Spätestens seit dem Erfolg seiner Hymne der demokratischen Jugend hat sich der ukrainische Autor und Performer Serhij Zhadan hierzulande als originellste Gegenstimme zu dem Spurensucher und poetischen Landvermesser Juri Andruchowytsch etabliert. Big Mac versammelt Geschichten, die in den letzten zehn Jahren in Wien, Berlin und Charkiw entstanden sind. Die Himmelsszenarien und Kältebilder, die Porträts verlorener Freunde und skurriler Bekannter entwickeln sich in einer Sprache, deren beiläufiges, untergründig nervöses Parlando die Herkunft aus der Lyrik nie verbirgt. Auch Zhadans Erzähler flaniert durch die Straßen alter Städte: Orte der Subkultur, Mitteleuropa entmythologisiert. Im »Berlin, das wir verloren haben«, lauern Irrsinn und Einsamkeit hinter jeder Toreinfahrt. In Wien meditiert er über »Zehn Arten, John Lennon umzubringen«. Es zieht ihn nicht nur zu den hedonistischen Außenseitern, die »unter den kalten europäischen Himmeln auf der Suche nach Frieden und Wohlstand« herumwandern, sondern auch in die eigene Vergangenheit: eine Welt des Lachens und Schwebens »durch all die orangegelben Himmel, die sich über unserem Vaterland wölbten«.

Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk geboren, publizierte zehn Lyrikbände und hat soeben seinen neuen Roman Woroschilowgrad abgeschlossen. Er lebt in Charkiw.

Serhij Zhadan

Foto: Isolde Ohlbaum

SERHIJ ZHADAN

BIG MAC

Geschichten

Aus dem Ukrainischen
von Claudia Dathe

Suhrkamp

Die Ausgabe basiert auf dem 2003 bei Krytyka in Kiew erschienenen Band Big Mak und wurde um Texte aus den Jahren 2005 bis 2010 erweitert. Veränderungen gegenüber dem Original sind mit dem Autor abgestimmt.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Serhij Zhadan, 2003, 2011

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-79670-2

www.suhrkamp.de

Dieses Buch entstand dank der realen Existenz von Juri Andruchowytsch, Christian Loidl und Wlad Hetman. Ihnen ist es auch gewidmet.

Inhalt

Das Berlin, das wir verloren haben

Zehn Arten, John Lennon umzubringen

Das Balanescu Quartet

Die Territorialgewässer ihrer Badewanne

Porno

Meine verrückte bisexuelle Freundin

Witold, mein Alptraum

Straßenatlas für die Ukraine

Bahnhöfe

Sie kennt alle Schlager des Jahres

Verluste, die uns glücklich machen

Das Berlin, das wir verloren haben

Wir hatten so viel verschiedene Musik eingepackt, dass keiner mehr was hören wollte. Serbische Volksorchester, alte Soundtracks, dazu Silvi mit ihren Taschen voll abartigem neuen Jazz, den sie jedem empfahl und den außer ihr niemand hörte, weil man diesen neuen Jazz einfach nicht hören kann. Wenn sich jemand lang und breit über etwas auslässt, zeugt das meiner Meinung nach höchstens davon, dass er es gerade selbst erfunden hat, neuen Jazz zum Beispiel; vielleicht hat Silvi die Aufnahmen in irgendeinem Studio bei sich in Prag ausgegraben, die Platten gehörig zerkratzt, und jetzt gibt sie das Ganze als atonale Musik aus. Zwischen den Sitzen unseres Renault, unter Cola-Dosen und Reiseführern mussten irgendwo noch ein paar Alben vom guten alten Lou Reed liegen, aus der Zeit seiner größten Erfolge und Abstürze, das waren übrigens auch tschechische Kassetten, die Plattenfirma Globus war Ende der Achtziger der großen europäischen Transformation auf der Spur und hatte die goldenen Schätze der Popmusik gehoben, auch Lou Reed war Teil der Beute. Aber der wird wohl kaum zum Zuge kommen, so energisch, wie Silvi den Rhythmus auf das Lenkrad klopft – wenn man das überhaupt Rhythmus nennen kann, diesen atonalen Brei, der aus den heiseren Verstärkern quillt wie aus einem Fleischwolf.

