Mit behutsamen Schritten bewegt sich die Autorin in diesem zweiten Band vorwärts.
Zumindest seit den Ungeheuerlichkeiten der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts wird es immer schwerer, das rechte Maß zu finden zwischen Empörung, Zorn und Objektivität.
Und bei allem, was die Gründung des Staates Israel und seine Existenz bis auf den heutigen Tag angeht, ist das Eis hauchdünn, auf dem man sich bewegt. Hier wächst Historie in die Gegenwart hinein; alles ist offen, alles interpretierbar.
Es wird andere Ansichten geben.
Ich stehe zu der meinen.
Die rechte Balance zwischen Emotion und Faktendarstellung zu finden, war mir mein Lektor Burkhard Heiland wertvollste Stütze, so wie er denn dem ganzen Buch jenseits von Abschweifungen, Struktur zu verleihen, kräftig Hand anlegte.
Was die Kapitel über Israel angeht, stand mir Schlomo Schafir, Veteran des Jom-Kippur-Krieges, lange in Israel ansässig, mit kritischer Hilfe und kompetentem Rat zur Seite.
Thomas Peter besorgte mir Nathan Hanovers Schrift »Abgrund der Verzweiflung«.
Christel Berger wies mich auf interessante Neuerscheinungen hin.
Wolfgang Herzberg stellte die Rolle der Rückwanderer in die DDR für mich ins Licht.
Zum Schluss: Ich bin Erzählerin, nicht Historikerin. Dass mein Exkurs in die Geschichte des jüdischen Volkes solche Dimensionen annehmen würde, habe ich mir zu Beginn des Unterfangens nicht träumen lassen.
Aber nun ist es einmal geschehen.
Berlin, im März 2013
© Isabelle Grubert
Waldtraut Lewin, geboren 1937, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Berlin und arbeitete als Opernübersetzerin, Dramaturgin und Regisseurin zunächst am Landestheater Halle und dann am Volkstheater Rostock.
Seit 1978 lebt sie als freischaffende Autorin von Romanen, Hörspielen und Drehbüchern, für die sie zahlreiche Auszeichnungen erhielt.
Zu ihrem 75. Geburtstag erschien ihr wohl beeindruckendstes Werk »Der Wind trägt die Worte«, der erste Band einer erzählten Geschichte der Juden.
WIR SIND AM ENDE unserer Wanderung durch die Zeit angekommen. In die Zukunft können wir nicht sehen.
Die Wegstrecke, die wir in diesem zweiten Band unserer Darstellung der jüdischen Historie zurückgelegt haben, liegt im unbestechlichen Licht des geschichtlichen Wissens, träumerische Unklarheiten, wie sie uns in der Frühzeit des jüdischen Volkes begegneten, haben hier keinen Platz mehr.
Mit der mythischen Gestalt des Ewigen Juden ziehen wir zunächst durch das vom Krieg verwüstete Europa – einer Gestalt, die, wie wir gesehen haben, aus der Verunsicherung und Frustration der gepeinigten Überlebenden des Dreißigjährigen Kriegs entstand; ein Zerrbild, geschaffen aus der Furcht vor den »anderen«, den Juden.
Blut und Mord erwartet die Juden des Ostens, in Polen, in Russland, gerade dort, wo sie eine sichere Heimstatt zu finden hofften. Pogrome überall. Elend überall.
Aber gerade deshalb: Stoff, aus dem die Visionen auf eine bessere Welt erwachsen.
Die von mystischen Träumen heimgesuchten Augen eines Sabbatai Zwi sehen uns an auf dem Dunkel dieses Weges – Zwi, der sich für den Messias hält und unzählige Juden verführt mit seinem Rettungswahn. Er wird sein Volk ins Gelobte Land führen, so verspricht er – und endet schmählich als ein Verräter am Glauben, bekehrt sich zum Islam.
Zurück lässt er eine Herde, die verwirrten Schafen gleicht, enttäuscht, seelisch zerschmettert.
Aber es tauchen auch andere auf im Licht der Weisheit vergangener Epochen, Menschen, die einen klaren Kopf behalten, wie die Kauffrau Glückel von Hameln. Unerschrocken und gelassen inmitten von Verirrungen, führt sie ihre Familie durch dick und dünn – nicht im großen Stil einer Dona Gracia, der faszinierenden Handelsherrin im 16. Jahrhundert, aber immerhin. Nüchtern und erfolgreich.
Gegensätze brechen auf im Judentum.
Da sind nun die einen, die sich ins Schtetl zurückziehen in Armut, in spirituelle Versenkung – aber die auch ihren Lebensmut und ihren Humor behalten.
