Neben jenen Einbildungen, die manche Leute stolz als ihre Überzeugungen für sich reklamieren, existiert noch ein zweiter, selten beachteter und viel weniger greifbarer Typ: nämlich jene Einbildungen, die oft anderen Leuten (zum Beispiel den Vorfahren oder Kindern, »Wilden«, Naiven etc.) zugeschrieben werden, zu denen aber niemals irgend jemand sich selbst bekennt, indem er etwa sagt: »Ich glaube an den Weihnachtsmann.«
Diese flüchtigen, ohne bekennende Eigentümer in den Gesellschaften zirkulierenden Einbildungen werden in dieser Studie als das allgemeine Lustprinzip in der Kultur kenntlich gemacht: Sie sind in der Kunst, in der Alltagskultur, in sämtlichen Spielen, im Sport sowie in therapeutischen Glückstechniken am Werk. Durch eine Analyse ihrer Faszinationskraft wird auch erklärt, weshalb diese Einbildungen regelmäßig eine so extreme, zwingende Macht gerade auf jene Leute ausüben, die nicht an sie glauben.
Robert Pfaller lehrt Philosophie an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz. Veröffentlichungen: Althusser. Das Schweigen im Text, München 1997; (Hg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen, Wien/New York 2000.
Die Illusionen der anderen
Über das Lustprinzip
in der Kultur
Suhrkamp
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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eISBN 978-3-518-79610-8
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»Es ist ein kommuner Irrtum zu glauben, daß die Menschen von ihren eigenen Einfällen leben, wo sie doch von den Torheiten anderer profitieren [...], wenn fast jedes Geschwätz nach Dover oder Holyhead hinübergeweht wird und irgendeinen neuen Eigentümer großzügig mit frischem Proviant versieht [...]«
B. Mandeville (2001, S. 22)
Einleitung. Über die Frage nach der Form der Einbildungen.
1. Interpassivität. Die Leidenschaft delegierten Genießens. Die Verdoppelung: Delegation von Genuß sowie des Glaubens an dessen Darstellung. Die Methode der Delegation: eine diskrete Magie des Alltagslebens. Die »Zivilisierten« zaubern, ohne es zu bemerken. Zum Status der Einbildung. Das Erkenntnishindernis.
2. Aberglaube. Octave Mannoni. Die beiden Existenzformen von Überzeugung: »croyance« und »foi«. »Aberglaube« und »Bekenntnis«: Das Problem der Übersetzung. Croyance entsteht auf dem Weg der Verleugnung. »Ich weiß zwar, dennoch aber«: Die Einbildung besteht nicht nur trotz des Wissens. Das Wissen fungiert sogar als ihre Stütze. Eine Einbildung der anderen. Kulturen des Aberglaubens und Kulturen der Überlagerung des Aberglaubens durch Bekenntnisse. Die perspektivische Illusion.
3. Spiel. Johan Huizinga. Die Kulturtheorie des Spiels. Huizingas unverdauliche Thesen: (1) Das Spiel erzeugt intensivere Affekte als das übrige Leben. Dieser »heilige Ernst« des Spiels begründet jegliche Kultur. (2) Es gibt einen tendenziellen Rückzug des Spiels aus der von ihm begründeten Kultur. Lösung der entstehenden Paradoxien durch Verbindung der beiden Thesen. Die Begeisterung und das bessere Wissen: Es gibt keine Möglichkeit der Verwechslung mit dem übrigen Leben. Spieler müssen wissen, daß sie spielen
4. Ambivalenz. Konsequenzen aus Huizingas Entdeckungen: Ambivalenz ist die Grundlage des »heiligen Ernsts«. »Wissen« ist Verachtung. Die Freiheit und der Bann des Spiels. Gefangen in der Einbildung der anderen: delegierte Sucht, unvermeidliches Spiel, unfreiwillige Höflichkeit.
5. Dialektik. Die Verbindung der beiden Thesen Huizingas: Vom »heiligen Ernst« zum Verschwinden des Spiels. Gibt es eine Dialektik des Aberglaubens? Freud. Die Tendenz zur Miniaturisierung in der Zwangsneurose. Von der Verachtung zur Selbstachtung? Ambivalenz als Grundlage der Zwangshandlungen sowie als Grund ihrer Verkleinerung bis hin zum Verschwinden.
6. Lustprinzip. Aller kulturelle Genuß ist »fetischistisch«. Er beruht auf Einbildung der anderen. Die Wissenschaft und das Schimpfwort. Aberglaube und Perversion: die selbstverachtenden Phänomene. Die Operation der Verschiebung. Der perverse »V-Effekt«. Die ästhetischen Formensprachen der Perversion. Glanz und Elend der Ambivalenz. Ohne jede Idee und doch in der Illusion: Lustprinzip Selbstvergessenheit. Laufenlassen. Theorie des Dromenon.
7. Askese. Die Überlagerung von Aberglauben durch Bekenntnisse ist gleichbedeutend mit dem Aufkommen asketischer Ideale – d. h. mit einem Verzicht auf kulturellen Genuß. Genießen, ohne es zu bemerken: Verkanntem Aberglauben korrespondiert die Verkennung des Genießens. Der Verzicht auf Genuß und der Genuß des Verzichts. Ichlibido ersetzt Objektlibido: vom Glück zur Selbstachtung. Asketische Ideale und reaktionäre Massen. Über die Kunst, das Glück zu ertragen.
8. Glück. Das Glück und sein Hindernis: die eigene Einbildung. Die Glückstechniken der Antike: Notwendigkeit, nicht das Selbst, sondern die Einbildung zu beherrschen. Die fehlgeleiteten Selbstsorger: Foucaults Mißverständnis. Pascals Ratschlag: Wie die eigene Einbildung mit Hilfe von Einbildung der anderen kuriert werden kann.
9. Augenschein. Die Glückstechnik Höflichkeit. Alain. Wessen Einbildungen die Einbildungen der anderen sind: Der unsichtbare Dritte. Theorie des naiven Beobachters. Die Beobachtungsinstanzen und das Schuldgefühl. Die erzwungenen Spiele. Negativer Fetischismus. Warum man beim Zaubern laut sprechen muß. Kulturen ohne Unbehagen.
