DAS BEFREMDLICHE ÜBERLEBEN DES NEOLIBERALISMUS
Postdemokratie II
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
Suhrkamp Verlag
Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel The Strange Non-Death of Neoliberalism bei Polity Press (Cambridge).
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von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-76090-1
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Für Joan
Der Zusammenbruch der Finanzmärkte am Ende des vergangenen Jahrzehnts markiert eine grundlegende Krise der Wirtschaftskonzepte, die im Westen und in vielen anderen Teilen der Welt seit den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dominieren. Diese Konzepte werden im allgemeinen dem »Neoliberalismus« zugerechnet. Alle Ausprägungen und Schulen dieser Theorie sind sich in einem Punkt einig: der Überzeugung, daß ein freier Markt, der individuelles Profitstreben ermöglicht, das beste Mittel zur Befriedigung unserer Bedürfnisse sei. Dieser Markt sei von Eingriffen insbesondere des Staates und der Politik freizuhalten, die bestenfalls zu Ineffizienz führen und schlimmstenfalls die Freiheit bedrohen.
Die Finanzkrise sprach dieser Überzeugung hohn, da sie auch die größten Banken der Welt erfaßte, profitorientierte Unternehmen, die auf dem freiesten aller Märkte agierten und die gemäß der Theorie zur Mehrung unseres Wohlstands beitragen sollten. Wie war es möglich, daß der avancierteste Markt in der Geschichte der Menschheit, der internationale Finanzmarkt, in eine derart massive Schieflage geriet – wo doch die avancierteste Wirtschaftstheorie aller Zeiten bewiesen hatte, daß unregulierte Märkte sich automatisch selbst korrigieren und keiner Hilfe von außen bedürfen? Wenn uns sogar Regierungsvertreter erklärt hatten, daß der Staat auf dem Markt weit weniger effizient agiere als Privatunternehmen und sich deshalb so wenig wie möglich ins Marktgeschehen einmischen solle, warum wandten sich dann die Banken plötzlich hilfesuchend an eben diesen Staat, um sich mit exorbitanten Summen aus ihren Schwierigkeiten herauskaufen zu lassen? Und warum haben die Staaten das getan? Stimmt es, daß Großbanken »too big to fail« oder »systemrelevant« sind, und daß der Steuerzahler ihnen zu Hilfe eilen muß, wenn sie in Schwierigkeiten geraten? Und wenn dem so ist, müßten wir dann nicht einräumen, daß die vielbeschworene Autonomie des Marktes Grenzen hat – womit die zentrale These des Neoliberalismus erledigt wäre?
In England erschien 1936 ein Buch mit dem Titel The Strange Death of Liberal England (sinngemäß: Der überraschende Untergang des englischen Liberalismus). Darin versucht der Historiker George Dangerfield zu erklären, warum es Anfang des 20. Jahrhunderts zum Niedergang der Ideen und der Partei des Liberalismus kam, die die englische Politik im 19. Jahrhundert dominiert hatten. Heute jedoch besteht die Aufgabe nicht darin, den Untergang des Neoliberalismus infolge der von ihm selbst herbeigeführten Krise zu erklären, sondern vielmehr die Tatsache, daß er nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte politisch einflußreicher dasteht denn je. Obwohl die Krise durch das marktwirtschaftliche Agieren der Banken ausgelöst wurde, sucht man ihre Folgen zu bekämpfen, indem man den Sozialstaat stutzt und die Ausgaben der öffentlichen Hand beschneidet. Und da der Neoliberalismus ein internationales, ja sogar globales Phänomen ist, ist das nicht nur in England der Fall. Wir müssen uns also fragen, wie es zu dem überraschenden Ergebnis kommen konnte, daß der Neoliberalismus nicht untergegangen ist.
Von zentraler Bedeutung ist dabei die Tatsache, daß der real existierende Neoliberalismus bei weitem nicht so sehr auf freie Marktwirtschaft setzt, wie es seine Theorie behauptet. Statt dessen beruht er auf dem politischen Einfluß von Großkonzernen. Da es in den wirtschaftspolitischen Debatten in vielen Ländern allein um die Opposition von Markt und Staat geht, tritt die Existenz dieser dritten Kraft, der großen Konzerne, in den Hintergrund, obwohl sie potenter sind als ihre Kontrahenten und deren Funktionsweise verändern. Die politische Szenerie wird seit Beginn des 21. Jahrhunderts – in Fortsetzung einer Entwicklung, die im letzten Jahrhundert begann und sich durch die Krise noch verschärfte – nicht mehr von Auseinandersetzungen, sondern von Vereinbarungen zwischen den drei Kontrahenten bestimmt. Eines der Hauptziele dieses Buches ist es, zu zeigen, daß eine Debatte, die allein um das Verhältnis von Markt und Staat kreist, die entscheidenden Fragen verfehlt.
Der politische Einfluß der Konzerne läßt sich an der Vielzahl der Lobbys vor allem im Umkreis des US-Kongresses, aber auch vieler anderer Körperschaften der Legislative und Exekutive ablesen. Er zeigt sich auch darin, daß sie das sogenannte »regime shopping« betreiben, also für ihre Investitionen Länder mit ihnen genehmen Regularien auswählen können. Und dieser Einfluß nimmt zu. So bekommen Konzerne durch den um sich greifenden Trend, klassische staatliche Aufgaben an private Subunternehmer zu vergeben, die Gelegenheit, die Politik insgesamt mitzubestimmen. Dieser Einfluß vertieft sich weiter durch die freiwillige Rücksichtnahme auf die sozialen und ökologischen Folgen ihrer Geschäftstätigkeit, zu der sich manche Konzerne unter dem Rubrum »Corporate Social Responsibility« verpflichten. Und schließlich hat die Finanzkrise der Jahre 2008/2009 die Bedeutung von Großkonzernen insbesondere der Finanzbranche für gegenwärtige Gesellschaften keineswegs gemindert, sondern nur noch unanfechtbarer als zuvor erscheinen lassen.
