Am 15. März 1938 verkündete Adolf Hitler unter den Jubelrufen der anwesenden Wiener auf dem Heldenplatz den »Anschluß« Österreichs an Deutschland. 50 Jahre später versammeln sich in einer Wohnung in der Nähe des Heldenplatzes die Familie Schuster und deren engste Freunde. Der Anlaß: das Begräbnis von Professor Josef Schuster. Für diesen philosophischen Kopf, von den Nazis verjagt, in den fünfziger Jahren auf Bitten des Wiener Bürgermeisters aus Oxford auf seinen Lehrstuhl zurückgekehrt, gab es keinen anderen Ausweg als den Selbstmord. Denn die Situation im gegenwärtigen Österreich sei »noch viel schlimmer als vor fünfzig Jahren«.

Das Schicksal Josef Schusters verdeutlicht in Bernhards politischstem Stück die politisch-moralisch-geistigen Verhältnisse in Österreich. Mittels einer poetisch-musikalischen Sprache, durch seine zum Formprinzip gewordene Kunst der präzisen Übertreibung vermag Thomas Bernhard der Gegenwart zu ihrer Kenntlichkeit zu verhelfen – in einer Weise, daß dem Leser und Zuschauer das Lachen ausgetrieben wird.

Heldenplatz entstand im Auftrag von Claus Peymann als Beitrag zum 100. Jahrestag des Wiener Burgtheaters 1988. Das Stück löste noch vor der Uraufführung einen riesigen Skandal in Österreich aus. Ein Sturm der Entrüstung machte ganz Österreich zum Schauplatz für dieses Drama. So sagte zum Beispiel der damalige Bundespräsident Kurt Waldheim: »Ich halte dieses Stück für eine grobe Beleidigung des österreichischen Volkes.« Darauf Bernhard: »Ja, mein Stück ist scheußlich. Aber das Stück, das jetzt drumherum aufgeführt wird, ist genauso scheußlich.«

Thomas Bernhard, geboren 1931 in Heerlen/Niederlande, starb 1989 in Gmunden/Oberösterreich. Seine Werke in 22 Bänden erscheinen im Suhrkamp Verlag.

Thomas Bernhard

Heldenplatz

Suhrkamp

Kann schon sein daß Sie sich ein paarmal im Jahr

in dieser Stadt wohlfühlen

wenn Sie über den Kohlmarkt gehen

oder über den Graben

oder die Singerstraße hinunter in der Frühlingsluft

Personen

ROBERT SCHUSTER, PROFESSOR, Bruder des verstorbenen Professors Josef Schuster,

ANNA und

OLGA, Töchter,

LUKAS, Sohn,

HEDWIG, genannt Frau Professor, die Frau des Verstorbenen,

PROFESSOR LIEBIG, ein Kollege,

FRAU LIEBIG 

HERR LANDAUER, ein Verehrer,

FRAU ZITTEL, die Wirtschafterin des Verstorbenen,

HERTA, sein Hausmädchen

Wien

März 1988

Erste und dritte Szene

Wohnung Professor Schuster, nahe Heldenplatz, dritter Stock

Zweite Szene

Volksgarten

Nach dem Begräbnis

Erste Szene

Großes Garderobenzimmer

Ein hohes Fenster mit Holzjalousien

Zwei hohe Türen links

Eine hohe Tür rechts

Mehrere geschlossene oder geöffnete Kleiderschränke bis zur Decke an allen Wänden

Mehrere geschlossene Kisten und Koffer, nach Oxford adressiert

Früher Vormittag

HERTA steht mit einem Staubtuch am Fenster und schaut auf die Straße hinunter

FRAU ZITTEL kommt mit einem Anzug auf einem Kleiderbügel herein und hängt ihn auf, begutachtet ihn

