Im Oktober 1903 findet in Bayreuth ein aufsehenerregender Kriminalprozeß statt. Der 23jährige Hauslehrer Andreas Dippold ist angeklagt, seine beiden Schüler körperlich so sehr gezüchtigt zu haben, daß einer der Jungen an den Folgen der Mißhandlung starb. Der Hauslehrer beharrt auf der Rechtmäßigkeit seines Tuns, die großbürgerlichen Eltern setzen alle Hebel in Bewegung, um den Angeklagten als gemeingefährlichen Sexualtäter hinzustellen. Das Gericht fällt ein mildes Urteil, ein Aufschrei der Empörung geht durch die Öffentlichkeit. Eine beklemmende Geschichte. Ein zeitloses Lehrstück.

»Pädagogische Obhut als nackter Sadismus vor einem Jahrhundert – aber vorstellbar auch heute. Wahre Thrillerspannung.« Ursula März, Die Zeit

Michael Hagner, geboren 1960, ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. 2008 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt erschien Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn (stw 1914).

Michael Hagner

Der Hauslehrer

Die Geschichte eines Kriminalfalls
Erziehung, Sexualität und Medien um 1900

Suhrkamp

Umschlagabbildung: Sammlung »Album 1900«

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

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eISBN 978-3-518-74420-8

www.suhrkamp.de

Inhalt


Ein Junge stirbt

Ermittlungszeit

Der Prozeß in Bayreuth

Der Skandal und die Medien

Vom Nutzen und Nachteil der Humanwissenschaften



Epilog: Das Leben geht weiter

Nachbemerkung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Ein Junge stirbt

Im Juni 1902 suchte das Berliner Bankiersehepaar Rudolf und Rosalie Koch einen Hauslehrer für seine beiden jüngsten Söhne. Der dreizehnjährige Heinz Koch war kurz zuvor aus dem thüringischen Internat Haubinda entlassen worden, sein zwei Jahre jüngerer Bruder Joachim machte trotz Nachhilfelehrer kaum Fortschritte in der Oberrealschule. Die Eltern erwarteten vielleicht keine glänzenden schulischen Leistungen von den beiden Jungen, aber daß die bisherigen Bemühungen so wenig hatten ausrichten können, beunruhigte sie nicht nur, sondern beschämte sie auch. Die Vorwürfe an die Adresse der Kinder lauteten: Faulheit, mangelnde Motivation, Müßiggang, Unzuverlässigkeit und geistige Trägheit.

Im selbstbewußten und stolzen deutschen Bürgertum der Jahrhundertwende stellte man sich die Entwicklung der Kinder anders vor. Die mehr oder weniger vorherbestimmten Lebensentwürfe sahen in Bankierskreisen vorzugsweise so aus, daß die männlichen Nachkommen nach dem Gymnasium eine Karriere in der Wirtschaft, im Staatsapparat oder im Militär anstrebten, während die Töchter sich auf eine angemessene Heirat vorbereiteten, ohne jede Aussicht, durch den Besuch des Gymnasiums oder gar ein Studium einen anspruchsvolleren Beruf zu ergreifen. So war es bei den älteren Kindern der Kochs abgelaufen, und auch das Ehepaar selbst entsprach diesem biographischen Muster.

Rudolf Koch, 1847 in Braunschweig als Sohn eines angesehenen protestantischen Staatsanwalts geboren, konnte eine vorbildliche bürgerliche Laufbahn vorweisen, die geradezu exemplarisch für den raschen Aufstieg Deutschlands zu einer Weltmacht war. Er hatte auf ein Universitätsstudium verzichtet, um das Bankgeschäft von der Pike auf zu erlernen. Kurz nach der Gründung der Deutschen Bank 1870 in Berlin wurde er dort als Prokurist angestellt, fungierte als rechte Hand des Bankgründers Georg Siemens und bekleidete bereits 1878 einen Sitz im Vorstand der Bank. Zu dieser Zeit war er mit der vier Jahre jüngeren Marie Seele verheiratet, einer ebenfalls aus Braunschweig stammenden Bürgerstochter, die dem aufstrebenden Bankier fünf Kinder gebar, bevor sie 1886 plötzlich verstarb. Schon ein Jahr später heiratete Koch Maries jüngere, 1854 geborene Schwester Rosalie, die wiederum von dem renommierten Berliner Chirurgieprofessor Max Schüller, mit dem sie eine Tochter hatte, geschieden war.1 Sechs Kinder kamen aus den beiden Ehen zusammen. Als die Eltern einen Hauslehrer für Heinz und Joachim suchten, waren die meisten ihrer älteren Kinder bereits aus dem Haus. Kochs Söhne aus erster Ehe, Karl und Friedrich, lebten im Ausland. Der eine war als Angehöriger des Militärs an der deutschen Botschaft in Konstantinopel angestellt, der andere studierte Rechtswissenschaften in Oxford. Die beiden älteren Töchter, Ilse und Gertraud, waren standesgemäß verheiratet und lebten in Wannsee bzw. Quedlinburg. Nur die jüngste Tochter, Therese Rosalie, befand sich noch im Elternhaus. Rosalie Kochs Tochter aus erster Ehe war mit dem erheblich älteren Ferdinand Bugge verheiratet, der zu jener Zeit Gemeindeverordneter in Steglitz war.

Die Kochs gehörten zu den wohlhabendsten und angesehensten Familien Berlins. Rudolf Koch war ein einflußreiches Mitglied der Berliner Hochfinanz, also jener Kreise, in deren Händen die Organisation des Wirtschaftlebens und der Finanzströme des Deutschen Reichs lagen. Seit 1901 amtierte er sogar als Vorstandssprecher und Direktor der Deutschen Bank.2 Eine glänzende Karriere, und doch: trotz seiner über dreißigjährigen Tätigkeit in zentraler Funktion ist über Kochs Persönlichkeit und seine Rolle in der schon damals wichtigsten Bank Deutschlands nur wenig bekannt. Er war zuständig für den Innenbetrieb des Hauses, den Ausbau des nationalen Filialsystems sowie das inländische Kredit- und Einlagengeschäft. Darin mag der Grund liegen, daß er in den historischen Darstellungen der Deutschen Bank nur beiläufig erwähnt wird.3 Von der Gründung der Deutschen Überseebank einmal abgesehen, hatte Koch mit den internationalen, zum Teil politisch bedeutsamen Geschäften wenig zu tun – ganz im Gegensatz zu seinem charismatischen Vorgänger und Förderer Siemens sowie seinem Nachfolger Arthur von Gwinner.