»Silvi, das ist einfach das Ende der Zivilisation«, rufe ich vom Rücksitz, »hörst du dir das in deiner Freizeit echt freiwillig an?«

Silvi lacht, aber sie hat meinen Witz offenbar nicht verstanden, war ja auch ein Scheißwitz, ungefähr so witzig wie ihr atonaler Jazz. Gašpar, unser Freund und Autobesitzer, lümmelt auf dem rechten Vordersitz und verfolgt vage den Verlauf der Ereignisse um sich herum. Wir hatten uns gestern Nacht gegen halb drei getrennt, nach viel Alkohol und langen Diskussionen, wann wir am besten losfahren sollten. Das letzte Sixpack Bier hatten wir an der Tankstelle gekippt, Gašpar gönnte sich hin und wieder solche kleinen Freuden – sich volllaufen lassen und durch das schlafende Wien brettern, die Kurven schneiden und einsame Gendarmen anhupen. Mögliche Strafen schreckten ihn nicht, daheim in Ljubljana besorgte er sich einen neuen Führerschein so mühelos wie ein Sixpack Bier an einer nächtlichen Wiener Tankstelle. Wir kappten die Verschlüsse noch mit unseren Feuerzeugen, obwohl man sie einfach abschrauben konnte; im vereinigten Europa wird sogar Bier in Fastfood verwandelt – mit special effects wie Bierflaschen mit Schraubverschluss und grünem Eistee in Dosen wollen die Amis die ganze Welt für dumm verkaufen. Zum Schluss erzählte Gašpar Bosnier-Witze, und dann verabredeten wir uns für morgens um neun mit Sack und Pack an seinem Auto, um aus dem märzkalten Wien in Richtung Berlin aufzubrechen.

Gašpar traute sich noch nicht wieder ans Steuer, er musste erst zu sich kommen, also überließ er Silvi den Fahrersitz, die – wie es sich für eine anständige junge Tschechin gehört – das nächtliche Tankstellenbier ausgelassen hatte und daher keine besonderen Symptome zeigte, sie setzte sich ans Steuer, und wir gurkten durch die morgendliche Stadt auf der Suche nach der Ausfahrt Richtung Berlin, denn natürlich kannte keiner von uns die Strecke, das heißt Gašpar im Prinzip schon, nur nicht in diesem Zustand.

Er war offensichtlich abgeklappt, tief atmete er ein, ebenso tief wieder aus, und an der Frontscheibe bildete sich warmer, dichter Dampf. Silvi schaltete unverdrossen die Scheibenwischer ein, sie verstand nicht, wieso die Scheiben beschlugen.

»Silvi, das sind Luftdruckveränderungen«, sagte ich zu ihr. »Scheibenwischer bringen da nichts. Jazz übrigens auch nicht.«

So muss ich allein trinken. Silvi und Gašpar haben ausgemacht, dass er sie irgendwo hinter der österreichisch-deutschen Grenze am Steuer ablöst, und auf der Autobahn traut er sich dann doch nicht zu trinken, also reiße ich die nächste Dose auf und versuche, das Gespräch in Gang zu halten. Die ersten hundert Kilometer kenne ich im Prinzip, ich bin hier letztes Jahr getrampt, damals hat mich ein durchgeknallter Punk mitgenommen, der die ganze Zeit hektisch seine Sprite trank, wahrscheinlich war er bekifft, aber er raste gen Westen, weil er musste, wohin genau er musste, weiß ich nicht mehr, vielleicht zu seiner Mutter, jedenfalls sah er hundserbärmlich aus. Als ich eine Wasserflasche aus meinem Rucksack holte, fragte er, ob das Wodka sei, bei euch da, in Russland, trinken sie doch alle Wodka, nein, ist es nicht, sagte ich, und er lachte auf, das amüsierte ihn irgendwie. Ein blöder Punk, an den ich da geraten war. Das alles versuche ich Silvi zu erzählen, um ihre Aufmerksamkeit von den atonalen Riffs und Kliffs abzulenken, sie stimmt mir zu, ja, ein blöder Punk, aber echt, das Gespräch versickert, ich mache die nächste Dose auf, im Moment gibt es sowieso nichts zu sehen – leere Weiden, kahle Baumgruppen, ein trauriges Österreich-Ungarn im März, so hat es sich den Infanteristen im Frühjahr 45 eingeprägt, eine ziemlich depressive Landschaft, dort haben sie rechts und links die Elitetruppen der armen Nationalsozialisten zur Schnecke gemacht. Die Kassette ist zu Ende und läuft in Gegenrichtung weiter, der neue Jazz springt einem wieder an die Gurgel, und ich fange an, unter den Sitzen nach dem vergessenen und mit Pistazien übersäten guten alten Lou Reed zu suchen. »Jazz ist was für Dicke«, sage ich zu Silvi und wechsle die Kassette.

