, was die Kunst durch den verkündeten Freispruch gewinnt. Wir wissen bereits, daß auch ein Übermaß an himmlischem Manna steinigend zu wirken vermag. Wie soll man sich davor retten? Wie den Geist vor der Selbstvernagelung schützen? Und liegt tatsächlich gerade hier die Rettung, führt der einzige und gute Weg gerade durch die Vorworte?
Witold Gombrowicz, der herbeizitierte strahlende Doktor und Krautjunker-Hermeneutiker, hätte die Sache so ausgelegt. Es geht aber nicht darum, ob jemandem, und wäre es mir, der Einfall, die Vorworte von den Inhalten zu befreien, die sie ankündigen sollen, gefällt oder auch nicht gefällt. Wir sind nämlich unwiderruflich den Gesetzen der Formentwicklung ausgesetzt. Die Kunst kann nicht an einer Stelle verharren und darf sich auch nicht immerfort wiederholen: Eben deshalb darf sie nicht nur gefallen. Hast du ein Ei gelegt, mußt du es auch ausbrüten; schlüpft daraus ein Säuger statt eines Reptils, dann muß man ihm etwas zum Saugen geben; wenn uns also der nächste Schritt zu dem führt, was allgemeinen Unwillen, ja sogar einen Zustand des Erbrechens verursacht, so gibt es dagegen kein Mittel: Eben das haben wir uns durch eigene Arbeit erworben, so weit haben wir uns selber bereits gedrängt und gezogen, also werden wir von einem höheren Gebot aus, als es die Annehmlichkeit wäre, das Neue im Auge, im Ohr, im Geist – drehen und wenden müssen, das uns kategorisch appliziert wurde, da man es auf dem Wege zu den Höhen entdeckte, auf dem Wege dorthin, wo zwar niemand gewesen ist und auch nicht sein möchte, weil unbekannt ist, ob man es dort auch nur eine Weile aushalten kann – aber, fürwahr, das hat für die Entwicklung der Kultur nicht die geringste Bedeutung! Dieses Lemma läßt uns mit einer Desinvolture, wie sie nonchalanter Genialität eignet, eine – die alte – spontane, also unbewußte Sklaverei in eine neue verwandeln; es zerreißt nicht die Fesseln, sondern verlängert uns nur die Laufleine; und in der Tat, es treibt uns ins Ungewisse, indem es als Freiheit bezeichnet, was eine wohlverstandene Notwendigkeit ist.
Ich jedoch, ich gestehe es ehrlich, ich lechze nach einer anderen Begründung für Häresie und Auflehnung. Ich sage also: Es ist in gewisser Weise wahr, was hier erstens und zweitens behauptet wurde, aber es ist nicht die volle Wahrheit – und nicht vollends dem Zwang ähnlich; wir können nämlich, drittens, für die Kreation eine Algebra anwenden, die wir dem Allmächtigen abgeluchst haben.
Beachten Sie bitte, wie wortreich die Bibel, wie weitschweifig der Pentateuch in der Schilderung des Resultats der Genesis sind – und wie lakonisch im Aufzeigen ihrer Rezeptur! Das war Zeitlosigkeit und Chaos, und plötzlich – ganz unvermittelt – sagte der Herr: »Es werde Licht«, worauf dies erfolgte und basta, aber zwischen dem einen und dem anderen – hatte er da nichts gegeben, gar keine Ritze, kein Mittel? Glaube ich nicht! Zwischen dem Chaos und der Schöpfung war die reine Intention, noch nicht vom Licht getroffen, noch nicht vollends im Kosmos engagiert, noch nicht befleckt von der paradiesischen Erde.
Es gab nämlich auch damals die Entstehung von Chancen, aber noch keine Verwirklichung; es gab die Absicht, die dadurch göttlich und allmächtig war, daß sie noch nicht begonnen hatte, sich in Aktion zu verwandeln. Es gab die Verkündigung – vor der Empfängnis ...
Wie sollte man nicht diese Lehre nutzen? Es handelt sich nicht um ein Plagiat, es geht um die Methode. Woher kam nämlich alles? Aus dem Anfang, natürlich. Und was war am Anfang? Die Einführung, wie wir bereits wissen. Ein Vorwort, aber kein selbstherrliches, egoistisches, sondern ein Vorwort zu Etwas. Widersetzen wir uns einer zügellosen Verwirklichung, wie es die Genesis war – wenden wir bei ihrem ersten Lemma die Algebra einer maßvolleren Schöpfung an!