Damals wie heute bestimmte der Geschäftssinn und nicht das Organisationstalent das Renommee eines Bankiers bei seinen Kollegen, und dementsprechend genoß Koch zumindest kein übermäßig hohes Ansehen.4 Er blieb im Hintergrund, und außer seinem großen Führungs- und Organisationstalent, seinem klaren und nüchternen Verstand sowie seiner Treue zur Deutschen Bank, die der Berliner Börsen Courier in Geburtstagsartikeln und im Nachruf auf ihn hervorhob, gab es wenig über ihn zu berichten.5 Jedenfalls kommt er in den einschlägigen Erinnerungswerken, den Biographien und Autobiographien der prominentesten Berliner Bankiers jener Zeit nur am Rande vor. Hermann Wallich und Gwinner, mit denen Koch jahrzehntelang eng zusammengearbeitet hatte, fanden in ihren Autobiographien nur knappe Worte für ihren Kollegen. Carl Fürstenberg, ein sehr angesehener Bankier und Gesellschafter des Bankhauses Bleichröder, hielt einzig die familiäre Tragödie für erwähnenswert, um die es auch in diesem Buch geht.6

Die Familie Koch wohnte in einer Villa in der Tiergartenstraße, einer beliebten Adresse für Bankiers, nicht weit entfernt vom Brandenburger Tor. Die Wochenenden verbrachte man am Wannsee, häufiger auch im Haus Ziegenberg, einem familieneigenen Gut in Ballenstedt im Harz, das von mehreren Angestellten bewirtschaftet wurde.7 Im Haushalt herrschte eine strikte Hierarchie und Aufgabenverteilung. Das durch berufliche und gesellschaftliche Verpflichtungen stark in Anspruch genommene Familienoberhaupt hielt sich aus dem Erziehungsgeschäft heraus, überhaupt bekamen die Kinder ihren Vater nur wenig zu Gesicht. Erziehung und Vermittlung bürgerlicher Werte wie Bildung, Arbeitsdisziplin und Pflichterfüllung oblagen der Frau, die gleichzeitig als Hausherrin für die Organisation des Haushalts zu sorgen hatte, Geselligkeit pflegte, repräsentative Pflichten erfüllte und nicht selten in Wohltätigkeitsorganisationen engagiert war.8 Auch im Hause Koch waren die Rollen auf diese Weise verteilt, und das spiegelte sich auch in den elterlichen Reaktionen und Maßnahmen, die getroffen wurden, wenn es mit dem Fortkommen der beiden Söhne nicht so lief, wie man sich das eigentlich vorgestellt hatte.

Für Rudolf Koch war die Angelegenheit eindeutig. Die Schwierigkeiten mit den Söhnen gingen auf das Konto seiner Frau, und es war an ihr, Vorschläge zur Verbesserung der peinlichen Situation zu machen. Rosalie Koch wiederum stand den Problemen mit einer Mischung aus Hilflosigkeit, Sorge und Empörung gegenüber. Bei der Suche nach den Ursachen für das schulische Versagen überzog sie ihre Söhne mit Vorwürfen und drohte nicht selten mit Liebesentzug, sollten sie sich nicht rasch bessern. Genau das war auch ihre Reaktion, als sie einsehen mußte, daß der Verbleib ihres Lieblingssohnes Heinz in Haubinda unmöglich war.

Das Landerziehungsheim Haubinda in Thüringen gehörte zu den reformpädagogischen Unternehmungen der ersten Stunde und war das Werk von Hermann Lietz. 1898 hatte er das erste deutsche Internat dieser Art in Ilsenburg im Harz gegründet, das Heinz Koch seit 1900 besuchte. Ein Jahr später dann erfolgte der Umzug von Schülern und Lehrern in das neugegründete Haubinda. Die Internate wurden bewußt fernab der größeren Städte gegründet, um die Jungen von den vermeintlich dekadenten urbanen Verführungen fernzuhalten und ihnen im Geiste Rousseaus die Vorteile eines einfachen Lebens zu vermitteln. Lietz’ Reformpädagogik »vom Kinde aus« versuchte die Schüler durch eine Mischung aus geistiger, künstlerischer und körperlicher Arbeit, vor allem in der Landwirtschaft, zu motivieren und richtete sich gegen den einseitigen Lerndrill des deutschen Gymnasiums, bei dem die Disziplinierung von Verstand und Gedächtnis ganz im Vordergrund stand. Dabei waren die Akzentuierung emotionaler und kreativer Fähigkeiten sowie die Betonung des Körpers und der Verbundenheit mit der Natur durchaus nicht frei von nationalen Ambitionen. Für Lietz ging es um die Erziehung »deutscher Jünglinge, die an Leib und Seele gesund und stark […], die klar und scharf denken, warm empfinden, mutig und stark wollen«.9 Immerhin setzte die Reformpädagogik darauf, Neugierde und Engagement bei den Schülern zu wecken, und nahm von Strenge und körperlicher Züchtigung Abstand. Statt dessen wurde die enge emotionale Bindung zwischen Lehrer und Schüler hervorgehoben, die sich auf den pädagogischen Eros Platons berief und so etwas wie die Atmosphäre der Platonischen Akademie im antiken Athen heraufbeschwören wollte.10

Wie sich reformerische Absichten und alltägliche Schulpraxis zueinander verhielten, läßt sich zumindest ansatzweise am Beispiel Heinz Kochs erahnen. Es galt nämlich als ausgemacht, daß ohne Begeisterungsfähigkeit und eigenes Engagement niemand in Haubinda bestehen konnte. Deswegen gab es strenge Selektionskriterien. Theodor Lessing, zwischen 1902 und 1904 Lehrer in Haubinda, bevor er sich wegen Lietz’ antisemitischer Haltung verbittert abwendete, schrieb stolz und unverblümt über die damaligen Praktiken: »Alles intellektuell oder sittlich Minderwertige, das sich den relativ sehr hohen Aufgaben und Leistungen des Landerziehungsheims nicht anpassen kann, wird unnachsichtig und völlig gleichgültig gegen materielle Gesichtspunkte aus der Anstalt entfernt.11 Will sagen: wenn sich die Zöglinge nicht in die Arbeits- und Lebensgemeinschaft einpaßten, mußten sie wieder gehen, gleichgültig ob sie aus armen oder reichen Familien stammten. Genau das passierte auch Heinz Koch. Lietz hielt ihn zwar für freundlich und gutmütig, traute ihm in intellektueller Hinsicht jedoch nur wenig zu und charakterisierte ihn obendrein als bequemen und verwöhnten Jungen. Seine schulischen Leistungen waren offensichtlich mangelhaft, doch es ist durchaus möglich, daß das nicht der einzige Grund war, warum Heinz Koch Haubinda im April 1902 wieder verlassen mußte. Vielleicht hatte Lietz angesichts der müßiggängerischen Bequemlichkeit des Jungen grundsätzliche Zweifel, ob er sich zu einem bescheidenen und gleichzeitig »stark wollenden« jungen Mann entwickeln würde.