Wir sind schon in Deutschland, als wir eine Armeekolonne überholen, die sich gut zwanzig Kilometer auseinanderzieht. Die Sattelzüge und Jeeps rollen gemächlich von Ost nach West, in den geräumigen Fahrerkabinen sitzen kurzgeschorene Militärs, die unwirsch auf die allgemeine Aufmerksamkeit reagieren. Kampfhubschrauber überfliegen die Kolonne und jagen die bayerischen Krähen auseinander, die sich über so viel massierte Kampftechnik wundern. Gašpar, dessen angeborene Dreistigkeit zurückgekehrt war, saß am Steuer und hupte die verschlafenen Feldwebel fröhlich an, die sich jedes Mal aus dem Fenster beugten und, eine billige Gauloise zwischen den Lippen, unseren Kleinwagen musterten. Wohin wird diese massierte Kampftechnik transportiert? Wahrscheinlich wollte die Bundeswehr wegen der agrarpolitischen Scharmützel in der EU ein paar Einheiten der schnellen Eingreiftruppe in die Nähe von Freiburg verlegen, um den vor der Globalisierung eingeknickten Franzosen in gewohnter Weise einen Tritt in ihren fetten Hintern zu geben, ein paar grenznahe Städte zu besetzen, Kommunisten und Araber zu erschießen, sich mit den Zionisten zu verbünden, ein paar Supermärkte abzufackeln und dann einfach abzuhauen und hinter den Rauchschwaden zu verschwinden. Ich teile Gašpar meine Gedanken mit.

»Ach, woher denn«, Gašpar ist noch nicht ganz zu sich gekommen, spricht aber bereits deutlich. »Guck sie dir doch an, die wissen nicht mal, wo Frankreich liegt.«

In dem Sattelzug, den wir gerade überholt haben, sitzt ein dicker Militär, eher kastriert als rasiert, und trinkt aus einer Mineralwasserflasche. Ich wische mit der Hand die angelaufene Scheibe blank und sehe zu ihm hoch. Er merkt es und antwortet mit einem zackigen militärischen Blick. Ich schließe die Augen und versuche, ihn zu vergessen.

Vor München steuert Gašpar eine Tankstelle an, und ich hole neues Bier. Morgens zu fahren ist mühsam, selbst wenn es eine Autobahn ist, keine holprige osteuropäische Schnellstraße, von Schotter übersät, grau und kalt wie am Meer, trotzdem ist es mühsam, vor allem, wenn es nichts zu tun gibt, das Bier alle, sogar der Jazz aus, alles Gute im Leben geht nach drei, vier Stunden Autofahrt zu Ende, bleibt noch, zu verfolgen, wie sich die Aussprache der DJs im Radio ändert, je weiter wir nach Norden kommen, auch die Musik ändert sich, obwohl es ja genau genommen immer derselbe Scheiß ist. Im Tankshop sind ein paar junge Schwule, die sprechen Russisch mit leicht weißrussischem Akzent und probieren Sonnenbrillen auf. In jeder Hand zwei Flaschen, bleibe ich stehen, um zu sehen, ob sie eine nehmen oder nicht. Fünf Grad und dichte Wolken bis Berlin, da ist es doch immerhin interessant, zu sehen, was sie mit den Dingern vorhaben. Einer dreht sich plötzlich um und führt mir eine Sonnenbrille in dämlichem Rosa vor, fragt mich, wie ich sie finde, ob sie ihm steht, passt, sage ich, genau zur Farbe deiner Augen. Beleidigt legt er die Brille zurück. Ich gehe zum Auto und öffne die erste Flasche.

Wir fahren noch drei Stunden auf einer guten Straße, die an verschiedenen Stellen weiter ausgebaut wird, Dojczland wächst und erstarkt, ein gutes Land, da gibt es nichts, ein paar Japaner weniger mit ihren Kodaks, und es wäre überhaupt super, noch nicht einmal ein halber Tag ist vergangen, und schon fahren wir durch die Außenbezirke, Gašpar behauptet, er kenne hier ein paar gute, billige Hotels, so was gibt es nicht, antworten wir ihm, entweder gut oder billig, kombiniert kannst du das vergessen.

