Mit sich selbst befreundet zu sein, davon sprach schon Aristoteles. An diese Tradition knüpft Wilhelm Schmid an und erzählt davon, wie man den Umgang mit sich selbst in moderner Zeit erlernen kann.

»Schmid ›lehrt‹ mit eleganter Tiefgründigkeit und einer geradezu griechischen Leichtigkeit und Weite im Denken, dass zunächst jeder Mensch nichts Wertvolleres auf der Welt hat als sich selbst.« Neues Deutschland

»Die intelligente Alternative zum Ramsch der Seelentrösterei ist die Lebenskunst. ... Das Buch, reich an Wissen und Originalität, ist weit mehr als eine aus der Antike übernommene Anleitung zum Selbstaneignungs-Training. Es wird seinem Anspruch gerecht, ›einen Blick auf die gesamte Landschaft des Lebens unter der Perspektive der Lebenskunst‹ zu tun.« Tages-Anzeiger

Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Viele Jahre lang war er als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien sowie als »philosophischer Seelsorger« am Spital Affoltern am Albis bei Zürich tätig. Jüngste Buchpublikationen: Liebe. Warum sie so schwierig ist und wie sie dennoch gelingt (2011), Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen (2010), Ökologische Lebenskunst. Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun kann (st 4034) und Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist (2007).

Homepage: www.lebenskunstphilosophie.de

Wilhelm Schmid

Mit sich selbst befreundet sein

Von der Lebenskunst
im Umgang mit sich selbst

Suhrkamp

Umschlagabbildung:

Henri Matisse. Verve IV (Maquette de couverture).

© Succession H. Matisse/VG Bild-Kunst, Bonn 2007

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil desWerkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-79630-6

www.suhrkamp.de

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Von Ängsten und von Künsten. Über den Anfang der Lebenskunst

Am Anfang ist die Angst

Mit der Angst beginnt die Lebenskunst

Schwach sein können, versagen dürfen

Lebenshilfe? Was es heißt, »eine Philosophie zu haben«

Hilfestellung des Intellekts: Kynische, nicht zynische Lebenskunst

Die Kunst in der Lebenskunst

Ist das Leben ein Spiel?

Von der Sorge für sich selbst

Beziehung zu sich selbst? Die Fremdheit des Ich im Umgang mit sich

Selbstaufmerksamkeit, Selbstbesinnung, Selbstgespräch

Erkenne dich selbst! Aber was heißt das?

Selbstkenntnis und Hermeneutik des Selbst

Arbeit an innerer Festigkeit: Selbstgestaltung, Selbstmächtigkeit

Selbstvertrauen, Selbstfreundschaft, Selbstliebe

Sorge um Freiheit: Ist eine Selbstbestimmung wirklich möglich?

Sorge um Wahrheit: Was ist das »wahre Sein«?

Sorge um Schönheit: Plädoyer für eine ästhetische Ethik

Sorge um Gerechtigkeit: Von der Gerechtigkeit des Selbst gegen sich

Selbstmanagement in der Servicegesellschaft

Das elektronische Subjekt: E-Mail, E-Life, E-Government

Existenz und Subsistenz: Arbeit an sich selbst und Erwerbsarbeit

Unbesorgtheit, Selbstvergessenheit, Selbstverzicht

Von der körperlichen Sorge

Warum die Pflege des Körpers nicht des Teufels ist

Körper, Sport und Lebenskunst

Wellness? Wellness! Die Kunst der Berührung

Überströmende Fülle und der letzte Tropfen: Im Wasser leben

Schön sein, sich schmücken: Sinnlichkeit des Selbst

Ausarbeitung der Sinnlichkeit: Künste der fünf Sinne

Gerechtigkeit für Piriformis!

Boden gewinnen

Asketik des Atmens

Ethik der Ernährung, erneuerte Diätetik

Erfahrung des Fastens

Hausmedizin: Selbstvorsorge, Selbstmedikation

Lifestylepillen?

Die Bedeutung von Genom und Proteom für das Selbst

Sich genetisch selbst gestalten?

Von der seelischen Sorge

Mutmaßungen über die Gestalt der Seele

Gestaltung der Gefühle: Sind Gefühle erziehbar?

Gestaltung des Gesichts: Von der plastischen Kraft des Lebens

Gestaltung des Charakters: Welchen Sinn hat Tapferkeit?

Gibt es eine Kunst im Umgang mit Schmerz?

Singen lernen, Tanzen lernen

Das richtige Maß: Extreme meiden oder suchen?

Von der Bedeutung des Rausches für die Lebenskunst

Sucht und süchtig sein: Die ruinöse Lebensform

Vom Recht, mit sich allein zu sein. Einsamkeit als Lebenskunst

Kunst der Stille, Formen des Schweigens

Kunst des Lachens und des Lächelns

Kunst des Weinens und des Traurigseins

Kunst des Unglücklichseins: Sich befreunden mit der Melancholie

»Was mir gut tut«: Geschenke des Selbst für sich selbst

Von der geistigen Sorge

Denken und Existenz: Was Begriffe für den Lebensvollzug bedeuten

Fabricando fabricamur: Das Leben schreiben

Lesen als Lebenskunst

Dem Absurden begegnen. Von der Macht des Geistes

Kortex und Amygdala: Die Suche nach dem Sitz der Klugheit

Dummheit ist die List der Klugheit

Erfahrung und Besinnung, Ausarbeitung des Gespürs

Von der Herstellung des Gewissens

Kunst der Muße: Sich selbst keine Langeweile machen?

Urlaub, endlich!

