Sebastian Polmans

Junge

Roman

Suhrkamp

Erste Auflage 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-518-76400-8

www.suhrkamp.de

- Des larmes qui voient … Vous croyez?

- Je ne sais pas. Il faut croir.

Jacques Derrida

 

 

Zuletzt

 

werden bloß soviel
überbleiben als
herumsitzen können
um eine Trommel

W. G. Sebald

 

 

We’re not well

We’re not well

We can tell…

Erykah Badu

1

Am Anfang dieses Herzrasen

Irgendwo über ihm war es, mehrere Kilometer entfernt, ein Düsenflugzeug in weiß-beige-schwarzer Camouflage, eben erst im Steilflug in einer der Wolken verschwunden, die wie Flecken angerostet am Himmel standen. Unerwartet brach das hoch schwellende Pfeifen der Triebwerke ab. Vor seinen Füßen sirrte ein altes Kofferradio. Das engmaschige Stoffgitter über den Lautsprechern war mit einer Kugelschreiberspitze durchbohrt worden, Ruckstände von feinem Kuliblau um die kleinen Durchbrüche, als hätte jemand versucht einzubrechen, um etwas hinter der Hülle zu befreien. Der Junge konnte es nicht gewesen sein. Seit er auf dem Feuerwachturm arbeitete, lag auf einem der schmalen Simse nur der Bleistift, der an beiden Enden angespitzt war und nicht viel länger als sein kleiner Finger.

An den Fensterscheiben der Turmkanzel klebte alter Staub. Der Raum war eng, vier, fünf Leute hätten gerade so Platz gefunden. Schon seit dem frühen Morgen sammelte sich hier die Hochsommerhitze, und obwohl gelegentlich kühle Böen durch die offenen Fenster strichen, blieb die Luft stickig. Ein Schweißtropfen lief ihm langsam die Schläfe hinunter. Er sah hinaus. Kaum merklich wippte er mit den Knien und bewegte seine Zehen in den Schuhen. Er stellte sich vor, wie es wäre, ein paar Meter durch die Luft zu gehen und nicht abzustürzen. Mit einem zögernden Schritt nach vorn stieß er gegen die glasgrüne Wasserflasche. Er beobachtete die dünne Spur, die aus der Öffnung floss und sich zwischen den Roststellen wand, kleine, aufgesprengte Krater, die auf dem grauen Boden äugten. Das anfängliche Knistern der Kohlensäure auf dem Metall kam ihm so laut vor. Er dachte an einen Monsunregen, von dem er im Atlas gelesen hatte, und der sein Dorf, nicht allzu weit von hier, so stark überschwemmen würde, dass alle Häuser unter Wasser stünden. Erst allmählich sickerte das Rinnsal in die Ritzen zwischen den zusammengeschweißten Riffelblechplatten.

 

Er bückte sich und bewegte den Lautstärkeregler des Radios nach links bis zum Klick, bis das Knirschen und Gesumm der Funkwellen, in denen ab und an unverständlich flüsternd Stimmen zu hören gewesen waren, verschwand. Um die Frequenzwellen waren die meisten Namen von Ländern und Weltstädten verblichen, lesbar blieben nur noch MT Ceneri, Amerika, Tokio, Beromunster und hinter der gelben Frequenznadel Wien II.

Er sah hinaus, umklammerte die Kolben vom Fernglas fester, und während er tief ausatmete, hörte er unter sich den stockenden Motor eines Autos, das auf den Stellplatz gewunken wurde, und die Anweisungen der Zollkontrolleure. Oben in der Turmkuppel verstand er ihre knappen Sätze nicht. Aber sie erinnerten ihn an Worte wie Halleluja und Hosianna, Gebetrufe, die der Junge aus der Kirche und von seiner Mutter kannte und bei denen er sich wunderte, dass im Grunde niemand damit gemeint sein konnte, der sich berühren, umarmen oder auch nur anschauen ließ. Im Luftholen war ihm, als atmete er die Worte mit ein. Er verschluckte sich.

 

Schwalben kreisten knapp unter den Wolkenflecken, einzelne Vögel stießen in unregelmäßigen Abständen noch höher und tauchten in die weißen Bäusche ein. Der Junge fixierte weiter die Wolke, in der er das Flugzeug vermutete. Er lehnte rückwärts im Hohlkreuz gegen den unteren Rand des Fensterrahmens und legte den Kopf in den Nacken.

Er wünschte, das Flugzeug wäre bald wieder in Sicht, und flüsterte hastig ein terugterugterugterugterug in den Himmel, das nach Vogelgezirpe klang. Er stand still, sein Trikot bewegte sich wie ein ruhiger See. Noch aus der Jugend des Vaters war das Fußballhemd. An dessen Armen und Kragen hingen zwar lose Nähte, aber der hellblaue Stoff glänzte wie früher. Der Junge überlegte, was passieren würde, wenn in diesem Moment und für ihn allein, die Erdanziehungskraft einfach so aussetzte, wenn er selbst dort oben, schwerelos, durch die Luft treiben würde, so weit oben, dass er mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen wäre.

 

Ein Schwarm winziger Falter, Bläulinge, deren Schlupf noch nicht lange her sein konnte, spielte draußen vor einem der Ostfenster des Turms. Die Scheiben waren rundherum durch Streben verbunden wie mit schmalen Strichen. Kreuz und quer wechselte der lose Verein die Fensterausschnitte, bis die Bläulinge schließlich gemeinsam im Licht hinter dem staubblinden Glas verschwanden, als wäre ihre Lebenszeit unerwartet abgelaufen. Der Junge wusste von der kurzen Dauer der Falter, weshalb er versuchte, ruhig zu bleiben, wann immer er einen von ihnen irgendwo bemerkte, um die schlagenden Flügel nicht aus dem Blick zu verlieren. Flatterte er dann doch davon, kam ihm manchmal der Satz auf, er habe den Schmetterling ein halbes Leben lang begleitet. Diesmal sah der Junge die Falter nicht.