Literaturverzeichnis
Namen- und Begriffsregister
Anmerkungen
Die Frage, welche diese Studie verfolgt, ist die nach der Form, in der Einbildungen existieren. Nicht was geglaubt wird, sondern wie es geglaubt wird, ist das Problem, das – gegen alle Blendung durch die verschiedenen Inhalte von Einbildungen – herausgearbeitet werden soll. Eine spezifische Form von Einbildung, die im folgenden als Einbildung ohne Eigentümer bezeichnet wird, erscheint aus mehreren Gründen interessant: zunächst, weil diese Form von Einbildung, mehr oder weniger verdeckt, in sämtlichen lustvollen kulturellen Praktiken, Spielen, Kunstwerken, in manchen therapeutischen Techniken und insbesondere in den vor allem von antiken Philosophenschulen erprobten Glückstechniken am Werk ist. Darüber hinaus, weil sie einen ideologischen Mechanismus darstellt, der nicht nur Lust-, sondern auch Schuldgefühle verteilt und der geeignet scheint, auf diese Weise den Zusammenhalt ganzer Gesellschaften zu regeln. Und schließlich, weil die Unsichtbarkeit dieser Form von Einbildung zu denken gibt: Was sind die Gründe dafür, daß diese Form von Einbildung manchen Epochen der Philosophiegeschichte eine vertraute Größe war, während sie uns heute zu denken schwerfällt und nur in einsamen, meist voneinander getrennten Vorstößen weniger Theorien berührt werden konnte? Diese Denk-Unmöglichkeit, dieses »Erkenntnishindernis« im Sinn Gaston Bachelards,1 scheint bezeichnend für ein bestimmtes aktuelles Denken, das durch seine »blinden Flecken« auch teilhat an der Plausibilität, die eine zerstörerische, sich alternativlos gebende neoliberale Politik derzeit genießt, an der Ohnmacht, mit der westliche Demokratien jenen ökonomischen Prozessen gegenüberstehen, von denen sie ausgehöhlt werden, sowie an der fatalen »Sparwut«, mit der die Bevölkerungen eine Politik, die sie schädigt, sogar noch freudig begrüßen. Darum ist es dringend notwendig, dieses Erkenntnishindernis zu durchbrechen.
Die weitgehende theoretische Unsichtbarkeit jener Einbildung ohne Eigentümer, von der hier die Rede sein soll, ist um so erstaunlicher, als diese Form von Einbildung ein verbreitetes, vollkommen alltägliches Phänomen darstellt. Hinsichtlich ihrer Form erscheinen bestimmte Einbildungen auffällig aufgrund der Tatsache, daß sie von einem entgegengesetzten »besseren Wissen« begleitet sind. Jemand sagt zum Beispiel im Café: »Kann ich mal kurz Deine Zeitung haben? Ich weiß, daß es ganz blöd ist, aber ich muß jetzt mein Horoskop lesen.« Oder, ebenfalls mit der Bitte um die Zeitung: »Ich weiß, daß es idiotisch ist, aber ich muß mir jetzt den Sportteil ansehen.«
Wenn wir vorläufig nur einmal voraussetzen, daß solche Fälle mit Einbildung zu tun haben (was wir später ausführlich begründen werden), so ist das Wissen, daß diese Einbildung eine ganz blöde sei, ein auffälliges formales Merkmal dieser Einbildung. Bei anderen Einbildungen, bei geläufigen Ideologien, sogenannten »großen Erzählungen« oder auch sogenannten »single-issue«-Überzeugungen, scheint dieses Merkmal zu fehlen. Kein Katholik zum Beispiel würde jemals sagen: »Ich weiß, daß es ganz blöd ist, aber heute ist Sonntag, darum muß ich jetzt in die Kirche gehen.« Und keine politische Aktivistin würde jemals sagen: »Es ist ganz dumm, ich weiß, aber ich muß jetzt in die Versammlung.«
Es gibt also offenbar Einbildungen, die in der Form einer Distanz erlebt und aufrechterhalten werden, während andere in der Form unmittelbarer Nähe existieren. Die einen, durch ein besseres Wissen auf Entfernung gebracht, erscheinen niemals vollständig als die Überzeugungen derer, die sie äußern; sie werden nie gänzlich »angeeignet«, sondern sind vielmehr immer in eigentümlicher Weise »Einbildungen der anderen«. Die zweite Gattung hingegen, jene der eigenen Einbildungen, bildet das vertraute Muster von Überzeugungen, als deren Trägerinnen und Träger sich Leute ohne Umschweife und meist stolz erklären – ihre Eigentumsrechte an solchen Einbildungen machen sie manchmal geltend mit dem (in mehrfacher Hinsicht sprechenden) Nachsatz »und dazu stehe ich«.
Während der zweite Typ von Einbildungen bekannt ist und unschwer festgestellt werden kann, erweist sich der erste, durch besseres Wissen aufgehobene Typ als eigentümlich ungreifbar – so sehr, daß es oft schwerfällt, überhaupt seine Existenz zu bemerken. Das hat zunächst damit zu tun, daß die Trägerschaft dieser Einbildungen schwierig zu lokalisieren ist. Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als ob jede Einbildung wenigstens einen Träger haben müßte und als ob jene Einbildungen, die nicht die eigenen sind, eben die Einbildungen von irgend jemand anderem wären. – Aber könnte es nicht sein, daß es Einbildungen gibt, die immer die der anderen sind, ohne jemals die eigenen Einbildungen von irgend jemandem zu sein?2
Genau das scheint bei den Einbildungen, die das Horoskop oder den medial vermittelten Sport betreffen, der Fall zu sein: die eigenen Einbildungen sind sie offenbar nicht (denn es gibt ja das Wissen); also sind sie die der anderen. Aber welcher anderen? Der Kinder? Der Vorfahren? Der Naiven? – Oft ist es kaum möglich, zu sagen, wer die Träger solcher Einbildung sein sollen, wenn die Wissenden es nicht sind. Denn Unwissende scheinen nicht immer auffindbar. Wer sagt schon jemals »Ich glaube an das Horoskop, und dazu stehe ich«? Wir haben es also mit einer Form von Einbildung zu tun, deren Vertreter mitunter nicht lokalisierbar sind. Die Einbildungen der anderen erweisen sich als Illusionen ohne Subjekt.
Eine weitere Schwierigkeit, die Existenz von Einbildungen der anderen zu bemerken, scheint von der Annahme herzurühren, daß das Wissen die Einbildungen auflöse. Wenn jemand über entsprechendes Wissen verfügt, so muß er, diesem Grundsatz zufolge, von Einbildung frei sein. Mag sein, daß er von den Einbildungen anderer Leute Kenntnis hat, aber solche Kenntnis bedeutet doch wohl nicht, daß jene Einbildungen über ihn Macht besäßen? – Seltsamerweise jedoch treten die Illusionen ohne Subjekt, eben weil sie immer Einbildungen der anderen sind, nur bei Leuten auf, die über besseres Wissen verfügen. Der Wütende schlägt mit der Faust auf den Tisch, obwohl er weiß, daß der Tisch nicht schuld war. Computerbenutzer wissen sehr wohl, daß ihre Geräte nicht dafür ausgerüstet sind, auf ermunterndes Zureden mit besserem Funktionieren zu antworten, dennoch reden sie auf ihre (übrigens meist mit einem Kosenamen versehenen) elektronischen Lieblinge ein, als ob es so wäre; bei gröberen Fehlfunktionen der Geräte gehen zahlreiche Benutzer sogar zu massiven Tätlichkeiten über und beschädigen sie, indem sie auf sie losprügeln oder sie sogar aus dem Fenster werfen, als ob die Gestraften sich nach solcher schmerzhaften Erfahrung bessern müßten. Das Wissen der Leute scheint sie vor der Macht solcher Einbildungen nicht hinreichend zu schützen; ja, angesichts der auffälligen Korrelation zwischen Wissen und Einbildung der anderen müssen wir sogar fragen, ob das Wissen nicht vielleicht sogar selbst einen Beitrag zur Macht dieser Einbildungen leistet. Kann es also sein, daß es Einbildungen gibt, die durch besseres Wissen nicht nur nicht aufgehoben, sondern überhaupt erst installiert werden?