Von der Kunst, heiter und gelassen zu leben

Vom Leben mit und ohne Illusionen. Resignation als Lebensform

Lebensmüdigkeit, Lebensüberdruss, Lebensekel

Sinn oder Sinnlosigkeit? Vom Sinn des Lebens

Glück ist erfülltes Leben

Vom Kindsein und vom Älterwerden. Über Anfang und Ende der Lebenskunst

Lernen von der Lebenskunst der Kinder

Heranwachsen: Von den Mühen der »Selbstfindung« in der Moderne

Warum junge Menschen nach Traumwelten suchen

Schule der Lebenskunst

Horizonte malen, dem Leben Raum geben

Alte Meister? Vom Glück und Ärgernis des Älterwerdens

»Euthanasie«? Sterben und Tod als Teil der Lebenskunst

Über sich hinaus: Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Einleitung

»Wovon handelt denn Ihr Buch?«

»Von der Beziehung des Einzelnen zu sich selbst.«

»Ah, also vom Egoismus.«

»Ist Selbstbeziehung Egoismus?«

Was ist eine »Beziehung zu sich selbst«? Auf jeden Fall ein merkwürdiges Phänomen, so faszinierend wie beunruhigend: faszinierend, dass eine solche Beziehung überhaupt möglich ist; beunruhigend, dass sie den Beziehungen zu anderen vorgezogen werden kann. In der Sicht vieler Menschen gibt es Grund zur Beunruhigung über dieses Phänomen der Gegenwart: Verlust der Beziehungen zueinander, Fragmentierung, ja Auflösung von Gemeinschaft in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Wie lässt sich angesichts dessen die Betonung der Selbstbeziehung rechtfertigen? Aber es erscheint schwierig, anders anzusetzen, wenn doch in der Epoche, die man »die Moderne« nennt, Menschen in anderem Maße als jemals auf sich selbst verwiesen sind. Sie sehen sich vor die Aufgabe gestellt, selbst nach Orientierung zu suchen und ihr Leben selbst zu führen, ohne sich dafür gerüstet zu fühlen. Verschiedene theoretische und praktische Ansätze, auch die philosophische Lebenskunst, werden daran gemessen, ob sie in der Lage sind, Antworten auf die moderne Grundsituation zu finden. Sich damit zu befassen, soll nicht heißen, die Moderne für die einzige Kultur, ihre Probleme für die einzigen auf dem Planeten zu halten. Aber überall dort, wo Modernisierung Platz greift, werden wohl ähnliche Probleme zu erwarten sein, deren Lösung nicht anderen Kulturen zuzumuten ist, sondern der Kultur der Moderne selbst, erst recht in der Zeit der »Globalisierung«, die nichts anderes ist als eine globale Modernisierung.

Unter Lebenskunst ist hier nicht das leichte, unbekümmerte Leben zu verstehen, sondern die bewusste, überlegte Lebensführung. Sie ist, wenn sie gewählt wird, mühevoll und doch auch eine Quelle der Erfüllung ohnegleichen. Lange Zeit im Laufe der abendländischen Geschichte war sie in der Philosophie beheimatet, die diesen Begriff schon in antiker Zeit prägte: téchnē tou bíou, téchnē perì bíon im Griechischen, ars vitae, ars vivendi im Lateinischen. Erst die institutionelle Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts leistete Verzicht darauf, zugunsten einer Moderne, die mithilfe von Wissenschaft, Technik und freier Wirtschaft alle Lebensprobleme zu lösen versprach; auch in der Hoffnung auf »Systeme«, die eine individuelle Lebensführung überflüssig machen würden: Wozu also noch Lebenskunst! Die mit der Moderne gemachten Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass diese Zeit zwar einige Probleme gelöst, neue aber geschaffen hat, und dass wohl kein »System« einem Menschen Antworten auf seine Lebensfragen geben oder ihm gar die Lebensbewältigung abnehmen kann.

Keineswegs kann die Philosophie verbindlich sagen, wie das Leben zu leben sei, und doch kann sie Hilfestellung leisten beim Bemühen um eine bewusste Lebensführung: mit der Klärung und Aufklärung einer Lebenssituation, einer Angst etwa, einer Beunruhigung oder einer Enttäuschung. Als philosophisch gilt seit jeher, in jedem Fall seit Sokrates, die »Was ist«-Frage zu stellen, griechisch ti éstin, ti pot’éstin: Was ist das, was ist das eigentlich? Was ist Leben, was ist diese Zeit, was ist Leben in dieser Zeit, was könnte es noch sein, was ist schön, was ist klug, was ist richtig, was ist wichtig, was ist Glück, was ist der Sinn des Lebens? Von der Frage nach Sinn sind alle diese Fragen durchdrungen, und es gehört zu den Aufgaben der Philosophie, diese Frage aufzunehmen und ernst zu nehmen; ein zentrales Anliegen dieses Buches. Die Frage nach Sinn ist die Frage nach Zusammenhängen: Was liegt zugrunde, was steckt dahinter, wozu dient etwas, in welchen Beziehungen ist es zu sehen, welche Bedeutung haben die Worte, die gebraucht werden, welche Gründe lassen sich für ein Tun oder Lassen finden? Entscheidend sind Fragestellungen wie diese, nicht etwa definitive Antworten; schon die sokratischen Dialoge enden aus guten Gründen offen und stoßen dennoch wertvolle Klärungsprozesse an. Mit den Fragen sind Spielräume des Denkens und Lebens zu eröffnen und Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu gewinnen, nach denen die moderne Philosophie lange, allzu lange nicht fragte, gänzlich den Bedingungen menschlichen Wissens und der normativen Begründung menschlichen Handelns zugewandt, als verstünde sich damit das gelebte Leben schon von selbst.

Als grundlegend erscheint vor allem, dass das Leben an die Bedingungen und Möglichkeiten einer bestimmten Zeit und eines Kulturraumes gebunden ist. Die Lebenskunst, wie sie hier entfaltet wird, versucht (auch wenn sie einige Inspirationen aus der Tradition aufnimmt) auf die Herausforderungen der Zeit der Moderne zu antworten. Was aber ist Moderne, woher kommt sie, wohin geht sie? Sie erscheint als eine Denkweise, die die verschiedensten Erscheinungsweisen des Lebens durchzieht, nicht als Produkt eines Zufalls, sondern einer absichtsvollen Konzeption, modernen Menschen oft kaum mehr bewusst. Dynamisch bewegt wird die Moderne, wie sie von den Aufklärern, darunter vielen Philosophen, im 17. und 18. Jahrhundert konzipiert worden ist, um elenden Verhältnissen zu entkommen, vom Begriff der Freiheit. Freiheit wird dabei von vornherein und bis ins 21. Jahrhundert hinein im Wesentlichen als »Befreiung« verstanden und als Freiwerden von Gebundenheit erfahren. Nichts daran ist zurückzunehmen, die Tragik der Freiheit als Befreiung besteht jedoch darin, ein Individuum freizusetzen, das in seiner Bindungs- und Beziehungslosigkeit kaum zu leben vermag. Wie ein erratischer Block steht es in der Landschaft der Moderne, versteht sich selbst nicht mehr und weiß mit sich nicht umzugehen.

