Das sogenannte Lemsche Gesetz lautet: Niemand liest ewas; wenn er etwas liest, versteht er es nicht; wenn er es versteht, vergißt er es sofort. Als Abhilfe in dieser fatalen Lage bietet sich eine Art Buch der Rekorde an, das festhält, was die Menschen in jeder Minute tun, was sie anderen antun und was ihnen von anderen angetan wird, ein Buch nüchterner Zahlen, das durch die kalte Bewältigung des Faktischen mit den Mitteln der Statistik phantastisch wirkt, ein ungeschminktes Minutenbild, das ein Kuriositätenkabinett erstaunlicher anthropologischer Daten des Todes, der Krankheit, der Mißbildung, des Unglücks, des Verbrechens enthüllt. Macht es also aus der Menschheit ein Monstrum, einen Fleischberg, errichtet aus Leibern, Blut und Schweiß? Ist es eine boshafte Schmähschrift oder die lautere Wahrheit? Eine Karikatur oder ein Spiegel?

Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.

Stanisław Lem

Eine Minute der Menschheit

Eine Momentaufnahme

Aus Lems Bibliothek des 21. Jahrhunderts

Phantastische Bibliothek Band 110

Suhrkamp

Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner

Titel des Originals: One Human Minute

Aus dem Polnischen von Edda Werfel

Umschlagfoto: picture-alliance / dpa

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© 1983 by Stanisław Lem

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag

Frankfurt am Main 1983

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74329-4

www.suhrkamp.de

ONE HUMAN MINUTE

J. JOHNSON AND S. JOHNSON

Moon Publishers

London – Mare Imbrium – New York, 1985

I

In diesem Buch wird beschrieben, was die gesamte Menschheit innerhalb jeder Minute tut. Das lesen wir in der Einleitung. Erstaunlich, daß niemand früher auf diese Idee gekommen ist. Sie drängte sich doch geradezu von selbst auf, nach den »Ersten drei Minuten« des Weltalls, nach der »Sekunde des Kosmologen« und nach Guinness’ Buch der Rekorde – um so mehr, als alle diese Bücher Bestseller waren und heutzutage sowohl Verleger als auch Autoren nichts mehr reizt als ein Buch, das niemand lesen muß, aber jeder haben sollte. Nach jenen Büchern war das Konzept schon fix und fertig, es lag direkt auf der Straße, man brauchte es nur aufzuheben. Ich möchte gern wissen, ob es sich bei J. Johnson und S. Johnson um ein Ehepaar handelt, um Brüder oder bloß um ein Pseudonym. Auch würde ich gern ein Foto dieser Johnsons sehen. Es kommt vor, auch wenn es schwer zu erklären ist, daß das Aussehen des Autors den Schlüssel zum Buch bildet. Ich zumindest habe mehr als einmal diese Erfahrung gemacht. Die Lektüre verlangt eine bestimmte Einstellung zum Text, wenn dieser unkonventionell ist. Das Gesicht des Autors kann da viel zur Aufhellung beitragen. Ich glaube aber, daß es diese beiden Johnsons gar nicht gibt und daß das »S« vor dem Namen des zweiten eine Anspielung auf Samuel Johnson ist. Vielleicht ist das übrigens gar nicht so wichtig.