 

Seine Nasenflügel wurden sacht eingeklemmt zwischen den Fernglaskolben, und er begann, durch den Mund Luft zu schöpfen. Sein Atem ging lauter als sonst. Ihm selbst fiel das zunächst kaum auf. Wie durch einen Trichter hörte er die Rufe des Grenzbeamten, dessen Stimme ihm den Sommer über vertraut geworden war. Aussteigen, bitte, nach einer Weile lauter, Please, get out of your car, come on. Und erst nachdem eine heiser klingende Frauenstimme angestrengt schrie, Meteen, uitstappen, als t’u blief, kniff der Junge so fest die Augen zu, dass er einen leichten Schmerz spürte, der sich bis in seinen Nacken zog. Die Lidränder lösten sich für diese kurze Verkrampfung nicht sofort von den Gummiringen um den Okularen, ein dünner Schweißfilm auf seinem Gesicht hatte sie leicht, wie mit Prittstift, festgeklebt. Er drückte das Fernglas nach und nach fester in seine Augenhöhlen. Und als er die beweglichen Fasern in rötlichen Farben besah, wurde er ruhiger, wie sie oft schon, wenn er sich mit dem Finger über die geschlossenen Augen rieb und sich das, was er zuvor gesehen hatte, in der Dunkelheit des Nachbilds in dünne Härchen und Punkte auffädelte. Für einen Moment lang glaubte er, in dem Flirren auch Teile des Fliegers wiederzuerkennen, die ihm aber aus dem Blick flohen und die er nicht wieder hineinbekam. Trotzdem hielt er die Augen geschlossen, mit aller Kraft, sicher, dass die Maschine eher in seiner eigenen Dunkelheit wiederauftauchen würde als irgendwo da draußen zwischen den Wolken am Himmel.

 

Vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch, Spotlights, die lichte Tupfer auf die Landschaft warfen, als suchten sie etwas, den Schlupfwinkel eines Fremden vielleicht. Kaum merklich zogen manche Quellwolken nach und nach zu dichteren und weiteren Flächen zusammen und nahmen mit ihren Schattenwürfen die Landschaft in Besitz, den Verstecken ließen sie ihren Raum.

Zwischen den Baumwipfeln im Westen war die Schneise der Autobahnbaustelle zu erkennen, eine Narbe, die sich bis an den Rand der nächsten Stadt in Holland zog, und nahe beim Turm ein Loch, der Rosinenweiher, vor Jahren eine alte Kiesgrube, jetzt ein kleiner Badesee, in dem die Förderbänder noch am Grund standen. Er hatte dort schwimmen gelernt, als sein Großvater ihn aus einem Gummiboot in den Weiher geschubst hatte. Der Junge aber glaubte fest daran, dass die Anlagen unter Wasser noch in Bewegung waren und dass deren Strömungen ihn, während er sich damals abmühte, an der Oberfläche hielten.

 

Auf das Zuknallen zweier Autotüren hin öffnete er die Augen. Hunde bellten, die Zollbeamten schrien irgendwas. Ohne das Fernglas abzusetzen, lehnte er sich vornüber und mit angespannten Bauchmuskeln gegen das schmale Fensterbrett. Winzige braune Lackreste splitterten vom Rahmen, einige segelten nahe der Fassade in Kreiseltänzen abwärts, andere landeten direkt auf dem dreckigen Turmboden. Er senkte den Kopf und wusste eigentlich, dass in dem gerundeten Ausschnitt des Fernglases nur ein paar fingerdicke Äste zwischen Buchenblättern glimmern würden, dass ihm die Hülle aus Laub und Zweigen den Blick auf den Parkplatz versperrte. Höchstens könnte er noch, wie immer, die parallelnervigen Äderchen in den Blättern nach winzigen Unterschieden absuchen, Grünwerte vergleichen oder die seichten Schütterungen zählen, sonst nichts.

Diesmal sah der Junge mehr: Ein Schuss Eckern rieselte von einem handtellergroßen Blatt. Wär’ ich eine von ihnen. Dann würde ich die Zollleute ablenken. Und alle könnten unbemerkt über die Grenze. Mit einem Prusten spuckte er hinunter.

 

Der Wachturm stak aus der Fläche von Laubbäumen hervor, ein astloser Stumpf mit meterhohen Antennen auf dem Dach. Knapp unter der Kuppel glänzte eine Klammer aus Metallstreben, die vor einigen Jahren um das rostrote Gemäuer geschnallt worden war, um die Fassade zu stabilisieren und um Schäden durch stärkere Unwetter vorzubeugen. Gleich am Fuße stand das kleine Grenzhaus, dessen ebenes Dach von bauchigen Mooskissen überwuchert war, und auf dem alte Trinkbüchsen, Flaschen und ein zerschlissener Autoreifen herumlagen. In der Mitte ragte ein dünner Mast in die Luft, an dessen Spitze zwei Kameras installiert waren, darunter hingen lasch herab die Fahnen, ein Stofflakengemenge, das sich rot und weiß und gelb und schwarz und blau um die Stange zwirbelte.

Der Junge schloss ein Auge, fokussierte mit dem anderen und überlegte, vom Turm aus mitten in die weichen Mooskissen zu springen. Er stellte sich vor, durch die Blätterdecke zu stürzen und statt auf dem Moos auf den Pflastersteinen des Stellplatzes aufzuschlagen, wo er daliegen würde wie ein zerschmettertes Fleischbröckchen in bunten Klamotten. Im nächsten Moment dachte er an seine Mutter und seinen Vater, an die Großeltern und Hiko und schwor sich, niemals irgendwo hinunterzuspringen, es sei denn, sie würden aus irgendwelchen Gründen auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein.

 

Die bucklige Plache aus Grün und Braun unterhalb der Kanzel, in der er nach einem Spalt, einem Durchkommen suchte, zitterte im schwachen Wind, der oben in dünnen Linien durch die offenen Fenster zog. Regelmäßig wehten sie den Trikotstoff gegen seinen Rücken. Er trat einen Schritt zurück und ließ das Fernglas auf die Brust sinken. Er hörte nichts. Die Welt um ihn herum war eingefroren. Er bewegte seine Hände ein wenig und schüttelte die Füße aus, um festzustellen, ob er noch lebendig wäre.