Die Freiheit als Befreiung macht eine eigene Lebensführung erst zur Notwendigkeit. Denn das ist die Situation des modernen Individuums: Frei zu sein von religiöser Bindung, denn es ist auf keine Religion mehr festgelegt, auf kein Jenseits mehr vertröstet – mit der Folge, auf kleine und große Lebens- und Sinnfragen nun selbst Antworten finden zu müssen. Frei zu sein von politischer Bindung, denn aufgrund der Befreiung von jedweder Bevormundung vermag es eigene Würde und Rechte gegen Fremdbestimmung geltend zu machen – mit der Konsequenz, dass die individuelle wie gesellschaftliche Selbstgesetzgebung (»Autonomie« im Wortsinne) zur ebenso mühsamen wie unumgänglichen Aufgabe wird. Frei zu sein von ökologischer Bindung, denn aufgrund technischer Befreiung von Vorgaben der Natur sind neue Lebensmöglichkeiten entstanden – mit der schmerzlichen Erfahrung, dabei die eigenen Lebensgrundlagen verletzen zu können und aus Eigeninteresse (sofern da noch eines ist, das so weit reicht) eine ökologische Haltung neu begründen zu müssen. Frei zu sein von ökonomischer Bindung, die zunächst noch darin bestand, die freigesetzte wirtschaftliche Tätigkeit einiger auf die Hebung des Wohlstands aller zu verpflichten – die Befreiung davon sorgt für soziale und ökologische Kosten, deren Bewältigung größte Mühe macht. Frei zu sein schließlich von sozialer Bindung: Das vor allem ist der Befreiungsprozess, der das moderne Individuum erst hervorgetrieben hat, losgelöst aus seinem Eingebundensein in Gemeinschaften, befreit (»emanzipiert«) von erzwungenen Rollenverteilungen, sexuell befreit von überkommenen Moralvorstellungen, befreit überhaupt von Moral und Werten, die als »überholt« angesehen werden. Anstelle von Gemeinschaft entsteht die Gesellschaft als Zusammenkunft freier Individuen. Alle Formen sozialer Gemeinschaft werden fragmentiert: Die Großfamilie schrumpft zur Kleinfamilie, deren Bruchstücke führen zur Patchworkfamilie und zum Singledasein, bis schließlich nicht nur der »Individualismus«, sondern auch die Selbsteliminierung des Individuums möglich ist und wirklich wird: die letzte »Befreiung«.

Moderne ist eine Auflösung von Zusammenhängen und somit von Sinn. Die Befreiung von inneren und äußeren Bindungen und Beziehungen führt zur Erfahrung des »Nihilismus«. Den zahllosen Diskursen, die bekennen, »auf der Suche« zu sein, ist Ratlosigkeit von den Lippen zu lesen. Aber die Bedeutsamkeit von Zusammenhängen ist in ihrer Abwesenheit am besten zu erkennen. Die Moderne im Übergang ist daher eine philosophische Zeit, eine Zeit der neuerlichen Frage nach dem Wesentlichen, das zu anderer Zeit im Selbstverständlichen verborgen lag. Da sich im Nichts nicht leben lässt, beginnt die Arbeit an einer Wiederherstellung von Zusammenhängen, wenn auch anfänglich noch naiv und unbeholfen. Es zeichnet sich eine Zwischenzeit ab, die, der auffälligen Häufung einer unscheinbaren Vorsilbe folgend, die Re-Zeit genannt werden kann: Retrospektiven, »Retros«, allerorten. Was zunächst Rezyklierung (Recycling) im ökologischen Kontext war, auch Renaturierung, etwa von Flüssen, Reduktion, etwa von Schadstoffen, oder Rekonstruktion, etwa von historischen Gebäuden, Renaissance von diesem und jenem, zuweilen auch nur ein »Remake«, führt schließlich zur Reorganisation und zu grundlegenden Reformen, vorausgesetzt, diese können refinanziert werden, denn ökonomisch droht die Rezession. Wellness sorgt währenddessen für eine Revitalisierung, Regeneration, Rekonvaleszenz des Menschen, um verloren gegangene Ressourcen wiederzugewinnen. Abgesehen von der Resignation, die sich bei manchen breit macht, erscheint die Re-Zeit jedoch auch als eine Zeit der Reflexion, des Innehaltens und Nachdenkens, der Besinnung etwa auf verloren gegangene Bindungen und Werte. Das philosophische Nachdenken über Lebenskunst selbst ist ein Versuch zur kritischen Rekonstruktion all dessen, was fürs Leben erforderlich zu sein scheint, eine vorsichtige Wiederherstellung aufgelöster Zusammenhänge, insofern eine Gegenbewegung zur Dekonstruktion, die noch mit dem Abtragen wirklicher und vermeintlicher Zusammenhänge beschäftigt ist. Die Re-Zeit ist Wiederherstellung, Wiedererinnerung, Wiederentdeckung; sie löst, für eine Weile, das Pro-Zeitalter ab, das nur die Vorwärtsbewegung kannte, nur Progress und Progression, Programme, Prognosen, Projekte, Prospekte, Prozesse, Profite, Produkte, Produzenten, Produktivität und Profanität: Zeit einer, rückblickend gesehen, naiven Moderne. Pro und Re: Die Moderne wird zur Schaukelbewegung zwischen zwei Vorsilben.

Das Resultat der Re-Zeit kann eine Modifikation der Moderne sein, und die Lebenskunst kann sich als Teil der Arbeit daran verstehen. Sie begibt sich auf die Suche nach dem »richtigen Leben im falschen«, und sie ist ein antinihilistisches Projekt – vorausgesetzt, es erscheint erstrebenswert, sich nicht im Nihilismus einzurichten. Einiges an der Ausrichtung des modernen Lebens könnte grundsätzlich »falsch« sein: Falsch könnte es sein, religiöse Fragen für erledigt zu betrachten, politische Rechte ein für alle Mal für gesichert zu halten, ökologische Zusammenhänge in desaströsem Ausmaß zu vernachlässigen, der ökonomischen Rationalität eine unangemessene Bedeutung zuzumessen, soziale Zusammenhänge so weitgehend aufzulösen, dass jedes gesellschaftliche Zusammenleben unterminiert wird, zugunsten eines »Glücks«, das regelmäßig ins Unglück führt. Eine Veränderung moderner Denk- und Lebensweisen kann jedoch nicht »von oben herab« verordnet werden, sondern nur »von unten herauf« wachsen, realisiert von einzelnen Individuen, die Inseln des Anderen bilden und »gleichsam durch die Form der eigenen Existenz«, wie es in einer Vorlesung zur Moralphilosophie (1957) von Theodor W. Adorno heißt, »mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht, versuchen, die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige wäre«.