Wir teilen nämlich das Ganze durch »etwas«. »Etwas« verschwindet dann, und zurück bleibt – als Lösung – das Vorwort, gereinigt von bösen Folgen, namentlich von allen Drohungen der Inkarnation, rein intentionell und in diesem Zustand sündenfrei. Das ist nicht die Welt, sondern nur ein Punkt ohne Dimensionen, aber darum gerade im Unendlichen. Darüber, wie man die Literatur zu ihm hinführen soll, gleich mehr. Zunächst aber wollen wir uns deren Nachbarschaft ansehen – denn sie ist ja kein Anachoret.
Alle Künste sind heutzutage bemüht, ein Rettungsmanöver durchzuführen, denn die Expansion des Schaffens wurde ihr Alpdruck, ihre Hetzjagd, ihre Flucht – die Kunst explodiert wie das Universum ins Leere, ohne Widerstand, also ohne Halt zu finden. Wenn man schon alles kann, dann ist auch das Nichts etwas wert – und so verwandelt sich das rasende Tempo in einen Rückzug, denn die Künste wollen zur Quelle zurückkehren, wissen aber nicht wie.
Die Malerei ist in ihrem brennenden Verlangen nach Grenzen in die Maler gekrochen, in ihre Haut – und so stellt der Künstler bereits sich selbst aus, ohne Bilder, er ist also ein mit Pinseln ausgepeitschter oder in Öl und in Tempera gewälzter Bilderstürmer oder aber auch völlig nackt bei der Vernissage, ohne farbliche Zutaten. Leider kann dieser Unglückselige nicht zur authentischen Nacktheit gelangen: Er ist kein Adam, sondern nur ein Herr, der sich vollends ausgezogen hat.
Und der Bildhauer, der uns seine unbehauenen Steine vorsetzt oder der durch die Ausstellung jeglichen Müll adelt, versucht ins Paläolithikum zurückzukriechen, in den Urmenschen – denn zu einem solchen, das heißt zu einem authentischen Original, möchte er werden! Doch er hat es noch weit zum Höhlenmenschen. Nicht hierlang führt der Weg zum rohen Fleisch barbarischer Expression! Naturalia non sunt turpia – das heißt aber lange noch nicht, daß jegliche primitive Verwilderung eine Rückkehr zur Natur bedeutet.
Was dann, bitte? Klären wir die Sache am Beispiel der Musik. Ihre größte und nächste Chance steht nämlich gerade vor ihr offen.
Übel tun die Komponisten, die dem Kontrapunkt die Knochen brechen und die Bachs in Computern zerstäuben – auch ein Trampeln mit Elektronen auf den Schwänzen einer hundertfach verstärkten Katze wird nichts weiter erzeugen als eine Herde künstlicher Jauler. Ein falscher Kurs und ein falscher Ton. Der zielbewußte Erlöser – der Neuerer – ist noch nicht gekommen.
Voller Ungeduld warte ich auf ihn – ich warte auf sein Werk einer konkreten Musik, die im Befreien von der Lüge in den Schoß der Natur zurückkehrt, ein Werk, das die Fixierung jener chorischen, obschon eng privaten Darbietungen sein wird, denen sich jedes Publikum im Konzertsaal widmet, da es ja nur in der Äußerlichkeit seiner Andacht kulturvoll ist, nur mit der gezähmten Peripherie der Organismen das schweißtriefende Orchester kontempliert.
Ich glaube, daß diese von hundert Mikrofonen erlauschte Sinfonie eine dunkle, monotone Instrumentation haben wird, wie sie den Därmen eignet, denn ihren klanglichen Hintergrund werden verstärkte Dünndarmbässe, also Borborygmen von Personen bilden, die in eine unabwendbare Bauchstürmerei fanatisch verbissen sind, welche im Knurren gelagert, glucksend exakt und voll eines verzweifelten Verdauungsausdrucks ist – denn authentisch, da organisch und nicht orgelhaft, ist diese Stimme der Innereien – die Stimme des Lebens! Ich vertraue auch darauf, daß sich das Leitmotiv im Takt der Sitzperkussion entfalten wird, wie sie das Quietschen der Stühle akzentuiert, mit heftigen, spasmatischen Eingaben der Nasenwischerei und mit Akkorden glanzvoller Koloraturen des Hustens. Die Bronchien werden aufspielen ... und ich ahne hier schon so manches Solo, ausgeführt mit der Meisterschaft asthmatischer Greisenhaftigkeit, ein wahres Memento mori vivace ma non troppo, die Darbietung einer agonalen Piccoloflöte, denn die authentische Leiche wird im Dreivierteltakt mit dem künstlichen Gebiß klappern, das rechtschaffene Grab wird in der röchelnden Luftröhre pfeifen – nun, eine solche Wahrheit des sinfonischen Verdauungstrakts, dermaßen lebensecht, ist unnachahmbar.