Und dann die Erfolgreichen. Die großen Bankiers, die Hoffaktoren, die Geldgeber fürstlicher Herren.
In seinem leuchtend roten Samtrock, Spitzenwasserfälle an den Ärmelaufschlägen, die schönen hochmütigen Augen voller Spottlust und Überlegenheit, tritt uns der Mann gegenüber, der einen ganzen Landstrich im Namen seines Fürsten durch Klugheit und Geschick beherrscht, in Luxus schwelgt und schließlich doch nur als elender verachteter Jude am Galgen endet – der Mann, den die Nachwelt Jud Süß nannte.
Andere Zeiten brechen an. Aufklärung, Toleranz, Abschütteln alter bornierter Denkmuster sind angesagt. Und trotz mancher Rückschläge sind die Juden in diesen Prozess eingebunden.
Der kleine bucklige Junge, der zunächst um halb Berlin herumwandern muss, bis er durch das richtige Tor, das »Judentor«, hinein in die Stadt darf, steht symbolisch für jüdische Aufklärung und aufrichtige Freundschaft mit den nichtjüdischen Geistesgrößen der Zeit – der große Philosoph und Menschenfreund Moses Mendelssohn.
Dann ein Paukenschlag. Ströme von Licht auf unserem Weg! Die französische Revolution macht Ernst mit den Menschenrechten, und Napoleon, der Kaiser, gibt den Juden die bürgerliche Gleichberechtigung.
Das geplagte Volk atmet auf. Weit reicht der Atem des Neuen, und mit Eifer und Leidenschaft stellen die Juden ihr Können und ihre Talente in den Dienst der Völker, mit denen sie zusammenleben, und eine wahre Explosion bedeutender Persönlichkeiten bereichert das wirtschaftliche, wissenschaftliche und künstlerische Profil der Länder Europas.
Leuchtendes Beispiel ist die Familie Rothschild aus Frankfurt am Main, die Bankiers und großen Global Players ihrer Epoche – weder der Stammvater des Hauses noch seine fünf erfolgreichen Söhne haben jemals einen Dukaten ihrer vielen Millionen für einen Krieg ausgegeben, sondern fördern und unterstützen sowohl die Nationen, in denen sie leben, als auch ihr eigenes Volk.
Doch dann ziehen düstere Wolken auf.
In Frankreich wird ein jüdischer Offizier des Landesverrats beschuldigt und unschuldig verurteilt ... weil er Jude ist. Sein Prozess löst eine schockierende Welle von Antisemitismus aus – und bringt einen österreichischen Journalisten zum Umdenken. Assimilation, Anpassung, ist ein Traum, erkennt Theodor Herzl. Was das jüdische Volk braucht, ist ein Nationalstaat, wie ihn alle anderen Völker haben.
Seine Ideen sind der Anstoß zu einer weltweiten jüdischen Bewegung, dem Zionismus, in dem eine bleibende Heimstatt für Juden gefordert wird.
Chaim Weizmann, Chemiker von hoher Kompetenz und gleichzeitig Politiker, Führer der Zionistenbewegung, erlangt schließlich von der britischen Regierung die Zusage, demnächst im von den Engländern beherrschten Palästina einen Judenstaat zu schaffen – die über alle Zeiten ersehnte Rückkehr nach Erez Israel.
Nach dem Ersten Weltkrieg, bedingt durch politische und wirtschaftliche Frustration, gewinnen im besiegten Deutschland rechtsradikale, judenfeindliche Kräfte immer mehr an Macht.
Da wird der Politiker Walther Rathenau in seinem Wagen erschossen, da gibt es Pogrome und Diskriminierungen aller Art ... aber noch verschließt der Großteil der Juden die Augen vor dem nahenden Unheil, will einfach nicht glauben, was geschieht, denn man fühlt sich seinem Gastgebervolk tief verbunden – bis es für die meisten zu spät ist.
Ab nun, nach der Wannseekonferenz 1942, führt unser Weg durch die Hölle.
Der mit eiskalter Präzision geplante und durchgeführte Massenmord am jüdischen Volk hat in der Geschichte kein Beispiel. Wir müssen keine Einzelheiten dieser grauenvollen Vorgänge wiederholen.
Und dennoch: Auch in diesem Tal der Finsternis gibt es die – raren – Momente der Menschlichkeit. Ein Egon Schindler rettet Tausenden das Leben, indem er sie vor Auschwitz bewahrt, ein Raoul Wallenberg stellt sich schützend vor die Todgeweihten ungarischen, die Budapester Juden.