Ganz leicht ließ er seinen Kopf über die Schultern kreisen, er summte etwas, bevor er das Fernglas erneut ansetzte und seinen Blick weiterschweifen ließ, erst das Dach des Grenzhäuschens unter dem Blätterbelag sah, der zum Rand hin undichter wurde, dann die Straße mit dem weißen durchgezogenen Streifen in der Mitte, auf der gerade keine Autos fuhren. Stattdessen eine Gruppe Rennradfahrer, unterwegs in Richtung Holland. Bunt leuchtende Nylontrikots spannten sich um ihre dicken Bäuche. Die schmalen Rahmen und Reifen waren kaum erkennbar, eine Bande von Gespenstern, die eifrig durch die Luft strampelten. Eine junge Frau in einem kurzen, lilafarbenen Trägerkleid überholte die Gruppe auf ihrem Moped und hupte. Der Sturzhelm ohne Visier, sie hatte kirschrote Lippen, und auf ihrer zierlichen Nase saß eine große Sonnenbrille, über ihrer Schulter hing ein Seesack. Die Männer klingelten, und einer schrie, Hey, meisje. In voller Fahrt zog die Frau den Helm ab. Sie klemmte ihn zwischen die Füße und verlor dabei ein paar Haarklammern. Der Junge sah ihre braunen Locken sich aufplustern, als sie ihre ausgestreckte Hand gegen die langstieligen Farnwedel am Waldrand klatschen ließ. Kurz bewegte sie ihren Kopf, sah auf den Stellplatz auf der anderen Straßenseite und legte die flache Hand über die Augen. Wen sucht sie? Der Junge kratzte sich vorsichtig über die Wange. Bitte, flüsterte er, schau mich an. Aber dann bog sie links ab in den Waldweg, dort, wo es zu den Löschteichen ging, die über unterirdische Zuflüsse mit dem Rosinenweiher verbunden waren. Er wunderte sich, dass es ihn nicht weiter beunruhigte.

 

Er hob den Kopf, sah hinaus über die Baumkronen auf der anderen Seite und über die schrägen Barackendächer weit hinten bis auf den blaugrau flirrenden Streifen der Start- und Landebahn des Flughafens, der sich von Osten nach Westen wie ein Gürtel in die Grasfläche spannte, aus der Ferne einem der berühmten Flüsse gleich, die der Junge von Fotografien kannte: dem Jangtse oder Mississippi. Wie an deren Ufern saßen Frauen in Sommerkleidern auf Picknickdecken. Männer in hellen Uniformen bewegten sich dazwischen.

Der Junge dachte an die Männer des Maiclubs in ihren cremefarbenen Zweiteilern, die beim Schützenfest durch den Ort zogen. Sie trugen kurze Paddel aus lackiertem Holz über der Schulter, andere Gruppen hingegen waren mit Säbeln, Gewehren oder Armbrüsten beschürzt. Er hörte die schweren Atemzüge und das Husten und Schniefen der Männer, er sah ihre Gesichter vor sich, aufgedunsen wie Schwämme und so rot, als hätten sie sich vor dem Umzug geschminkt. Aufgeweckt vom starren Linkslinkslinksrechtslinks-Rhythmus der großen Trommel stand der Junge jedes Frühjahr und im Herbst hinter dem Dachfenster seines Schlafzimmers und sah den Zug weiter unten auf der Straße vorüberziehen, an dessen Ende die weiße, bebende Scheibe. Andere Jungs aus dem Dorf marschierten mit gefalteten Hüten aus Zeitungspapier und Plastikschwertern an der Seite ihrer Väter. Es verunsicherte ihn, dass auch sein Vater unter denen da draußen war, in einer der Truppen in der Mitte. Und wenn er ihm mit seinen weißen Handschuhen von der Straße aus winkte, blickte der Junge weg.

Seine Mutter hielt sich während der Schützenfeste die meiste Zeit in Maria in het Zande auf, einem holländischen Frauenkloster der sogenannten Rosa Schwestern, gelegen an der Maas, wo in einer Kappelle ohne Unterbrechung am Tag und in der Nacht für alle Menschen auf der Welt gebetet wurde, also für fast fünf Milliarden, wie er aus seinem Atlas wusste.

In jenen Tagen war der Junge ungestört. Im Haus gab es kaum Geräusche, nur das Arbeiten des Holzes, das Knacken im Dach und in den Zwischenwänden. Ein gutes Zeichen, hatte ihm sein Vater erklärt, ein Zeichen dafür, dass das Holz lebt. Er dachte sich dann an ferne Orte, von denen er gelesen oder gehört hatte: in das verschwundene Dorf Quaxicotl in Mexiko, die an der Elbe gelegenen Fischmarkthallen von Hamburg, die schneebedeckten Pole im Norden und Süden, verschiedene Uferplätze entlang des Buenaventura. Manchmal sah er sich an diesen Orten an der Hand seiner Mutter oder mit Hiko, seinem japanischen Freund, und stellte sich vor, dort für immer mit ihnen zu leben.

 

An manchen Stellen waren Sonnenschirme aufgespannt, bedruckt mit dem Kreuzwappen Großbritanniens. Düsenflieger vom gleichen Typ, alle weiß-beige-schwarz camoufliert, parkten auf der anderen Seite, die Pilotenkabinen standen offen und die Sonne blitzte in den schwarzen Verdeckscheiben. Zuweilen blendete es bis auf den Turm hinauf, so dass seine Blicke mit einem hell schimmernden Dunst belegt wurden. Zwischen den Flugzeugen liefen Kinder umher mit weißen Luftballons, die über ihren Köpfen zuckten. Hin und wieder stiegen ein paar in den Himmel, die Kinder sprangen immer wieder hoch und versuchten mit ausgestreckten Armen nach ihnen zu schnappen.

Als einige der Menschen rasch ihre Köpfe nach oben reckten, verstand er nicht, warum sie es taten – um einer Traube von Ballons nachzuschauen oder dem verschwundenen Flugzeug, so wie er. Ob sie es sehen können?

 

Der Schwalbenschwarm kreuzte seinen Blick. Er spitzte die Lippen und pfiff einen hohen Ton. Zwischendurch brach der Ton ab, und er holte von neuem Luft. Er wollte sich das Geräusch der Düsen vergegenwärtigen. Bellen und Gebrüll von unten verblassten, aus der Ferne zwischendurch eine Hupe. Ein Echo hallte nach. Aber der Junge wusste nicht, ob es aus dem Himmel kam oder von ihm, seinem Pfeifen, ausging.