Wir wissen nicht, ob Rosalie Koch von der Reformpädagogik besonders angetan war oder ob sie sich lediglich erhofft hatte, ihr wenig motivierter Sohn könnte, wenn schon nicht in der herkömmlichen Schule, so doch im Internat das Abitur erreichen. Es war jedenfalls nicht das erste Mal, daß Heinz Koch seinen Schulbesuch vorzeitig beenden mußte. Die Mutter reagierte auf diese neuerliche Enttäuschung heftig, strich ihm die geplanten Osterferien mit der Familie auf Gut Ziegenberg und baute eine Drohkulisse auf, die dem Sohn keine allzu rosigen Aussichten bescherte: »Deine beiden schlimmsten Laster sind Faulheit u Leichtsinn, wenn Du diesen beiden Eigenschaften nicht sehr ernst u immer wieder zu Leibe gehst, so werden sie Dich nach u nach ganz u gar beherrschen u Dein Hang zu Genuß u Wohlleben Dich noch vollends ruinieren.« Ihre Ankündigung, »daß von jetzt ab nur noch Strenge Dich retten kann«, verband sie mit einem Appell an das Gewissen ihres Sohnes: »Sehr hoffe ich bei Anwendung der Strenge auf Dein gutes Herz, denn Du weißt ja wie ich unter Strafen die über Dich verhängt werden, leide u darum hoffe ich, Du wirst Deine Energie wach rütteln u mir zu Liebe versuchen Deine Pflicht zu thun.«12

Diese Pflicht zu erfüllen versuchte zumindest Joachim, der jüngste Sohn, der den Eltern ebenfalls erhebliche Sorgen bereitete. Er galt nicht nur als faul und unaufmerksam, sondern, im Gegensatz zu seinem freundlichen und nach außen gewandten Bruder, als verträumt und widerspenstig. Zudem hatte er bereits eine Ohrenoperation über sich ergehen lassen müssen, die zum einseitigen Verlust der Hörfähigkeit geführt hatte und der ständigen hygienischen Nachsorge bedurfte. Sein Osterzeugnis immerhin war, wie die Mutter ihren älteren Sohn ermahnend wissen ließ, erfreulich ausgefallen. Joachims Einsicht in die Notwendigkeit des Lernens war angeblich bedingt durch die »unnachsichtige Strenge« des Nachhilfelehrers Johannes Benser, eines Jurastudenten, der bisweilen auch zum Mittel der körperlichen Züchtigung griff. Nachdem die liberaleren reformpädagogischen Bemühungen bei Heinz nicht gefruchtet hatten, schien der Weg zurück zur Strenge die einzige Lösung zu sein.

Rosalie Koch ließ ihren Sohn, den sie mit »Mein liebes Heinzchen« anredete, an ihren doppelten Leiden – unter seinen Lastern und unter den Strafen, die sie sich gezwungen sah über ihn zu verhängen – lebhaft teilnehmen und versuchte, ihm auf diese Weise eindringlich ins Gewissen zu reden. Doch sie blieb nicht konsequent bei dieser Linie. Vielleicht ohne es zu bemerken, führte sie ihrem Sohn dann doch wieder die angenehmen und luxuriösen Seiten des Lebens vor Augen und berichtete davon, daß auf dem idyllischen Ziegenberg, wo sie sich aufhielt, eine »lustige Treibjagd« auf zwei Wildschweine stattfand, die den Garten verwüstet hatten, und daß sie in Kürze mit Stieftochter (die ja ihre Nichte war) und Tochter sowie deren Ehemann für einige Wochen nach Italien in die Ferien verreisen wolle.13 Heinz Koch hat die über ihn verhängten Sanktionen offenbar postwendend mit einer Wehklage beantwortet, die die Mutter sogleich zum Einlenken brachte. Er durfte zwar nicht auf das Familiengut im Harz kommen, aber sie kündigte ihm an, ihn für zwei Tage in Haubinda zu besuchen und dort auch mit Direktor Lietz über seine weitere Zukunft zu reden.14 Es nützte allerdings nichts. Heinz mußte Haubinda verlassen, und auch Joachims Leistungskurve zeigte im Juni wieder nach unten.

Als die Kochs ein Inserat in der protestantischen Kreuzzeitung aufgaben, um einen neuen Hauslehrer zu suchen, stand Rosalie Koch unter erheblichem Druck. Die bisherigen Bemühungen um die Erziehung ihrer Kinder waren vergebens gewesen, und allmählich wurde die Zeit knapp. Heinz befand sich bereits in der Pubertät, Joachim war nicht mehr weit davon entfernt. In dieser Situation hofften die Eltern auf einen engagierten und strengen Lehrer, der sich seiner Tätigkeit mit Hingabe widmete. Eine solche Person auch nur für einige Monate zu finden war nicht leicht, denn Studenten, die für eine solche Aufgabe in Frage kamen, hatten andere Dinge zu tun. Eine Enttäuschung hatten die Kochs bereits mit dem erwähnten Nachhilfelehrer Benser erlebt, der zwar anfängliche Lernerfolge bei seinem Zögling erreicht hatte, dann aber bei der Mutter in Ungnade fiel, weil er sich nach ihrer Auffassung nicht hinreichend um Joachim kümmerte. Es war also kein kleines Risiko, sich wiederum auf einen Studenten einzulassen.

Andreas Dippold trat seine Stelle am 1. Juli 1902 an. Zu diesem Zeitpunkt hatte er vier Semester Jura absolviert, zwei davon an der heutigen Humboldt- und damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und davor zwei Semester in Würzburg. Was seine Herkunft und biographische Entwicklung anlangt, so stammt er, verglichen mit den Kochs, aus einer anderen Welt. 1879 als eines von neun Kindern eines katholischen Bauern im fränkischen Drosendorf bei Bamberg geboren, war ihm die Perspektive für eine akademische Laufbahn nicht in die Wiege gelegt worden. Die Schule sollte zunächst lediglich dazu dienen, ihn mit gerade so vielen Kenntnissen zu versorgen, wie es für die Arbeit auf dem väterlichen Hof nötig war. Immerhin besuchte er ab 1891 das Gymnasium in Bamberg. Als klar wurde, daß ihm die Welt der Bücher mehr bedeutete als der Acker, wurde er auf eine theologische Laufbahn vorbereitet und kam 1896 in das Bamberger bischöfliche Knabenseminar, aus dem er jedoch alsbald wieder ausschied, um vier Jahre später auf dem Gymnasium in Münnerstadt sein Abitur abzulegen. Seine Lehrer bescheinigten ihm Fleiß, Ehrgeiz und eine gute Auffassungsgabe, so daß einem Studium nichts im Wege stand. Dippold schrieb sich für das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Würzburg ein, vielleicht um noch in der Nähe der Familie zu bleiben, aus deren Welt er sich im wahrsten Sinne des Wortes herausgearbeitet hatte. Sein Studium mußte er sich zumindest teilweise durch Nachhilfeunterricht für Gymnasiasten finanzieren, und doch fand er genügend Zeit, über die rechtswissenschaftlichen Veranstaltungen hinaus auch noch Vorlesungen in Nationalökonomie, Philosophie, Religionswissenschaft und Geologie zu belegen.15 Ab Herbst 1901 setzte er sein Studium in Berlin fort. Er war neugierig, nahm die Idee des Studium generale ernst, hatte Ambitionen und war unentschieden, ob er in Jura promovieren und danach publizistisch tätig werden oder lieber die Laufbahn eines Mittelschullehrers einschlagen sollte.