Mit einigen dieser Phänomene habe ich mich bereits in Postdemokratie (Suhrkamp 2008) beschäftigt. Die Macht globaler Konzerne wird dort als einer von mehreren Faktoren genannt, die unsere Demokratie aushöhlen. Die obengenannten Entwicklungen machen es notwendig, das Thema wieder aufzugreifen und zu fragen, was aus der Demokratie wird, wenn Privatunternehmen nicht nur erheblichen politischen Einfluß haben, sondern zu Insidern der politischen Entscheidungsprozesse werden. Es gibt keine ökonomische oder politische Theorie, die eine solche Machtentfaltung von Privatunternehmen befürworten oder verteidigen würde, und doch ist sie in unserem politischen Leben Alltag geworden.
Darunter leidet nicht nur die Demokratie, sondern auch der Markt. Das mag überraschend klingen, da der politischen Debatte Markt und Privatunternehmen in aller Regel als dasselbe gelten. Doch gerade in dem Umstand, daß diese Unterscheidung die Realität nicht abbilden kann, wurzeln viele unserer Probleme, in deren Angesicht das vielbeschworene Duell »Markt versus Staat« obsolet erscheinen muß. Richtiger wäre es, von einem »Dreikampf« zu sprechen, in dem die Kontrahenten Staat, Markt und Großunternehmen miteinander ringen. Allerdings handelt es sich derzeit eher um ein komfortables Arrangement als um einen Kampf. Das liegt einerseits daran, daß die Konzerne die Vereinigung aller drei Kontrahenten unter ihrer Führung betreiben, zum anderen daran, daß es keine einleuchtende Alternative zu einem solchen Arrangement gibt. Eine Gesellschaft, in der einer der drei Faktoren nicht mehr funktionierte, hätte immense Probleme. Man muß nicht lange überlegen, um zu erkennen, wie schwierig unser Leben dann wäre.
Es ist daher nicht meine Absicht, einer Abschaffung der Großkonzerne das Wort zu reden. Der amerikanische Liberalismus der Jefferson-Ära und der europäische Marxismus, die, ansonsten ziemlich uneins, etwas Derartiges fordern würden, sind Träume der Vergangenheit. Ich plädiere statt dessen für das Eingreifen einer vierten Kraft, nämlich einer engagierten, kampflustigen, vielstimmigen Zivilgesellschaft, die die Nutznießer des neoliberalen Arrangements mit ihren Forderungen unter Druck setzt und ihre Verfehlungen anprangert. Damit will ich keinesfalls eine Gesellschaftsordnung versprechen, die sich grundsätzlich von einem von Großkonzernen dominierten Kapitalismus unterscheidet. Doch wenn die Zivilgesellschaft offen und wachsam bleibt, könnte unser Leben um einiges besser werden, als wenn wir den Staat und die Unternehmen sich selbst überlassen.
Anders formuliert, in Abwandlung eines Verses von Andrew Marvell: Wenn wir die Konzerne schon nicht stoppen können, sollten wir sie wenigstens vor uns hertreiben.*
* Der englische Dichter und Politiker Andrew Marvell (1621-1678) beschließt (freilich in ganz anderem Kontext) sein Poem To His Coy Mistress mit den Zeilen:
»Thus, though we cannot make our sun
Stand still, yet we will make him run.«
In den meisten Büchern zu ähnlichen Themen geht es darum, wie man die Welt verändern könnte, wenn man selbst die Gelegenheit dazu bekäme oder die Mächtigen von seiner Sicht der Dinge überzeugen könnte. Doch nur sehr wenige Menschen gelangen jemals in die Lage, die Welt verändern zu können. Die meisten müssen versuchen, das Beste aus dem zu machen, was sie vorfinden. An sie richtet sich dieses Buch. Postdemokratie ging aus einem Pamphlet namens »Coping with Post-Democracy« hervor, das ich für die Fabian Society schrieb. Der Titel wurde für die Buchfassung zugespitzt, die dahinterstehende Frage aber blieb dieselbe: Wie kann man in einer Welt zurechtkommen, in der man kaum noch Einflußmöglichkeiten hat? Das vorliegende Buch setzt ihre Beantwortung fort. Es richtet sich wie sein Vorgänger an jene, die irgendwie mit den gegebenen Verhältnissen zurechtkommen müssen.
Dabei ist es kein streng wissenschaftliches Werk, sondern richtet sich wie Postdemokratie an ein allgemeines Publikum. Daher verzichte ich auf den sonst üblichen Anmerkungsapparat und beschränke mich auf einige allgemeine Hinweise und Vorschläge zur weitergehenden Lektüre am Ende eines jeden Kapitels.