 

Er legte das Fernglas ab und rieb sich die Augen. Er stand still, schaute in die Wolken und versuchte, nicht mehr zu blinzeln. Erst als seine Augen wässrig wurden, kniff er die Lider zusammen. Seinen Zeigefinger hielt er nah vor ein Auge und zog die sich auflösenden Spuren nach, die das Flugzeug hinterlassen hatte. Am Horizontrand sah er die feurigen Streifen der Sonne, die mit ihrem Absteigen an Größe zunahm. In ein paar Stunden würde sie auf der holländischen Seite hinter der Zeche Beatrix versinken und weiterziehen, um im Westen anderen Landschaften den Rest des Tages klarzumachen. Vorher brachte das Geflirre des Lichts noch einmal alle bewegungslosen Dinge in unmittelbarer Nähe des Jungen in ein loses Straucheln. Auch der alte Zechenturm geriet in ein Schwanken, und das riesige Förderrad schien sich gemächlich zu drehen.

 

Es war ein schöner Abend im August, und als der Junge kurz vom Fenster zurücktrat, spürte er die Wärme auf seiner Wange. Noch drei Stunden und er hätte Feierabend. Er würde die rote Ringmappe aufklappen und die Dienstliste ausfüllen, und unter Vorkommnisse würde er NICHTS schreiben, so wie jeden Samstag bisher.

 

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Seine Sachen würde der Junge in den Rucksack packen, den Stecker vom Radio aus der Dose ziehen und vom Telefon im Turm den Feuerwehrnotruf wählen, und sobald jemand abhebt, sagen,

Wachturm 693, Grenzwald…

Ich mach Feierabend…

Nichts ist passiert…

Der Mann oder die Frau in der Leitung würde ihn bitten, lauter zu sprechen. Er würde sich zusammenreißen und räuspern, würde tief einatmen und versuchen, Nichts ist passiert laut und deutlich zu wiederholen.

 

Doch dann ein bleischweres Geräusch, ein Krach aus dem Himmel, plötzlich, wie ein mitten im Lied einsetzendes Play. Ein Donnern, das sich von außen in seine Vorstellung wälzte. Oder verhielt es sich umgekehrt? Das Dröhnen ähnelte dem der startenden Jets auf dem Flughafen. Dieses aber war ortloser, machte den Himmel zu einem übersteuerten Lautsprecher. Eine Weile hielt der Junge den Lärm aus, bevor er mit seinen Zeigefingern die Knorpel vor die Gehörgänge presste, zuerst nur sekundenweise, bis er seine Finger schließlich auf den Knochenplättchen liegen ließ. Er wollte nichts mehr hören, nichts, trotzdem umschwirrte ihn weiter das Sausen. Er spannte seinen Körper an, den Nacken, die Schultern, seinen Po. Doch er konnte sich abmühen, wie er wollte, sich die Ohren zuhalten oder nicht, das Rauschen verschwand nicht mehr. Er schreckte zusammen, versuchte sich mit Gedanken ans Meer zu beruhigen, das er manchmal, meist gegen Ende seiner Schichten am Abend, wenn es der Sonne nicht mehr gelang, die Dunstschleier und Dämmerschwaden zu durchbrechen, vom Turm an den Horizonträndern zu sehen glaubte. Das sanfte Flimmern der Wellendecke vor Augen, atmete er tief ein. Seine Anspannung löste sich ein wenig. Er roch das Salz und hörte Kielwasser gegen die Außenwände seines Turms brechen, ein Geräusch, das das Rauschen in seinen Ohren für eine Weile schluckte.

Oft zerrannen die Blicke des Jungen in dieser Aussicht und er sah in den vier dampfenden Kühltürmen der Kraftwerke tief im Westen einen holländischen Dampfer auf seinem Weg nach Amerika. Er stellte sich unten im Blechbauch des Schiffes die Heizer in den Maschinenräumen vor, deren rußschwarze Gesichter verkrampft und schmierig vom Schweiß, wie sie unter dem lauten Hämmern und Scheppern der Maschinen um sie herum Kohlen in die Trommel des glühenden Dampfkessels schippten. Die hier und da auftauchenden Gerüste und Strommasten im Südosten versah er mit Segeltüchern, und in der Ferne glaubte er, die Pequod zu entdecken, knapp vor dem im Dunst versteckten Felsen am Kap der Guten Hoffung. Drei Tage hatten sie Jagd gemacht auf den weißen Wal, Ahab war von Bord des Schiffes geschleudert und unter Wasser gezogen worden. Der Junge schob seinen Kopf vorsichtig unter das Fenster, und nun beobachtete er als letzter Zeuge den Untergang des Walfängers, dessen Masten kurz vor seinem Ende wie Zahnstocher zerbrachen. Mit seinem Fernglas suchte er, unruhig, nach einem Zeichen von Ismael, der die Katastrophe als Einziger überleben sollte. Er fand ihn nicht.

 

Der Junge schaute nicht mehr aus dem Fenster, mit geschlossenen Augen, den Kopf geneigt, stand er in der Mitte der Kanzel, die Ellbogen abgelegt am Rand der dünnen Kreisscheibe, die auf einen rostigen Eisenstab geschweißt war, das Peilgerät zur Ortung von Waldbränden, die Perforation über dem Zirkelkreis fasrig. Die Kimme stand bei 82°, das Korn verwies entsprechend auf 262°. Es war auf den flimmernden Halbkreis der untergehenden Sonne ausgerichtet.

 

Was war das? Auch wenn niemand mit ihm in der Kanzel stand, war da ein Anschreien, und er konnte diesem Gebrüll nur noch seinen Kopf entgegenstrecken, mutig und ohne sich die Ohren zuzuhalten, weil dies so und so nichts brachte. Vielleicht gab es dieses Rauschen gar nicht und er stellte es sich nur vor. Er schüttelte sich, schlug nach einer Mücke, die um ihn herumsirrte. Dann fühlte er eine Hand in seinem Nacken. Finger, die sich in seine Haut bohrten. Er schaute ruckartig über die Schulter. Das Rauschen in seinem Kopf drängte vorwärts und wurde lauter. Jetzt schrie er selbst. Aber alles war still.

Er riss das Fernglas mit einem Ruck vom Hals und schmiss es auf den Boden. Etwas brach ab. Vor seinen Augen zog sich eine Spinne an ihrem Faden Richtung Decke. Er tat einen Schritt ans Fenster. Er wollte wegrennen, aber er stand da, wie eingefroren. Unter sich sah er die Blätter wehen, auf der Grenzstraße fuhr ein Lkw mit einer Ladung Kies. Er fühlte sein Herz rasen und tastete mit einer Hand seine Brust ab, bis er an die Stelle kam, an der er das Klopfen bis in die Fingerspitzen spürte.