Angesichts der Aussichtslosigkeit, echten Widerstand zu leisten, haben die Juden schließlich noch die Option, kämpfend zu sterben, wie dies im Warschauer Ghetto geschieht.
Die Lichtgestalt der Njuta Tajtelbojm, der »kleinen Wanda mit den Zöpfen«, steht stellvertretend für die Kämpfer dort, ihren Mut und ihren Untergang. Daneben ein Janusz Korczak, der mit den ihm anvertrauten Waisenkindern in den Tod geht.
Als die Alliierten schließlich Deutschland in die Knie gezwungen haben, müssen sie feststellen, dass die Nazis die Juden schneller umbringen konnten, als ein Sieg möglich war.
Mühsam tauchen wir auf aus den Höllenschlünden, mit uns die Überlebenden – traumatisiert, heimatlos, verwirrt, verstört.
Sich aus dem Chaos zu befreien, gibt es für viele von ihnen nur eine Rettung: Erez Israel. Das Gelobte Land.
Von den dort bereits Ansässigen werden sie nicht immer mit offenen Armen empfangen ...
Und schon drei Jahre nach Kriegsende, als die Vereinten Nationen endlich das Recht Israels auf einen eigenen Staat verkünden, bricht ein neues Unheil über die Juden herein: Der junge Staat kämpft um sein Überleben. Fünf arabische Länder wollen die Juden »ins Meer treiben«. Palästina soll arabisch bleiben.
Aber hier in Nahost liegen die Dinge anders als zuvor in Europa. Man wehrt sich. Der löwenköpfige Ben Gurion und seine Gleichgesinnten formen Staatswesen und Heeresmacht, um zu bestehen – freilich unter ständiger Bedrohung durch die feindlichen Nachbarn und im zwiespältigen Spiegelbild der palästinensischen Flüchtlingslager.
Im Jahr 1960 fangen israelische Agenten einen der schrecklichsten Kriegsverbrecher: Adolf Eichmann.
Sein Prozess offenbart vor den Augen der Welt – und der meisten Israelis! – zum ersten Mal die ganze Monstrosität des Nazisystems und führt zu einem stärkeren Zusammenhalt zwischen Alteingesessenen und Überlebenden in Erez Israel. –
Frieden sollte dringendstes Gebot im Nahen Osten sein. Für eine Annäherung zwischen Arabern und Israelis setzt sich Ministerpräsident Jizchak Rabin ein, versucht, der Vernunft zum Siege zu verhelfen. Aber seine Begegnungen und Abkommen mit Führern der Arabischen Liga tragen ihm den Hass der Radikalen des eigenen Landes ein. Auf einer Friedensdemonstration, die vom Willen der überwältigenden Mehrheit der Israelis getragen ist, wird der charismatische Politiker von einem hasserfüllten jungen Fanatiker erschossen.
Seitdem scheint das Rad der Geschichte stillzustehen. Nichts geht vorwärts zwischen Israel und seinen Nachbarn.
Aufgrund einer unsagbaren Masse von Attentaten, Selbstmordanschlägen und von Raketenangriffen auf das israelische Territorium beginnt das Land im Jahre 2003 mit dem Bau einer Sperranlage zu Palästina. Seitdem können die Bewohner wieder aufatmen ...
Aber Friede und Übereinkunft scheinen in weite Ferne gerückt. Da ist Unkenntnis und da ist Hass ...
Israels Bestand ist jeden Augenblick bedroht.
Und er ist doch von so großer Wichtigkeit für die Mission, die das jüdische Volk in der Welt hat. Seit Mose am Sinai eine Menschheitsverfassung in Gestalt der Zehn Gebote gegeben wurde, seit der Glaube an den Einen Gott vielen Völkern der Erde selbstverständlich ist, haben Juden durch ihre in Jahrhunderten erworbene Weisheit, Erfahrung, durch das Eingebundensein in ethische Verpflichtungen den Völkern zu ihren besten Errungenschaften verholfen – wenn diese sie denn annehmen wollten.
Die Balance zwischen den Juden in der Diaspora, der Zerstreuung über die Welt, und denen in Israel ist lebenswichtig für dieses Volk: das Wissen für die in der Fremde, dass da ein fester Hort ist, auf den man bauen kann.