Der Anzug ist nicht einmal zerrissen

Ein kleines Loch in der Weste

Mein Universitätsanzug hat der Professor immer gesagt

sie riecht am Anzug, hält ihn hoch und gegen das Licht

und hängt ihn wieder auf

Jetzt ist alles noch viel schlimmer

als vor fünfzig Jahren hat er gesagt

Eigentlich hätt’ ich zur Mutter gehn müssen

Mich graust vor dem Altersheim

HERTA fängt an, die auf dem Boden herumliegenden

Schuhe zu putzen

FRAU ZITTEL 

Entweder ich schneide ihr die Nägel

oder ich lese ihr den Tolstoj vor

Nur weil der Professor vor fünfzehn Jahren gesagt hat

lesen Sie Ihrer Mutter doch Tolstoj vor

eine sehr gute therapeutische Maßnahme

lese ich ihr jetzt schon fünfzehn Jahre Tolstoj vor

sie bürstet den Anzug

Wenn ich ihr das Gebiß in den Mund stecken will

stößt sie mich zurück

Um mich hat sie sich nie gekümmert

Ich will ihr das Gebiß in den Mund stecken

und sie schlägt mir ins Gesicht

die alten Leute sind renitent

sie riecht am Anzug

Zwanzig Jahre habe ich es ja ausgehalten

hat er gesagt

Wer weiß ob der Professor in England

wieder Fuß gefaßt hätte

Die Frau Professor hat Wien immer gehaßt

nur das Theater hat sie geliebt

Wien hat sie gehaßt

Wenn sie jetzt nach Neuhaus geht

ist es sicher nur auf kurz

Die Frau Professor ist ein Stadtmensch

Die Wohnung ist verkauft

voreilig verkauft

spätestens am Neunzehnten

das ist ja schon übermorgen

muß sie geräumt sein

HERTA steht schuheputzend am Fenster und schaut auf die Straße hinunter

FRAU ZITTEL 

Der Professor ist tot

auch wenn du noch so lang hinunterschaust

er wird nicht mehr lebendig

Der Selbstmord ist immer eine Kurzschlußhandlung

Das Hemd war zerrissen der Anzug nicht

Ausgerechnet du hast ihn gesehen

wie er hinuntergestürzt ist

Ich hab schon so viel Tote gesehen im Leben

du machst mich noch ganz krank mit deinem Hinunterschauen

Die Frau Professor hört schon wieder das Geschrei

Zu Mittag beim Nachtmahl nicht

Kaum hat sie ein paar Löffel Suppe gegessen

wird sie weiß im Gesicht und ganz steif

Steinhof hat auch nichts genützt

In Neuhaus erholt sie sich auch nicht mehr

Sie werden sehen Frau Zittel in Oxford wird sie

die Anfälle nicht mehr haben

hat der Professor gesagt

in Oxford gibt es keinen Heldenplatz

in Oxford ist Hitler nie gewesen

in Oxford gibt es keine Wiener

in Oxford schreien die Massen nicht

HERTA 

Die Frau Professor nimmt mich nach Neuhaus mit

FRAU ZITTEL 

Sie braucht dich ja

ich hab ihr eingeredet daß sie dich braucht

Zu Weihnachten ist sie die ganze Zeit

im Bett liegen geblieben

über Neujahr auch

In Neuhaus liegt sie auch den ganzen Tag im Bett

oder auf der Terrasse untätig

sie liest auch immer dasselbe

HERTA 

Ich wollte sie ja in Steinhof besuchen

FRAU ZITTEL 

Mich ließ sie auch nicht hinein

und ich hab ihr so gute Mehlspeisen gekauft

Die Frau Professor wünscht keine Besuche

hat es geheißen

sie hat wieder das schöne Balkonzimmer gehabt

Der Pavillon Friedrich ist für die depressiven feinen Leute

die sind nicht eigentlich krank und doch

jedesmal wenn sie in Steinhof war

hat sie sich verkühlt

Der Professor Schober der Primar ist ein Verwandter

vom Professor Kuddlich

den der Herr Professor Schuster in England kennengelernt hat

durch den Professor Wasserbauer

ein Onkel vom Professor Wasserbauer

hat dem Professor Schober das Primariat in Steinhof verschafft

HERTA 

Die Frau Professor hat etwas gegen mich

FRAU ZITTEL 

Kaum hat sie ein paar Löffel Suppe gegessen

wird sie weiß im Gesicht und steif

Die Frau Professor ist ein einsamer Mensch

Der Professor hat sie nie gut behandelt

Das verzeihe ich dir nie

daß deine Mutter Schauspielerin gewesen ist

hat der Professor oft gesagt

auch wenn du nichts dafür kannst

In Neuhaus geht sie oft wochenlang nicht aus dem Haus

Andauernd hat er zu ihr exaltierte Person gesagt

In Linz geboren allein das ist ein fürchterlicher Gedanke

hat er gesagt

HERTA 