Die Arbeit an einer anderen Moderne rückt auf andere Weise das Individuum ins Zentrum, nicht mehr nur als sich befreiendes, sondern auch als Freiheitsformen schaffendes: zweifellos ein nietzscheanisches Projekt. Erhalten bleibt der Zentralbegriff der Freiheit, verstanden jedoch nicht mehr nur als negative Freiheit der Befreiung, des Freiseins von, sondern auch als positive Freiheit des Freiseins zu Bindungen, Beziehungen, Begrenzungen, die vom Individuum selbst gewählt und festgehalten werden. Alle Arbeit an der Formgebung der Freiheit wurde in der Moderne sehr stark auf das Recht konzentriert, das mit dem Umfang der Aufgabe jedoch überfordert ist. In allen genannten Hinsichten: religiös, politisch, ökologisch, ökonomisch, sozial, sind daher Formen der Freiheit auszuarbeiten, um den Zustand des bloßen Befreitseins zu überwinden. Nicht zuletzt auch, weil dieser Zustand, wie sich zeigt, antimoderne Kräfte auf sich zieht, die die Spielräume der Freiheit bedrohen, getrieben von tödlicher Angst vor der Moderne und ihren Befreiungen. Eine andere, kritische, reflektierte Moderne wird sich eher darauf verstehen, Brücken zu anderen Kulturen zu bauen, statt diese mit kultureller Arroganz als »überholt« abzuweisen. Sie verzichtet dabei nicht auf zentrale Errungenschaften der Moderne wie Menschenwürde und Menschenrechte. Erhalten bleibt das moderne Engagement für Veränderungen und Verbesserungen, alles andere würde das blinde Sichfügen in beliebige Verhältnisse bedeuten. Aber »Neues« ist nicht länger eine Norm, möglich ist auch das Festhalten an »Altem«, das sich bewährt. Das Engagement bedarf nicht mehr der Annahme, jede Beschädigung des Lebens sei heilbar oder vermeidbar; nicht mehr der Utopie einer idealen Welt, in der sämtliche Probleme gelöst wären; keines Traumes einer »Erlösung«. Das Bemühen um Lebenskunst ist nicht darauf angewiesen, erst die Realisierung großer Ideen abwarten zu müssen oder gar eine Weltrevolution, um mit dem Leben »beginnen« zu können. Auch müssen nicht erst andere zum Handeln oder Lassen bewogen werden, vielmehr verfügt das Individuum selbst über sich, unmittelbar und ohne Verzug.

Mit aller Vorsicht angesichts der Ungewissheit dessen, was das »eigentlich« Richtige wäre, ermöglicht dies ein eigenes Bemühen um das Leben und Andersleben. Lebenskunst hat von Grund auf diese individuelle Dimension: Nicht anonyme Institutionen und Gemeinschaften, nicht Strukturen oder gar »Systeme« sind es, die Ideen haben und diese umsetzen, sondern immer einzelne Individuen, auch wenn sie häufig im Verborgenen bleiben. Und doch kann in moderner Zeit selbst das Individuum nicht mehr einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Ein Schlüsselproblem der Moderne scheint darin zu liegen, dass das Individuum, das von ihr freigesetzt worden ist, keine Selbstbeziehung gewinnt oder sie immer aufs Neue verfehlt, und dies nach zwei Seiten hin: als Selbstverlust, der keine gewählte, souveräne Selbstlosigkeit ist; als Selbstsucht, die keine gewählte, souveräne Selbstbeziehung ist. Daher geht es in der Lebenskunst zuallererst um die Beziehung des Individuums zu sich selbst, deren Verfehlung zur Folge hat, dass auch die Beziehungen zu anderen nicht mehr zustande kommen. Lebenskunst ist die Sorge um ein maßvolles Selbstverhältnis, das in der Lage ist, das Selbst zu festigen und zu anderen hin zu öffnen.

Als grundlegende Aufgabe der Selbstbeziehung erscheint die Begründung eines »Wir« – zunächst jedoch nicht in der Beziehung zu anderen, sondern innerhalb des Individuums selbst. Denn ein »Ungeteiltes«, wie das Wort glauben macht, ist das Individuum längst nicht mehr, daher die Arbeit am Wir im Selbst. Insofern das Ich selbst bereits eine Vielheit ist, finden sich in ihm alle Fragen und Probleme einer Gemeinschaft und Gesellschaft, die der Integration in einer Art von Wir bedürfen, um das Leben und Zusammenleben zu ermöglichen. Die kunstvolle Gestaltung des Selbst und seiner Existenz setzt daher mit der Gestaltung der inneren Bindungen und Beziehungen ein, und das ist das eigentliche Thema dieses Buches. Damit gibt das Selbst sich selbst Struktur und Form und macht sich und sein Leben zum Kunstwerk. Mit dem Zustandekommen des inneren wird die Arbeit an einem äußeren Wir neu begründet. Erst auf der Grundlage einer Einsicht in seine Bedeutung wächst die Bereitschaft zu seiner Herstellung und Pflege. Zwar lässt sich weiterhin behaupten, der Mensch sei nun mal »von Natur aus« ein soziales Wesen, aber dies kann in moderner Zeit negiert, ignoriert und destruiert werden, alle Beschwörungen ändern daran nichts. Zwar hat die Moderne neben Freiheit auch Gleichheit und Brüderlichkeit, mithin Gemeinsinn und Gemeinschaft proklamiert, aber der Anspruch der Freiheit, die als Befreiung verstanden wird, vermag dies von Grund auf zu unterlaufen. Das Zerbrechen von Gemeinschaft geschieht überall dort, wo Individuen Gründe dafür sehen, sich aktiv von Bindungen und Beziehungen befreien zu sollen oder sie passiv durch mangelnde Pflege schwinden zu lassen.

Nur das Individuum selbst kann die Wahl treffen, ob es sich überhaupt, und in welchem Maße, der Arbeit an einem äußeren Wir widmen will, und das ist nicht zu bedauern, denn Wir-Formen sind fern davon, unschuldige Größen zu sein: Regelmäßig werfen sie Probleme der Unterdrückung auf, denn das einzelne Ich kann unter einem gemeinsamen Wir zurückgedrängt und zum Verschwinden gebracht werden; auch Probleme der Unterstellung, denn hinter der Rede vom Wir kann sich ein einzelnes Ich verbergen, das für sich das Ganze beansprucht und andere zu diesem Zweck nur vereinnahmt. Das sind nicht zwangsläufig Argumente gegen ein Wir, aber Argumente für eine gewisse Vorsicht im Umgang damit. Dazu dient die Ausbildung einer Individualität, die nicht blind in Gemeinschaft aufgeht, sie aber auch nicht einfach nur abtut, sondern aus freien Stücken neu begründet. Die doppelte Arbeit am Wir ist letztlich eine Herstellung von Sinn, nämlich von Zusammenhängen im Inneren des Selbst wie außerhalb. Denn wenn es zutrifft, dass Sinn dort ist, wo Zusammenhänge erfahrbar und nachvollziehbar sind, muss der Verlust des inneren und äußeren Wir ein Grund für die Erfahrung von Sinnlosigkeit sein. Die Arbeit am inneren und äußeren Wir begründet umgekehrt eine starke Erfahrung von Sinn: So wie innere Zusammenhänge dafür sorgen, dass im Selbst verschiedene Stimmen sprechen können, so äußere dafür, dass es nach außen hin vielfältig vernetzt sein kann.