Die dritte Schwierigkeit, nach dem Problem der Träger und der Rolle des Wissens, besteht im Zwang, den die Einbildungen der anderen auszuüben scheinen. Obwohl die Trägerinnen und Träger sich in einer durch Wissen hergestellten Distanz zu den Einbildungen zu befinden scheinen, sind sie offensichtlich diesen Einbildungen in hohem Maß unterworfen: »ich muß das Horoskop lesen«; »ich muß jetzt das Fußballmatch im Fernsehen ansehen«. Beim Starten eines Autos, das nicht gleich anspringt, müssen vernünftige, zivilisierte Menschen oft Sätze aussprechen wie »Na komm schon, spring schon an« etc.3 Gerade diejenigen, die wissen, daß solche Dinge kindisch, unwichtig, Blödsinn sind, können dennoch nicht von ihnen lassen.4 Die Einbildungen der anderen fordern von ihnen sofortiges Handeln. Da erscheinen sogar manche erklärte Überzeugungsträger freier gegenüber ihren eigenen Überzeugungen: Selbst der Katholik, der eine Messe versäumt, kann eventuell noch eine spätere besuchen. Der Fußballfan hingegen muß das Spiel live sehen; er kann es sich eigenartigerweise niemals später auf Video anschauen. Warum also sind die Einbildungen der anderen noch zwingender als die eigenen Einbildungen?
Dieser Zwang ist übrigens oft das einzige Merkmal, anhand dessen diese besondere Form von Einbildung sich bemerkbar macht. Denn das Wissen, welches die Distanz zu solchen Einbildungen erzeugt, ist oft so selbstverständlich, daß es keiner Erwähnung bedarf (à la »ich weiß durchaus, daß der Tisch nicht schuld ist«). Aufgrund dieser Selbstverständlichkeit des Wissens erscheint dessen Gegenstand, der Inhalt der Einbildung, oft undenkbar und auch ungedacht. Bei den durch selbstverständliches Wissen distanzierten Einbildungen bleibt es oft unbemerkt, daß man es überhaupt mit Einbildung zu tun hat. Wie Slavoj Žižek zurecht bemerkt hat, wissen wir nicht nur oft nicht, wie die Dinge wirklich sind; wir wissen oft nicht einmal, wie sie uns erscheinen. Einem Vorgesetzten gegenüber, von dem wir wissen, daß er dumm und inkompetent ist, verhalten wir uns, so Žižek, oft dennoch eigenartig respektvoll. Unserem besseren Wissen zum Trotz muß hier ein Schein der Respektabilität wirksam sein.5 – Das heißt somit: Wir bemerken oft nicht, daß uns überhaupt etwas scheint. Diese Entdeckung fordert dazu heraus, das Problem des Scheins in einer neuen Weise zu stellen. Eine starke, zum Beispiel in den Meditationen von Descartes verkörperte philosophische Tradition hat das Problem des Scheins vorwiegend in einer Form untersucht – nämlich derart, daß wir menschenähnliche Figuren vor Augen haben, aber nicht wissen, ob es nicht Automaten sind, oder daß wir eine Stadt in der Wüste vor Augen haben, aber nicht wissen, ob es nicht eine Luftspiegelung ist. Der Inhalt solchen Scheins wäre manifest und evident, nur sein Wahrheitswert wäre ungewiß. Die Einbildungen der anderen dagegen weisen genau die umgekehrte Struktur auf: daß sie unwahr sind, ist uns völlig klar, nur daß wir sie dennoch vor Augen haben, bleibt uns verborgen. Das Problem besteht also nicht allein darin, den Schleier einer manifesten Einbildung zugunsten einer dahinter verborgenen Wahrheit zu durchdringen. Es besteht vielmehr darin, dort, wo außer selbstverständlichem Wissen um die Wahrheit scheinbar gar nichts ist, wenigstens auch die zusätzliche Präsenz eines Schleiers zu erkennen.
Es geht also nicht immer nur darum, ein Bild zu haben und nicht zu wissen, ob es ein wahres, der Wirklichkeit entsprechendes Bild ist. Oft besteht das Problem umgekehrt darin, durchaus ein adäquates Bild der Wirklichkeit zu haben und das auch zu wissen, aber nicht zu wissen, daß man daneben noch ein anderes Bild hat. Wir wissen genau, wie die Dinge wirklich sind und glauben vielleicht, darüber hinaus an nichts zu denken oder zu glauben, und doch sind wir unbemerkt bereits mit einer Einbildung der anderen beschäftigt – und zwar massiv und zwanghaft. Wir schlagen mit der Faust auf den Tisch.
Wenn nicht klar ist, daß wir es mit Einbildung zu tun haben, dann ist meist auch schwer erkennbar, was der Inhalt dieser Einbildung ist. Warum muß jemand im Zimmer Musik laufen lassen, Kaugummi kauen, beim Telefonieren auf Papier kritzeln oder mit dem Auto ziellos durch die Gegend fahren? Worin könnte bei solchen banal, bloß faktisch anmutenden Vorgängen überhaupt eine Illusion liegen? Muß nicht wenigstens – etwa wie bei jenen täuschend echt anmutenden Notizzetteln der klassischen trompel’œil-Malerei,6 die gemalte Schatten auf gemalte Anschlagbretter werfen – irgend etwas dargestellt sein, damit eine Illusion zustandekommt? Oder kann auch in nicht-figurativen Vorgängen und Produkten – etwa in einer Malerei, die aus nichts als Zahlen oder Buchstaben oder Linien auf Millimeterpapier besteht7 – eine Einbildung enthalten sein? Die Einbildung der anderen, die sich bisweilen nur durch das Kennzeichen des Zwanges bemerkbar macht, ist sehr oft eine Einbildung ohne Bild.