Die gesamte somatische Initiative der Leiber, die bislang irrtümlicherweise durch die künstliche Musik übertönt wurde, ungeachtet ihrer tragisch, weil unwiderruflich eigenen Klänge, schreit nach triumphaler Revindikation – als Rückkehr zur Natur. Ich kann mich nicht täuschen – ich weiß, daß die Uraufführung der Viszeralen Sinfonie einen Durchbruch bedeuten wird, denn so und nur so wird das traditionell passive, zum Rascheln beim Auseinanderwickeln von Minzbonbons verurteilte Publikum die Initiative übernehmen – endlich! – und in der Rolle eines sich selbstverwirklichenden Orchesters die Rückkehr zu sich selbst aufführen – fanatisch versessen aufs Entzaubern, aufs »Entlügen« – diese Losung unseres Jahrhunderts.
Der Schöpfer und Komponist wird wieder nur ein Priester-Vermittler sein zwischen der schreckensstarren Menge und der Moira – denn das Schicksal unserer Därme ist unsere Bestimmung ...
So wird denn das distinguierte Kollektiv der Connaisseurs und Zuhörer ohne jedwedes Nebengeklimper die selbstdarstellende Sinfonie erleben, denn es wird sich bei dieser Uraufführung nur an sich selbst delektieren – und ängstigen ...
Und die Literatur? Sie ahnen es wohl schon: Ich will euch euren Geist wiedergeben, in seinem ganzen Umfang, ebenso wie die viszerale Musik dem Publikum den eigenen Körper zurückgibt – das heißt, wie sie genau in der Mitte der Zivilisation zur Natur hinabsteigt.
Und eben deshalb kann die Vorwortschreiberei nicht länger unter dem Fluch der Sklaverei leben, ausgeschlossen vom Befreiungswerk. Ich wiegele also nicht nur die Belletristen und ihre Leser zum Aufstand auf. Dabei schwebt mir Auflehnung vor, keine allgemeine Verwirrung der Geister – kein Anstacheln der Theaterzuschauer, damit sie auf die Bühne kriechen oder damit die Bühne auf sie kriecht, wodurch sie unter Einbuße ihrer früheren Position, der angenehmen Überlegenheit, aus dem liquidierten Asyl des Zuschauerraums in den Kessel des heiligen Veit gestoßen werden. Keine Krämpfe und Zuckungen, nicht die abwegige Mimikry der Joga, sondern nur das Denken allein kann uns die Freiheit wiedergeben. So würdest du dich denn, verehrter Leser, wenn du mir das Recht auf den Befreiungskampf im Namen und zum Wohl der Vorworte absprechen wolltest, zur Rückschrittlichkeit, zur versteinerten Altväterlichkeit verurteilen, und selbst wenn du dir einen noch so langen Bart wachsen ließest – ins Neuzeitliche, Moderne wirst du doch nicht eingehen.
Du hingegen, mein Leser, der du erfahren bist im Antizipieren des Neuen, du Fortschrittler mit dem blitzschnellen Reflex, der du frei und ungezwungen in den Modekaskaden unserer Ära mitschwingst, du, der du ja weißt, daß wir weitergehen müssen, da wir höher geklettert sind als unser Affenurvetter (immerhin auf den Mond) – du wirst mich verstehen, wirst dich im Gefühl erfüllter Pflicht mit mir verbinden.
Ich werde dich betrügen, und gerade dafür wirst du mir Dankbarkeit erweisen; ich werde dir ein feierliches Versprechen geben, ohne im geringsten daran zu denken, es einzuhalten, und du wirst eben dadurch beruhigt sein oder wirst zumindest mit einer Meisterschaft, die der Sache würdig ist, heucheln, es sei an dem; den Stumpfsinnigen indes, die uns gemeinsam exkommunizieren möchten, wirst du entgegnen, sie seien mit ihrem Geist von der Epoche abgefallen und auf den Halden voller Müll gelandet, den die eilige Wirklichkeit ausgespien habe.