Die Frau Professor mag mich nicht

FRAU ZITTEL 

Sie mag dich genauso wenig wie mich

sie mag nicht einmal sich selbst

Meine Frau ist ein verlorenes Geschöpf

ein todunglückliches

sie hätte nie geboren werden dürfen

es gibt so viele die nie geboren werden hätten dürfen

Mit diesen Menschen muß man behutsam umgehen

aber die lassen einen das gar nicht

sagte der Professor immer

diese Menschen machen immer alle und alles kaputt

sie riecht am Anzug

Jedes Jahr ist er nach England

und hat sich einen Anzug gekauft

die englischen Anzüge

sind doch die besten

HERTA 

Der Herr Professor hat zweiundzwanzig Anzüge

FRAU ZITTEL 

Und er hat doch immer denselben getragen

den hätte er noch jahrelang anziehen können

Das ganze Leben hat sich der Professor

die Schuhe selbst geputzt

die Schuhe durfte ihm niemand putzen

Ich hab Einbrennsuppe gemacht

einen Lungenbraten vom Ziegler

das wird schon gut sein

Anstatt nach Oxford

geht jetzt alles nach Neuhaus

Das war voreilig

daß der Professor die Wohnung verkauft hat

Die Küche ist ja auch schon ausgeräumt

schaut um sich

Heuer hätte ja alles ausgemalt werden müssen

Ein Perser Teppichhändler

Der will alles anders

nächste Woche will er mit dem Umbauen anfangen

sie nimmt Schuhe aus einem der Schränke und wirft sie

Herta vor die Füße

Die Schuhe wird der Herr Lukas nehmen

der Herr Lukas hat dieselbe Schuhgröße

ein anständiger Mensch hat Größe fünfundvierzig

hat der Professor immer gesagt

Wenn der Professor in Turin war

hat er sich Schuhe gekauft

aber angezogen hat er nur die englischen

HERTA putzt die ihr von Frau Zittel hingeworfenen Schuhe

FRAU ZITTEL 

Mit dem Professor ist Oxford gestorben

sie öffnet nacheinander alle Kleiderschränke

Die Schuhe kommen in den schwarzen Rupfensack

sie wirft Schmutzwäsche auf einen Haufen

Die Schmutzwäsche kommt in die Wäscherei

Ich weiß nicht ob die Frau Professor die Schmutzwäsche

nach Neuhaus mitnimmt

In Neuhaus ist es im März noch so kalt

wir waren auch nie im Winter in Neuhaus

es bleibt uns aber gar nichts anderes übrig

als nach Neuhaus zu gehn

Die waren keine fünf

wie sie sich in Neuhaus kennengelernt haben

wenn die die sich schon als Kinder kennengelernt haben

später heiraten geht das immer schlecht aus

Aus Baden sind ihnen immer die Honigzuckerln

gebracht worden vom Chauffeur

zu Herta direkt

Du kannst doch nicht den ganzen Vormittag

auf die Straße hinunterschauen

das ändert ja nichts mehr

sie nimmt Herta den Schuh aus der Hand

Das ist ja kein Schuheputzen

sie zeigt Herta, wie der Schuh geputzt gehört

So so

sie gibt Herta den Schuh zurück

In Graz hättest du ja nur seinen Wintermantel

hinter ihm hergetragen du dumme Gans

Wenn ich mit ihm in Graz gewesen bin

hab ich nur seinen Wintermantel hinter ihm hergetragen

der Professor hat Graz gehaßt

HERTA 

Der Herr Professor hat mir versprochen

mich nach Graz mitzunehmen

FRAU ZITTEL 

Da hättest du nur seinen Wintermantel

hinter ihm hergetragen

und du hättest im Erzherzog Johann

in einem finsteren Loch übernachten müssen

mit einem Fenster in den Küchenschacht

da kannte der nichts

da wärst du dann fast erstickt

er selber hat das beste Zimmer im ganzen Haus gehabt

der Professor war ja ein Egoist

durch und durch

HERTA 

Der Kopf ist

FRAU ZITTEL 

Das hast du jetzt schon hundertmal gesagt

daß der Kopf ganz zerquetscht gewesen ist

nimmt den Schmutzwäschehaufen und wirft ihn in eine

andere Ecke

Der Professor war ja nicht krank

der Professor Robert ist krank er war nicht krank

der Professor Robert ist von Kindheit an krank

der Professor Robert ist schwer herzkrank

der bekommt nie Luft

wenn er in die Wohnung herauf geht

bleibt er mindestens fünfzehnmal stehen

der Professor Robert ist ja nicht umsonst in Neuhaus

weil ihm die Stiegen solche Beschwerden machen

kommt er auch so selten

dreißig Jahre soll schon ein Aufzug gebaut werden

wahrscheinlich wird nie einer gebaut