Wir haben es also, um diese ersten, annähernden Bemerkungen zusammenzufassen, mit Einbildungen zu tun, die (1) keine Träger zu haben scheinen; die (2) durch besseres Wissen nicht aufgehoben, sondern möglicherweise allererst gefestigt werden; die (3) sich gerade als fremde, durch Wissen auf Distanz gehaltene in Form von Zwang geltend machen; deren Anwesenheit (4) oft unbemerkt bleibt und die (5) darum auch ohne Inhalt zu sein scheinen.
Diese Form von Einbildung scheint fünf plausibel anmutenden Prinzipien zu widersprechen – nämlich den Annahmen, (1) daß jede Einbildung einen Träger hat, (2) daß das Wissen die entsprechende Einbildung auflöst (bzw. daß es, wenn es sie schon nicht auflöst, wenigstens die Einbildung nicht verstärkt), (3) daß nur unsere eigenen, anerkannten Einbildungen für uns verpflichtend oder zwingend sein können, (4) daß wir, wenn wir uns etwas einbilden, vielleicht nicht die Wahrheit, aber wenigstens die Einbildung kennen und (5) daß bei jeder Einbildung sofort deutlich ist, was ihr Inhalt ist.
Wenn diese Charakterisierungen korrekt sind, so werfen die Einbildungen der anderen eine Reihe von theoretischen Problemen auf. Abgesehen von dem, was die Erklärung ihrer eigenen paradoxen Struktur betrifft, geben sie Anlaß, allgemeiner die Frage zu stellen, was es bedeutet, sich etwas einzubilden oder mit Einbildung zu tun zu haben, und in welchem Verhältnis die Einbildungen der anderen zu jenen Einbildungen stehen, die wir als unsere eigenen anerkennen, auf die wir oft stolz sind und zu denen wir, wie wir sagen, »stehen«. Vor allem die Frage, was »Aufklärung« heißen könnte; was es also bedeutet, sich durch Einsicht von Einbildungen zu lösen, bekommt vor diesem Hintergrund (eines die Macht der Einbildung möglicherweise noch verstärkenden Wissens) eine neue, verstörende Brisanz.
Die Forschungslage zu diesen Fragen ist äußerst schwierig. Das Problem der Form der Einbildungen ist selten klar gestellt worden. Und selbst dort, wo es gestellt wurde, hat man es meist allein durch Auskünfte über den Inhalt von Einbildungen zu lösen versucht. Paul Veyne zum Beispiel hat in seiner Abhandlung »Glaubten die Griechen an ihre Mythen?« einige sehr präzise Fragen aufgeworfen, die unser Thema berühren. Veyne schreibt: »Wie kann man halb glauben oder an Dinge, die in sich widersprüchlich sind?« (Veyne 1987, S. 9). Er führt das Beispiel vom äthiopischen Stamm der Dorzé an, die glauben, daß der Leopard ein christliches Tier sei und die Fastentage beachte, und die dennoch an diesen Tagen ihre Tiere bewachen, um sie vor Leoparden zu schützen.8 Es handelt sich um ein gutes Beispiel einer durch besseres Wissen auf Distanz gehaltenen Einbildung: Der religiöse Mythos scheint durch eine »aufgeklärte« Praxis aufgehoben. In demselben Sinn nähert Veyne sich dem Problem der antiken griechischen »Theologie«. Diese wirft ja, wenigstens für diejenigen, die ihre Vorstellung von Religion an monotheistischen Religionen gewonnen haben, schon beim ersten Hinsehen die Frage auf, ob sie überhaupt ernsthaft »geglaubt« worden sein kann. Nicht die eventuellen Widersprüche (von denen andere Theologien kaum weniger frei sind), sondern vor allem die erstaunlich niedrigen moralischen Standards der antiken Götterwelt, deren Vertreter sich oft beträchtlich weit unter dem Niveau der Menschen (oder wenigstens der braveren Menschen) zu bewegen scheinen, legen es nahe, zu bezweifeln, daß so etwas jemals geglaubt worden ist; beziehungsweise zu fragen, was es bedeutet, an derartige Götter zu glauben.9
Anstatt aber aus den von ihm selbst präsentierten Spuren den Schluß zu ziehen, daß es verschiedene historische Formen dessen gegeben haben muß, was »Glauben« jeweils bedeutete, verlegt sich Veyne eilig auf die von ihm für »nietzscheanisch« erachtete Annahme, »daß die Wahrheit veränderlich ist«.10 Das Glauben wäre immer dasselbe, nur die Inhalte wechselten – gemäß den besonderen, historischen Transzendentalien: Eine kulturelle Konstruktion ließe uns das eine als plausibel erscheinen, eine andere kulturelle Konstruktion etwas anderes. Und darum könnte auch die Frage, ob die Griechen an ihre Mythen geglaubt hätten, nur bejaht werden.11
Jedesmal würde demnach, Veyne zufolge, in derselben Weise geglaubt, einmal eben das eine, dann das andere. Und nur aufgrund von Einbildung hielten wir unsere fragwürdigen Kenntnisse (von der Existenz Tokios12 oder von der Wahrheit der Theorie Einsteins13) für gesichert, die Annahmen anderer Epochen dagegen für fraglich oder unvernünftig. Darum erschiene uns merkwürdig, was anderen selbstverständlich war. – Mit einer Reihe von relativistischen Gemeinplätzen, die zwar wahr sein mögen, aber keine Antworten auf seine eigene, viel interessantere Frage liefern, bringt Veyne somit, ohne es zu bemerken, die Frage zum Verstummen, die er selbst gestellt hat.
Eine Bemerkung von Friedrich Engels hätte ihm einen Ausweg aus dieser Sackgasse weisen können. In seiner 1884 verfaßten Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« stellt Engels fest, »daß Bachofen mindestens ebensosehr an die Erinnyen, Apollo und Athene glaubt, wie seinerzeit Äschylos«.14 – Der Gelehrte des 19. Jahrhunderts, Bachofen, glaubt also, Engels zufolge, dasselbe wie Äschylos. Es gibt demnach nicht, wie Veyne annimmt, notwendigerweise einen Unterschied in den Glaubensinhalten zweier verschiedener Epochen, so daß der eine das eine glauben müßte, und der andere das andere. Zwei Angehörige verschiedener Epochen glauben hier vielmehr durchaus an denselben Inhalt. Der Unterschied zwischen ihnen liegt jedoch anderswo: Bachofen glaubt, so Engels, »mindestens ebensosehr« an die griechischen Mythen wie der antike Dichter. – Das heißt, er glaubt möglicherweise noch mehr an sie als Äschylos? Mit diesem Halbsatz macht Engels etwas Entscheidendes denkbar: Es ist demnach keineswegs so, daß die griechischen Mythen aufgrund der historischen Transzendentalien nur den Griechen plausibel erschienen wären, während sie allen anderen Kulturen oder Epochen absurd anmuten müßten. Im Gegenteil: Dem Gelehrten des 19. Jahrhunderts erscheinen sie vielleicht noch plausibler als den Griechen selbst. Das interkulturelle Mißverständnis, das Engels hier kennzeichnet, hat genau die entgegengesetzte Form zu dem, das Veyne annimmt: Der Fehler besteht nicht darin, die eigene Kultur für gerechtfertigt und die andere für absurd zu halten; er kann vielmehr auch darin bestehen, der fremden Kultur mehr Plausibilität zuzubilligen und ihr weniger Skepsis entgegenzubringen, als sie selbst es getan hatte. Der Gelehrte betreibt eine übertriebene Aneignung. Er trägt an die fremde Kultur eine Form des Glaubens heran, die dieser völlig fremd war. Er macht sich Einbildungen zueigen, die für die Kultur, die sie hervorbrachte, möglicherweise nur Einbildungen ohne Eigentümer gewesen waren. Was für Äschylos etwa den Stellenwert unseres Weihnachtsmannes gehabt haben mag, behandelt Bachofen, Engels zufolge, so, als wäre es das Gegenstück der zehn Gebote – als eine Überzeugung, zu der man zu stehen hat.