Im 17. Jahrhundert sagte ein – nichtjüdischer – Historiker, den wir im ersten Band dieser unserer Darstellung zitierten: »Wie die Sonne geht Israel über Europa: wo es hinkommt, sprießt neues Leben empor, von wo es wegzieht, da modert alles, was bisher geblüht hat.«
Heute, nach der Höllenwanderung des jüdischen Volkes, sagt es ein israelischer Schriftsteller, lässig und pointiert zugleich: »Wo immer der Nazi das Licht löscht, kommt der Jude und schaltet es wieder ein.«
1648/49 | Bogdan Chmielnicki und seine Kosaken verwüsten in gigantischen Pogromen die jüdischen Gemeinden Polens |
1654 | Die ersten jüdischen Emigranten erreichen Neu Amsterdam (New York) |
1665 | Erscheinen des »falschen Messias« Sabbatai Zwi |
1729 | Geburt Moses Mendelssohn, wichtigster Vertreter der jüdischen Aufklärung |
1730 | Erneute Ausschreitungen gegen Juden in der Ukraine, Russland und Polen |
1738 | Öffentliche Hinrichtung des »Hofjuden« Joseph Süß Oppenheimer |
1743 | Meyer Amschel Rothschild gründet sein Bankhaus |
1791 | Im Zuge der Französischen Revolution wird allen Juden Freiheit und Gleichberechtigung gewährt |
1827 | 25-Jährige Wehrpflicht für die Juden Russlands |
1848 | Die Verfassungsgebende Versammlung in der Frankfurter Paulskirche verkündet die Emanzipation der Juden |
1850 | Die Ghettomauern in Rom fallen |
1874 | Die Schweiz gewährt als letzter europäischer Staat den Juden gleiche Rechte |
1896 | Theodor Herzl verfasst »Der Judenstaat« |
1897 | Gründungskongress der Zionistischen Weltorganisation |
1917/18 | Balfour-Deklaration spricht Juden das Recht auf eine Heimstatt im britisch besetzten Palästina zu |
1920 | Großbritannien wird Mandatsmacht des Völkerbunds in Palästina |
1933 | Machtergreifung Hitlers |
1935 | »Nürnberger Gesetze« |
1938 | Pogromnacht in Deutschland |
1939 | Beginn des Zweiten Weltkriegs (Überfall auf Polen) Britische Regierung schränkt Einwanderung nach Palästina ein |
1941 | Juden müssen den Gelben Stern tragen |
1942 | »Wannseekonferenz« beschließt die Vernichtung der europäischen Juden |
1943 | Aufstand im Warschauer Ghetto |
1945 | Ende des Zweiten Weltkriegs. Sechs Millionen ermordete Juden |
1947 | Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmt für die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Teil |
1948 | Ausrufung des Staates Israel. Am gleichen Tag Beginn des Unabhängigkeitskriegs |
1961 | Eichmannprozess in Israel |
1964 | Arabische Liga gründet die PLO |
1967 | Sechstagekrieg |
1973 | Jom-Kippur-Krieg |
1978 | Camp-David-Abkommen |
1982 | Rückgabe des Sinai an Ägypten. Beginn der israelischen Friedensbewegung |
1985 | Umsiedlung der äthiopischen Juden nach Israel |
1987 | Beginn der ersten Intifada |
1989 | Masseneinwanderung aus der Sowjetunion |
1992 | Jizchak Rabin wird Ministerpräsident |
1994 | Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien |
1995 | Ermordung Rabins |
1996 | Zunahme von Terroranschlägen gegen Israel |
2000 | Beginn der zweiten Intifada |
2003 | Israel beginnt mit dem Bau von Sperranlagen |
Europäisches Völkerschlachten
Dreißig Jahre lang hat man sich in Mitteleuropa gegenseitig abgeschlachtet.
Grund für dieses unter dem Namen Dreißigjähriger Krieg bekannte Morden sind vordergründig die Religionsstreitigkeiten zwischen Protestanten und Katholiken, hervorgegangen aus der Reformation Martin Luthers, der die Kirche reinigen wollte und sie stattdessen spaltete. Natürlich nutzen die Landesherren die Glaubenskonflikte hemmungslos für ihren Vorteil. Ihr Ziel ist, Macht, Land und Einfluss zu erstreiten, und in diesem Kampf geht die eine Seite genauso brutal und barbarisch vor wie die andere. Alle Widersprüche Europas bündeln und kreuzen sich in diesem Feld und alle seit Langem schwelenden Rivalitäten zwischen den Großen brechen aus.
Leidtragende ist die Bevölkerung der gequälten, gebrandschatzten und ausgeplünderten Landstriche, in die Freund wie Feind gleichermaßen verheerend einfallen.
Marodierende Söldnerbanden, die keinem Heerführer mehr gehorchen und ihren Unterhalt mit Folter und Feuersbrunst erpressen, drangsalieren Bauern und Städter zusätzlich.
Kriegsschauplatz ist überall.