2

Willkommen

Der Parkplatz unten war übersät mit Kiefernzweigen, hingestreute Gliedmaßen über einem Untergrund aus modrigem Grün und Zeitungsresten, hier und da noch lesbare Überschriften, etwa: Roermonder Kind noch immer vermisst, Vrouwen leven langer dan mannen, Britische Soldaten ziehen ab. Eine Kriegsreportage.

Für einen Moment schloss er die Augen. Die Glocke des Schrotthändlers war zu hören, erst rückte sie näher, dann immer weiter weg, und das monotone Blöken der jungen Schafe in der Nähe des Flughafens. Über 200 Tiere waren Anfang des Jahres innerhalb weniger Tage gestorben, vermutlich wegen des Überschusses an Kerosin hieß es, den die Bomberpiloten nach ihren Manövern kurz vor der Landung über den Weiden abgelassen hatten. Die Tiere waren erstickt, nachdem sie, bereits unfähig zu stehen, dicht beieinander auf der Wiese gelegen hatten.

Mit schwacher Atmung und trübe gewordenen Augen saß der Junge auf dem klapprigen Plastikstuhl und starrte gegen die Holzvertäfelung an der Decke, wo mit einer kopfgroßen Schraube der Trafo für die Antennen angebracht war. Er dachte daran, mitten in der Herde zu liegen, eingeschmiegt in das weiche Fell der Tiere, aus dem Fliegen aufsurrten, umherkreisten und sich wieder niederließen. Er war schwach in den Knien, als sei er lange gegangen ohne eine Pause. Die Lehnen des Stuhls waren abgebrochen und lagen an der Wand auf dem Boden. Er hatte Angst, jemand hätte die Luke zur Kuppel vernagelt, dass er hier oben für unbestimmte Zeit verharren müsste. Aber er war auch nicht kräftig genug, um aufzustehen und sich zu vergewissern. Er hatte das kaputte Fernglas aufgehoben, es lag auf seiner Brust, der Lederriemen hing um seinen Hals.

Die Füße hatte er auf der Sitzfläche abgestellt. Sein Gesicht lag auf den Knien, die er fest an sich herangezogen hatte. Er wollte sich einfalten, um sich zu bündeln, dem Zittern entgegenzuwirken, das in kurzen Abständen wie elektrisch durch seinen Körper zuckte. Er zog die Knie noch dichter heran. Er traute sich zuerst nicht, die Augen zu öffnen, als die schmerzenden Funkenstöße nachließen und er eine Schwere spürte, als hätte man ihn mit Beton ausgegossen. Nein, sagte er leise bei sich, verdammte Scheiße, bitte nicht.

Was war es, das ihn da so brutal überwältigte? Er schaute um sich, suchte in den Winkeln der Kanzel, ob sich irgendein Hinweis finden ließe, ob irgendjemand dahockte, der es auf ihn abgesehen hatte. Auch an der Decke sah er nach. Nichts. Tränen traten ihm in die Augen, und er bemühte sich, sie so fest zuzukneifen wie möglich, als hielte er jemandem die Tür zu sich zu. Dann öffnete er die Augen.

 

Er schwitzte. Er schob die Lippen auseinander. Er sagte nichts. Er dachte daran, was gerade unter ihm passierte. Aber außer dem Wind und dem aufdringlichen Geräusch in seinen Ohren hörte er nichts mehr. Also versuchte er, sich auf anderes zu konzentrieren, Gedanken an eine ebene Landschaft, bedeckt mit Pfützen, ein paar Berge in der Ferne, auf den Gipfeln Reste von Schnee, und an einen kleinen See, um den er mehrmals herumgehen könnte und wo in Abständen Karpfen an der Oberfläche sprangen und sich am Ufer Schilfhalme aneinanderrieben und raschelten, als zerknittere jemand Papier.

Er setzte die Füße auf den Boden und überlegte, Wenn die Zeit still steht, wenn es sie gar nicht gibt, als unten der Auspuff eines Lkw auf der Straße aufstieß. Er sah auf die Uhr, das regelmäßige Blinken der Ziffern. Das beweist gar nichts.

 

Gleich würde er es unter Anstrengung schaffen, hinabzusteigen und schließlich in der Eingangstür zum Turm erscheinen. Eine Weile würde er mit der Stirn oder beiden Händen am spröden Hellgrau der Holztür lehnen, die sich wegen der weichen Erde und dem trockenen Unterholz auf dem Trampelpfad davor nicht weit öffnen ließ. Hin und wieder lagen auch Haufen von Gartenabfällen oder Mülltüten davor, die irgendjemand dort unbemerkt abgelegt hatte, so dass er manchmal Minuten brauchte, bis er die Tür weit genug aufgestemmt hatte. Er würde sich weiter über den Weg entlang zu seinem Fahrrad wie in Zeitlupe bewegen und auf der Hälfte des Weges, wie ein angeschossenes Reh, ins Straucheln geraten, sich vor einem Fall in die fast auf Augenhöhe angewachsenen Brennnesselranken zu seinen Seiten aber noch rechtzeitig abfangen. Über den Parkplatz würde er rennen und sich die Hände vors Gesicht halten, als wolle er sich dahinter verstecken oder als bete er. Womöglich einen jener Sätze, die seine Mutter ihm zum Aufwachen eine Zeitlang vorgelesen hatte, Kalendersätze, einen für jeden Tag.

Im Halbschlaf hörte der Junge seiner Mutter zu. Manchmal schlief er noch tiefer, so dass die Sätze ihn aufwachen ließen und er das Gesicht seiner Mutter vor sich sah, die sich mit dem Zettelchen vor Augen über ihn gebeugt hatte, Der Herr lässt deinen Fuß nicht wanken; er, der dich behütet, schläft nicht oder Deine Augen Herr sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet.