Das bedeutet, daß Glauben nicht immer dasselbe bedeutet haben kann. Denn ein und derselbe Inhalt kann demnach einmal in dieser Form (der ironischen Distanz der Antike), dann in der anderen (der respektvollen Aneignung des gebildeten 19. Jahrhunderts) geglaubt werden. Die Form des Glaubens und ihr Inhalt sind nicht, wie Veyne meint, einander korreliert – so daß jede Epoche nur an ihre eigenen Inhalte glauben müßte. Manche Epochen glauben vielmehr auch an die Inhalte anderer Epochen; und zwar so sehr wie an die eigenen (oder sogar noch mehr) – und mehr als die andere Epoche an die ihren. Nicht allein die Inhalte des Glaubens wechseln also, und sie wechseln nicht immer; manchmal wechseln vielmehr nur die Glaubens-Formen, die mit diesen Inhalten verbunden sind.
Nun steht jedoch nicht fest, daß die antiken Griechen ihrerseits eine Kultur vor Augen gehabt hätten, die für sie das gewesen wäre, was sie selbst für Bachofen waren. Wenn die Griechen an ihre eigenen Inhalte distanziert glaubten, so muß es nicht notwendigerweise für sie andere Inhalte gegeben haben, an die sie weniger distanziert geglaubt hätten. Vielleicht war es ein Kennzeichen dieser antiken griechischen Kultur, daß sie Glauben ausschließlich in der distanzierten Form einer Einbildung ohne Eigentümer betrieb. Das Besondere dieser griechischen Kultur bestünde also nicht darin, daß sie an seltsame Götter glaubte, sondern darin, daß ihre vorherrschende Form von Glauben die des gespaltenen, distanzierten Glaubens war – jene Form, die Veyne so gut am Beispiel des äthiopischen Mythos vom christlichen Leoparden vorgeführt hat. Ein geschichtlicher Bruch nicht hinsichtlich der Inhalte, sondern vielmehr hinsichtlich der Form der gesellschaftlichen Einbildung würde die griechische Antike von manchen späteren Epochen trennen. Kulturen des distanzierten Glaubens wären von jenen Kulturen geschieden, die Formen von angeeignetem Glauben besitzen und Einbildungen pflegen, zu denen sie stehen.
Auf diesem Bruch, und damit auf dem Aufkommen von etwas zuvor nicht Dagewesenem zu insistieren, scheint auch der Position Nietzsches viel näher zu kommen als jener Relativismus, den Veyne aus ihr ableitet. Denn die Position Nietzsches besagt nicht allein, daß alle Wahrheiten Einbildungen sind,15 sondern auch, daß nicht alle Epochen das gleichermaßen dachten. Es gibt vielmehr an einem bestimmten Punkt der Geschichte plötzlich etwas Neues – nämlich die Einbildung, über eine Einbildung zu verfügen, die keine wäre. An einem bestimmten Punkt der Geschichte verliert die skeptische, distanzierte Einbildung der anderen ihre Vorherrschaft als alleinige Form gesellschaftlicher Einbildung. Eine neue Form – die uns vertraute Form der eigenen Einbildungen, zu denen man steht – beginnt über die Einbildung der anderen zu dominieren, Wahrheits-Effekte zu produzieren. Wenn die Träger anfangen, zu ihren Einbildungen zu stehen, anstatt sie sich durch besseres Wissen vom Hals zu halten, werden ihre Einbildungen ihnen zu ihren Wahrheiten. Nietzsches gesamte Reflexion kann als ein Versuch begriffen werden, den historischen Punkt zu markieren, an dem das passiert ist; die Bedingungen zu klären, die zum Aufkommen der Wahrheit als eigener Einbildung geführt haben.
Die Wahrheit als Einbildung, zu der man steht, ist nicht allein eine epistemologische Form; sie erfüllt gegenüber früherem Wissen überhaupt keine zusätzliche, neuartige kognitive Funktion. Die Funktion des Erkennens war ja bereits von jenem Wissen, das die Einbildungen auf Distanz hielt, mindestens ebensogut erfüllt worden. Die Wahrheit dagegen ist vielmehr zu allererst etwas Praktisches, eine Haltung: Sie ist das, wozu man steht. Und man steht zur Wahrheit so, wie man zu seiner Moral steht. Das historische Aufkommen der Wahrheit (als eigener Einbildung) ist für Nietzsche darum ein Aufkommen von Moral;16 seine Bedingungen sind der Gegenstand einer Genealogie der Moral.
Nicht die Wahrheit als kognitive, sondern nur jene Wahrheit, die mit einer Moral verbunden ist, wirft das Problem auf, das Veyne sich gestellt hatte – nämlich, ob jemand »wirklich« und »ganz« an etwas glaubt, oder aber vielleicht nur »halb«. Dieses Problem tauchte ja, wie gesagt, nicht etwa an den Widersprüchen der griechischen Mythologie auf, sondern vor allem an den niedrigen moralischen Standards der griechischen Götter: Kann man an Götter glauben, die betrügen, rauben, ehebrechen, Zweikämpfe manipulieren und vermeintlich niedrigen Empfindungen wie sexueller Begierde, gekränktem Stolz, verletzter Eitelkeit, Eifersucht, Neid oder Zorn erliegen? Kann man solche Charaktere ernsthaft als Götter bezeichnen?17 – Das Problem des Glaubens ist kein intellektuelles, sondern ein moralisches: Nicht mangelhafte Denkbarkeit der Idee wirft das Problem der Glaubwürdigkeit auf, sondern die gering anmutende Eignung des Ideals zur Identifizierung mit ihm.18
Das Problem wird also verfehlt, wenn man es allein auf intellektueller, epistemologischer Ebene zu behandeln versucht. Es geht nicht um »historische Transzendentalien«, die den griechischen Göttern in bestimmten Epochen mehr oder weniger Plausibilität verliehen hätten. Worum es geht, ist vielmehr die Frage, ob alle Kulturen in gleicher Weise der Ideale und der Identifizierung mit ihnen bedürfen. Ist es vielleicht möglich, daß manche Kulturen ohne moralische Ideale auskommen und ohne die Notwendigkeit, sich mit ihnen zu identifizieren? Kulturen ohne Moral? Wie könnte ein ideologisches System – insbesondere einer sogenannten Hochkultur – funktionieren, in dem es keine Götter gibt oder in dem die Götter schlechter sind als die Menschen?