Das verwahrloste und ausgelaugte Territorium wird von Seuchen heimgesucht. Und die seelische Verunsicherung der Menschen, die jeden geistigen und emotionalen Halt verloren haben, äußert sich in grausigen Hexenprozessen, begünstigt durch die Frauenfeindlichkeit der christlichen Religion, weil man an Frauen, als dem schwächsten Glied der Gesellschaft, all seine aufgestauten Ängste und Verzweiflungen ungestraft abreagieren kann. Unzählige landen auf eben dem Holzstoß, auf dem in vergangenen Epochen vor allem Ketzer und Juden ihr Ende fanden.
Als man sich schließlich 1648 auf einen Frieden einigt, dann vor allem deshalb, weil die materiellen Reserven einfach erschöpft sind. Die Länder sind ausgeblutet.
Das Abkommen des Westfälischen Friedens gibt dem Kontinent eine neue Grundlage und den Ländern neue Grenzen. Doch wie auch immer: Die Einzigen, die ihren Schnitt machen, sind die Fürsten Europas. Denn die Übereinkunft »Religionsfrieden« beinhaltet, dass jeder Landesherr für den Glauben seiner Untertanen zuständig ist – was ihn vor allem in den protestantischen Ländern auch zur obersten geistlichen Autorität macht. Das Haus Habsburg, also die zentrale Position des Kaisers, wird zugunsten der Landesherren geschwächt – und natürlich versucht jeder, ein möglichst großes Stück aus dem territorialen Ganzen zu erhalten.
Einer der Gewinner in diesem Ringen ist Schweden, das die absolute Vorherrschaft über den Ostseeraum erringt – zum Nachteil Polens, das, obwohl nicht unmittelbarer Mitstreiter in diesem Krieg, geschwächt aus den Konflikten hervorgeht; das Großreich Polen-Litauen lebt in ständigen Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn Schweden, Russland und der Türkei.
Wir haben es in Band eins dieses Buches dargestellt: Polen war bis dahin ein Eldorado für jüdische Einwanderer.
Bereits im Jahr 1264 hat König Boleslaw der Fromme das »Statut von Kalisz« herausgegeben, das den Juden weit über das sonst in Europa gewohnte Maß hinaus Schutz garantiert. Juden haben die Möglichkeit, als Handwerker zu arbeiten, haben eine Selbstverwaltung und übernehmen zudem wichtige Verwaltungsaufgaben für den polnischen Adel, sowohl im Land selbst als auch in der von Polen eroberten und an das osmanische Reich angrenzenden Ukraine.
Letzteres, ihre dienstwillige Bereitschaft für die oberen Kreise, trägt den Juden allerdings die Missgunst der Landbevölkerung und den Hass der besetzten Ukraine ein.
Die Ukraine ist – noch – eine Kolonie des polnischen Staates. Aber seit dieser Staat mehr und mehr an Kraft verliert, begehrt man auf und wendet sich vor allem gegen die Günstlinge der polnischen Herren, die Juden!
So endet nach rund vierhundert Jahren hier ein bis dahin zumeist friedvolles Miteinander von Juden und Nichtjuden auf die entsetzlichste Weise.
Wie haben in Band eins gesehen, dass sich seit Langem ein Potenzial an Unmut bei der Bevölkerung aufgebaut hatte: Reiche Juden, die mit ihrem Geschäft den nichtjüdischen Geschäften den Rang abliefen, Pächter großer Ländereien, die nicht gerade zimperlich mit »ihren« Bauern umsprangen, die rigorosen Steuereintreiber, die im Auftrag des polnischen Adels der armen ukrainischen Landbevölkerung den letzten Zloty aus der Tasche zogen ...
Soziale Spannungen bringen Hass hervor. Einen Hass, der sich dann gegen das ganze Volk der Juden richtet.
Die Massaker – Hintergrund der Legende vom Ewigen Juden
Man hat ihm in Kiew ein Denkmal gesetzt und im Jahr 1954 sogar eine Stadt nach ihm benannt: Bogdan Chmielnicki, der Befreier der Ukraine.
In keiner der patriotischen Lobeshymnen, die bis zum heutigen Tag auf ihn gesungen werden, erwähnt man, dass er einer der brutalsten Massenmörder war, den die Geschichte hervorgebracht hat.
Chmielnicki ist Hetman, also Anführer, der ukrainischen Kosaken – das ist eine selbstständige Gemeinschaft freier Reiterverbände, die seit dem 15. Jahrhundert in den Gebieten Südrusslands und der Ukraine in stark befestigten Wehrdörfern siedelt und später ihren Platz in der russischen Armee findet.