 

In der Autoreihe auf dem Parkplatz waren die Nummern 6 bis 15 vergeben. Alle Plätze waren frei und das Blau der Pflastersteine wurde sichtbar, als hätte man sie mit Öl bepinselt. Auch die Fugen waren anscheinend erst vor ein paar Tagen vom Moosbefall befreit worden, die dünnen Linien roter Erde hatten etwas sehr Helles, wie Lichter, die in der Erde schienen. Auf dem Platz mit der 9 parkte ein altes Cabriolet in auflackiertem Silber metallic, mit Rissen im Verdeck, das gerade von einem jungen Mann im Basketballtrikot nach hinten geklappt wurde. Zwei Zollbeamte, ein gedrungener Mann und eine schlanke Frau, verfolgten wie Kameras dicht hinter ihm stehend seine Bewegungen. Lange schwarze Haare fielen aus der Mütze der Frau auf das Jägergrün ihres Parkas. Ein dritter Polizist neben dem Auto beruhigte die Schäferhunde. Seine linke Hand verschwand immer wieder in der Hosentasche, bevor er jedem mit einem Ruck einen braunen Würfel zuwarf, der im hohen Bogen durch die Luft flog und nach dem die Hunde schnappten. Laut anschlagend forderten sie mehr und mehr.

Der Junge überhörte das Gebell. Er saß im Plastikstuhl. Seine Arme lagen wie kaputte Flügel auf seinen Knien, die Hände abgeklappt. Das Zittern war in ihm wie ein Ameisenstaat, der dicht gedrängt durch seinen Körper krabbelte. Er glaubte, für Außenstehende wäre es unsichtbar. Mehrmals schielte er an sich herunter, weil er es sehen wollte. Er schaute, ob ihm Ameisen die Arme entlangliefen. Denn wäre nichts zu sehen, wenn er davon erzählte, wer sollte ihm glauben?

 

Er sprang auf. Wie selbstverständlich presste er den Daumen auf sein Handgelenk, als befände sich dort ein Leck. Bislang überblickte er seinen Körper kaum. Er drückte den Daumen auf die violetten Pulsadern gegen seine helle weiche Haut knapp unter der Handfläche und versuchte mitzuzählen. Bei zwanzig hörte er auf und wunderte sich nur, wie fest er die Schläge spürte. Er wechselte die Seite in der Hoffnung, links kämen die Schläge sachter. Schließlich griff er nach dem Telefon, das auf dem Boden neben dem Radio stand. Er wollte seine Mutter zu Hause anrufen, aber er war nicht sicher, ob sie abnehmen würde. Seinen Vater wollte er nicht sprechen, die Mutter sollte abheben. Auch wenn er gar nicht mit ihr sprechen wollte. Ihre Stimme zu hören genügte. Er würde nichts sagen. Er würde die Luft anhalten. Sie sollte nicht wissen, dass er es wäre. Zuerst hörte er das Freizeichen, zweimal, dann eine blecherne Frauenstimme, die ihm erklärte, eine Verbindung wäre zurzeit nicht möglich.

 

Kurz kam er zu Kräften, packte rasch seine Sachen und hob die Luke hoch, die zur Wendeltreppe hinabführte. Er sah den Spalt zwischen Stufen und Innengemäuer hinunter, bis dorthin, wo sich sein Blick in der Dunkelheit verlor. Manchmal, wenn er die letzten Schritte durch diese verrostete Finsternis tat, kam er sich verschwunden vor, aber nicht nur entwichen, andernorts oder versunken in einem Erdloch, sondern so, als trete er ins Nichts.

 

Wenn er sonst nach dem Abstieg den Boden betrat, dachte er öfters, auf eine Wolke zu treten statt auf die weiche Erde. Schon während seiner ersten Schicht im Frühsommer hatten sich seine anfänglichen Bedenken in einen leichten Höhenrausch verwandelt, denn der Turm bewegte sich je nach Windstärke. Oben in der Kanzel lag der Ausschlag meist bei gut 30 Zentimetern. Nach den ersten Schichten lehnte er sich bereits waghalsig aus dem Fenster, stellte sich den Kurvenflug eines Flugzeugs vor. Er ließ seine Füße aus den Fenstern baumeln, und zwischendurch stellte er sich auf den Plastikstuhl und pinkelte sogar aus dem Fenster, hinunter auf die unbelebte Seite, wie er sich sagte, dorthin, wo erst nach einigen hundert Metern Laubwallungen und Dächern die Flughafenbahn zu sehen war.

 

In dem Bushäuschen, wo der Junge am Nachmittag sein Fahrrad abgestellt hatte, saßen zwei alte Damen, einige Plastiktüten, prallvoll mit Leergut, gegen den Mast mit den Fahrplänen gelegt – Haltestelle Grenzstraße/ Grensstraat sowohl Start- als auch Endstation, wo deutsche und holländische Busfahrer mit mehreren kurzen Tritten auf das Gaspedal ihres Fahrzeugs für Alle die Passagiere vom einen ins andere Gefährt spurten ließen, ohne dass jemand wusste, ob sie Spaß machten oder Ernst. Die eine Dame hatte ihre langen blond gefärbten Haare zu einem Zopf geknotet und trug knallroten Lippenstift in einem blassen Gesicht; der anderen hingen dicke Strähnen bis aufs Kinn. Beide hatten die Augen mit dickem schwarzem Lidschatten umkreist, als wollten sie besonders müde aussehen. Die eine würde sich als Erste umdrehen und die andere in die Seite stoßen. Sie würden lachen.

 

Der Junge durchschritt die Düsternis im Turm. Er war verwirrt, dass er einen leichten Windzug bemerkte und blass die Schemen der Ziegelmauer sehen konnte, hier und da sogar ein paar zitternde Motten und Spinnenskelette zu erkennen glaubte und den Nachhall seiner Schritte auf den Eisenstufen im Turm hörte. Ihm wurde kalt, und er lief schneller die Stufen hinunter. Einmal meinte er, ins Leere zu treten.

Im Turminnern war es heiß und unter seinen Händen spürte er die Feuchtigkeit auf dem Geländerrost. Weil ihm der Abstieg endlos vorkam, freute er sich, als er durch das Schlüsselloch einen dünnen Lichtfaden hineinlugen sah, dem er sich langsam, aber sicher näherte.

Er öffnete die Tür und stemmte sie auf, bis sich eine Lücke auftat, durch die er hindurch konnte. Er rieb sich die Augen und weitete sie beim Öffnen. Er passierte den Parkplatz, hörte Stimmen aus dem Polizeibus am anderen Ende und sah die Hunde, die auf dem Boden lagen, die Schnauze auf dem Asphalt. Er stand hinter der Bushaltestelle, zwei Damen, die er aus dem Dorf kannte, tuschelten darin. Wie sie ihre Köpfe zusammenschieben, dachte er. Schimpfworte plusterten sich in ihm auf, doch er riss sich zusammen und sagte Guten Tag. Die beiden Damen sahen ihn an und nickten kurz. Er griff den Lenker und fuhr los. Die beiden Alten klatschten in die Hände. Sie lachten und feuerten ihn an.