Daß Veyne seine eigene Frage verfehlt und ihre Brisanz unter der vertrauteren Problematik seiner Antworten verborgen hat, erscheint symptomatisch. Nicht allein im Sinn jener »symptomalen Lektüre«, die Louis Althusser vorgeführt hat und die gelehrt hat, die Antworten einer Theorie mit ihren Fragen zu vergleichen;19 es erscheint ebensosehr als das typische und mit Notwendigkeit auftretende Krisenphänomen eines bestimmten aktuellen Denkens – einer postmodernen Perspektive, die vor lauter Differenzen keine Differenz mehr sieht. »Jeder glaubt das Seine« – dieses schlichte Resümee, das mancher postmodernen Theorie eigen ist, macht es unmöglich, zu fragen, ob nicht manche gerade das der anderen glauben, und dementsprechend die Unterschiede in der Form des Glaubens zu untersuchen. Der Relativismus errichtet ein Erkenntnishindernis.
Dieses Erkenntnishindernis zu durchbrechen erscheint aus zwei Gründen wichtig. Zunächst, um ein Mißverständnis zu vermeiden. Denn postmoderne Theorie betrachtet sich selbst gerne als jene Formation, die – vielleicht zum ersten Mal seit den skeptischen Positionen der Antike – ein distanziertes Verhältnis zu sämtlichen »großen Erzählungen« zustandegebracht hätte. Alle anderen hätten demnach noch an irgend etwas fest geglaubt, nur die Postmoderne selbst erklärt, stolz, aber nicht ganz so listig wie die Gastgeberin des Yorick in dessen »sentimentaler Reise«,20 daß sie an gar nichts glaube. Zumindest jedoch glaubt die postmoderne Theorie – wie soeben zu sehen war –, daß Glauben immer dasselbe gewesen wäre. Damit macht sie sich blind für jene historischen wie aktuell zu beobachtenden Phänomene, in denen tatsächlich ein distanziertes Verhältnis zu bestimmten Illusionen praktiziert wurde und wird. Und sie hält sich selbst für skeptischer, als sie es aufgrund ihrer intellektuellen Anhänglichkeiten tatsächlich ist. Vor allem aber bemerkt sie nicht, daß ihre Form von Unglauben genau dieselben affektiven Bedingungen erfüllt wie jede Überzeugung, zu der man steht: postmoderne Skepsis ist wie jede eigene Einbildung eine Form von Libidounterbringung, die anstelle von Lust in erster Linie Selbstachtung produziert. Sie erzeugt den ichfixierten Genuß derjenigen, die an alles, woran sie glauben, nur glauben, um an sich selbst zu glauben; einschließlich derjenigen, die an nichts glauben – außer an sich selbst.
Diese libidinöse, auf die Produktion von Selbstachtung ausgerichtete Funktion der postmodernen Skepsis stellt den zweiten Grund dar, weshalb es erforderlich scheint, ihr Erkenntnishindernis zu durchbrechen. Denn nicht nur ihr skeptischer theoretischer Anspruch, sondern auch ihr Glücksversprechen erscheint fragwürdig. So, wie die postmoderne Ideologie sich auf theoretischer Ebene als Entsprechung der antiken Skepsis ausgibt, möchte sie auf der affektiven Ebene als Wiederkehr einer durch die Moderne verlorengegangenen Lust am Spiel, am Mythos, am Infantilismus, an der Ironie und am Kitsch gesehen werden. Dagegen wollen wir zeigen, daß die Postmoderne lediglich die mit anderen – möglicherweise effizienteren – Mitteln betriebene Verlängerung jenes asketischen Unternehmens ist, als das sie die der Tradition der Aufklärung verpflichtete Moderne zurecht kritisiert hat. Ein Indiz dafür kann in der seit dem Aufkommen der postmodernen Ideologie in westlichen Gesellschaften grassierenden Wehleidigkeit beobachtet werden: Während die Moderne mit ihren utopischen Verheißungen immerhin noch lustvolle Kühnheit und eine gewisse Frustrationstoleranz erzeugte, ist nach dem Verschwinden der Utopien in westlichen Gesellschaften vor allem eine Leidenschaft der Klage entstanden; eine Lust an der Beschwerde, die alle übrige Lust auffrißt; die Sehnsucht, ein Opfer zu sein.21 Diese trübsinnigen postmodernen Betätigungen zeugen von jener Affekt-Organisation, die wir als typisch für asketische Ideologien betrachten.
Unsere auf den Begriff der Einbildung ohne Eigentümer gegründete Kritik betrifft darum beide, die Ideologie der Moderne wie der Postmoderne, gleichermaßen. Sie betrachtet die asketische Moderne und die nur vermeintlich lustfreundliche Postmoderne als Komplizen, als »epistemologisches Paar« im Sinn Gaston Bachelards.22 Denn beide gehorchen dem Paradigma der eigenen Einbildung. Sie erzeugen dieselbe spezifische Art der Libidounterbringung, die Lust am eigenen Ich. Diese Art von Lust bildet, wie wir zeigen möchten, die Substanz jener asketischen, trübsinnigen Leidenschaften, die seit der Aufklärung auf einem – durch die Postmoderne noch verstärkten – Vormarsch durch die westlichen Gesellschaften begriffen scheinen. Und dieser Vormarsch trübsinniger Leidenschaften erscheint als die ideologische Hauptursache für die erstaunliche Akzeptanz und den geringen Widerstand, der einer ökonomistischen neoliberalen Politik in westlichen Gesellschaften derzeit entgegengebracht wird: Ist es nicht auffällig, in welchem Maß derzeit Regierungen den Sozialstaat zerstören, das Bildungssystem auf Eliten beschränken und große Teile der Bevölkerung an die Grenze der sogenannten »Neuen Armut« treiben können, ohne dabei auf wütende und organisierte Empörung zu stoßen? Im Gegenteil: die sogenannten »Einsparungen« sowie die forcierte Zerschlagung von Schutz bietenden Mechanismen werden oft sogar noch freudig begrüßt. Die Form der eigenen Einbildung erzeugt, wie wir – im Anschluß an Spinoza, Reich und Deleuze/Guattari – zeigen möchten, eine Lust am Verzicht, die empfänglich macht für sogenannte Sparprogramme, für die Zerstörung öffentlicher Sphären und Güter wie auch für politische Unterdrückung. Dagegen möchten wir die Einbildung der anderen als eine alternative Form des durch Ideologie erzeugten gesellschaftlichen Zusammenhalts kenntlich und denkmöglich machen. Wir wollen damit dem Vormarsch der asketischen Tendenzen begegnen, indem wir ihn als solchen erkennbar werden lassen; auch dort, wo er sich, zum Beispiel in spaßkulturellen Verkleidungen, als Vormarsch des Gegenteils ausgibt.