Im Jahr 1648 entfesselt besagter Chmielnicki einen Aufstand gegen die polnische Fremdherrschaft. Ihm und seinen Reitern schließen sich sehr bald die Bauern an. Das Aufbegehren richtet sich gegen die Polen – aber gegen den gut gerüsteten polnischen Hochadel kann man kaum an. So halten sich die Rebellen an den Sachwaltern der Adligen schadlos – den Juden. Und aus der Befreiungsbewegung wird ein blutiges Schlachtfest.
Die grausamen Massaker wurden unter dem Namen Pogrome bekannt, ein Begriff, der aus dem Russischen stammt und »zerstören, demolieren« bedeutet.
Was sich an Entsetzlichem zunächst in der Ukraine, dann aber auch in Podolien, der südwestlichen Ukraine, und dann nordöstlich Moldawiens, in Weißrussland und später in Litauen abspielt, ist unvorstellbar. Denn die Kosaken sind nicht aufzuhalten. Sie ziehen weiter. Überall, wo sie auftauchen, wird gefoltert und gemordet. In einem Blutrausch ohnegleichen nehmen die unterdrückten Bauern, angeführt von den Reiterscharen, Rache an denen, die sie als Verantwortliche für ihr Elend ansehen.
Die russisch-orthodoxe Kirche, der die Landbevölkerung im Gegensatz zum westeuropäisch ausgerichteten katholischen Adel anhängt, schürt noch das Feuer.
Rabbi Nathan Hanover gehört zu den wenigen Überlebenden, denen es gelingt, vor den Ausschreitungen zu fliehen. In seinem Buch »Abgrund der Verzweiflung« beschreibt er die Gräuel, die er erlebt hat, schreibt sich das Entsetzen von der Seele.
» Einige wurden bei lebendigem Leib gehäutet und ihr Fleisch wurde den Hunden zum Fraß vorgeworfen; anderen wurden Hände und Füße abgehackt und ihr Körper auf die Straße geworfen, damit sie von den Wagen zermalmt, von den Pferden zerstampft werden konnten; wieder andere zwängte man mit dem Kopf nach unten in den Kaminabzug und entzündete dann ein Feuer, sodass sie elend ersticken mussten.
Kinder schlachtete man auf dem Schoße ihrer Mütter, andere zerriss man wie Fische in Stücke. Schwangeren Frauen wurde der Leib aufgeschnitten und die Frucht herausgerissen und man zerschlug sie in ihrer Gegenwart. Einigen ritzte man den Leib auf und nähte ihnen eine lebendige Katze ein und ließ sie so am Leben, indem man sie wieder zunähte, und die Hände schnitt man ihnen ab, damit sie die Katze nicht herausziehen konnten; Frauen und Jungfrauen wurden so lange genotzüchtigt, bis sie elend verbluteten, Ersteren geschah das im Beisein ihrer Männer. Kinder spießte man, briet sie am Feuer und brachte sie den Müttern, die davon essen mussten. Auf diese Weise verfuhren sie an allen Orten, wohin sie kamen.«
Immer an anderen Stätten, aber nie abbrechend, rast der Mord, rast das unvorstellbare Grauen durch die jüdischen Gemeinden der Ukraine, aber auch des polnischen Stammlandes. Fast ein Jahrzehnt dauern die bestialischen Verfolgungen. Die Zahl der Opfer wird auf einhunderttausend geschätzt.
So strömt nun ein Teil der Überlebenden, Enkel und Nachfahren jener, die einst in die polnischen Landstriche gekommen waren, um hier Ruhe und Sicherheit vor den Nachstellungen der Kirche und ihrer inquisitorischen Blutgerichte zu finden, wieder zurück in die Länder des europäischen Westens, aus denen ihre Ahnen einst geflohen waren.
»Der Ewige Jude«, angeblich ruhelos und ständig auf der Wanderschaft - er ist eine nichtjüdische Erfindung. Und diejenigen, die sich mit Scheu oder Verachtung dieses Bilds bedienten, um damit das Nicht-Sesshafte, das Unstete der Israeliten zu kennzeichnen, übersahen dabei, dass sie selbst es waren, die »den Juden« ruhelos machten ...
Armut, Geist – und Lebensfreude
Wer sich nicht aufmacht von den Überlebenden, zurück nach Westeuropa, geht ins dünn besiedelte bäuerliche Umland der Städte.
»Winzige Inseln in einem Ozean von Andersgläubigen« nennt ein Autor die Siedlungen, die nun entstehen und die wir unter dem jiddischen Begriff »Schtetl«, das Städtchen, kennen. Man rückt eng zusammen.