Für einige Kapitel habe ich wissenschaftliche Aufsätze entsprechend überarbeitet bzw. umgeschrieben. So gehen das zweite und das vierte Kapitel (mit freundlicher Genehmigung von Oxford University Press) auf meinen Aufsatz »Marketization« zurück, der in dem von Matthew Flinders und anderen herausgegebenen The Oxford Handbook of British Politics erschien (Oxford: Oxford University Press 2009, S. 879-895). Das dritte Kapitel enthält (ebenfalls mit freundlicher Genehmigung von Oxford University Press) Überlegungen aus meinem Aufsatz »The global firm. The problem of the giant firm in democratic capitalism«, der in David Coens (Hg.) The Oxford Handbook of Business and Government veröffentlicht wurde (Oxford: Oxford University Press, 2009, S. 148-172). Das fünfte Kapitel basiert weitgehend auf meinem Artikel »Privatised Keynesianism. An unacknowledged policy regime«, der im British Journal of Politics and International Relations erschien (11/2009, S. 382-399). Das sechste Kapitel greift meinen Aufsatz »Modelling the firm in its market and organizational environment. Methodologies for studying corporate social responsibility« auf, der in Organization Studies abgedruckt wurde (27/2006, S. 1533-1551). Das siebente Kapitel schließlich geht auf den im von John Benington und Mark H. Moore herausgegebenen Band Public Value. Theory and Practice erschienenen Aufsatz »Privates, publics and values« zurück (Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 52-73).
Ich danke Joan Crouch, die sich die in diesem Buch erörterten Ideen über mehrere Jahre angehört und sie mit ihren Anmerkungen bereichert hat; Mari Prichard, die das Manuskript las und mir half, es aus dem Soziologischen ins Verständliche zu übersetzen; Mark Harrison für Hinweise in Fragen der Wirtschaftstheorie; meinen Kollegen und Studenten am International Centre for Governance and Public Management an der University of Warwick Business School, mit denen ich viele meiner Argumente diskutierte; und den drei Mitarbeitern von Polity Press, die ebenso freundlich wie konstruktiv mit Ratschlägen zur Verbesserung meines Entwurfs aufwarteten. Da ich mich nicht immer an die Hinweise und Vorschläge der Genannten gehalten habe und sie nicht immer einer Meinung mit mir waren, ist keiner von ihnen in irgendeiner Weise verantwortlich für das, was in diesem Buch steht.
Der Neoliberalismus trat, wie wir unten noch genauer sehen werden, seine Regentschaft an, als sein Vorgänger, die keynesianische Nachfragesteuerung, in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine massive Inflationskrise heraufbeschwor. Wenn jene Krise das Ende des damals herrschenden Wirtschaftsmodells bedeutete, sollten wir dann nicht auch heute das Ende des Neoliberalismus und seine Ablösung durch etwas Neues erwarten? Nein. Denn die Krise des Keynesianismus führte nicht deshalb zu seiner Abschaffung statt zu einer Reform oder Anpassung, weil irgend etwas an seinen Ideen grundsätzlich falsch gewesen wäre, sondern weil die Schicht, deren Interessen er vertrat – die Arbeiterschaft der westlichen Industrieländer –, sich in einem historischen Niedergang befand und ihre gesellschaftliche Macht zu verlieren begann. Im Gegensatz dazu haben die Kräfte, die heute vom Neoliberalismus profitieren – globale Konzerne insbesondere des Finanzsektors –, keineswegs an Einfluß verloren. Obwohl die Banken für die Krise 2008/2009 verantwortlich waren, gingen sie aus ihr gestärkt hervor. Man befand, daß sie unverzichtbar für die Wirtschaft des frühen 21. Jahrhunderts seien, und beschloß, sie vor den Folgen ihrer eigenen Torheit zu bewahren. Die meisten anderen Wirtschaftssektoren, die von der Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden, kamen nicht in den Genuß einer solchen Vorzugsbehandlung. Dem öffentlichen Dienst erging es sogar noch schlechter, da er in vielen Ländern gezwungen wurde, erhebliche Einsparungen vorzunehmen, um Gelder für die Rettung der Banken freizumachen. Die exorbitanten Gehaltsboni der Bankmanager wurden in den Debatten über die Krise zwar allgemein kritisiert, letztlich aber doch als notwendig für die Rückkehr des Finanzsektors (und damit ganzer Staaten) in die Solvenz gerechtfertigt, selbst wenn sie zu erheblichen Teilen vom Steuerzahler aufgebracht werden mußten. Der Finanzsektor hat damit den Beweis erbracht, daß der Rest der Gesellschaft auf sein Funktionieren angewiesen ist – zumindest in der anglo-amerikanischen Welt, in der sich das Investmentgeschäft besonderer Beliebtheit erfreut. Und da der Finanzsektor gerettet wurde, während man andere Branchen und den öffentlichen Dienst zu Einsparungen zwang, wird er in der Wirtschaft dieser Länder nun eine gewichtigere Rolle spielen denn je.
Bevor wir uns mit der Frage beschäftigen können, was daraus für die Behauptung des Neoliberalismus folgt, es gehe ihm um freie Märkte, müssen wir zunächst ihn selbst in den Blick nehmen. Was ist Neoliberalismus und wo kommt er her? Im zweiten und im vierten Kapitel werden wir untersuchen, wie in der Debatte »Staat oder Markt?« argumentiert wird und warum das gewinnorientierte Privatunternehmen als Sieger aus ihr hervorgeht und dabei eine Wesensänderung durchläuft. Im fünften Kapitel werden wir den oben erwähnten Umbruch vom Keynesianismus zum Neoliberalismus und seine Folgen genauer betrachten; schließlich werde ich zeigen, wie das Privatunternehmen infolge der jüngsten Krise zur wichtigsten gesellschaftlichen Institution geworden ist. Im sechsten Kapitel untersuche ich, was es für die Gesellschaft heißt, wenn Konzerne eine zentrale Rolle in der Politik spielen, und nehme das Konzept der »Corporate Social Responsibility« unter die Lupe. Im siebenten Kapitel wenden wir uns einem Thema zu, das in den vorangehenden Kapiteln immer wieder begegnet ist: Welche Funktion haben moralische Werte, insbesondere bei gesellschaftspolitischen Fragen, in Relation zu Markt, Staat und Privatunternehmen? Das achte Kapitel schließlich versucht die Frage zu beantworten, wie wir mit all dem klarkommen können.