Dann haben wir uns verfahren. Gašpar brettert durch die Straßen, jedes Mal weiß er angeblich wieder, wo wir sind, seine guten und sogar billigen Hotels liegen gleich um die Ecke, es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis wir einchecken, doch allmählich wurde er nervös, trat an jeder Ampel scharf auf die Bremse und fragte jeden Fußgänger, der uns an diesem dunklen, regnerischen Abend auf dem Bürgersteig entgegenkam, nach dem Weg, ein paar Mal hielt er sogar neben den Nutten an, die in weißen Strümpfen, Ledermontur und hohen Grenadierstiefeln an jeder Kreuzung standen und riesige Regenschirme in der Hand hielten. Die Nutten verstanden Gašpars Frage nach dem Hotel zuerst als Anspielung, aber wenn sie Silvi bemerkten, die ihnen aus dem Inneren des Autos schüchtern zulächelte, keiften sie los, in gewähltem Deutsch mit unüberhörbarer slawischer Intonation. Nach dem x-ten Versuch, bereits am späteren Abend, war es endlich so weit: Wir hielten vor einem ominösen, grauen Gebäude mit der Aufschrift »Pension« und stiegen aus.

An der Rezeption sitzt ein Typ mit Ringen in beiden Ohren und schaut Fußball, er spricht Serbisch. Als Landsmann wird Gašpar schnell einig mit ihm, das Hotel ist wirklich billig, wir blättern die Kohle hin, aber er will uns nicht gehen lassen, offenbar langweilt er sich, und wir sind für ihn immerhin slawische Brüder, obwohl, in dieser Stadt könnte er einige hunderttausend solcher Verwandter finden, angefangen bei den Straßennutten, aber für die reicht vielleicht sein Geld nicht, das Hotel ist nämlich wirklich billig, viel kann da für ihn nicht rausspringen. Wir setzen uns auf unsere Taschen und schauen Fußball, München gegen Manchester, »für wen bist du?«, frage ich ihn, »mir scheißegal«, sagt der Rezeptionist, »ich mag einfach Sport«, und auf einmal holt er unter einer Kiste einen großen, fest gedrehten Joint hervor und reicht ihn uns, da sagen wir natürlich nicht nein. Die erste Halbzeit geht zu Ende.

… Ich beuge mich über das Waschbecken und halte den Kopf unter den kalten Wasserstrahl. Für einen Moment geht es mir besser, dann fängt das Zittern wieder an, zuerst zieht der Kopfschmerz von links nach rechts, dann umgekehrt, und das pausenlos. Im Fernseher ist MTV eingestellt, einen Pornokanal gibt es natürlich nicht, was kann es hier schon für Pornokanäle geben, bei solchen Korridoren, im Zimmer zwei Betten, darauf zwei Pakete Bettwäsche, auf jedem der beiden Nachttischchen ein Neues Testament mit Ledereinband, diese durchschlagende Proportionalität verstärkt meine Übelkeitsanfälle, obwohl ich auch das Bier im Verdacht habe. Oder MTV.

Mir gefallen Städte in den ersten paar Stunden meines Aufenthalts. Sie halten noch eine Unzahl von Überraschungen bereit, die Vorstellung von ihnen ist rein wie Hotelbettwäsche oder Kopierpapier – hinter jeder Ecke kann wer weiß was anfangen, und dieses Wer-weiß-was ist viel bedeutsamer und attraktiver als alle deine topografischen Kenntnisse. Auch Berlin ist eine Stadt, der du auf den ersten Blick verfällst, so könnte Babylon ausgesehen haben, bevor dort allerlei zweifelhafte Türme errichtet wurden. Ich habe schon die Nutten gesehen, den bekifften Rezeptionisten, ich habe es sogar geschafft, ein paar türkische Zimmernachbarn zu begrüßen, die sich offenbar mit irgendwas zugeknallt hatten, vielleicht ist das aber auch mental. Insgesamt machte Berlin keinen üblen Eindruck. Ob es hier wohl auch Deutsche gab?