Das, was sich in diesen Zeiten der Not da herausbildet – wenn auch nicht permanent, so doch immer wieder auch hier bedroht von der Außenwelt, immer wieder heimgesucht von jenen, die Juden für Freiwild halten –, wird allen Unbilden zum Trotz eine erstaunliche Lebensdauer entwickeln. (Das Schtetl verschwindet erst dreihundert Jahre später, im Zweiten Weltkrieg, mit der Naziinvasion in Polen ...) Man richtet sich also ein in drangvoller Enge und in Armut. Ein Zustand, der nahezu konstant bleiben wird im Lauf der Zeit.
Im Jahr 1822, also gute 150 Jahre nach den Pogromen, schreibt der Dichter Heinrich Heine, als er Polen bereist:
»Das Äußere des polnischen Juden ist schrecklich, dennoch wurde der Ekel bald verdrängt vom Mitleid, nachdem ich den Zustand dieser Menschen näher betrachtete und die schweinestallartigen Löcher sah, wo sie wohnen, mauscheln, beten – und elend sind.« –
Im Schtetl ist alles jüdisch. Es gibt eine Synagoge, eine Mikwe (das rituelle Tauchbad), einen Friedhof und selbstverständlich Studierstube und Schule. Die Häuser der Gemeinden sind aus Holz, winzig, dicht aneinandergedrückt. Frömmigkeit und Rituale beherrschen den Alltag.
Man kleidet sich nach strengen Regeln – Kaftan, Hut oder Mütze für die Männer und Jungen, darunter das Scheitelkäppchen (Kippa oder Jermulke genannt), Stiefel, wenn man denn das Geld dafür hat.Tallit und Tefillin sind natürlich allgegenwärtig in der »Schul«, der Jeschiwa. (Hierbei handelt es sich um rituelle Kleidungsstücke. Der Tallit ist ein mit vier Quasten versehener Mantel, den ein frommer Jude zum Gebet anlegt. Die Tefillin sind Lederriemen, versehen mit einer Kapsel, in der sich Bibelverse befinden. Der Beter wickelt sich die Riemen um den linken Arm und um den Kopf, »bewaffnet« sich mit den Worten der Tora, des heiligen Buchs der Juden. – (Begriffe wie diese werden auch im Glossar erklärt.)
Die Frauen tragen lange Röcke und hochgeschlossene Kleider. Viele Verheiratete haben sich das Haar geschoren (wie im Islam gilt auch bei strenggläubigen Juden das weibliche Haar als Attribut der Verführung) und benutzen Perücken, wenn sie es sich leisten können, ansonsten Kopftücher.
Das Schtetl wimmelt von Handwerkern. Als Bauer zu leben, ist von der Obrigkeit verboten, man muss also zur eigenen Versorgung Handwerk treiben – und handeln. Eine Vielzahl von Schneidern und Flickschustern bevölkert die engen Gassen; man arbeitet im Wohnraum, oder, falls es das Wetter erlaubt, auch vor der Tür. Ein Schmied, ein Bäcker sind stets vor Ort.
Ein Schächter, also ein Metzger, der befähigt ist, rituell zu schlachten, wird eher über Land ziehen, von Schtetl zu Schtetl, denn wann gibt es unter diesen ärmlichen Bedingungen schon etwas zu schlachten? Auch andere ziehen umher, mit dem Bauchladen, mit dem zweirädrigen Karren, vor dem ein klappriges Pferdchen oder ein Esel eingespannt sind, und bieten den christlichen Bauern der Umgebung die Erzeugnisse des Schtetl feil. Einige Handwerker sind ebenfalls unterwegs und verdingen sich bei den Bauern und dem Adel, wenn es gilt, preiswert ein Pferd zu beschlagen oder ein neues Kleid für die Dame des Hauses anzufertigen.
Der größte Teil der männlichen Bevölkerung allerdings sitzt tagaus, tagein in der Studierstube und beschäftigt sich mit Tora und Talmud. In jeder Familie gibt es mindestens einen »Gelehrten«, denn es ist ehrenvoll, einem Mitglied des Hauses das Studium der heiligen Schriften zu ermöglichen.Auch wenn die Mittel noch so schmal sind – wenigstens ein männliches Familienmitglied besucht die Talmudschule, disputiert mit anderen Frommen scharfsinnig Fragen des Glaubens und der praktischen Anwendung der Gebote.
Man spricht Jiddisch im Alltag und liest Hebräisch in der Synagoge.
In diesem kleinen Kreis ist die Familie das Universum und die Hausfrau dessen Kern.