Eine Vielzahl von Begriffen, mit denen wir gesellschaftliche Erscheinungen zu fassen versuchen, bedient sich der Vorsilben neo-, neu- oder post-: der Neoliberalismus, die neue Rechte, New Labour, postindustriell, postmodern, Postdemokratie. Offenbar wollen wir damit ausdrücken, daß wir einen substantiellen Wandel erlebt haben, aber nicht genau wissen, welcher neue Zustand eingetreten ist. Also beschreiben wir ihn unter Verweis auf das, was wir hinter uns zu lassen im Begriff sind (»post-«) oder was seine Form irgendwie verändert hat (»neo-« und »neu-«). So verhält es sich auch mit dem Begriff Neoliberalismus. Um uns seiner Bedeutung anzunähern, müssen wir uns klarmachen, was unter Liberalismus zu verstehen ist (oder war) und auf welche Unterschiede die Vorsilbe verweist.
Der Begriff »Liberalismus« ist so schlüpfrig, wie ein politischer Begriff nur sein kann. Heute tendiert er desto mehr nach links, je weiter man sich westwärts begibt. In Europa, vor allem im ehemals sozialistischen Mittel- und Osteuropa, heftet man ihn an Parteien, die für die strikte Anwendung marktwirtschaftlicher Prinzipien und zugleich für ausgedehnte bürgerliche Freiheiten eintreten. Ersteres gilt gewöhnlich als konservativ, letzteres eher als links. In den USA bezeichnet das Wort liberal zumeist die amerikanische Linke im allgemeinen; diese teilt mit den europäischen Liberalen das Bekenntnis zu den bürgerlichen Freiheiten und die Kritik am politischen Einfluß der Kirchen, vertritt jedoch in puncto Markt und Wirtschaft eine der Tradition des Liberalismus diametral entgegengesetzte Meinung. Denn die »liberalen« Politiker in den USA befürworten in aller Regel staatliche Eingriffe in die Wirtschaft.
Um diese Bedeutungsvielfalt zu verstehen, müssen wir ins 17. und 18. Jahrhundert zurückgehen. Damals erhob sich Kritik an der Allmacht von Monarchen, Adligen, Päpsten und Bischöfen, zunächst in Europa und dann auch in Nordamerika. Keiner dieser Mächtigen mochte zugestehen, daß jeder Mensch über naturgegebene Rechte verfügt; in ihren Augen gab es lediglich Privilegien und detailliert spezifizierte Freiheiten, die nur sie selbst einräumen und jederzeit wieder entziehen konnten. Der Streit drehte sich zunächst um Ideen, um Meinungsfreiheit und ähnliche Forderungen. Doch bald fand sich eine alternative Machtbasis, nämlich der aus Handels- und später industrieller Tätigkeit gespeiste Wohlstand der bürgerlichen Klassen, welcher der Macht der Kirche und des monarchischen Staates entgegengehalten werden konnte.
Die Forderung der Kaufleute, die Märkte dem Zugriff weltlicher und geistlicher Autoritäten zu entziehen, die aus der Vergabe von Handelsmonopolen erhebliche Profite zogen, vereinte sich mit dem allgemeinen Ruf nach Freiheit als einem unersetzlichen, unteilbaren, unwiderruflichen Menschenrecht. Da sich die bestehenden Machtverhältnisse in Kirche, Staat und in der Klasse der Grundeigentümer nicht einfach wegwischen ließen, führte das Streben nach mehr Freiheit in der Praxis zu vielfältigen Separationen: der Trennung von Wirtschaft und Politik, von Kirche und Staat sowie zur Loslösung der individuellen Lebensführung von jeglicher kollektiven Moral, ob sie nun von den genannten Institutionen oder von der Familie vertreten wurde. Durch die so bewerkstelligte Aufteilung des Lebens in »Lebensbereiche« ließ sich der Einfluß der bislang Mächtigen zurückdrängen; individuelle Freiräume entstanden.
Aus konservativer Sicht wurde das Indivduum durch diese Emanzipation des Schutzes der Gemeinschaft und ihrer verpflichtenden Normen beraubt, während die Gesellschaft fragmentiert und unlenkbar wurde. Am Ende des 19. Jahrunderts waren das bürgerliche Eigentum und die mit ihm einhergehenden liberalen Rechte auf den Privatbesitz an Produktionsmitteln und die Beschäftigung von Arbeitnehmern ihrerseits Quellen von Macht und Dominanz geworden. Nun strebten die Arbeiter und andere, die von den Arbeitgebern abhängig waren, nach mehr Freiheit. Sie wandten sich um Unterstützung an den zunehmend demokratisch entscheidenden Staat. Auch viele Sozialreformer kritisierten die in allen Bereichen der Gesellschaft anzutreffende Dominanz des Geldes. Die Tradition des Liberalismus zerfiel in zwei Stränge.