Bekanntlich jagt den Verlegern nichts eine solche Angst ein wie das Herausgeben von Büchern, denn hier wirkt schon uneingeschränkt das sogenannte Lemsche Gesetz (Niemand liest etwas; wenn er etwas liest, versteht er es nicht; wenn er es versteht, vergißt er es sofort) – wegen allgemeinen Zeitmangels, des Überangebots an Büchern sowie der absoluten Perfektion der Werbung. Die Werbung ist heute als Neue Utopie Gegenstand eines Kults. Diese schrecklichen und langweiligen Dinge, die man im TV sieht, schauen wir uns alle deshalb an (wie Meinungsumfragen erwiesen haben), weil nach dem Anblick quasselnder Politiker, blutiger Leichen, die aus verschiedenen Gründen in verschiedenen Weltgegenden herumliegen, sowie von Kostümfilmen, bei denen man nicht weiß, worum es geht, weil es gewöhnlich endlose TV-Serien sind (man vergißt nicht nur, was man gelesen, sondern auch, was man gesehen hat), es gerade die Werbespots sind, die uns wunderbare Erleichterung und Entspannung bringen. Nur in ihnen hat noch Arkadien überlebt. In diesen Spots gibt es schöne Frauen und großartige Männer, auch erwachsene, glückliche Kinder und ältere Menschen mit gütigweisem Blick vorwiegend hinter Augengläsern. Als Objekt immerwährender Bewunderung genügt ihnen ein Pudding in einer neuen Verpackung, eine Limonade aus echtem Wasser, ein Spray gegen Fußschweiß, ein mit Veilchenextrakt durchtränktes Klopapier oder auch ein Schrank, an dem das einzige Außergewöhnliche der Preis ist. Der Ausdruck tiefster Glückseligkeit in den Augen, im ganzen Gesicht, mit dem die vornehme Schöne eine Rolle Toilettenpapier oder eine Schranktür betrachtet – als wäre es die Tür zum Sesam –, teilt sich im Nu jedem mit. In dieser Empathie steckt vielleicht ein Körnchen Neid, sogar einige Irritation, weil jeder von uns weiß, daß er nicht fähig wäre, beim Trinken dieser Limonade oder bei der Verwendung dieses Papiers ein solches Entzücken zu empfinden, daß also dieses Arkadien für ihn unerreichbar ist, doch das darin herrschende Schönwetter verfehlt seine Wirkung nicht. Es war mir übrigens im vorhinein klar, daß die Werbung, die sich im Daseinskampf der Waren auf dem Markt immer mehr vervollkommnet, uns nicht durch die besser werdende Qualität der Waren, sondern durch die schlechter werdende Qualität der Welt unterjochen wird. Was ist uns denn geblieben, nachdem Gott, höhere Ideale, Ehre, uneigennützige Gefühle gestorben sind, in den überfüllten Städten, unter dem sauren Regen – außer der Ekstase der Damen und Herren aus den Werbespots, die über Kekse, Puddings und Schmieröle in einem Ton sprechen, als würden sie den Anbruch des Reiches Gottes auf Erden verkünden? Weil aber die Werbung mit einer grauenerregenden Wirksamkeit jedes ihrer Objekte als vollkommen anpreist, also die Bücherwerbung – jedes Buch, fühlt man sich so, als wollten einen zwanzigtausend Schönheitsköniginnen zugleich verführen, und da man sich für keine entscheiden kann, steht man mit seiner unvollzogenen Liebesbereitschaft da wie ein Hammel im Stupor. So geht es mit allem. Das Kabelfernsehen, das einem gleichzeitig vierzig Programme liefern kann, erweckt im Zuschauer den Eindruck, daß – angesichts dieser Menge – jedes andere besser sein muß als das gerade angesehene, man springt also von Programm zu Programm wie ein Floh auf einer glühenden Bratpfanne, was nur beweist, daß vollkommene Technik vollkommenen Frust erzeugt. Man hat uns nämlich, wenngleich dies niemand ausdrücklich gesagt hat, die ganze Welt, alles versprochen, wenn nicht zum Besitzen, so zumindest zum Anschauen, zum Betasten; und auch die schöne Literatur, die ja nur ein Echo der Welt, ihr Abbild und Kommentar ist, ist in dieselbe Falle geraten. Warum sollte ich eigentlich lesen, was einzelne Personen verschiedenen oder desselben Geschlechts miteinander reden, bevor sie ins Bett gehen, wenn in diesem Buch kein Wort über Tausende andere, vielleicht interessantere Personen steht, oder mindestens über solche, die einfallsreichere Dinge tun? Man müßte also ein Buch darüber schreiben, was alle Menschen gleichzeitig tun, damit uns nicht mehr der Eindruck quält, daß wir hier albernes Zeug erfahren, während die wesentlichen Dinge anderswo geschehen.

Das Guinness-Buch der Rekorde war ein Bestseller, weil es uns lauter außerordentliche Dinge zeigte, deren Authentizität garantiert war. Dieses Panoptikum der Rekorde hatte jedoch einen großen Fehler – es wurde rasch von der Zeit überholt. Kaum hatte ein Herr achtzehn Kilo Aprikosen mitsamt den Kernen verschlungen, kam schon ein anderer daher, der nicht nur noch mehr Aprikosen gegessen hatte, sondern gleich darauf an Darmverschluß gestorben war, was dem Rekord einen grausig-pikanten Beigeschmack verlieh. Obschon es nicht stimmt, daß es keine Geisteskrankheiten gibt und daß die Psychiater sie bloß erfunden haben, um ihre Patienten zu quälen und zu schröpfen, ist es dennoch wahr, daß normale Menschen viel verrücktere Dinge tun als die Verrückten. Der Unterschied besteht darin, daß der Verrückte das, was er tut, uneigennützig tut, der Normale hingegen des Ruhmes wegen, den man später in Bares umsetzen kann. Übrigens – es gibt auch solche, denen der Ruhm allein genügt. Die Sache ist also nicht ganz klar, aber wie dem auch sei, die noch nicht ausgestorbene Subspezies der subtilen Intellektuellen verachtete diese ganze Sammlung von Rekorden, in der besseren Gesellschaft war es kein Ruhmestitel, auswendig zu wissen, wieviel Meilen man auf allen vieren eine lila bemalte Muskatnuß mit der Nase vor sich herschieben kann.