Sind Sie sich selber ein Freund? In seinem berühmten Fragebogen wie auch in anderen Texten spürt Max Frisch dem Wesen nach, das eine Freundschaft ausmacht. Einmal mehr verführt er auch seine Leser durch ungewöhnlich persönliche Fragen zu ungewöhnlich ehrlichen Antworten.
Margit Unser, 1956 in Walldorf bei Heidelberg geboren, studierte Geschichte, Philosophie und Pädagogik in Mainz. Sie ist seit Juli 2008 Leiterin des Max Frisch-Archivs in Zürich, wo sie auch lebt.
Sind Sie sich selber
ein Freund?
Herausgegeben von Margit Unser
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Für diese Auswahl
© Suhrkamp Verlag Berlin 2011
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Einbandgestaltung: Göllner, Michels
eISBN 978-3-518-78570-6
www.suhrkamp.de
»Ich bin glücklich«, sage ich, nachdem ich die Zigarre ein zweites Mal angezündet habe, »daß Sie mir Ihre Freundschaft
schenken. Ich habe hier keine Freunde. Aber wenn es Ihr Ernst ist, daß Sie nicht mein Staatsanwalt sein wollen, und ich glaube es Ihnen von Herzen – Rolf ... aber dann, sehen Sie, darf ich auch von Ihnen erwarten, was man von einem Freund erwarten muß: daß Sie mir glauben, was ich nicht erklären, geschweige denn beweisen kann. Nur darauf kommt es jetzt an. Wenn Sie mein Freund sind, dann müssen Sie auch meinen Engel in Kauf nehmen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie müssen es glauben können, daß ich nicht der Mensch bin, wofür man mich hält und wofür auch Sie als Staatsanwalt mich halten – Ich bin nicht Stiller«, sage ich weiß Gott nicht zum erstenmal, aber zum erstenmal mit der Hoffnung, daß einer es hört, »ich bin es nicht, ganz im Ernst, und ich kann kein Geständnis machen, das mein Engel mir verboten hat.«
Stiller, S. 649
Ein Freund, ein verehrter, schreibt:
»Ich kann nicht verschweigen, daß ich dieses gewaltsame Offenhalten von Wunden, zu dem Du Dich wie so viele andere offenbar verpflichtet fühlst, für ein eigentliches Unglück halte.«
Ich halte für ein eigentliches Unglück: das Verbinden von Wunden, die noch voll Eiter sind – und sie sind voll Eiter – das Vergessen der Dinge, die nicht durchschaut, nicht begriffen, nicht überwunden und daher nicht vergangen sind.
Aber sind auf meiner Seite so viele?
TB1, S. 268
Timon von Athen hat eines Tages, um die Freundschaft seiner Freunde zu prüfen, nur Schüsseln voll Wasser aufgetischt; er erfuhr dabei, was er eigentlich schon wußte, und gab sich bitter vor Enttäuschung über die Menschen, denn siehe, sie kamen immer nur seines Reichtums wegen und waren keine wahren Freunde. Finden Sie seine großen Flüche über die andern berechtigt? Offenbar hatte der reiche Timon von Athen gemeint, Freundschaft kaufen zu können.
TB2, S. 1376
Das war in diesem Herbst.
Wir steigen über Gletscher, drei gleichjunge Leute, und wir sind verbunden in einem Seil. Das Licht ist heiß, das an diesen weißen Hängen verdoppelt wird, und brennt in unsere überfetteten Gesichter. Ich stochere von Spalte zu Spalte, überbrücke Schrund um Schrund, setze Tritt vor Tritt. Langsam und mühsam. Und kaum, daß ich je zurückblicke. Aber ich weiß: Meine beiden Freunde folgen und tuen immer das gleiche, Fußloch um Fußloch. Ich werde nicht müde, und es wird mir nicht langweilig. Denn ich spüre das Seil um die Brust. Ich spüre, wie es die Nachfolgenden straffen. Ich spüre immer meine zwei Freunde.
Dreitausendneunhundert.
Ich kenne diese Gegend von manchen Jahren her. Ich finde sie schön und liebe sie.