Der Jurastudent konnte Erfahrungen mit Nachhilfeschülern vorweisen und hatte im Bewerbungsgespräch offenbar einen überzeugenden Auftritt. Er zeigte sich an grundlegenden Fragen der Erziehung interessiert, wartete mit Kenntnissen pädagogischer Klassiker von Rousseau bis Salzmann und Herbart auf und machte insgesamt den Eindruck, das Erziehungsgeschäft ernsthaft zu verfolgen. Dennoch war Rosalie Koch vorsichtig. Sie erkundigte sich bei einem Universitätsprofessor und einem Kaufmann in Würzburg, deren Söhne Dippold unterrichtet hatte, über die erzieherischen Fähigkeiten des Studenten, und erst als die Bestätigung eintraf, daß er exzellente Arbeit geleistet habe, bot sie ihm unter 40 Bewerbern die Hauslehrerstelle an. Die ersten Julitage verbrachte man in Berlin, aber schon nach kurzer Zeit gab Dippold zu bedenken, daß die Metropole zuviel Abwechslung und Zerstreuung biete, so daß alle pädagogischen Anstrengungen gleich wieder zunichte gemacht würden. Konzentrierte Arbeit mit den Jungen in abgeschiedener Ruhe sei vorzuziehen. Den Eltern kam das gelegen, denn den Rest der Sommerferien wollte die Familie ohnehin auf dem Ziegenberg im Harz verbringen. Und so brach man mitsamt dem Hauslehrer Anfang August 1902 dorthin auf. Rosalie Kochs Hoffnung, eine Person zu finden, die sich ausschließlich ihren Söhnen widmete, ging schnell in Erfüllung. Gleichzeitig konnte sie sich in den ersten Wochen persönlich ein Bild von dem neuen Hauslehrer, seinen Methoden und den Lernfortschritten ihrer Söhne machen.

Kaum in dem für ihn neuen sozialen Umfeld eingerichtet, entschied sich Dippold, sein Studium an der bedeutendsten Universität des Landes zu unterbrechen und der Stelle als Hauslehrer seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Was mochte einen gerade dreiundzwanzigjährigen ambitionierten Jurastudenten dazu bewogen haben, mit zwei verwöhnten und schulisch zurückgebliebenen Jungen zumindest einige Monate auf einem einsam gelegenen Gut im Harz zu verbringen? Wieso hatte er nicht ein vordringliches Interesse daran, sein Studium rasch abzuschließen und auf einer sicheren finanziellen Grundlage seine weitere Existenz aufzubauen? Mit diesem Vorhaben war er immerhin im Oktober 1901 von Würzburg nach Berlin gewechselt. Einige Monate später allerdings mußte er einen derben Rückschlag hinnehmen. Während seiner Würzburger Studienzeit, zu Weihnachten 1900, hatte sich Dippold verlobt, und zwar mit der jungen Lehrerstochter Josepha Margarete Vorndran aus Mittelstreu, einem nordfränkischen Dorf, wo er ebenfalls Nachhilfeunterricht gab. Mit ihrem Vater Ferdinand Vorndran stand er schnell auf gutem Fuße, redete ihn brieflich mit »Herr Papa« an und bat ihn eindringlich, ihm Geld zu leihen, damit er sich ganz auf sein Studium konzentrieren könne. Noch im Februar 1902, bereits in Berlin, bedankte er sich für die Geldzuwendung, mit der er das kommende Sommersemester finanzieren konnte, doch im Mai kündigte Vorndran seinem Schwiegersohn in spe die Auflösung der Verlobung mit seiner Tochter an. Von einem Tag auf den anderen hatte Dippold seine Verlobte und seine finanzielle Grundlage verloren, und das dürfte ihn vor allem anderen dazu bewogen haben, sich überhaupt auf die Stellenanzeige der Kochs zu melden.

Der Grund für die Auflösung der Verlobung lag bereits etliche Monate zurück, und er sagt einiges über die moralischen Prinzipien und die sozialen Netzwerke in einer streng katholischen Gegend wie dem damaligen Würzburg. Nachdem Dippold sich an der dortigen Universität eingeschrieben hatte, tat er das, was andere Studenten jener Zeit auch taten: Er trat der schlagenden Burschenschaft Adelphia bei, verbrachte Zeit in Studentenkneipen und fand auch den Weg in das Etablissement Zum Maltesischen Ritter, wo Prostituierte die sexuell hungrigen Studenten erwarteten. Dort ließ Dippold sich auf eine amouröse Verbindung ein und zog sich eine Geschlechtskrankheit zu, die ärztlich behandelt werden mußte. Studentische Eskapaden »in baccho und in venere« waren, wie die Sexualwissenschaftler damals wußten, an der Tagesordnung. Laut Max Marcuse, einem Spezialisten für Haut- und Geschlechtskrankheiten, der sich später auch als Sexualwissenschaftler hervortat, gaben sich in den Animierkneipen »der Alkoholteufel und die Venus vulgivaga ein Rendezvous zu gemeinsamem Beutefang«.16 Nicht ohne gesundheitliche Folgen. Nach einer statistischen Erhebung von Alfred Blaschko, einem weiteren Spezialarzt für Geschlechtskrankheiten, waren 1891 und 1892 25% der Berliner Studenten geschlechtskrank, was ihn zu der etwas gewagten Behauptung führte, »daß in 4 Studienjahren jeder Student mindestens einmal an einer Geschlechtskrankheit erkranken würde, eine Thatsache, deren Richtigkeit wohl jeder Eingeweihte zugeben wird«.17

Andreas Dippold ging es nicht anders als vielen seiner Kommilitonen auch. Nur hatte das in seinem Fall zusätzlich gravierende soziale Konsequenzen, denn das Mißgeschick blieb in der mit guten Beobachtungs- und Kontrollsystemen ausgestatteten Kleinstadt nicht verborgen. Kurz gesagt: Die denunziatorischen Kommunikationsflüsse sollten dem Studenten zum Verhängnis werden. Seine Würzburger Vermieterin kündigte ihm sogleich sein Zimmer und erzählte die Geschichte einer Verwandten weiter, die zufällig eine Mitarbeiterin des Gymnasialdirektors Dr. Zipperer in Münnerstadt war, wo Dippold sein Abitur abgelegt hatte. Dieser Lehrer wiederum, der sich noch gut an seinen ehemaligen Schüler erinnerte, hatte nichts Besseres zu tun, als den ihm bekannten Pfarrer in Mittelstreu zu informieren, der den entsetzten Ferdinand Vorndran schließlich – immerhin erst, als Dippold längst in Berlin war – davon überzeugen konnte, daß der vermeintlich vorbildliche Jurastudent ein zwielichtiger Charakter sei, der ihn nicht bloß finanziell übers Ohr gehauen habe, sondern auch an einer Geschlechtskrankheit leide und somit für seine Tochter eine ernste Gefahr darstelle.