 

Er kam am gelben Schild vorbei, auf dem ganz oben in dicken schwarzen und geschwungenen Buchstaben

Willkommen stand, darunter fast unleserlich

welkom und darunter

welcome.

In seinem Atlas gab es keinen Ort mit diesem Namen. Trotzdem, seit er geboren war, lebte er in einem, der eben so hieß. Ungewöhnlich kam ihm das nicht vor, im Verzeichnis des Buches hatte er Orte gefunden, die Schweigen, Kind oder Sorge hießen.

 

Diesmal beachtete der Junge das Schild im Randstreifen nicht weiter, sondern sah auf gleicher Höhe die Späne vor sich auf dem Radweg, die zu einem Pfeil gelegt waren, der in die Richtung wies, in die auch er fuhr. Die Holzsplitter knisterten wie zur Abkühlung, wie etwas Winterliches. Seine Fahrt beschleunigte sich.

Die Asphaltdecke hatte einige weiße Flecken. Seit seiner frühen Kindheit glaubte er daran, dass es Kaugummis wären, kurz vor der Landung von den Piloten aus ihren Cockpits gespuckt. An manchen Stellen war der Boden arg aufgerissen oder wellig von den Wurzelwerken der Buchen und Eichen, die sich seit Wer-weiß-wie-vielen-Jahren womöglich schon hunderte Meter durch die Erde gegraben hatten. Der Junge bemerkte diese Unebenheiten und saß jetzt nicht mehr im Sattel, sondern verlagerte aufrecht stehend sein ganzes Körpergewicht auf die Pedale. Die Risse und Wölbungen im Asphalt kamen ihm wie eine Vulkangegend vor, die Kaugummiflecken wie kurz vor dem Ausbruch stehende Krater. Er wollte diese Strecke hinter sich lassen und strampelte hastig. Einmal rutschte er von der Pedale, stürzte aber nicht. Der Asphalt wurde ebener, die Feuergebirge lagen bald hinter ihm.

Er hatte den Weg für sich, begegnete niemandem. Und als er doch eine Gruppe von Halbwüchsigen, die gelb leuchtende Schärpen schräg über ihre Körper trugen, überholte, bemerkte er sie erst, als sie mit atemlosen Kinderstimmen hinter ihm herliefen. Und trotz der hell klingenden Stimmen glaubte er, bösartige Männer verfolgten ihn, die durcheinander schrien und ihn beschimpften. Ihre riesigen Schatten walzten über den Boden, irrsinnig dreschende Arme und Beine. Sie packten den Gepäckständer, bremsten ihn ab, von den Seiten her griffen sie nach dem Jungen. Manche versuchten ihn mit dickeren Ästen vom Rad zu schlagen. Er fuhr scharfe Kurven, um sie abschütteln. Er glaubte, einer der Männer hätte ein Gewehr in der Hand, ein anderer hielte einen von Schrotkugeln durchlöcherten und noch blutenden Tierleib an dessen Hinterläufen fest im Griff. Er sah nicht mehr zurück, um sicherzugehen. Er fürchtete, man würde auf ihn schießen wie auf einen fliehenden Hasen. Nehmt eure Waffen weg. Ich tu euch doch nichts. Der Junge sagte es mehr zu sich, weil er nicht wusste, ob das gellende Schimpfen wirklich hinter ihm war oder nur in seinem Kopf. Als die Stimmen noch lauter schrien, durchzuckte ihn eine Wut und er holte Schwung und trat in die Pedale. Da war etwas und er wand den Kopf nach links, wo auf gleicher Höhe zu ihm zwischen den Stämmen ein Reh durch das Unterholz sprang. Er setzte die ersten Tritte noch heftiger, verlangsamte aber bald seine Fahrt, wegen dieses stroboskopartigen Effekts; das Reh war, wie in einem Daumenkino, in einer rasenden Abfolge von Bildern für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar, unsichtbar, sichtbar und unsichtbar. Kurz bevor es im Dickicht verschwand, blieb es stehen und sah ihn an. Die Augen zwei blitzende Knöpfe.

 

Von weitem sah der Junge vor sich auf dem Radweg eine merkwürdige Gestalt, zwei aus einem schmalen Körper übereinander herauswachsende Köpfe. Ein ausgeblichener Totempfahl, dachte er, und ihm fielen die Indianer ein, über die vor kurzem im Fernsehen berichtet worden war. Irgendein Irokesenstamm, der sich bei einer Erdbeerzeremonie, wie es in der Reportage hieß, mit einem Feuer beim Himmel bedankte. Und er erinnerte diese niedrigstehenden Quellwolken, die er eben auf dem Turm beobachtet hatte. Er war sich im Nachhinein sicher, dass es sich dabei um Rauchzeichen aus dem Wald gehandelt hatte.

 

Er ließ das Fahrrad jetzt laufen, ohne zu strampeln, die Kette surrte wie ein Kreisel. Einmal flippte ein Kieselstein von seinem Vorderrad weg und schoss in die Büsche. Er war schockiert und erleichtert zugleich, wegen dieser Gestalt, der er sich, und wie er dann feststellte, die sich ihm näherte und statt auf Beinen zu laufen auf zwei eiernden Autoreifen zu fahren schien. Der Junge sah schon von weitem die Hasenscharte in einem schmalen Gesicht. Von der Nase senkrecht hinab zog sich die Kerbe über eine dicke Oberlippe. Fast verlor der Junge sich in diesem Gesicht. Es erinnerte ihn an etwas, das ihn beruhigte. Bald erkannte er eine alte Frau, trotz der Hitze in eine braune Wolldecke gehüllt. Sie hockte in der Wanne einer alten Schubkarre, geschoben von dem jungen Mann mit der Hasenscharte. Dieser hob den Blick, ohne ihn anzusehen. Der Junge wollte fragen, wohin sie unterwegs seien, ob sie etwas suchten. Aber als er das gedrückte Atmen des Mannes hörte, im Vorbeifahren ganz deutlich, ließ er ihn in Ruhe. Zwanghaft klang dieses Luftholen, als hätte dieser Mann aus einer Kraft heraus zu atmen, die mit seinem Körper kaum noch etwas zu tun hatte.