Mag die Selbstbeziehung gewöhnlich parallel zu den Beziehungen zu anderen entstehen, so ist in Zeiten der Auflösung von Gewöhnlichkeit doch beim Selbst der Anfang zu machen. Nicht über andere, nur über sich kann das Individuum selbst im Zweifelsfall verfügen. Ein »systemisches«, auf das System der Beziehungen aufmerksames Verständnis des Selbst wäre daher um die Beziehung, die ein Selbst zu sich selbst unterhält und in wachsendem Maße erst selbst begründen muss, zu ergänzen. Aus guten Gründen galt in der antiken Philosophie das Erlernen des Umgangs mit sich selbst als Grundlage für den Umgang mit anderen: Denn nur der, der den Umgang mit sich selbst zu gestalten weiß, ist fähig zur Gestaltung des Umgangs mit anderen. Die Ethik des Umgangs mit sich sollte daher kunstvoll, das heißt durchdacht und gestaltet, nicht kunstlos, also unüberlegt und zufällig sein. Seit Aspasia, Sokrates, Platon steht hierfür der Begriff der Selbstsorge, epiméleia heautoũ. Daran lässt sich anknüpfen, um darüber nachzudenken, was unter Bedingungen der Moderne und im Hinblick auf eine andere Moderne daraus werden kann. Denn moderne Ethiken haben weitgehend darauf verzichtet – als würde sich der Umgang mit sich von selbst verstehen; als könnte nur der Umgang mit anderen ein seriöser Gegenstand von Ethik sein. Dass daran schon im Ansatz etwas falsch sein muss, erweist die ungehinderte Evolution des Egoismus, der dieser Ethik Hohn lacht.

Daher nun der Versuch, die endlose moralische und immerzu fruchtlose Aufforderung zur Überwindung des Ich gerade durch dessen Bestärkung zu überwinden, es in seinem Ego selbst dazu zu befähigen, von sich absehen zu können, und dies nicht aus moralischen Gründen, sondern aus dem Eigeninteresse des Selbst heraus: Aus Egoismus zu dessen Milderung und zur gelegentlichen Abkehr von ihm, um der Klugheit willen, die aus eigenem Interesse die Zuwendung zu anderen sucht; um der Freiheit willen, die über alle Befreiung hinaus der Freiheit Formen gibt; um der Schönheit willen, die die Begegnung mit anderen grundsätzlich als bejahenswert wahrnimmt. Dieser Ansatzpunkt soll hier erprobt werden: vom Wir zurück zum Ich und zu seiner Sorge für sich selbst, um auf andere Weise vom Ich zum Wir und zur Sorge für andere zu kommen. Durchaus ist in dieser Sicht das Ich zuallererst für sich da. Aber gerade dann, wenn es das Dasein für sich in ausreichendem Maße realisiert, macht es die Erfahrung, dass es allein für sich kaum leben kann, inneren Reichtum nicht so sehr aus sich gewinnt und anderer auch noch aus anderem Grund bedarf: Nur im Umgang mit anderen sind neue Ressourcen für den Umgang mit sich selbst zu erschließen. Daher die Sorge für andere und die Herstellung von Gemeinsamkeit mit ihnen: aufgrund der Sorge für sich selbst. Dass eine sinnvolle Selbstbeziehung entsteht, ist die Grundlage für die Beziehung zu anderen, der Nukleus aller denkbaren Weiterungen des »Wir«: Paar, Familie, Freundeskreis, Haus, soziale Gruppierung, Institution, Firma, Gemeinde, Stadt, Gesellschaft, Nation, Generation, Kulturzugehörigkeit, Menschheit, Wesenheit. Im selben Maße, in dem ein Selbst die Beziehung zu sich gestaltet, wird es fähig zur freien Gestaltung der Beziehung zu anderen, und darum geht es bei der Arbeit an sich selbst, soll sie nicht bloßer Selbstzweck bleiben. Man sollte sich davon lösen, dies für unverantwortlichen Egoismus zu halten.

Bei dieser Arbeit kann ein »Handbuch der Lebenskunst« behilflich sein: nicht als definitive, sondern als provisorische Handreichung für das moderne und andersmoderne Leben. Seine Absicht ist keine normative, richtiges Leben festlegende, wie einst in der Antike in Epiktets Handbüchlein (Encheirídion), sondern eine optative, Optionen eröffnende: etwas, das zur Hand ist, wenn Lebensfragen sich stellen; hermeneutischer Stoff, mit dessen Hilfe der je eigene Lebensvollzug durchdacht werden kann. Die Philosophie kann Vorschläge zum Verständnis und zur Gestaltung des Lebens machen, ausgehend von der zweifachen Frage, was als grundlegend für das Leben erscheint und welche Möglichkeiten des Umgangs damit es gibt. Das Selbst ginge fehl, begriffe es seine Situation als eine ausschließlich individuell bestimmte, während übergreifende Strukturen und Denkweisen seine Verfassung, sein Leben und Denken beeinflussen – das wiederum muss nicht zu der Annahme führen, dass diese auch sein Leben leben. So wird das Handbuch zu einem Kompendium der Bedingungen, mit denen das individuelle Leben wohl zurechtkommen muss, sowie der Möglichkeiten, mit deren Hilfe es dennoch zu gestalten ist. Sein Anliegen ist dabei nicht so sehr, »Neues« zu bieten, sondern explizit zu machen, was implizit ohnehin gewusst wird, und eine Synopse zu unternehmen, eine Zusammenschau all dessen, was für die bewusste Lebensführung von Bedeutung sein kann. Ein Panorama lässt sich auf diese Weise entwerfen, eine integrale Sicht des Selbst, ein Blick auf die gesamte Landschaft des Lebens unter der Perspektive der Lebenskunst. Vom Selbst ausgehend und es in konzentrischen Kreisen letztlich doch weit überschreitend, sollen möglichst viele Aspekte von Selbst und Welt im Hinblick darauf erschlossen werden: pragmatische und wissenschaftliche, geschichtliche und zeitgeschichtliche, kulturelle und gesellschaftliche, psychologische und anthropologische, terminologische und epistemologische.