Dann Viertausend. Noch eine Stunde bis zum Gipfel, und bis zu jener hohen und weiten Schau. Schon unten in der Stadt habe ich ihnen erzählt von dieser Schönheit. Schon vor zwei Monaten. Und jetzt noch eine Stunde. Und jetzt bilde ich mir augenblicklich vielleicht ein, daß man ein einziges Herzhämmern hört durch das Seil, das unsere drei Brustkörbe umgreift.
Eine eigentümliche Spannung zwischen diesem Wunsch, daß man schon oben stände, und jenem andern Wunsch, daß man diesen letzten Gipfelgrat nie erreichen würde. Daß die Zeit stehen bliebe und wir fortsteigen würden, ohne unser Ziel innerhalb dieser Endlichkeit zu erlangen. Daß man dauernd in einer selben Spur ginge und vor sich immer eine gemeinsame Erwartung hätte. Mir kommt hier nicht vor, als wären wir drei Leute mit drei Köpfen, sondern eine Hoffnung mit sechs Füßen. Hoffnung auf eine starke Schönheit. Und so fange ich jetzt fast an, diesen Gipfelgrat da oben zu fürchten, dessen Eislinie mit jeder Stufe größer wird und schwungvoller. Weil er unsere Sehnsucht stillen wird und weil dann neue Sehnsüchte aufgehen, die jeden wieder anderswohin ziehen. Man möchte diese Hoffnung vielleicht lieber nicht einlösen und die Ruhe und die Gewißheit bewahren dürfen, daß man jetzt nahe unter einem gemeinsam ersehnten Ziel ist.
Und nun stehe ich oben. Und ich ziehe das Seil um meinen Pickel, bis wir alle drei oben stehen. Unser Blick taumelt hinunter ins Nikolaital und tastet sich an jenseitigen Schneewellen und Felsrippen wieder himmelhoch. Meine armen Augen: sie wissen nicht, wo sie anfangen sollen, und sind einmal wirr und einmal starr.
»Hier, das ist der Dom!«
Ich schreie es, denn der Wind fetzt einem die Stimme von den Lippen weg. Und mein Mund weiß auch nicht, wo er anfangen soll, und lacht und sagt: Monte Rosa und Matterhorn und Weißhorn und Gabelhorn und Rothorn ... Der eine blickt immer auf meinen Mund, dessen Lachen hastig ist, als wäre ich ein Kind unter dem Christbaum. Ich spüre es, wie er auf mein Lachen blickt. Ich spüre es, daß er in diesem Augenblick vielleicht etwas anderes denkt als ich. Aber was denn? Was läßt sich hier anderes denken? Und ich zeige weiter und weiter wie dieses Kind, das den Geschwistern seine Christgeschenke auslegt.
Bis mich dieser unterbricht:
»Du. Weißt du, Max: Hier ist dir eine Zahnplombe weg.«
Warum hat euch all das gar keinen Eindruck gemacht? Aber ich wage sie nicht zu fragen. Im Abstieg bin ich nun hinten.
Schweigend. Eigentlich haben wir auch im Aufstieg geschwiegen. Aber anders, scheint mir. All diese Eisstürze und Felstürme kenne ich schon von manchen Jahren her. Ich finde sie schön und liebe sie. Ich habe sie schon früher begangen – –
Hier mag mein Irrtum sein: ich habe hier einmal Schönheiten empfangen, die vorüber sind, und habe hier Leute begleitet, die für mich ebenso vergangen sind; und so sind mir diese toten Schneeströme und diese toten Felssäulen wie Denkmäler geworden, versteinerte Erinnerungen an lebendige Tage und lebendige Menschen. Vielleicht eine Täuschung, wenn ich diese Schneelinien und diese Steinformen liebe. Mag sein: es ist die Schönheit jener Tage und die Liebe zu jenen Leuten, was ich in dieses Bergtal überdichte, das an sich wohl gar nicht schön und gar nicht liebbar ist.
Ist es das?
Die Moräne ist erreicht. Wir stehen. Und dann schnallt man sich die Steigeisen von den Schuhen.
Wortlos.
Jeder sagt: So!Und darauf geht es die Moränenblöcke hinunter. Jeder seinen Weg und jeder wieder eingepanzert in seine Wortlosigkeit.