Die Hauptaufgabe dieser Studie besteht somit im Versuch, ein Erkenntnishindernis zu durchbrechen; Denkmöglichkeit an einem Punkt zu erzeugen, wo sie derzeit durch massive theoretische Blockierungen erschwert scheint. Diese Blockierungen dürften nur von einigen wenigen theoretischen Vorstößen durchbrochen worden sein, die bezeichnenderweise oft nichts voneinander wußten. Daraus ergibt sich eine sehr ungewöhnliche »Forschungslage« und Methode. Während andere Fragestellungen – wenigstens ihrem Ideal zufolge – meist durch kontinuierliche, gemessene Schritte erschlossen werden können und müssen, scheint diese ein Springen zu erfordern. Wenn andere Problematiken durch quantitative Erkenntnisgewinne geklärt werden, so scheint das Paradoxon der Illusionen ohne Subjekt die Theorie ständig vor ein »Alles oder Nichts« zu stellen.
Die Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit besteht darum im Versuch, die einzelnen Vorstöße, die es auf diesem Feld gegeben hat, aufzuspüren, sie zu studieren und sie miteinander in Verbindung zu setzen. Nicht selten nämlich scheint eine Theorie genau jene Fragen gestellt zu haben, auf die eine andere die Antworten produziert hat (möglicherweise, ohne die Fragen zu kennen). Die Stützen dieser Untersuchung sind darum lediglich einige wenige Autoren: Mannoni, Huizinga, Žižek, Wittgenstein, Spinoza, Freud, Althusser, Pascal, Alain. Und selbst was diese Autoren betrifft, war es mitunter notwendig, in den Lücken ihrer Texte – in den Fragen, die sie stellten, ohne es zu bemerken, und in den Antworten, die sie gaben, ohne nach ihnen gefragt zu haben – und nicht allein in ihren Texten selbst nach den Hinweisen für die von uns vermutete Problemstellung zu suchen.
Die vorliegende Erörterung geht nicht in die Breite, weil es eine Breite in diesem Fall nicht gibt (und weil jede Vorspiegelung einer solchen Breite wohl trügerisch wäre). Sie schließt nicht aus, daß andere Stützpunkte gefunden werden können, aber sie versucht deutlich zu machen, wie skeptisch solchen Erwartungen zu begegnen ist. Die Funde werden nicht auf der Hand liegen, sie werden sich nicht in der Nachbarschaft anderer befinden, und es erfordert langwierige Durchdringung, um Funde überhaupt als solche kenntlich zu machen und ihre Relevanz in bezug auf andere zu klären. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können, beansprucht diese Arbeit, Durchlässigkeiten zu ermöglichen und größtmögliche Klarheit dort zu schaffen, wo wenig Evidenz zu erwarten ist. Sie vertritt die Position, daß die Beschäftigung mit wenigen Thesen weniger Philosophen eine typische Methode der Philosophie ist – vielleicht sogar der einzige Weg, wenn Philosophie es als ihre Aufgabe sieht, Erkenntnishindernisse zu überwinden.
Daß wir bei unseren Entdeckungen auf den Schultern anderer stehen, wie Pascal bemerkt hat, gilt jedoch hier – gerade aus diesen Gründen – in noch höherem Maß als bei weniger ungewöhnlichen Forschungslagen. Was wir herausfinden wollten, ist, wie man von Schulter zu Schulter klettern kann, um immer besser, von verschiedenen Punkten aus, über eine Mauer zu blicken.
Das Problem der Einbildung ohne Eigentümer hat sich uns ausgehend von einer anderen, wohl ebenso paradoxen Fragestellung eröffnet: jener der Interpassivität. Dort – im Zusammenhang mit Menschen, die die Tendenz zeigten, ihre eigenen Genüsse an andere Personen oder an Geräte zu delegieren – wurden wir unvermutet mit dem Sachverhalt konfrontiert, daß Leute mit großer Genauigkeit Einbildungen szenisch darstellen, ohne das Geringste davon zu bemerken. Sie verfügen mit Selbstverständlichkeit über ein besseres Wissen, aber sie handeln gegen dieses Wissen, in Entsprechung zu Illusionen, von denen ihnen nichts bewußt ist. Sie produzieren Einbildungen ohne Bild. Die Methode, derer die interpassiven Akteure sich bei ihrer Flucht vor dem Genuß bedienen, führte uns somit auf die Spur der Einbildungen ohne Eigentümer. Ohne auf die vielfältigen und verwickelten Fragen eingehen zu können, die das Verhalten der Interpassiven allein schon hinsichtlich seiner Beweggründe aufwirft,1 wollen wir in der Folge so knapp wie möglich den Zugang rekonstruieren, der von der Methode der Interpassivität zu den Illusionen ohne Subjekt führt. Wir werden dabei darauf verzichten, den einzelnen Thesen alle Plausibilität zu verschaffen, die ihnen mit Hilfe von weiteren Beispielen gegeben werden könnte, und uns an jedem Wendepunkt der Argumentation jeweils nur an das eine Schlüsselbeispiel halten, das die nächsten theoretischen Annahmen notwendig macht. Diese Rekonstruktion erscheint uns nützlich nicht allein, weil die Fälle von Interpassivität selbst allesamt Beispiele für die Einbildung ohne Eigentümer darstellen, sondern auch, weil der Begriff der Interpassivität ein brauchbares Instrument der Analyse abgibt, dessen wir uns in den darauffolgenden Kapiteln auch in bezug auf andere Phänomene noch bedienen möchten.