Nicht nur, dass sie den Haushalt besorgt und streng darauf achtet, dass alle religiösen Vorschriften befolgt werden – sehr häufig ist sie auch noch Krämerin, Hausiererin oder Marktfrau, damit es denn zum Leben reicht.
Denn je mehr Kinder eine Familie hat, desto mehr erscheint sie als vom Herrn gesegnet – und umso größer ist die Armut. Natürlich gehen die Jungen in die Jeschiwa, und auch die Mädchen werden unterrichtet - diese allerdings weniger gründlich; die Mädchen haben der Mutter im Haus zur Hand zu gehen ...
Was Heine über seinen Besuch von 1822 schreibt, klingt furchtbar, zugegeben. Aber natürlich war das Schtetl nicht nur ein Sumpf des Elends. Es war ein Hort der Frömmigkeit, ein »in Lumpen gehülltes Königreich des Geistes«.
Und – kaum glaublich – der Lebensfreude. Wer einmal Klezmermusik gehört hat, wird verstehen, was gemeint ist.
Natürlich hat auch das Schtetl seine soziale Rangordnung und die Musikanten finden hier ihren Platz ganz unten. Sie stehen auf einer Stufe mit Lastenträgern, Totengräbern und Bettlern. Umso höherer Wertschätzung erfreut sich ihre volkstümliche Musik. Sie spielen zu jeder Hochzeit, zu jedem Fest auf.
Laute Instrumente wie Trompete oder Pauke verwenden sie nicht; die Klezmerkapelle setzt auf »zarte« Instrumente. Und die Spieler mussten mobil sein, denn sie gehen vor Hochzeitszügen oder Festumgängen her. Violine und Klarinette waren dafür ideal, aber auch ein Kontrabass war noch zu transportieren, und das Zymbal (Hackbrett) ist ebenfalls tragbar.
Klezmermusik ist weltliche Musik, doch hat sie ihren Ursprung im Liturgischen, also im Gottesdienst. Der Chasan, der Synagogensänger, ist das Vorbild für den besonderen Klang dieser Kapellen. Klezmermusik kann lachen und schluchzen, sie ist immer, auch wenn sie nur instrumental gespielt wird, eine Anlehnung an die menschliche Stimme, ans Gesangliche.
So entstehen Volkslieder, in denen Wehmut und ausgelassene Fröhlichkeit sich die Waage halten. Gesungen wird natürlich in Jiddisch, der »Mammeloschn«, der Muttersprache der Menschen im Schtetl. Das Jiddische ist eine aus mitteldeutschen Dialekten hervorgegangene, mit hebräischen und slawischen Brocken versetzte Sprache, die von den Ostjuden, auch Aschkenasim genannt, gesprochen wird – diese Menschen waren aus Deutschland nach Polen ausgewandert. Geschrieben wird es übrigens mit hebräischen Lettern (siehe auch Glossar).
Als Beispiel sei hier ein bekanntes jiddisches Wiegenlied zitiert – im Original und in der Übersetzung, aus der man leicht erkennen kann, wie nah verwandt diese Sprache bis heute dem Deutschen ist.
Roshinkes mit Mandlen | Rosinen mit Mandeln |
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In dem beis hamikdesch | In dem Bethaus |
in a vinkl kjeyder | in der Zimmerecke |
zitst di almone Bas-Tsion aleyn | sitzt die Witwe Bas-Zion allein, |
ir ben-jokhidi Yidele | ihr einziges Söhnchen Yidele |
vigt si keseyder | wiegt sie sanft |
Un singt im das lidele | und singt ihm ein Liedchen |
tsum shlofn geyn. | zum Schlafengehen. |
UnterYideles vigele | UnterYideles Wiegelein |
Shteyt a klor vays tsigele | Steht ein klar weißes Ziegelein. |
Dos tsigele is geforn handlen | Das Ziegelein ist handeln gefahren, |
Dos vet seyn dayn baruf | das wird auch dein Beruf sein, |
Roshinkes mit mandlen | Rosinen mit Mandeln. |
Shlof zhe,Yidele, shlof. | Schlaf schön, Yidele, schlaf. |
Für uns heute wird die versunkene Welt des Schtetl vor allem lebendig erhalten durch jene Dichter, die im 19. Jahrhundert mit Stolz an ihrer jiddischen Muttersprache festhielten und sie mit hoher Perfektion gebrauchten, wie Leib Perez oder Isaak Singer, die ihre Geschichten zwar in ihrer Gegenwart ansiedeln, aus denen aber der alte Geist weht. Noch bekannter dürfte ScholemAleichem sein, dessen Buch »Tewje, der Milchmann« die Vorlage abgab zu dem Musical »Anatevka«.