Der sozialliberale Strang konzentrierte sich auf die Rechte der arbeitenden Massen, etwa jenes, die Armut abzuschütteln. Paradoxerweise stützte er sich dabei zunehmend auf den Staat, der dem klassischen Liberalismus noch als Gegner gegolten hatte. So fanden sich die Sozialliberalen nicht selten in der unbehaglichen Gesellschaft von Sozialisten wieder, welche die Macht des Staates nutzen wollten, um das Privateigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen. Daneben gab es aber auch einen wirtschaftsliberalen Strang, der auf die Freiheit der Arbeitgeber, Investoren und des Marktes setzte. Wirtschaftsliberale fanden sich zunehmend an der Seite ihrer alten konservativen Gegner wieder, der Bewahrer der traditionellen Ordnung, die Autorität und Eigentum gegen die Forderungen der Demokraten verteidigten. Ein demokratischer Staat unter Führung einer Klasse besitzloser Arbeiter drohte die Separation von Wirtschaft und Politik aufzuheben, die sowohl für das Konzept persönlicher Freiheit als auch für funktionierende Märkte unabdingbar war. Andererseits kam es auch zu Koalitionen von Sozialliberalen, Sozialisten und Konservativen, die sich gegen die Dominanz des Materialismus und den Mangel an Moral wandten, die Kapitalismus und Wirtschaftsliberalismus in ihren Augen beförderten. So gingen aus dem Liberalismus überall auf der Welt unterschiedliche Theorien und Parteien hervor, die jeweils andere Vorstellungen verfolgten.
Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs hatte sich der gesamte Kontext der Konfrontation von Liberalismus und Staat verändert. In den zwanziger Jahren hatte die freie, von staatlicher Intervention weitgehend verschonte kapitalistische Marktwirtschaft versagt und der Welt die Große Depression eingebracht. Zu Beginn der dreißiger Jahre versprachen drei alternative Ansätze zur Organisation der Wirtschaft weit mehr Effizienz und Wachstum: der in der UdSSR praktizierte Kommunismus, der deutsche und italienische Faschismus bzw. Nationalsozialismus sowie diverse Kombinationen von staatlicher Nachfragesteuerung und sozialstaatlicher Intervention, die in den USA und Skandinavien, für kurze Zeit auch in Frankreich erprobt wurden. Zwar unterschieden sich diese Ansätze erheblich voneinander, doch setzte jeder in einem Maß auf staatliche Eingriffe, das sich der klassische Liberalismus nicht hätte vorstellen können. Nach dem Krieg war eines dieser Modelle, das faschistische bzw. nationalsozialistische, am Ende. Die Sowjetunion beherrschte halb Europa auf diktatorische Weise, war jedoch, wie es damals schien, wirtschaftlich durchaus erfolgreich; und bald trat mit dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, China, ein Partner an ihre Seite – wenn auch in einer unsicheren und temporären politischen Allianz –, der sich einem ähnlichen System verschrieben hatte. In Westeuropa, Nordamerika, Japan, Indien und Australasien hingegen einigten sich die Vertreter praktisch aller politischen und intellektuellen Schattierungen auf Varianten eines an den USA, Frankreich und Skandinavien orientierten Modells, das ökonomische und soziale Interventionen des demokratischen Staats in eine unangefochten kapitalistische Wirtschaft vorsah. Das alte liberale Ideal einer von staatlichen Eingriffen freien Marktwirtschaft schien tot und begraben. Der Liberalismus selbst überlebte in seiner sozialliberalen Variante als Forderung nach diversen Rechten und Freiheiten – wobei er auf die einst grundlegende Forderung nach einer von staatlichen Eingriffen uneingeschränkten Verfügung über im Privatbesitz befindliche Produktionsmittel verzichtete.
Und was wurde aus den Ideen des Wirtschaftsliberalismus? Sie verschwanden niemals ganz. Die Forderung nach uneingeschränkten Eigentümerrechten, weitgehendem Verzicht auf Regulierungen und niedrige Steuern blieb für die Wohlhabenden natürlich attraktiv. Sie standen stets bereit, um die intellektuellen Projekte des Wirtschaftsliberalismus zu finanzieren und seinen Protagonisten über die mageren Jahre hinwegzuhelfen. Zudem sprach sich allmählich die Wahrheit über die Lebensbedingungen und die Unterdrückung in den sozialistischen Ländern herum, was allerorten als Mahnung vor einem Zuviel an staatlicher Macht verstanden wurde – besonders in den USA, deren Bürger sich aus den Zeiten der englischen Herrschaft und der auf die Unabhängigkeit folgenden Korruption ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem Staat und seinen Behörden bewahrt hatten. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts erwuchs daraus eine politische Richtung, die praktisch jegliches staatliche Eingreifen in Wirtschaft und Gesellschaft mit Kommunismus gleichsetzte und all jene rücksichtslos aus der Öffentlichkeit verbannen wollte, die auch nur im entferntesten der Sympathie für dergleichen verdächtigt werden konnten. Unter Führung des berüchtigten Senators Eugene McCarthy wurde dabei der Wirtschaftsliberalismus mit dem Verzicht auf jegliche Liberalität verteidigt. Auch das trug dazu bei, daß der Begriff »liberal« heute in den USA für das Gegenteil dessen steht, was er in Europa bedeutet, nämlich das Eintreten für den Sozialstaat und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft.