Die Vorgehensweise ist eine phänomenologische im Sinne des Wortes: das Phänomen (phainómenon) des Lebens, wie es erscheint, so genau wie möglich wahrzunehmen und aufmerksam zu erfassen, um ihm auf logische Weise Rechnung zu tragen: nämlich seine Strukturen zu erschließen (lógos im strukturellen Sinne) und auf schlüssige Begriffe zu bringen (lógos im verbalen Sinne). Ausgangspunkt ist jeweils die empirisch gesättigte Beschreibung: Die Nähe zum Phänomen, wie es im Lebensvollzug erfahrbar ist, wird zum Maßstab der Begriffsbildung; mit der begrifflichen Formulierung gewinnt das diffuse Phänomen Form, mit der Form wird es gedanklich fassbarer und handwerklich handhabbarer; die Begrifflichkeit gehört daher zum Handwerkszeug der Lebenskunst. Mit dem steten Hin- und Hergehen zwischen der Nähe zum Phänomen, die sehr persönlich sein kann, und dem Blick darauf von außen, der auf Distanz bedacht ist, entsteht ein Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis: Im Bewusstsein lässt sich das Sein durchdenken, um es besser zu verstehen und gegebenenfalls zu verändern. Die phänomenologische Vorgehensweise wird dabei um eine hermeneutische ergänzt, Hermeneutik verstanden als Kunst der Deutung und Interpretation, um deutlich zu machen, dass nicht »die Wahrheit des Lebens schlechthin« zur Debatte steht. Die Frage nach Sinn, nach Zusammenhängen, nach Bedeutsamkeit, Gewichtigkeit, Unverzichtbarkeit für das Selbst und sein Leben deutend anzugehen, lässt andere Möglichkeiten der Deutung von Grund auf offen. In der Begegnung mit den Phänomenen des Lebens und im deutenden Umgang damit, im deutenden Umgang auch mit sich selbst, lassen sich die Mühen bewältigen und die Lüste bestärken, die beide das Glück der Fülle eines schönen Lebens ausmachen, abseits allzu simpler Konzepte der Lebensverschönerung, von denen der Begriff ebenfalls in Beschlag genommen wird.

Und doch kann ein Unbehagen an der Selbstbeziehung entstehen, wenn sie dermaßen ins Zentrum gerückt wird; und dies aus mehreren Gründen: Jede Konzentration auf den Umgang mit sich birgt die Gefahr einer Vereinsamung des Selbst in sich. Auch wenn die Beziehungen zu anderen stets im Blick behalten werden, so ist doch unentwegt vom Selbst die Rede – der bisweilen eisige Eindruck, den dies hervorruft, ist ein deutliches Indiz dafür, wie wenig das Selbst nur für sich selbst da sein kann: Nur in der Beziehung zu anderen wird es sich seiner eigenen Existenz gewiss. Und die Rede vom Umgang mit sich riskiert den Vorwurf einer Vereinfachung des Selbst und seines Lebens noch aus anderen Gründen: Ist denn das Selbst etwa theoretisch zu entschlüsseln und das Leben theoretisch zu erlernen? Aber es kann nicht darum gehen, eine Theorie zu entwerfen, deren Ableitung das praktische Leben nur wäre. Zweifellos gilt der Grundsatz, dass das Leben nur durch Leben zu erlernen ist; allerdings auch, dass ein gelegentliches Innehalten und Nachdenken zur Orientierung hierbei sinnvoll erscheint: erst das Leben, dann das Philosophieren, primum vivere, deinde philosophari. Zum endlosen Grübeln muss das Nachdenken nicht werden, denn das Leben kann nicht aufgeschoben werden, bis definitive Klärungen erfolgt sind, und alle Versuche zur Klärung der im Lebensvollzug auftauchenden Fragen und Probleme können die Totalität des Lebens letztlich nicht einholen. So unverzichtbar der Prozess der Klärung und Aufklärung ist, so unerreichbar erscheint eine letzte Wahrheit, und dies keineswegs nur, weil das Leben dafür zu kurz ist, sondern auch, weil sie nicht wirklich wünschbar sein kann: Was wäre ein Leben, das gänzlich transparent erschiene? Einige Spannung bezieht es daraus, immer wieder anders auszufallen als vom Denken gedacht.

Bleibt noch die Frage, ob nicht eine Verkünstlichung des Selbst droht, wenn auf allzu technische Weise von ihm die Rede ist. Von »Techniken« im Umgang mit sich selbst zu sprechen, lässt sich aber nicht vermeiden, da sie es sind, die auf den Verlust des »natürlich« erscheinenden Selbstbezugs antworten können. Zur Kunst wird die Selbstbeziehung erst dann, wenn sie nichts Künstliches mehr an sich hat, sondern zur »zweiten Natur« geworden ist und zu einer neuen Fülle führt, die sich entfalten kann, da das Selbst sich mit sich selbst befreundet. Denn wie mit einem wahren Freund kann der Umgang mit sich selbst gestaltet werden: freimütig und offen, reichhaltig und vielfältig, nicht langweilig und zuweilen rätselhaft; zuweilen geht es darum, sich zu schonen und zu pflegen, denn ohne Erholung wird keine Mühe zu bewältigen sein; zuweilen sich zu mühen und sich herauszufordern, denn im Genuss allein wird das Glück nicht zu finden sein. Immer wieder versucht das Selbst, Distanz zu sich zu gewinnen, um wie von außen auf sich zu blicken, nicht nur in sich zu ruhen, sondern auch aus sich herauszugehen, asketisch und ekstatisch, liebevoll und ernst, leidenschaftlich und selbstironisch, ängstlich und mutig, nachsichtig und unnachsichtig, emotional und reflektiert, überlegt und manchmal unüberlegt, ohne Scheu vor einer Dummheit, denn Klugheit entsteht auf diese Weise.

Der Inspiration auf dem Weg dazu dient dieses Buch, das von der Begründung und Gestaltung einer Beziehung zu sich handelt. Den wirklichen Umgang mit sich festzulegen, liegt dann in der Hand jedes Einzelnen. Das Unbehagen an der Selbstbeziehung aber hat seinen Grund nicht zuletzt in einer Konfrontation mit der Abgründigkeit des Selbst, die im Umgang mit sich früher oder später fühlbar und als beängstigend erfahrbar wird; ja, mit der Erfahrung der Angst beginnt der Umgang mit sich selbst überhaupt. Den entscheidenden Anstoß zur Klärung der Beziehung zu sich und zur Begründung von Lebenskunst gibt, wenn sonst nichts, dieses Phänomen.

Von Ängsten und von Künsten.
Über den Anfang der Lebenskunst

Am Anfang ist die Angst

Reines Vergnügen hoch oben auf dem Riesenrad, gemeinsam mit anderen in einer Gondel, schwebend über aller Welt, ein wenig schaukelnd im Wind. Das Rad steht still, unten steigen Leute ein und aus. Da packt mich plötzlich, ohne Vorwarnung, ohne jeden Grund, die nackte Angst. Binnen eines Moments schlägt die übermütige Freude um in die entsetzliche Erkenntnis, dass ich mich hinunterstürzen werde, dass ich zerschmettert da unten liegen werde, dass nichts mich davon abhalten wird. »Mich«? Welcher Dämon hat mich gepackt? Was ist es, das mitten in mir Besitz von mir ergreift? Ich weiß es nicht, ich kenne »es« nicht, bin ihm noch nie begegnet, spüre nur mit grausamer Gewissheit, dass es übermächtig ist. Todesangst durchzuckt mich, lässt meinen Puls rasen, treibt kalten Schweiß auf meine Stirn; meine Hände versuchen, sich in die Bank zu krallen, auf der ich sitze, vergebens. Selbst wenn es gelänge: »Es« würde sie lösen, »ich« würde mich hinunterstürzen, und den Zurückbleibenden würde es für immer ein Rätsel bleiben, warum er, warum dort, und warum überhaupt…