Das war nur der Höhepunkt einer schmuddeligen Lokalkampagne, die auch innerhalb der Würzburger Studentenschaft ihre schadenfrohen Aktivisten gefunden hatte. Als ein Bundesbruder der Verbindung Adelphia sich über Dippolds Geschlechtskrankheit lustig machte und keiner der anderen Studenten Anstalten machte, ihn zu verteidigen, war Dippold so gekränkt, daß er aus der Verbindung wieder austrat. So schnell konnte die Reputation in einem so überschaubaren wie restriktiven sozialen Umfeld dahin sein, und das wirft noch einmal ein anderes Licht auf Dippolds Wechsel von Würzburg nach Berlin im Herbst 1901. Zwar war die Verlobung zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht gelöst, und der Student wußte auch nicht genau, wer alles über seinen Lebenswandel und seine Geschlechtskrankheit informiert war. Aber es könnte durchaus eine Rolle gespielt haben, daß er von der engen und spießigen Atmosphäre in Würzburg, wo sein Ruf erheblich beschädigt worden war, genug hatte, selbst wenn das bedeutete, von seiner Verlobten erst einmal getrennt zu sein.

Natürlich war das nicht alles. An seinen Vater schrieb er über das Studium an der berühmten Universität: »Berlin : Wuerzburg = 1000 : 1«. Überhaupt Berlin: Die prosperierende Reichshauptstadt nahm der katholische Bauernsohn als einen Tummelplatz der Möglichkeiten wahr, der Faszinierendes und Befremdliches gleichermaßen bot. Auch wenn der Student aus der Enge der katholischen Kleinstadt entkommen wollte, so hatte er doch all die Vorurteile, Aggressionen und Stereotypien im Gepäck, die jenem Wertedepot entstammten, das ihm das Leben in Würzburg so schwergemacht hatte. Dort war er das Opfer gehässiger Borniertheit gewesen, aber das hinderte ihn nicht daran, sich selbst in diesem Metier hervorzutun. Sein übler weltanschaulicher Horizont geht gleich aus einem ersten Erlebnisbericht an den Vater hervor: »Berlin ist für die Juden in Deutschland (›deutsche Juden‹ gibt es naemlich nicht, ebensowenig wie es deutsche Indianer oder russische Bayern gibt) eine Goldgrube im vollsten Sinne des Wortes. Fast in jedem Laden steht ein Jude u. herrscht ueber mehr oder weniger deutsche Lohnarbeiter. Wie es hier im Geschaeftsleben ist, so trifft man es auch in der Hochschule. Ich habe noch nie soviele Juden beisammen gesehen als gerade da. So erblickte ich hier gleich am ersten Tage drei Bamberger und zwei Wuerzburger Judensoehne in einer Gruppe vieler Sems Abkoemmlinge.«18

Daß der Student in wenigen Wochen mehr Juden zu Gesicht bekam als jemals vorher in seinem Leben, überrascht nicht, denn er wohnte zur Untermiete in der Sophienstraße 10, also im vornehmlich von Juden bewohnten Scheunenviertel. Sein unverblümter Antisemitismus dürfte jedoch kaum auf diese neuen Erfahrungen zurückzuführen sein. Antisemitismus war in Franken bereits um 1900 verbreitet. In der katholischen Landbevölkerung um Bamberg herum, wo Dippold aufgewachsen war, und offenbar auch in seiner Familie war der Haß auf die Juden an der Tagesordnung, und er hätte kaum so unverhohlen geschrieben, wenn er sich in diesem Punkt mit seinem Vater nicht einig gewesen wäre. Nun spielt Antisemitismus im weiteren Verlauf dieser Geschichte keine zentrale Rolle, und doch ist die kategorische Behauptung des Studenten, es könne gar keine »deutsche Juden« geben, ziemlich aufschlußreich, denn sie legt nahe, daß er seinen Antisemitismus nicht religiös oder sozial, sondern biologistisch begründete. Eingesponnen war dieser Biologismus in eine Weltsicht, von der der französische Arzt Ambroise-Auguste Liébeault, Begründer der Hypnose-Schule in Nancy, scharfsinnig – und von Freud in schnörkelloses Deutsch übersetzt – bemerkt hatte: »Ohne sich davon Rechenschaft zu geben, eignet man sich moralische und politische Ansichten, Familien- und Rassenvorurtheile an, nimmt man die Vorstellungen in sich auf, welche die Atmosphäre, in der man lebt, erfüllen. Es giebt sociale und religiöse Grundsätze, welche vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes, geschweige vor dem der Vernunft nicht bestehen können, und an die man doch bereitwillig glaubt, die man doch wie sein Eigenthum vertheidigt.«19

Berlin war für den Studenten ein faszinierender und zugleich zwiespältiger Ort, zumal Würzburg seine Spuren bei ihm hinterlassen hatte. Dippold mied Prostituierte vermutlich ebenso wie Studentenverbindungen. Es ist schwer zu sagen, ob er wegen seiner schlechten Erfahrungen mißtrauisch und eigenbrötlerisch wurde, jedenfalls konzentrierte er sich auf sein Studium und pflegte nur wenige soziale Kontakte. Ob das für ihn ein hinreichendes Motiv war, Berlin nach zehn Monaten wenigstens zeitweise wieder den Rücken zu kehren, wissen wir nicht. Sicherlich stand seine finanziell prekäre Lage im Vordergrund. Später erwähnte er sogar, daß Bankdirektor Koch ihm bei einer erfolgreichen Erziehung seiner Söhne zugesagt habe, den Rest des Studiums zu finanzieren. Sollte das zutreffen, so stand er gleich von Anfang an unter Erfolgsdruck, denn die Aussicht, seine finanziellen Sorgen längerfristig loszuwerden, war für ihn wohl das entscheidende Moment seines Hauslehrer-Engagements. Hinzu kam ein wachsender pädagogischer Ehrgeiz, Heinz und Joachim Koch zum Lernen anzuhalten und sie auf ein schulisches Niveau zu bringen, das ihrem Alter entsprach.