Der Kampf des Wirtschaftsliberalismus gegen staatliche Interventionen hatte bereits früher begonnen. Noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs entwarfen einige deutsche und österreichische Liberale eine Wirtschaftsordnung für das befreite Deutschland, die dem bürgerlichen Unternehmertum wieder auf die Beine helfen sollte, das in ihren Augen gleichermaßen von Kommunismus, Nationalsozialismus und dem »Interventionismus« des demokratischen Sozialstaats bedroht war. Anders als ihre US-amerikanischen Pendants lehnten sie nicht jeglichen staatlichen Eingriff grundsätzlich ab, sahen aber die Aufgabe des Staates allein darin, die Freiheit der Marktwirtschaft zu verteidigen. Nur der Wettbewerb zwischen den Unternehmen garantierte ihres Erachtens einen funktionierenden Markt, die Wahlfreiheit der Verbraucher und das Überleben einer bürgerlichen Klasse, die weder ins antikapitalistische Proletariat absinken noch die Machtfülle jener Großkonzerne erreichen sollte, die Hitler unterstützt hatten. Diesen Liberalen gefiel es nicht, daß der ungehemmte Wettbewerb sich oftmals selbst abschafft, indem der am Markt Erfolgreichste seine Konkurrenten aufkauft, wodurch riesige Konzerne und Monopole entstehen. Sie orientierten sich daher an der amerikanischen Antitrustpolitik, die den Marktanteil einzelner Unternehmen auf rechtlichem Wege (also mit staatlichen Mitteln) einschränkte und damit den Wettbewerb vor sich selbst schützte. Statt schrankenloser Marktwirtschaft befürworteten sie den sogenannten Ordoliberalismus, bei dem die Einhaltung einer vom Staat festgelegten Wettbewerbsordnung behördlich überwacht wird. Dieses Modell, später als »soziale Marktwirtschaft« bezeichnet, bestimmte lange die deutsche Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Infolge einer weiteren schicksalhaften Umkehrung politischer Begriffe wurde es dann, obwohl ursprünglich von Wirtschaftsliberalen im Kampf gegen den interventionistischen Sozialstaat erdacht, in den achtziger Jahren mit diesem gleichgesetzt.
Die neuen Wirtschaftsliberalen gestanden Eingriffe in den Markt also zu, sahen die Aufgabe des Staats, vor allem der Justiz, jedoch allein darauf beschränkt, dessen reibungsloses Funktionieren zu gewährleisten. Diese Idee fand in den USA breiten Widerhall, wo man sie als neoliberal bezeichnete, da man unter Liberalismus inzwischen linke Politik verstand. Heute existieren viele unterschiedliche Varianten und Nuancen des Neoliberalismus, doch besteht sein Wesen nach wie vor darin, den Markt grundsätzlich dem Staat als Mittel zur Lösung von Problemen und zur Erreichung zivilisatorischer Ziele vorzuziehen.
Bleibt die Frage, wie dieser Umschwung im Bereich der Theorie in praktische Politik umgesetzt wurde. Um sie zu beantworten, müssen wir uns mit den anderen Ansätzen der Sozial- und Wirtschaftspolitik befassen, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aufkamen.
Kommunismus, Faschismus bzw. Nationalsozialismus und Wirtschaftsliberalismus hatten jeweils höchst kompromißlose wirtschaftspolitische Vorstellungen. Die Ideen, die im Westen um den Zweiten Weltkrieg herum mit ihnen konkurrierten, waren weniger stringent. Sie zielten auf Kompromisse zwischen den großen gesellschaftlichen Interessengruppen ab, die einsehen sollten, daß ein Sieg auf ganzer Linie unwahrscheinlich sei und daß man zudem nicht im vorhinein wissen konnte, welche Politik sich als erfolgreicher erweisen würde. Für diese Ideen stehen Begriffe wie »soziale Marktwirtschaft« und »Sozialdemokratie«. Daß ersterer gewissermaßen auf dem Kopf steht, habe ich schon erwähnt, doch gilt das für letzteren teilweise auch. Als »sozialdemokratisch«, »sozia-listisch« oder »kommunistisch« bezeichnete man ursprünglich die antikapitalistischen Arbeiterbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie traten für die Abschaffung des Kapitalismus ein, wobei sie zunächst Verstaatlichung forderten und später von einer amorphen »Vergesellschaftung« des Eigentums an Produktionsmitteln träumten, bei der sogar der Staat außen vor blieb.
Nach der Russischen Revolution 1917 kam es überall auf der Welt zur Spaltung der Bewegung in kommunistische Parteien, die dem sowjetischen Regime nacheiferten, und sozialdemokratische oder sozialistische Gruppierungen, die sich von ihm distanzierten. Dennoch gaben sowohl die schwedische als auch die deutsche Arbeiterpartei, die sich explizit »sozialdemokratisch« nannte, das alte Ziel der Abschaffung des Kapitalismus erst in den fünfziger Jahren offiziell auf und bekannten sich zum Privatbesitz an Produktionsmitteln als Regelfall. 1959 forderten die deutschen Sozialdemokraten sogar: »Soviel Markt wie möglich, soviel Staat wie nötig.« Andere Parteien, etwa die britische Labour Party, vertraten diese Haltung zwar de facto, räumten es aber erst viel später, im Falle Labours erst in den neunziger Jahren, öffentlich ein. Nunmehr bezeichnete das Adjektiv »sozialdemokratisch« eine gemäßigte Mitte-links-Politik. Es stand nach wie vor für eine bestimmte Partei, wurde jedoch spätestens jetzt ebenso wie der Begriff der »sozialen Marktwirtschaft« ganz allgemein für alles verwendet, das in irgendeiner Form einen Kompromiß zwischen Marktwirtschaft und Verstaatlichung der Produktionsmittel darstellte. Im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts konnte man den größten Teil der politischen Kräfte zumindest Westeuropas mehr oder weniger vage als sozialdemokratisch bezeichnen. Allerdings stellten im engeren Sinne sozialdemokratische Parteien außerhalb Skandinaviens nur selten die Regierung eines Landes.