Warum kein Wort zu irgend jemandem, kein Hilfeschrei? Weil das Leben sich nur noch von Sekundenbruchteil zu Sekundenbruchteil weiter quälen kann; weil ein Quäntchen Kraft übrig sein müsste, um sich auch nur zu rühren – genau dies aber würde der Augenblick der Unaufmerksamkeit sein, auf den der Dämon lauert, ein tödlicher Moment, in dem das Diabolische in mir obsiegt hätte. Alle Lebenskunst reduziert sich jetzt darauf, den nächsten Moment noch zu überleben. Auf nichts sonst konzentriere ich mich, nur für diese Winzigkeit reicht noch die Kraft. Die erschrocken prüfenden Augen der anderen helfen mir nicht beim Kampf mit diesem Anderen in mir, das gleichfalls das Selbst für sich beansprucht. Ich selbst muss, wenn ich dazu noch fähig bin, diesen Moment überstehen, und vielleicht den darauf folgenden… Warum nur dauert es so qualvoll lange, bis das Riesenrad auch nur ruckt, dieses Rad des Entsetzens? So muss im Mittelalter gefoltert worden sein, langsam, grausam, jede Faser des Selbst einzeln zerstörend. Dann, plötzlich, ist es vorbei, ich betrete den Boden wieder, den ich vor Freude küssen möchte. Die Knie zittern, und ich muss zusehen, wie damit nun zu leben ist. Ich entscheide, die Erfahrung zunächst auf sich beruhen zu lassen, sie in mir zu bewahren als mein Eigentum, nicht ihr nachzugehen, sie nicht zu analysieren, mit niemandem darüber zu reden. Stattdessen die Einrichtung des Lebens für wichtiger zu halten als die Frage nach dem Grund, der Lebenskunst den Vorzug zu geben, ein Gegengewicht zu schaffen, Gewohnheiten zu pflegen, Schönes zu suchen, um die Angst auszubalancieren. Dann wird gelegentlich die Zeit und Sicherheit da sein zu klären, was geschehen ist – wenn überhaupt.

So verliert die große, entsetzliche Angst ihre Kraft, aber klein und alltäglich kehrt sie immer wieder. Mitten auf dem Gehsteig überfällt sie mich, irgendwelche Angst, Lebensangst, Weltangst; ich weiß nicht recht, wie mir geschieht. Sie ist diffus wie ein Nebel. Ein Loch tut sich in mir auf, die Welt um mich herum versinkt zum tristen Nichts. Wenn ich jemandem davon erzähle, reicht es zu einem verständnisvollen Nicken, andere nehmen gleich Reißaus, denn die Angst ist »negativ«, sie »zieht herunter«. Angst macht einsam. Und doch unternehme ich nichts gegen sie, lasse sie gewähren, gebe mich ihr hin, wenigstens für einige Zeit, genügen ihr ein paar Tage? Ich will sie nicht überspielen, nicht betäuben, sondern in mich aufnehmen und durchstehen. Die Angst erscheint mir schließlich sogar wertvoll, ich kann ihr und mir Fragen stellen: Was ist es, das Angst macht; welche Zusammenhänge in mir selbst und in der Welt, in der ich lebe, treiben sie hervor? Gibt es ein Leben ganz ohne Angst? Was ist Angst, was ist Leben? Die Angst ist ein Anlass, nachdenklich zu werden, ein philosophischer Moment per se, ein Blick in Gründe und Abgründe.

Gewöhnlich wird das Leben an der Oberfläche der Alltäglichkeit gelebt, aber unterhalb der Oberfläche tun Abgründe sich auf: Abgründe an Verzweiflung und Sinnlosigkeit, an Unglück und Tragik, an Bösem und »Unmenschlichem«, Abgründe an Banalität. Die Erfahrung des Abgründigen durchbricht das Gewöhnliche und die Gewohnheiten, in denen das alltägliche Leben wohnt. Im gewöhnlichen Alltagstrott, seiner Unreflektiertheit, seiner Eintönigkeit und Langeweile, kann es vorkommen, dass dieses Durchbrechen herbeigesehnt wird. Dies kehrt sich jedoch ins Gegenteil um, sobald das Abgründige wirklich aufbricht: In der Erfahrung des Abgründigen wird die Oberfläche des Gewöhnlichen erneut herbeigesehnt, Indiz für eine wechselseitige Bedingtheit. Die abgründige Erfahrung aber, die jede und jeder kennt, ist die Angst. Angst ist kein Privileg. Zur Angst sind alle Menschen fähig, sie kommt zu jedem auch ganz ungefragt, und sie scheint erstaunlich gerecht verteilt zu sein, erfasst Mächtige wie Ohnmächtige, Arme wie Reiche, und gerade diejenigen besonders nachhaltig, die sich abgesichert gegen alles glauben. Von Ängsten weiß jede und jeder zu berichten, von Kind auf prägen sie das menschliche Leben, und die zugehörige Erfahrung wird schon im Lateinischen mit angustía bezeichnet: Enge, Engpass, Bedrängnis, Beschränktheit, missliche Lage; weiter zurückgehend auf das griechische Verb áncho: Ich werde eingeschnürt, gewürgt, gequält. Die Weite der Möglichkeiten reduziert sich auf eine einzige, in ihrer Enge bedrohlichen Wirklichkeit, von der sich nicht immer mit Gewissheit sagen lässt, ob es sich »wirklich« so verhält, aber für das Verständnis der Angst ist dies wohl auch nicht von Belang: Das Selbst fühlt sich in jedem Fall beengt, und dies in lebensbedrohlichem Maße, da ihm die Luft zu atmen wirklich abgeschnürt wird.

Angst ist erfahrbar als ein Gefühl, das von einer Bedrohung, von etwas, das unheimlich erscheint, ausgelöst wird; ein Gefühl, bei dem das Selbst sich als außerordentlich schwach und ausgeliefert erfährt, wozu es sich nicht gerne bekennt. Im inneren Machtspiel des Selbst ist Angst im Zweifelsfall stärker als das denkende Ich; entwicklungsgeschichtlich macht sie das ältere Recht geltend, die Auslösung des lebensrettenden Fluchtimpulses, und ihr Machtinstrument besteht darin, das denkende Ich keinen klaren Gedanken mehr fassen zu lassen und »Panik zu machen«. Um das Unfassbare fassbarer zu machen, werden diffuse Ängste auf einen konkreten Anlass reduziert, der vielleicht nichtig ist; sie werden in ein Problem projiziert, das inexistent sein kann. Im sozialen Gefüge müssen seit jeher ausgegrenzte »Andere« für diese Funktion der Simplifikation und Projektion herhalten: Einzelne Subjekte und ganze Kulturen versuchen ihren Stolz zu wahren, indem sie ihr Gefühl der Angst anderen zuschreiben, die als »schwächlich« gebrandmarkt werden. Im äußeren Machtspiel zwischen Menschen wird die Angst der einen zum Ansatzpunkt der Ausübung von Macht durch andere. Daher tut das denkende Ich bisweilen gut daran, das Aufsteigen der Angst in sich abzublocken, ihr im Einzelfall Rechtfertigung abzuverlangen, die nüchterne Analyse der beängstigenden Situation durchzusetzen, die wütende Angst wie einen Hofhund an die Kette zu legen, um ihre Fähigkeit zur Witterung bedrohlicher Situationen zu nutzen, ihre Impulse jedoch nicht so weit gehen zu lassen, das gesamte Selbst zu verbellen.