Noch als er überlegte, dass er der Alten im Karren gern in die Augen gesehen hätte, spürte er den Schwindel wieder, jetzt mehr ein Kreisen als ein Hin und Her, irgendwo hinter seiner Stirn. Er legte den Kopf in den Nacken, um ein weiteres Mal in den Himmel zu starren, wo sich Blau und Weiß in geraden Bahnen stets auf den Punkt zubewegten, den er zu fixieren versuchte.

 

Und dann tauchte der Düsenjet auf, in einer dieser trüben Fransen unter einer Wolke, die wie ein Flicken in die glatte Nebeldecke eingenäht war. Unter den Tragflächen blinkten zwei rote Lichter. Beim Anblick des Fliegers hatte der Junge eine Ahnung. Eine Weile stand er da, die Hände an den Hörnern am Lenker. Vom Flughafen waren Jubelschreie zu hören, laute Megaphonstimmen. Der Junge fasste fester um die Hörner. Sein Nacken fühlte sich steif an. Trotzdem konnte er seinen Kopf ein paar Mal über die Schultern kreisen lassen. Gestrüppartig wucherte sich der Schwindel in seinem Schädel aus, um seine Ohren knirschte und knackte es. Worte wollten kommen, den Mund hatte er schon leicht geöffnet. Aber noch bevor er irgendwas sagen konnte oder schreien, schnürte ihm ein Schmerz die Kehle ab, eine Art brennender Strick, und der Junge schloss den Mund.

3

So

Manchmal glaubte der Junge, dass trotz der vielen Farben über seinem Dorf eine schwarze Folie gespannt wäre, so düster war die Gegend an einigen Tagen. Und es war kalt, so kalt, dass die Bauern im Winter oft in dicken Jacken in ihren Traktorkabinen saßen. Die meiste Zeit gab es hier kaum Geräusche. Auch jetzt war es fast still, und der Ort lag direkt vor ihm in einer Mulde, die er gut überschauen konnte, dichtgedrängt die Spitzdächer, und hier und da einige Bäume. Ein Unimog mit gelbblinkendem Licht fuhr über ein Feld aus dem Dorf hinaus.

In der Region sprach man von diesem Ort als dem Kleinniemandsland im Westen, gelegen in der vielleicht tiefsten Senke der Welt, und für Ausblicke aus der Ferne war er nur noch ein blinder Fleck, ein Loch in der Erde, über das man hinwegsah. Einige Bewohner machte diese Tönung der Bedeutungslosigkeit glücklich. Manche widersprachen, Das ist doch Quatsch, unser Dorf liegt auf einem der höchsten Berge der Erde, höher als die Rocky Mountains oder der Himalaya. Andere hingegen waren wegen derlei Unentschiedenheiten unglücklich und schwiegen zu allem, was diese Sache betraf.

 

Er näherte sich dem Haus des Tankwarts, Wim. Von der mannshohen Mauer um das Haus hatte man einen guten Blick über die Felder, die sich in den Hängen um das Dorf herum erstreckten, man sah Mais, Gerste, Korn, Erdbeeren, Kartoffeln, Salat, Zuckerrüben. Wim war ein schwerer Mann mit Glatze. Dicke Hautpolster hatten sich über die Jahre um seine Augen gelegt. Wim sah gefährlich aus, war aber sehr freundlich. Er selbst stand oft am Abend auf der Mauer und bat Leute zu sich hinauf, wies auf das Umland und sagte, je nachdem, wer neben ihm stand, Das ist die schönste Gegend der Welt, oder, Dat is de werelds mooiste plekje.

Als der Junge dort vorbeikam, war zuerst ein Keuchen zu hören, dann Schreie,

Halt, Polizei, stehen bleiben, bleiben Sie stehen!

Leck mich, du kriegst mich nie. Scheißbulle!

Stehen bleiben, hab ich gesagt!

Und schließlich stürzte der Sohn des Tankwarts, der genauso kahlköpfig wie sein Vater war, über die Mauer und lag zuerst wimmernd da wie ein Kleinkind. Dann regte er sich nicht mehr und lag steif auf der Erde. Der Junge hätte anhalten können und ihm aufhelfen, aber als er auf der Mauer einen Kerl, dessen Gesicht, aber Namen er nicht kannte, mit einer Spielzeugpistole fuchteln sah und Wims Sohn sich wieder aus seiner Starre löste und Fick dich rief, wusste er nicht, was er tun sollte. Den auf dem Boden hätte er überfahren können. Stattdessen hielt er sich am Lenker fest und trat im Vorbeifahren um sich. Er machte einen Schlenker um den Jungen auf dem Boden und streifte dabei mit seinem Schuh die Erde, um nicht zu stürzen. Sie warfen Dreckklumpen nach ihm. Einer traf ihn. Er spürte, wie der Klumpen an seinem Rücken zersprang. Es tat weh, aber sie konnten ihm nichts weiter anhaben.

 

Wären die Jungs nicht da gewesen, wäre er vielleicht auf die Mauer geklettert. Das Mädchen, die junge Frau auf dem Roller, mit den schönen Locken, die er vom Turm aus gesehen hatte, wäre vorbeigetuckert, er hätte ihr zu sich hinaufgeholfen und ihr dann, ohne abzuwarten, zugeflüstert, Das ist die schönste Gegend der Welt.

Trotzdem, auch wenn er nicht angehalten hatte und mit dem Mädchen im Arm auf der Mauer stand: Vor ihm lag der Ort, an den er bisher immer wieder zurückgekehrt war, von dem aus gesehen die Welt mit all ihren Katastrophen und Kriegen auch nicht größer war als ein Knick im Papier.

Er hielt an und lehnte gegen einen Plakataufsteller am Wegrand. Wie es in einem Textkasten auf dem Plakat hieß, hatte ein unangeleinter Hund ein Reh gerissen. Das Bild zeigte einen entstellten Rehkuhkörper, in dessen Bauch wie verwachsen ein toter Kitzleib sichtbar war. Über dem Bild, direkt über dem Kopf der Rehkuh, deren Augen vom Blitz der Fotokamera hellrot leuchteten, stand: So was wollen wir hier nicht. Es sah aus, als wäre der Satz dem Reh in den Mund gelegt, als spräche es selbst diese Worte. Der Junge berührte das Bild mit der Hand, um zu fühlen, ob das Reh wirklich tot war.