Du wirst ihnen sagen, dagegen könne man nichts tun. Ein Wechsel ohne (transzendentale) Deckung, ein (gefälschtes) Pfand, eine (undurchführbare) Ankündigung, die höchste Form des Ärgernisses – das sei eben heute die Kunst.
Also muß man gerade diese ihre Leere und diese Unausführbarkeit als Devise und Fundament hinnehmen; und deshalb habe ich, der ich das Vorwort zur Kleinen Anthologie der Vorworte schreibe, sehr wohl das Recht dazu, denn ich schlage Einführungen vor, die nirgendwohin einführen, sowie Vorreden, denen keine Reden folgen.
Aber mit jedem dieser ersten Schritte werde ich dir eine Leere von anderer Art und Bedeutungsfarbe öffnen, die in echten Heideggerschen Spektrallinien schillert. Ich werde voller Begeisterung, mit Hoffnung und großem Lärm die Türen der Altäre und Triptychen öffnen, Ikonostasen und Zarenpforten ankündigen, werde auf Stufen niederknien, die an der Schwelle von Räumen aufhören, die nicht etwa verödet sind, sondern in denen nie etwas war und nie etwas sein wird. Ach, dieses Spiel, das ernsthafteste von allen möglichen, geradezu tragisch, ist das Gleichnis unseres Schicksals, denn es gibt keine andere so menschliche Erfindung und keine andere Eigenschaft und Stütze der Menschheit als ein volltönendes, von Verpflichtungen befreites, unser Wesen für immer verschlingendes – Vorwort zum Nichts.
Die gesamte steinerne und grüne Welt, erstarrt und tosend, feuerrot entflammt in den Wolken und in den Sternen eingegraben, teilen wir mit den Tieren und mit den Pflanzen – das Nichts jedoch ist unsere Domäne und Spezialität. Der Entdecker des Nichts ist der Mensch. Aber es ist so schwierig, so ungewöhnlich, weil es eine unwirkliche Sache ist, die man nicht ohne eine sorgfältige Vorbereitung, nicht ohne geistige Übungen, nicht ohne eine langwierige Initiation und ohne Training versuchen kann; Unvorbereitete läßt sie zur Säule erstarren – daher muß man sich für eine Kommunikation mit dem präzis gestimmten, reich orchestrierten Nichts sehr gewissenhaft präparieren und jeden Schritt in seiner Richtung möglichst gewichtig, markant, materiell gestalten.
So werde ich denn hier Vorworte vorführen, wie man prachtvoll geschnitzte, goldgeschmiedete, mit allerhand Greifen und Grafen in majestätischen Supraporten gekrönte Türrahmen zeigt, werde bei dieser ihrer gediegenen, klangvoll massiven, uns zugewandten Seite deshalb Eide schwören, um den Leser ins Nichts zu stoßen – and ihn somit aus allen Seinsformen und Welten gleichzeitig zu drängen.
Ich gewährleiste und sichere eine wunderbare Freiheit zu, indem ich mein Wort gebe, daß dort Nichts sein wird.
Was ich dadurch gewinne? Den reichsten Zustand: den vor der Schöpfung.
Was gewinnst du, Leser? Die höchste Freiheit – denn ich werde dein Gehör mit keinem Wort im hehren Höhenflug trüben. Ich werde es nur an mich nehmen, wie ein Liebhaber eine Taube ergreift, und es, wie Davids Stein, wie einen Stein des Anstoßes, wegschleudern, damit es ins Unendliche fliegt – zu ewigem Gebrauch.
Nur wenige Jahre ist es her, da griffen die Plastiker nach dem Tode wie nach der Erlösung. Mit anatomischen und histologischen Atlanten ausgerüstet, begannen sie den Aktstudien das Gedärm herauszuzerren und in den Innereien zu wühlen, um die malträtierte Häßlichkeit unserer schamhaften Weichteile, die ganz zu Recht für den Alltag durch die Haut verhüllt sind, auf die Leinwand zu wälzen. Jedoch die Konzerte, die die Fäulnis in allen Farben des Regenbogens in den Ausstellungsräumen zu geben begann, wurden keine Sensation. Es wäre unzüchtig erschienen, wenn sich jemand von den Zuschauern getroffen gefühlt hätte, es wäre schauderhaft gewesen, wenn er erbebt wäre – doch so? Das regte nicht einmal die Tanten auf. Midas verwandelte alles in Gold, was er berührte, und die heutige Plastik liquidiert unter dem Fluch des entgegengesetzten Vorzeichens allein durch die Berührung des Pinsels den Ernst jeder Sache. Wie ein Ertrinkender greift sie nach allem und sinkt mit dem Ergriffenen auf den Grund, während die Zuschauer mit blasierter Gelassenheit dabeistehen.