Auch wenn Angst jeden Menschen früher oder später einholt, so doch die der Angst entwöhnten Menschen der Moderne in besonderer Weise. Das ist misslich, denn gerade die Moderne sollte die bedrängenden Ängste endlich besiegen, um auf weltliche Weise zu realisieren, was ursprünglich ein christliches Anliegen gewesen war: In der erlösten Welt sollten die Menschen von Bedrängnis befreit sein. Vielleicht fällt der Aufstand der Angst in moderner Zeit umso empörter aus, je mehr in ihr versucht wird, Emotionen wie diese auszuschalten. Da die gewohnte Geborgenheit in Zusammenhängen der Tradition, Konvention, Religion und Natur verloren gegangen ist, werden abseits alter Ängste auch noch neue wach. Im Unterschied zu den vormodernen, voraufklärerischen vor Geistern, Gespenstern, Teufeln, einem strafenden Gott, Fegefeuer und Hölle richten sie sich nun auf die soziale Vereinsamung, die technische Entwicklung, die politischen und ökonomischen »Systeme«, die ökologische Zerstörung, die metaphysische Sinnlosigkeit. Der moderne Traum der rationalen Kontrolle und Beherrschung von allem generiert die neue Angst vor ihrem Verlust.

Beängstigend ist vor allem die moderne Freiheit selbst, denn sie ermöglicht auf neue Weise, das Leben zu verfehlen, sich in den von Befreiung eröffneten Möglichkeiten zu verlieren und die Verantwortung dafür sich selbst zumessen zu müssen. Ausgerechnet in der Moderne, die vormoderne materielle Existenzängste zurückgedrängt hat, macht sich ideelle Lebensangst breit, die Angst, ein Leben ohne Sinn zu leben. Herkömmliche Zusammenhänge und der Sinn, den sie vermitteln, sind fragwürdig geworden; Bindungen und Beziehungen, die diese Zusammenhänge konstituierten, haben sich aufgelöst, und Zusammenhänge selbst wieder herzustellen, wird noch nicht als Aufgabe begriffen. Selbst die »positive« Erfahrung von Wohlgefühl und Wohlstand kann sich noch ins »Negative« kehren und Phänomene der Ängstlichkeit und Sinnleere hervortreiben, da das Selbst »das Leben nicht mehr spürt«, nämlich dessen Spannung in aller Polarität. Wer das Leben zu einseitig auf »das Positive« festlegt, ängstigt sich im Übermaß, es zu verlieren oder gar nicht erst zu gewinnen; er ängstigt sich erst recht vor der Angst. Mitte des 20. Jahrhunderts konnte daher davon die Rede sein, die »Aufdringlichkeit des Angstphänomens« habe einen bisher nicht gekannten Grad erreicht.

Moderner Sicht liegt es nahe, Angst als Krankheit oder Störung, als pathologisch oder dysfunktional zu verstehen. Aber sie könnte wohlbegründet sein und »Sinn machen«: als Ahnung der Grundlosigkeit, der Fragwürdigkeit und Brüchigkeit von allem. Wenn eine grundlegende Polarität des Lebens diejenige zwischen Oberfläche und Abgründigkeit ist, dann gehört die Angst, in welcher Form und zu welcher Zeit auch immer, von Grund auf dem Leben zu; aussichtslos, jemals mit ihr fertig werden zu wollen: Diese tragische Auffassung der Angst widerspricht der funktionalen, aus deren Sicht nur eine »Dysfunktion« zu beheben wäre (vgl. Fritz Riemann, Grundformen der Angst, 1961). Wo das pathologische Verständnis der Angst an seine Grenzen stößt, gewinnt die tragische Auffassung an Plausibilität: Angst ist für sie der profunde Einblick in den Aufbau und die Zusammensetzung von Wirklichkeit und Welt, in das untergründige Sein, das gegenüber allem vordergründigen Schein faszinierend und erschütternd in seiner Nacktheit ist. Alles wird zu nichts in der Angst: das Selbst, seine Beziehungen zu anderen, die Welt als Ganzes – aber gerade dadurch tritt hervor, was unter Sinn verstanden werden kann. Die Angst lehrt, was Leben ist und was wesentlich ist – dadurch, dass es bitter entbehrt wird. Es ist merkwürdig, dass ausgerechnet die Erfahrung von Tiefen und Untiefen das Selbst zu befähigen scheint, zu anderer Zeit die Höhen des Lebens zu erklimmen. Aber nur wer »tief unten« ist, sammelt die Kräfte für den Weg »nach oben«. Am Anfang von so vielem ist die Angst.

Während sie in der antiken Philosophie noch als Charakteristikum eines »abhängigen Gemüts« (Seneca im fünften seiner Briefe an Lucilius über Ethik) verworfen worden war, zeigten sich Philosophen in moderner Zeit bereit, ihr Sinn zuzugestehen und sie anthropologisch, als Grundbedingung des Menschseins zu verstehen. Sören Kierkegaard (Der Begriff Angst, 1844) beobachtete, dass eine neue Form von Angst in der Moderne entsteht, da alle sozialen Bindungen und metaphysischen Bezüge sich auflösen. Die Erfahrung der Angst sei der »Schwindel der Freiheit« im entstehenden Nichts. Und doch gewinne der Mensch gerade in dieser Erfahrung ein nachhaltiges Verhältnis zu seiner Freiheit, sich selbst bestimmen zu können; daher sei die Angst die bestmögliche Lehrerin des Lebens. Martin Heidegger (Sein und Zeit, 1927) hielt sie aus ähnlichen Gründen für unverzichtbar, denn dadurch, dass der Einzelne sich auf sich selbst zurückgeworfen erfahre, »solus ipse«, erschließe sich ihm erst, was Existenz sei. Das mögliche Entgleiten des Seins mache das Sein als solches erst bewusst, sodass die Angst eine »ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins« sei. Und schließlich affirmierte auch Karl Jaspers (Philosophie, Band II: ExistenzerhellungDie geistige Situation der Zeit