Der Hauslehrer schlug den Kochs eine ganze Reihe von Maßnahmen vor, die sich aus den Briefen, die im Spätsommer und Herbst 1902 zwischen Berlin und Ballenstedt hin- und hergingen, einigermaßen gut rekonstruieren lassen. Nachdem Rudolf Koch Mitte August nach Berlin zurückgekehrt war, schrieb er an den Hauslehrer, daß er dessen Vorschläge mit großem Interesse zur Kenntnis genommen habe: »Ich folge also Ihrem Rath und hoffe mit Ihnen auf ein gutes Resultat. Was Heinz anbetrifft, so halte ich eine sehr straffe Zucht mit Bezug auf Unterricht für durchaus nothwendig.«20 Wie seine Frau einige Monate zuvor sah auch das Familienoberhaupt in einem strengen Umgang mit seinem älteren Sohn den einzig erfolgversprechenden Weg. Nachdem einige Tage später auch Rosalie Koch vom Ziegenberg abgereist war und die beiden Jungen ganz ihrem neuen Lehrer überlassen blieben, meldete dieser nach Berlin, daß es mit der Erziehung einige Schwierigkeiten gebe. Die Jungen, so klagte er, würden geschickt seine Autorität untergraben, indem sie sich auf die Worte der Eltern beriefen. Wohlgemeinte, aber unbedachte Äußerungen, verfrühtes Lob, falsch formulierte Aufmunterung und ähnliches drohten seine Erziehungsbemühungen zunichte zu machen. Daher sei sein Vorschlag, die Eltern mögen vorerst keinen direkten brieflichen Kontakt zu ihren Söhnen unterhalten, ohne daß er davon Kenntnis habe. Das überzeugte die Kochs, und sie ließen es zu, daß der Hauslehrer die Kommunikation zwischen ihnen und ihren Söhnen kanalisierte. Die Jungen bekamen die Briefe der Eltern erst dann in die Hand, wenn Dippold sie gelesen hatte; und umgekehrt kontrollierte er den Informationsfluß von den Kindern an die Eltern.

Mit wenigen Vorschlägen und Maßnahmen erwarb sich der Hauslehrer weitreichende Befugnisse im Leben der Bankiersfamilie. Die Eltern scheinen das vor allem als Entlastung wahrgenommen zu haben, und auch für die Jungen war das zunächst kein allzu großes Problem. Oft genug hatten sie zu hören bekommen, daß ihre schulischen Leistungen weit davon entfernt waren, den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen. Zumindest Joachim hatte bereits Erfahrungen mit einem strengen Nachhilfelehrer gesammelt, und anscheinend verstanden es beide Brüder, ihre Spielräume geschickt auszunutzen. Dabei kam ihnen sicherlich zugute, daß der Aufenthalt auf dem Ziegenberg quasi ein Heimspiel für sie darstellte. Das Dienstpersonal war ihnen aus Sympathie oder aus Ergebenheit gegenüber den Eltern wohlgesonnen, in Ballenstedt waren sie gut bekannt, und nicht weit entfernt, in Quedlinburg, lebte eine ihrer Halbschwestern, die mit ihrem Ehemann hin und wieder nach dem Rechten sah. Ob der Hauslehrer sich als Fremder in dieser wiederum überschaubaren, miteinander vertrauten Gemeinschaft von Anfang an unwohl gefühlt und in seiner Autorität beschränkt gesehen hat, wissen wir nicht. Klar ist hingegen, daß er und seine Schüler gleichermaßen in der Erwartung lebten, die Erziehungskonstellation auf dem Familiengut müsse in absehbarer Zeit auch zum Erfolg führen.

Es war vereinbart worden, regelmäßig Probearbeiten der Jungen nach Berlin zu schicken, um die Lernfortschritte zu dokumentieren. Die Resultate waren ernüchternd. Nachdem sie zwei solcher Arbeiten gesehen hatte, sorgte sich Rosalie Koch vor allem um die schulischen Leistungen von Heinz. Die Briefe an die Jungen, die sie gemeinsam mit einem Schreiben an den Hauslehrer losschickte, damit dieser sie vorher lesen und mit ihnen besprechen könne, waren ganz im Sinne des Erziehers. Mit einer Mischung aus Urteil und Drohung, Selbstmitleid und Appell, Schärfe und Nähe unterstützte sie das anscheinend strenge Regime Dippolds. Gegenüber Joachim mokierte sie sich über eine schlechte Französischarbeit – ein »trauriges Machwerk« – und ermahnte ihn zum Fleiß, um dann eine deutliche Drohung auszusprechen: »Denke an Weihnachten, kleiner Joachim, es wäre doch zu jämmerlich für Dich u für uns, wenn Du nicht kommen dürftest.«

Mochte hier noch der Appell an das kindliche Gemüt bestimmend sein, so ging sie mit ihrem älteren Sohn schärfer ins Gericht und hob ihre empörte Ratlosigkeit gleichsam ins Prinzipielle: »Schlage die Hand, die wir Dir durch Herrn Dippold bieten, nicht aus, sondern nutze jeden Augenblick, damit Du es nicht bitter bereuen mußt, wenn es zu spät ist. Wie unglücklich Du mich noch ganz besonders durch Deine Faulheit machst, habe ich Dir oft genug wiederholt u ich kann Dir nur rathen, mißbrauche meine Geduld nicht zu lange, sonst könnte für uns beide ein recht trauriges Ende davon kommen.« Im Klartext: Dieser Hauslehrer ist der letzte Liebesdienst, den wir dir erweisen; wenn du das ausschlägst, so wirst du aus der Familie verstoßen. Die Mitteilung an den Lehrer enthielt einen noch vorsichtigen, verklausulierten Hilferuf. Und Dippold konnte auch feststellen, daß die Bankiersgattin es nicht über sich brachte, den Brief an Heinz mit so eisigen Worten zu schließen, denn am Ende schrieb sie, daß zu Hause eine schöne Uhr für Heinz bereitliege, »die ich Dir aber unmöglich als Belohnung für eine solche Arbeit schicken kann«.21

Wie die beiden Jungen auf ihre neue Lebenssituation reagierten, läßt sich nur indirekt erschließen, da ihre Briefe an die Eltern sich nicht erhalten haben. Ob diese Schreiben nun Rechtfertigungen für die offensichtlich schwachen Leistungen enthielten und Besserung gelobten oder eher beschönigende Nachrichten enthielten, muß dahingestellt bleiben. Spontane und ehrliche Berichte jedenfalls können es angesichts der Kontrolle durch den Hauslehrer nicht gewesen sein. Das blieb nicht ohne Konsequenzen, denn die strengen Briefe aus Berlin führten zu einer allmählichen Entfremdung zwischen Mutter und Söhnen. Dadurch gerieten die Jungen fast zwangsläufig in immer größere Abhängigkeit von ihrem Lehrer. Dieser wiederum versuchte in seinen Briefen nach Berlin eine doppelte Botschaft zu vermitteln: Einerseits berichtete er von Fortschritten, andererseits hob er den erschreckenden Wissensrückstand seiner Schüler hervor, der die Schwere seiner Aufgabe nur noch deutlicher machen sollte. Der Student gab viel auf seine erzieherische Expertise und war fest davon überzeugt, ein regelrechtes Erziehungssystem aufbauen zu können, das sogar wissenschaftlichen Ansprüchen genügte. Hier kamen mehrere Aspekte zusammen.