Der Professor Robert bekommt ja sogar im Stehen

keine Luft

aber manchmal hat er überhaupt keine Schwierigkeiten

das soll auch alles psychisch sein

HERTA 

In Neuhaus sind so viel Sonnenblumen

FRAU ZITTEL nimmt ein Bügelbrett, klappt es auf und

fängt an, Hemden zu bügeln

Der Professor Robert

hat ja Herzschwäche

letztes Stadium

jetzt kommt wieder die Zeit

die für ihn die schlimmste ist

das Frühjahr ist immer schlimm

Wenn ich erst den April überstehe Frau Zittel

habe ich schon gewonnen

dann geht es wieder das ganze Jahr sagt er

er liest tagtäglich die Neue Zürcher Zeitung 

In Graz leben nur Alte und Dumme

hat der Professor immer gesagt

in Graz ist nur der Stumpfsinn zuhause

ich verstehe nicht

daß es Leute gibt

die von Graz begeistert sind

Wo hätte ich in Graz hingehen sollen

mir war in Graz immer langweilig

HERTA 

Der Herr Professor hat mir versprochen

mich nach Graz mitzunehmen

FRAU ZITTEL 

In Graz muß niemand gewesen sein

HERTA 

Selbstmörder bekommen kein kirchliches Begräbnis

FRAU ZITTEL 

Der Professor war ja nicht katholisch

Das ist der Anzug des Herrn Professors

hab ich in der Putzerei gesagt

der Professor ist in der vergangenen Nacht gestorben

ich hab nicht gesagt er hat sich aus dem Fenster gestürzt

Wer einen blutigen Anzug

in die Putzerei trägt

muß ja eine Erklärung abgeben

die haben sicher gedacht

er ist überfahren worden

sie nimmt einen Kamm aus ihrer Kleidertasche, tritt hinter Herta und frisiert ihr Haar

Du hast dir im Speiszimmer die Strümpfe gestopft

wenn das der Professor gesehen hätte

wenn der Professor gewußt hätte

wie du wirklich bist

ich hab mich immer für dich eingesetzt

Die Juden lassen sich

in einem einfachen ungehobelten Weichholzsarg eingraben

schaut um sich

Der Professor hat Unordnung gehaßt

dem Professor Robert war immer alles gleich

dem Professor nicht

alles mußte immer auf seinem Platz sein

der Professor war der disziplinierteste Mensch

wehe wenn die Fensterdreher nicht geradeaus waren

Die Frau Professor hat nichts zu lachen gehabt

mit dreiundzwanzig war er Turmsprungeuropameister

der Professor hat eine gute Figur gehabt

Taillierte Hemden hat er gehaßt

In England werde ich Ihre Cremeschnitten vermissen

hat er zum Konditor Handlos gesagt

wissen Sie Herr Handlos ich bin nämlich Jude

meiner Frau zuliebe muß ich nach Oxford zurück

Ihre Cremeschnitten werde ich vermissen Herr Handlos

In Oxford gibt es keine Cremeschnitten von Handlos

HERTA 

Die Leute sagen sie bringen sich um

und bringen sich um

FRAU ZITTEL entdeckt Hertas offene Kragenknöpfe und knöpft sie ihr zu

Die ganze Woche stehst du schon da

und schaust auf die Straße hinunter

Du solltest nurmehr noch in Schwarz gehen

Schwarz steht dir am besten

alle ziehen sich immer so bunt verrückt an

das war dem Professor nicht recht

wenn ich mich bunt angezogen habe

der Professor wollte mich nur in Schwarz sehen

den meisten steht Schwarz am besten

Du solltest dir deine farbigen Kleider

schwarz färben lassen

mir gefällst du ja auch in Schwarz am besten

Beide schauen auf die Straße hinunter

HERTA 

Jetzt wird der Professor Robert

auch nicht mehr lang leben

FRAU ZITTEL 

Der Professor Robert ist ein Lebenskünstler

ein Existenzkünstler wie der Professor immer gesagt hat

Sie treten noch näher ans Fenster und schauen direkt auf die Straße hinunter

FRAU ZITTEL 

Dazu wär ich zu feig

Wahrscheinlich hat er auch dich

in seinem Testament bedacht

sie kämmt Hertas Haar durch

Ich bin kein guter Mensch

hat er immer gesagt

China wird eines Tages die Welt beherrschen Frau Zittel

das asiatische Zeitalter hat schon begonnen

In Oxford bekommen Sie das schönste Zimmer

unter dem Dach

da haben Sie einen weiten Blick ins Land hinaus

Du weißt gar nicht wie schön England ist

steckt ihr die Haare, drückt die Haare an

Für einen Geistesmenschen ist ein Englandaufenthalt entscheidend