Alles? Also auch den Tod? Warum hat seine Antimajestät uns nicht schockiert? Hätten uns diese blutig geschlämmten Blätter aus den vergrößerten Übersichtstafeln der Gerichtsmedizin nicht wenigstens – mit ihrem Horror – nachdenklich stimmen müssen?
Sie waren jedoch hilflos ... weil zu gekünstelt! Schon die Idee, die Erwachsenen zu erschrecken, war kindlich. Darum wollte und konnte das nicht ernst sein. Also erhielten wir statt eines Memento mori sorgsam gezauste Leichen – das allzu aufdringlich freigelegte Geheimnis der Gräber erwies sich als eine schlüpfrige Kloake. Dieser Tod konnte nicht reden – denn er war zu ostentativ. Die armen Plastiker, denen die Natur nicht mehr genügt, sie machten sich an die Eskalation des Grand Guignol und hielten sich selbst zum Narren.
Aber was tat nach einer solchen Kompromittierung, nach diesem Fiasko des Todes eigentlich Strzybisz, daß es ihm gelang, ihn zu rehabilitieren? Was sind eigentlich seine »Nekrobien«? Sie sind doch keine Malerei. Strzybisz malt nicht, er soll noch nie in seinem Leben einen Pinsel in den Fingern gehalten haben. Es ist keine Grafik, denn er zeichnet nicht, er graviert auch in keiner Substanz, er ist kein Bildhauer – sondern einfach nur ein Fotograf. Zwar ein besonderer, denn er benutzt statt des Lichts Röntgenstrahlen.
Dieser Anatom durchdringt mit seinem Auge, den verlängerten Rüsseln der Röntgenapparate, die Körper. Die schwarzweißen Schirmbilder jedoch, die uns aus den Ärztezimmern bekannt sind, würden uns sicherlich gleichgültig lassen. Darum belebte er seine Akte. Deshalb schreiten seine Skelette mit einem so straffen, entschlossenen Schritt in den Todeshemden der Raglans, mit den Spektren der Aktentaschen. Ziemlich boshaft und eigenwillig, geben wir es zu, mehr nicht, doch er hat mit diesen Momentaufnahmen nur Maß genommen, es waren seine ersten Gehversuche – er wußte noch nicht, wie und was. Lärm erhob sich erst, als er sich erdreistete, etwas Schreckliches zu tun (obschon es eigentlich keine schrecklichen Dinge mehr geben sollte): Er hatte den Sex durchleuchtet und ihn auf diese Weise gezeigt.
Die Sammlung von Strzybisz’ Arbeiten eröffnen seine »Pornogramme« – die fürwahr komisch sind, aber es ist eine recht grausame Komik. Gerade den aufdringlichsten, zügellosesten, entfesselten Sex, den Gruppensex, hat Strzybisz unter die bleiernen Blenden seiner Objektive genommen. Man schrieb, er wolle die Pornomanie verhöhnen, er habe ihr eine genaue (weil bis zum nackten Knochen geführte) Lektion erteilt, und dies sei ihm gelungen, weil diese Knochen, die ineinander verkrampft, zu geometrischen Rebussen geordnet, aus der unschuldigen Verwirrung vor dem Auge des Zuschauers plötzlich – und unheimlich – in einen modernen Totentanz, in die Laichzeit hochhüpfender Skelette überspringen. Man schrieb, er habe beabsichtigt, den Sex mit Schimpf zu überhäufen, ihn zu verspotten, und dies sei ihm gelungen.
Wirklich? Gewiß ... Aber man kann in den »Nekrobien« noch etwas mehr finden. Karikaturen? Nicht nur – denn in den »Pornogrammen« liegt immerhin ein verborgener Ernst. Zunächst wohl schon deshalb, weil Strzybisz »die Wahrheit« – und zwar die lautere Wahrheit sagt, während sie heute, falls sie nicht einer »künstlerischen Deformation« ausgesetzt wurde, als primitive Einfältigkeit gilt. Doch er ist eigentlich nur ein Zeuge, denn er durchbohrt zwar mit seinem Blick, ändert aber nichts damit. Es ist unmöglich, sich gegen dieses Zeugnis zu wehren, es abzulehnen – als Erfindung, als Konvention, als Trick, als abgekartetes Spiel –, denn er hat recht. Eine Karikatur? Bosheit? Diese Skelette sind ja in ihrer abstrakten Zeichnung – nahezu ästhetisch. Strzybisz hat nämlich sachkundig gehandelt: Er hat nicht so sehr die Knochen entblößt, das heißt die körperlichen Hüllen von ihnen gerissen, als sie vielmehr befreit – indem er rechtschaffen ihren eigenen, nicht mehr auf uns bezogenen Sinn suchte. Dadurch daß er ihre eigene Geometrie suchte, hat er sie souverän gemacht.