Zweifellos wollte der Bauernsohn dem Geldadel mit seiner Gelehrsamkeit imponieren und stand zudem unter dem Eindruck, sich fortwährend legitimieren zu müssen. Unabhängig davon allerdings nahm er seine Aufgabe ziemlich ernst, was er dadurch unterstrich, nicht seine persönliche Autorität oder Erfahrung als Nachhilfelehrer in den Vordergrund zu stellen, sondern ein belastbares pädagogisches Wissen, das die von ihm getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen unterfüttern sollte. Mehr und mehr setzte sich in Dippolds Kopf die Idee fest, daß er seine pädagogische Begabung an den schwierigen Fällen Heinz und Joachim Koch unter Beweis stellen müsse. Was aber waren die Maßnahmen des Hauslehrers? Was an ihnen war nach damaligen Maßstäben »pädagogisch« zu nennen? Und wo überschnitten sich seine Vorstellungen mit jenen Lehren, Regeln und Bemühungen, die in der Pädagogik der damaligen Zeit kursierten?

Die Reformpädagogik mit ihrem auf die Gesamtpersönlichkeit der Kinder zielenden Ansatz ist bereits kurz angesprochen worden, doch die Aufbruchstimmung um 1900 war wesentlich breiter. Lebensreform – das war das Zauberwort für eine Bewegung, mit der den Folgekosten der industriellen und technisierten Moderne begegnet werden sollte, die mehr und mehr Menschen in die von Verkehr, Lärm und Hektik geprägten Städte spülte. Auch wenn sich ganz unterschiedliche Tendenzen unter diesem Begriff versammelten, stimmten sie doch darin überein, daß an der Lebensweise jedes einzelnen angesetzt werden müsse. Das beinhaltete gesunde Ernährungsweise und sorgfältige Körperkultur, was auch hieß, den nackten Körper in der freien Natur nicht zu verstecken. Intensive sportliche Betätigung und Abhärtung mit Kaltwasserduschen gehörten ebenso zum Programm wie insgesamt eine hohe Wertschätzung der Natur, die zwar rousseauistisch gestimmt war, jedoch weniger zum Ziel hatte, aus dem modernen Leben ganz auszusteigen – das taten nur einzelne Avantgardisten der Lebensreformbewegung. Vielmehr ging es darum, den Geist von dekadenten Gewohnheiten zu befreien und zu einer spontanen, kräftigen Lebendigkeit zurückzufinden, die wiederum für das individuelle Fortkommen und den gesellschaftlichen Fortschritt nützlich sein sollte.22 Die Gymnasien, so eine im Kaiserreich vielfach zu hörende Ansicht, brächten im wesentlichen vergeistigte Schwächlinge hervor. Die Reformpädagogik versuchte darauf zu reagieren, indem sie den Körper in den Vordergrund rückte.

Über welche Kenntnisse der Lebensreform Andreas Dippold im einzelnen verfügte, muß offenbleiben, doch immerhin befolgte er ihre Maximen in verschiedener Hinsicht. Heinz Koch war ein übergewichtiger, phlegmatischer Halbwüchsiger, als er in die Hände des Hauslehrers geriet, was vermuten läßt, daß man es in Haubinda mit der körperlichen Ertüchtigung vielleicht doch nicht ganz so ernst meinte. Immerhin zeigten sich bei Heinz in diesem Punkt auf dem Land schnell sichtbare Fortschritte. Dippold ließ die Jungen früh aufstehen, kalt duschen, regelmäßig turnen, laufen, schwimmen und Holz hacken und unternahm mit ihnen ausgedehnte Wanderungen im Harz. Hin und wieder sah man Lehrer und Schüler gänzlich nackt beim Ballspiel oder Schwimmen. Auch die Ernährung wurde umgestellt. Waren die beiden bis dahin üppige Mahlzeiten gewohnt, so gab es nun vor allem fettarme Kost und viel Gemüse. Ob der Hauslehrer damit auch so etwas wie ein asketisches Ideal vermitteln wollte, wissen wir nicht, aber jedenfalls konnte er stolz nach Berlin melden, daß Heinz schon deutlich an Gewicht verloren habe. Mit Sport und Spiel im Freien konnte Andreas Dippold seine Schüler begeistern.

Mit den geistigen Fortschritten hingegen haperte es, denn anscheinend hatten die beiden bis dahin noch nicht recht eingesehen, wieso sie überhaupt Lernanstrengungen unternehmen sollten. Also ging es hier um grundsätzlichere Dinge als nur die Fähigkeit, konzentriert zu lernen. Es mußte ein Erkenntnisprozeß eingeleitet werden, der überhaupt erst die Voraussetzung für bessere schulische Leistungen darstellte. Dippold sah hier ein weitgehendes Defizit und schrieb an die Mutter: »Beiden Jungen als leitende Norm einzuprägen, dass geistige Arbeit kein notwendiges, irdisches Uebel, und die Befreiung davon kein anzustrebendes Ziel sei, sondern dass Arbeit unseres Daseins ureigenste Zweckbestimmung ist, war von vorneherein meine Absicht; doch bislang zeigten beide kein Verständnis dafür. Diese Indifferenz machte nun bei beiden der besseren Einsicht von der ernsten Wahrheit obiger Idee Platz und sie bekennen mir nun, selbst schon das Gefühl der Selbstbefriedigung nach gethaner Arbeit zu bekommen – das gilt mir vorläufig viel.« Rosalie Koch mag solche Sätze dankbar als Bestätigung ihres bürgerlichen Wertekanons aufgenommen haben. Der Hauslehrer hatte hohe Ansprüche an seine beiden Zöglinge, aber auch an sich selbst. Er hatte ihnen zu vermitteln, daß Lernbereitschaft und Engagement nicht Folge einer Einsicht in bestimmte Notwendigkeiten darstellen – beispielsweise, der Mutter einen Liebesdienst zu erweisen –, sondern Ausdruck einer reifenden Persönlichkeit sind, die es durch strenge Anleitung und Kontrolle zu unterstützen gilt.

Das war ein ehrgeiziges Vorhaben, doch auf die Qualität der abzuliefernden Arbeiten hatten die angeblich neuen Einsichten der Jungen noch keinen Einfluß. Der Hauslehrer ließ sich dadurch nicht entmutigen und erweiterte seinen Erziehungsplan um den Vorschlag, den Unterricht bis Ostern 1903 fortzuführen, um seine Schüler eine öffentliche Aufnahmeprüfung für das Realgymnasium absolvieren zu lassen und zu sehen, für welche Klasse sie in Frage kämen.23 In diesem Zusammenhang versuchte Andreas Dippold, seinen Handlungsspielraum noch einmal zu vergrößern. So bat er Rosalie Koch darum, ihre Söhne keineswegs zu loben, um die gerade erwachende Motivation nicht gleich wieder zu unterminieren. Die Mutter nahm sich das sehr zu Herzen und schrieb an ihren jüngeren Sohn, daß er »zu der ganz minderwertigen Sorte von Jungen [gehöre], die nur durch erneute geistige Peitschenhiebe zu ihrer Pflicht zu bringen sind. Schäme Dich Joachim!« Und an den älteren: »Raffe Dich auf Heinz, nur wer mit Lust u Liebe lernt, nur wer die Arbeit als Triebkraft alles Guten in der Welt ansieht, wird ein glücklicher Mensch, Faulenzen führt zum Untergang.«24