Heute bezeichnet der Begriff sozialdemokratisch, ähnlich wie seine Pendants konservativ und liberal, zum einen politische Parteien oder andere formelle Organsationen, zum anderen ein weit umfasssenderes Spektrum von Ideen, politischen Anliegen und Haltungen in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft. Inhaltlich steht er für den Versuch, Staat und Markt miteinander zu versöhnen, um maximale Effizienz und Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, große Erschütterungen aber zu vermeiden und sicherzustellen, daß soziale Ziele, die es auf dem Markt schwer hätten, verfolgt und die sozialen Ungleichheiten, die sich aus dem Marktgeschehen ergeben, in einem erträglichen Rahmen gehalten werden können. Zuweilen, wenn auch bei weitem nicht so häufig, wie manche meinen, scheint das Streben nach mehr Wirtschaftlichkeit im Widerspruch zur Vermeidung allzugroßer Einkommensunterschiede zu stehen. Tatsächlich aber sind beide voneinander abhängig. Ökonomien, in denen Ungleichheit herrscht, fehlt es nicht nur an einer breiten Basis kaufkräftiger Konsumenten, die die Nachfrage ankurbeln, sondern auch an Menschen, die sich ökonomisch hinreichend abgesichert fühlen, um jene kritischen, innovativen Haltungen zu entwickeln, die für die Dynamik und damit Effizienz einer Wirtschaft unverzichtbar sind. Aufgrund dieser wechselseitigen Abhängigkeit von ökonomischer Effizienz und sozialem Ausgleich war die Sozialdemokratie in der Lage, auf breiter Front soziale Kompromisse zu schmieden, während der Kampf um die Bestimmung der Grenzen des Marktes bzw. der staatlichen Interventionen die politische Auseinandersetzung durch das gesamte 20. Jahrhundert und bis ins 21. hinein bestimmte.
Daß die oberen Gesellschaftsschichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Demokratie voller Furcht und Pessimismus gegenüberstanden, lag unter anderem daran, daß sie sich nicht vorzustellen vermochten, wie man die Bedürfnisse des im Wortsinne hungernden Volkes befriedigen könnte, ohne daß es zu einer Revolution der Eigentumsverhältnisse kam, die ihre Enteignung bedeuten mußte. Die optimistischeren Eliten hingegen, etwa die britische, setzten auf eine behutsame Ausweitung der Bürgerrechte und den allmählichen sozialen Aufstieg der Massen durch steigende Löhne, stabilere Arbeitsverhältnisse aufgrund besserer Ausbildung und das Erklimmen der Karriereleiter sowie durch den sich ausbreitenden Trend, Eigentum an Wohnraum zu erwerben.
Doch das Problem bestand nicht nur darin, daß die Arbeiter arm und besitzlos waren. Ihre Lebensverhältnisse waren außerdem von großer Unsicherheit geprägt, da die rasch wachsende Marktwirtschaft heftigen Fluktuationen unterlag. Die Sozialpolitiker des späten 19. Jahrhunderts versuchten zunächst in Deutschland, dann auch in Frankreich, im Reich der Habsburger, in Großbritannien und anderen Ländern, dieser Unsicherheit ein Minimum an Sicherheit entgegenzusetzen, indem sie einen auf Versicherungen basierenden Schutz vor dem Verlust der Einkommensquelle durch Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter bereitstellten. Die Ambitionen, die Reichweite und daher auch die Erfolge dieser Politik waren begrenzt, doch sie war einer der Grundsteine des späteren Sozialstaats.
All diese Entwicklungen führten dazu, daß der Glaube an den Wirtschaftsliberalismus schließlich schwand. Zunächst kam jedoch ein anderer Lösungsansatz für das Armutsproblem ins Spiel, der sich besser mit dieser Spielart des Liberalismus vertrug. Er entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kontext der damals neuartigen Massenproduktion, deren klassisches Beispiel die Ford Motor Company in den USA darstellte. Durch moderne Technik und Arbeitsorganisation ließ sich die Produktivität von ungelernten Arbeitskräften derart erhöhen, daß die produzierten Güter billiger und zugleich Lohnerhöhungen möglich wurden, wodurch die Kaufkraft der Arbeiter stieg, was wiederum die Nachfrage stärkte. Massenfertigung und Massenkonsum entstanden zur gleichen Zeit. Es ist kein Zufall, daß sich der Durchbruch in dem riesigen Land ereignete, das damals (abgesehen von der Rassentrennung) am ehesten als vorbildliche Demokratie gelten konnte. Die Demokratie hat zu diesem Modell ebensoviel beigetragen wie der technische Fortschritt. Allerdings zeigte der Zusammenbruch der Wall Street 1929, wenige Jahre nach dem Fordschen Erfolg, daß das Problem der Unsicherheit auf volkswirtschaftlicher Ebene unverändert bestand. Die Aufgabe, die Instabilität des Marktes mit dem Stabilitätsbedürfnis der Konsumenten und Wähler zu versöhnen, erwies sich als ungelöst. In weiten Teilen Europas erstarkten kommunistische und faschistische Bewegungen. Doch auch moderatere und nicht demokratiefeindliche Theorien erhielten Zustimmung für die Behauptung, daß staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen notwendig seien, um die Märkte vor ihrer offensichtlichen Neigung zur Selbstzerstörung zu schützen.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs war es für die Eliten in allen Industrieländern offensichtlich, daß der Versuch, das Eigentum mit Hilfe des Faschismus vor der Demokratie zu schützen, in eine Katastrophe geführt hatte. Der Kapitalismus brauchte die Demokratie und umgekehrt, wenigstens in jenen Weltregionen, in denen man das Volk nicht einfach niederknüppeln konnte. Die virtuose Spirale des Fordschen Modells, bei dem die industrialisierte Fertigung zu steigenden Löhnen, diese zu Massenkonsum und also steigender Nachfrage nach industriell gefertigten Waren führte, war ein Teil der Lösung. Hinzu kamen, etwa im Sozialstaat skandinavischer oder britischer Prägung, vertiefende Maßnahmen gegen Unsicherheit und Instabilität. Selbstbewußte, abgesicherte Konsumenten aus der Arbeiterklasse waren alles andere als eine Gefahr für den Kapitalismus – sie ermöglichten vielmehr eine beispiellose Expansion der Märkte und Profite. Kapitalismus und Demokratie stützten und bedingten sich gegenseitig.