Als die Welt der Kunst Anfang der neunziger Jahre von einem allgegenwärtig anmutenden Diskurs über »Interaktivität« beherrscht schien, ließ eine Bemerkung von Slavoj Žižek aufhorchen. Žižek stellte fest, daß Fernsehkomödien mit »Dosengelächter« (canned laughter) anstelle ihrer Zuseher über ihre Witze und komischen Situationen lachen. Die Zuschauer selbst, so Žižek, brauchen dann weder den Inhalt der Komödien zu verfolgen noch selbst zu lachen, um dennoch perfekt amüsiert zu sein. Žižek schrieb:
»Wozu dieses Lachen? Die erste mögliche Antwort – es erinnert uns daran, wann wir lachen sollen – ist einigermaßen interessant, denn sie impliziert ein Paradoxon: Lachen ist eine Pflicht und nichts Spontanes. Aber diese Antwort reicht nicht aus, da wir gewöhnlich nicht lachen. Die einzig richtige Antwort wäre demnach die, daß der andere – diesmal vom Fernsehapparat verkörpert – uns sogar von unserer Pflicht zu lachen befreit, d. h. er lacht an unserer Stelle. Selbst wenn wir also, von einem stumpfsinnigen Tagwerk ermüdet, den ganzen Abend nur träge auf den Bildschirm starren, können wir danach doch sagen, daß wir objektiv, durch das Medium des anderen, einen wirklich schönen Abend verbracht haben.« (Žižek 1991, S. 50)
Žižek illustrierte mit diesem Gedanken eine These Jacques Lacans über die Rolle des Chors in der griechischen Tragödie. Lacan hatte in einer Passage, die bis dahin von den Kommentatoren kaum behandelt worden war, eine eigenwillige Sichtweise entwickelt:
»Nun, in der Tragödie gibt es den Chor. Was ist das, der Chor? Man wird Ihnen sagen – Das sind Sie. Oder auch – Das sind nicht Sie. Das ist nicht die Frage. Es geht um Mittel, und zwar um Mittel der Rührung. Ich möchte sagen – der Chor, das sind die Leute, die Rührung empfinden. Sehen Sie also lieber zweimal hin, bevor Sie sich sagen, daß es Ihre Rührungen sind, die im Spiel sind bei dieser Reinigung. Sie sind im Spiel, wenn am Ende nicht allein sie, sondern eine Menge anderer durch eine Art Kunstgriff befriedet sein sollen. Das geschieht aber nicht, weil sie direkt ins Spiel gebracht werden. [...] Die Last Ihrer Emotionen wird in einer gesunden Disposition der Szene übernommen. Der Chor übernimmt sie. [...] Sie sind also alle Ihre Sorgen los – und wenn Sie nichts spüren, so wird doch der Chor an Ihrer Stelle gespürt haben. Und warum sollte man sich nicht vorstellen, daß die Wirkung auf Sie in kleinen Dosen erzielt wird, auch wenn Sie gar nicht so arg gezittert haben? Ich bin tatsächlich nicht so sicher, ob der Zuschauer arg zittert.« (Lacan 1996, S. 302 f.)
Aus diesen paradox anmutenden Beispielen des Dosengelächters und des griechischen Chors (in Lacans Lesart) zog Žižek die Schlußfolgerung, daß unsere vermeintlich intimsten Regungen auf andere übertragen, an sie delegiert werden können. Unsere Gefühle und Überzeugungen sind also nichts Inneres, sondern können eine außen angesiedelte, »objektive« Existenz führen: Eine Fernsehkomödie kann für mich lachen, Klageweiber können an meiner Stelle trauern, eine tibetanische Gebetsmühle für mich beten,2 und ein Fabelwesen wie der bekannte »einfache Mann von der Straße« kann an meiner Stelle von Dingen überzeugt sein, die ich selbst nicht ernstnehmen kann.3 Die jeweilige Haltung oder Überzeugung wird über diesen äußeren Agenten realisiert: »Die Gebetsmühle [...] betet an meiner Stelle [...], ich kann mich den schmutzigsten und obszönsten Phantasien überlassen, das schadet nichts, weil ich – um wieder den guten alten stalinistischen Ausdruck zu verwenden – objektiv bete, was immer ich auch denken mag«, stellte Žižek fest.4
Für die Theorie der Kunst ist aus Žižeks Überlegungen zum Dosengelächter sowie zum griechischen Chor noch eine andere Konsequenz ableitbar: Es gibt offensichtlich Kunstwerke, die bereits ihre eigene Betrachtung beinhalten. Und es gibt Betrachter, die das so wollen. Offenbar wollen die sich lieber vertreten lassen als selbst lachen bzw. selbst Furcht und Mitleid empfinden. Das sind also Kunstwerke und Betrachter, die das genaue Gegenteil dessen darstellen, was die Theorie der Interaktivität fortwährend predigt. Während Interaktivität darin besteht, einen Teil der künstlerischen Produktion (»Aktivität«) vom Kunstwerk zu den Betrachtern zu verlagern, findet hier das Umgekehrte statt: Die Betrachtung (»Passivität«) wird von den Betrachtern zum Kunstwerk verlagert. Wir haben beschlossen, diesen Verlagerungs-Typ als »Interpassivität« zu bezeichnen.
Die interaktive Kunst versucht, ihre Betrachter zu aktivieren: In der interaktiven Kunst müssen die Betrachter nicht nur betrachten, sondern auch das Kunstwerk teilweise produzieren. Bei interpassiven Kunstwerken hingegen scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Die Betrachter müssen nicht nur nicht mitproduzieren, sie müssen nicht einmal betrachten. Das Werk steht fix und fertig da, nicht nur fertig produziert, sondern auch fertig konsumiert. Nicht nur die notwendige Aktivität, sondern auch die erforderliche Passivität ist bereits vollständig darin enthalten. Die interpassive Kunst erlaubt es also ihren Betrachtern, nicht nur jegliche Aktivität, sondern auch noch ihre gesamte Passivität bleiben zu lassen. Sie können sich nunmehr passiver als passiv verhalten.
Die Entdeckung, daß die Fernsehkomödie mit Dosengelächter ebenso wie die griechische Tragödie mit ihrem Chor Beispiele eines Kunstwerks sind, das sich selbst betrachtet, und somit als Fälle von Interpassivität begriffen werden können, hat eine weitere Konsequenz. Was hier delegiert werden kann, ist die Rezeption, mithin der Kunst-Genuß. Interpassivität besteht in delegiertem Genießen. Denn nicht nur das Lachen über eine TV-Komödie kann anderen überlassen werden, sondern zum Beispiel auch das Fernsehen als solches: anstatt unsere Lieblingsfilme im Fernsehen anzusehen, nehmen wir sie auf Video auf und sehen uns die Bänder danach niemals mehr an. Es ist, als hätte sie der Recorder bereits an unserer Stelle betrachtet. Von da aus erschließen sich ganze Serien interpassiver Phänomene im Alltagsleben: Ist es Zufall, daß der Reisende beim Anblick eines Monuments sofort schützend die Kamera vor sein Auge hält? Ja, stellt er nicht auch zwischen sich und die Bilder, die diese Kamera macht, noch die Freunde, denen er die Urlaubsfotos zeigt? Ist nicht sogar der ganz gebräuchliche Satz »Das ist aber interessant!« bereits eine glatte Verneinung im Sinn Freuds? Heißt er nicht soviel wie: »Also mich interessiert das nicht!5