Im Grunde wiederholte sie damit nur das, was der Hauslehrer ihr wenige Tage zuvor geschrieben hatte: Arbeit als Zweckbestimmung des Menschen. Dennoch war Rosalie Koch keine ahnungslose Frau, die bloß den Suggestionen eines geschickten Manipulators aufsaß. Sie äußerte ihre Meinung im schroffen begrifflichen Horizont der Zeit, die Rede von der Minderwertigkeit 25 und auch die Gewaltphantasie der geistigen Peitschenhiebe waren keine Ausrutscher. Daß diese Worte an ihren jüngeren Sohn gerichtet waren, während sie an Heinz beschwörende Appelle richtete, mag ein Hinweis darauf sein, wem ihre größeren Sympathien galten. An den Hauslehrer schrieb sie, mit einem Seufzer der Erleichterung, daß wenigstens die voranschreitende körperliche Konstitution von Heinz ein »Schreckgespenst« vor ihrem inneren Auge vertreibe. Dann aber brach es aus ihr heraus: »Es bedeutet ja mein ganzes Lebensglück, wenn aus diesen beiden Jungen tüchtige Menschen werden u die Ärmsten sind, wie andere Menschen, erstens durch Vererbung u zweitens durch verführerische Verhältnisse den Versuchungen des Lebens ausgesetzt.«26

Wie ist ein solcher Satz zu verstehen? Gehörte es schon damals zu den Binsenweisheiten, daß die Menschen Produkte ihrer biologischen Mitgift und ihrer Umwelt sind? Rosalie Koch dürfte kaum über eine genauere Kenntnis der von dem britischen Eugeniker Francis Galton angestoßenen Diskussion über nature und nurture verfügt haben, die um die Jahrhundertwende Teil der Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Natur und Kultur darstellte.27 Wohl aber waren Vorstellungen von der Vererbung charakterlicher Eigenschaften, gerade wenn es um menschliche Schwächen oder Stärken ging, fester Bestandteil der Alltagspsychologie; und daran geknüpft war zudem die Vorstellung von einer biologisch verankerten Schicksalhaftigkeit, die sich nur durch große Anstrengungen durchbrechen ließ. Zugleich war sich die Bankiersgattin durchaus darüber im klaren, daß das luxuriöse großbürgerliche Leben, welches sie mitverantwortete, auf die Kinder keinen günstigen Einfluß hatte. Eine echte Alternative zu diesem Leben stellte natürlich auch der durch das Dienstpersonal angenehm gestaltete Alltag auf dem Ziegenberg nicht dar, aber wenigstens wurden ihre Söhne durch den Hauslehrer mit anderen Werten vertraut gemacht, zumal er sie ihnen nicht nur predigte, sondern auch vorexerzierte. Das imponierte Rosalie Koch, und sie begann, dem jungen Hauslehrer ihr Herz auszuschütten, bot ihm Einblick in ihre familiären Verhältnisse und offenbarte sogar vermeintliche erbbiologische Zusammenhänge, die das Verhalten und den Charakter der Brüder erklären sollten. Damit lieferte sie dem Hauslehrer in erster Linie das Material für seine eigene Version der Familiensituation und der Konstitution der Jungen.

Dippolds Briefe aus dieser Zeit waren alle nach demselben Muster gestrickt. Er betonte die harmonische Atmosphäre innerhalb der neuen Gemeinschaft, strich die gute Gesundheit der Jungen heraus, berichtete über die ausgiebigen körperlichen Aktivitäten und Fortschritte, mußte allerdings auch einräumen, daß es mit den geistigen Leistungen nicht recht voranging. Zwar seien Einsicht, gute Vorsätze und Bemühen unübersehbar, in verbesserten Leistungen schlug sich das jedoch kaum nieder. Das war für den Hauslehrer enttäuschend, aber es scheint seinen pädagogischen Ehrgeiz nur noch weiter beflügelt zu haben. Von irgendwelchen Konflikten mit den Jungen ist nicht die Rede. Mehrfach erwähnt wird eine »unbedeutende« Beinverletzung Joachims, die unglücklicherweise nicht ganz so schnell verheilte, wie es der konsultierte Ballenstedter Arzt Dr. Haring in Aussicht gestellt hatte.28

Derselbe Arzt behauptete ein Jahr später, er habe sofort gesehen, daß diese Verletzung von Schlägen herrühre29 – aber das hat er den Eltern im September 1902 nicht mitgeteilt. In Berlin stellte sich angesichts der Dippoldschen Briefe ein vorsichtiger Optimismus ein, der in gutgelaunten, aufmunternden Briefen an die Söhne zum Ausdruck kam. Rudolf Koch war in Hannover plötzlich erkrankt. Noch nicht vollständig genesen, schrieb er: »Vor allem hat mir der Arzt artige, fleißige Jungens verschrieben, welche mir nur Freude und keinen Kummer machen dürfen. […] Ich bin sehr begierig darauf Euch Weihnachten als schlanke Jünglinge mit kräftigen Muskeln und scharfem Verstande wiederzusehen. Herrn Dippold bin ich sehr dankbar, daß er Euch so gut führt.«30 So stellte der Vater sich das vor: Vier Monate wurde er von seinen ungehorsamen Söhnen verschont, um sie dann als gut entwickelte Jünglinge gleichsam wie ein Geschenk unterm Weihnachtsbaum präsentiert zu bekommen. In der Zwischenzeit überzeugte sich Rosalie Koch persönlich vom Fortgang des Erziehungsprogramms; und sie gewann einen guten Eindruck, als sie Ende September einige Tage im Harz verbrachte. Zurück in Berlin, schrieb sie dankbar und erleichtert an den Hauslehrer: »Sie haben mir eine große Freude bereitet durch Ihr verständnisvolles u treues Wirken an unseren Jungen.«31

Im Oktober unternahmen Lehrer und Schüler eine Reise durch Thüringen, die sie auch kurz nach Haubinda führte, um einige dort verbliebene Sachen von Heinz zu holen. Zurück in Ballenstedt, liefen die Vorbereitungen für eine offizielle Prüfung an, die die beiden Brüder bei einem Gymnasiallehrer aus Halberstadt ablegen sollten, um so ihren Kenntnisstand zu testen. Das war der erste Schritt auf dem Weg zur geplanten Versetzung ins Realgymnasium zu Ostern des darauffolgenden Jahres. Allzu zuversichtlich gab sich der Hauslehrer allerdings nicht. Neben dem Unterricht in den verschiedenen Fächern war er nach wie vor damit beschäftigt, die »mangelhaften, vorhandenen Ideen [der Jungen] zu sichten, klaeren und mit Erklaerungen und neuem Aufbau zu einer grundlegenden Basis fuer weiteres Studium zu verdichten«.3233