Ein weiteres Element trug entscheidend zur Belastbarkeit des neuen Wirtschaftsmodells bei: die sogenannte keynesianische Nachfragesteuerung, die allerdings im wesentlichen nicht von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes, sondern von Gruppen britischer und schwedischer Wirtschaftswissenschaftler erarbeitet wurde. Ihre Ideen stießen vor allem in Skandinavien, Großbritannien, Österreich und in geringerem Maß in den USA auf Zuspruch, wurden aber auch von internationalen Institutionen wie der Weltbank aufgegriffen und bildeten dreißig Jahre lang sozusagen die orthodoxe Wirtschaftstheorie der kapitalistischen Staaten des Westens. In Zeiten geringer Nachfrage und mangelnder Wachstumszuversicht sollte sich demnach der Staat verschulden, um die Wirtschaft mit staatlichen Aufträgen anzukurbeln. In Zeiten hoher Nachfrage und Inflationsgefahr sollte er dann seine Ausgaben reduzieren, die Schulden abtragen und so die Gesamtnachfrage bremsen. Allerdings setzt dieses Modell enorme Staatshaushalte voraus, damit Veränderungen der staatlichen Ausgabenpolitik die Volkswirtschaft entsprechend beeinflussen können. Im Falle der britischen und einiger anderer Volkswirtschaften ließ sich dies nur durch die immensen Militärausgaben bewerkstelligen, die der Zweite Weltkrieg erforderlich machte. Zwar waren die Staatshaushalte auch in früheren Kriegen angeschwollen, anschließend jedoch stets wieder geschrumpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb diese Schrumpfung allerdings aus. Statt in den Krieg wurden die Mittel nunmehr in den Ausbau der neuen, stetig wachsenden Sozialsysteme gesteckt.
Das keynesianische Modell schützte die Bürger vor den Unwägbarkeiten volatiler Märkte, glättete den Konjunkturzyklus und ermöglichte es ihnen, zuversichtliche Konsumenten der Produkte einer infolgedessen ebenso zuversichtlichen Industrie zu werden. Die Arbeitslosigkeit sank auf einen äußerst niedrigen Stand. Der Sozialstaat stellte den Regierenden nicht nur Instrumente zur Nachfragesteuerung zur Verfügung, er erbrachte auch lebenswichtige Dienstleistungen für jene Menschen, um die sich der Markt aufgrund ihrer geringen Kaufkraft nicht kümmerte. Der Keynesianismus stand dem Markt und dem Kapitalismus keineswegs ablehnend gegenüber. Nachfragesteuerung und Sozialsysteme nahmen der kapitalistischen Ökonomie die Angst vor den Folgen einer Rezession, vor einem rigoroseren staatlichen Interventionismus und vor Revolutionen, während sie die arbeitende Bevölkerung vor den Schwankungen des Marktes schützten. Es handelte sich mithin um einen echten gesellschaftlichen Kompromiß.
Ein letzter Bestandteil des Modells der Nachfragesteuerung war der Neokorporatismus. Er war in Keynes’ Theorie nicht vorgesehen und kam auch in der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik kaum, in der britischen lediglich am Rande vor, spielte aber in Skandinavien, Holland und Österreich eine wichtige Rolle. Der Neokorporatismus zielt darauf ab, daß Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände bei ihren Tarifvereinbarungen den generellen Preisanstieg insbesondere von Exportgütern berücksichtigen. Das kann nur funktionieren, wenn sie genügend Autorität über die ihnen angehörenden Firmen bzw. Arbeitnehmer haben, um die flächendeckende Einhaltung der Tarife zu gewährleisten. Die erwähnten Länder, in denen diese Form der Einbindung der Wirtschaft in politische Erwägungen eine Rolle spielte, sind allesamt kleine Ökonomien, die sehr stark vom Außenhandel abhängen. Eine ähnliche Entwicklung gab es sonst nur noch in Deutschland, das über weit größere Wirtschaftskraft verfügte, aber zur Stützung des Wachstums ebenfalls eher auf Export als auf die Binnennachfrage setzte. Zudem wurde die deutsche Gewerkschaftsbewegung von einer großen Organisation dominiert, die in den exportabhängigen Branchen Stahl und Maschinenbau stark vertreten und daher besonders sensibel für die Problematik war.
Die wesentlichen Elemente einer »sozialdemokratischen« Wirtschaftsordnung waren also:
– eine keynesianische Nachfragesteuerung, die staatliche Eingriffe nur insoweit vorsah, als sie die Märkte vor selbstzerstörerischen Booms und Rezessionen schützten;