Diese Skelette leben, so möchte man sagen, auf eigene Weise. Er hat ihnen durch den Tod die Freiheit geschenkt, indem er die Körper verdampfen ließ, obschon gerade die Körper in den »Nekrobien« eine wichtige, wenn auch nicht sogleich wahrnehmbare Rolle spielen.
Es fällt schwer, hier auf die Einzelheiten der Röntgentechnik einzugehen, doch einige Worte der Erklärung sind unerläßlich: Hätte Strzybisz harte X-Strahlen benutzt, so wären auf seinen Aufnahmen nur die Knochen zu sehen gewesen, als scharfumrissene Streifen, als Stäbe, die durch die Dunkelheit der Gelenkspalte wie durch Schnitte segmentiert sind. Eine solche osteologische Abstraktion wäre jedoch zu rein und klar, zu präpariert ausgefallen. Er indes verfährt nie so, und die von weichen Strahlen durchleuchteten menschlichen Körper erscheinen auf seinen Aufnahmen als Anspielungen, als Andeutungen – durch die milchigen Wolken des schimmernden Scheins. So kommt es zu dem eigentlichen Effekt. Schein und Wirklichkeit wechseln einander stellenweise ab. Den mittelalterlichen, Holbeinschen Totentanz, der stillschweigend, unbewegt in uns währt, diese von dem Spektakel der glanzvollen Zivilisation unberührte Verquickung des Todes mit dem Leben, trifft Strzybisz gewissermaßen unbewußt, wie zufällig. Denn wir erkennen die gleiche heitere Beschwingtheit, diese joviale Kraft und frivole Besessenheit, die Holbein seinen Knochengerüsten verliehen hatte, und nur – oder vielmehr gerade – der Akkord der Bedeutungen, den der moderne Künstler anschlägt, ist breiter, da er die modernste Technik auf die älteste Aufgabe der Gattung gerichtet hat; tatsächlich sieht gerade so der Tod mitten im Leben aus, und das ist eben die bis zu den Knochen durchleuchtete Mechanik der sich vermehrenden Art, der die Körper als blasse Spektren assistieren.
Gut, wird gesagt, vielleicht lauert auch eine solche Philosophie darin, aber er ist doch absichtlich »aufs Ganze« gegangen – in die Leichen hat er Kopulierende versetzt, hat ein modisches Thema aufgegriffen, effektvoll, um des Effektes willen – aber ist das nicht zu billig? Liegt nicht eine gewisse Schläue in den »Pornogrammen« – oder gar Betrug? Auch an solchen Urteilen mangelt es nicht. Ich möchte nicht die Kanonen der schweren Rhetorik gegen sie ins Feld führen. Man sehe sich lieber das zweiundzwanzigste Pornogramm an, das als »Triolisten« betitelt ist.
Diese Szene ist besonders unanständig. Wenn man sie mit einer gewöhnlichen Aufnahme derselben Menschen, also mit einem Produkt der kommerziellen Pornographie vergliche, würde die Unschuld einer solchen Pornographie gegenüber dem Röntgenogramm sofort zutage treten.
Die Pornographie nämlich ist nicht unmittelbar obszön: sie erregt nur so lange, wie im Betrachter der Kampf der Begierden mit dem Engel der Kultur währt. Wenn der Teufel diesen Engel geholt hat, wenn, infolge allgemeiner Toleranz, die Schwäche des geschlechtlichen Verbots, seine völlige Wehrlosigkeit offenbar wird, wenn die Verbote auf den Müllhaufen geworfen werden – wie schnell verrät dann die Pornographie ihren unschuldigen (das heißt hier: vergeblichen) Charakter, denn sie ist ein falsches Versprechen des körperlichen Paradieses, die Ankündigung dessen, was sich tatsächlich nicht erfüllt. Sie ist eine verbotene Frucht, also liegt darin soviel Verlockung wie Verbot.
Was nämlich? Der Blick, der durch Gewöhnung erkaltet