Silvi, als die Geistesgegenwärtigste von uns dreien, hatte an der Rezeption ein Programm für ein Festival neuer Musik abgegriffen, das gerade zu Ende ging, und verkündete, wir müssten sofort los, dann würden wir es noch zum Abschlusskonzert schaffen, ein französisches Ensemble, eines der besten in seiner Sparte, ihren Worten war zu entnehmen, dass es sich – wollte man die atonale Musik in besser und schlechter einteilen – um ein Ensemble der Spitzenklasse handelte, wir hatten also keine Wahl, wir mussten los. Gašpar zog sich schnell noch ein frisches Hemd an, ich zappte schnell noch durch die Programme – kein Porno –, und schon saßen wir wieder im Auto. In den Kurven rollten die leeren Bierdosen über den Boden und prallten gegen die Reiseführer. Offenbar kann man tagelang durch Berlin fahren, und es sieht trotzdem alles unbekannt aus. Die Stadt ist mit Baugerüsten so reich bestückt, dass man sich gut vorstellen kann, wie die Bevölkerung allmorgendlich aus ihren Häusern tritt und erstaunt in einer Umgebung steht, die sich buchstäblich über Nacht in eine fremde verwandelt hat. Berlin ähnelt einem jungen Menschen männlichen Geschlechts, einem Berufsschüler oder Ähnlichem, der erst seit kurzem raucht und masturbiert, wodurch seine Stimme tagtäglich Transformationen erfährt (vom Rauchen, versteht sich), und überhaupt streckt er sich Millimeter um Millimeter und wächst aus seiner abgewetzten Schuluniform heraus. Ich mag Städte, in denen viel gebaut wird. Dort gibt es für alle Arbeit. Sogar für Türken.

Im Bistro der Philharmonie ist der Alkohol spürbar teurer, außerdem stehen sie dort Schlange, Musikfreaks wahrscheinlich. Aber wir schaffen es, jeder noch ein Bier wegzuhauen, und von Silvis energischen Rufen angetrieben, machen wir uns auf die Suche nach unseren Plätzen. Das Publikum verheißt nichts Gutes. Die Bühne befindet sich unten, mitten im Saal, von der Decke hängen Dutzende Mikrofone herab wie Duschköpfe im Gemeinschaftsbad, Silvi sagt, hier gäbe es eine sehr gute Akustik, das sei einer der besten Konzertsäle in Europa, genau der richtige Ort für atonale Musik. Und neuen Jazz, ergänze ich, und Silvi stimmt zu.

Nach und nach kamen die Musiker herein. Einige in Jeans, andere in T-Shirts, einen Trainingsanzug trug niemand, das war schon mal was. Zum Schluss erschien die Dirigentin. Eine Frau. Das war ein gutes Zeichen. Auch eine Pause war vorgesehen, zuerst aber wollten vierzig geschlagene Minuten atonaler Sound gehört werden, Silvi war eine echte Kennerin, sie straffte sich und spielte mit den Fingern auf einer unsichtbaren Tastatur mit. Für sie war es einfacher, sie ist Pianistin. Aber die meisten Leute schalteten ab, der Mann rechts von mir war eingeschlafen, im Ernst, und während der atonalen Pausen trat sein Schnarchen reliefartig aus der allgemeinen Stille hervor. Die Akustik immerhin stimmte.

Nachts standen wir wieder auf der regennassen Straße. Nach dem Konzert hatte uns eine Musikfreundin erzählt, das Festival sei in Wirklichkeit noch gar nicht zu Ende, die letzte Aktion (sie nannte es wirklich »Aktion«) habe gerade in den Wartehallen des früheren Hamburger Bahnhofs begonnen, der zu einem großen Kulturzentrum umgewandelt worden war, einen Haufen Kohle hatten sie da reingepumpt, jetzt amüsierte man sich dort nach Lust und Laune, wenn wir also echte Musikfreaks seien, müssten wir da einfach hin, wieder haben wir keine Wahl, sie selbst könne leider nicht mit, sie habe Schlafprobleme und müsse um diese Zeit ihre Tabletten nehmen, erzählte sie uns aus irgendeinem Grund, sie sah so aus, als hätte sie die Schlaftabletten schon genommen und es nicht dabei belassen. Der Bahnhof ist da – sie zeigte irgendwohin in den Regen und winkte uns mit derselben Hand zum Abschied zu. Vielleicht sah sie uns schon als Traumbild.

Gašpar setzte sich wieder ans Steuer und machte sich entschlossen auf die Suche nach dem Hamburger Bahnhof. In der Nähe des Brandenburger Tors, direkt vor einem schlammfarbenen russischen T-34, stand ein Typ mit Diplomatenköfferchen. Gašpar bremste neben ihm und beugte sich aus dem Fenster. »Mister«, fragt er, »kannst du uns sagen, wo hier der Hamburger Bahnhof ist?« Der Typ wird munter. »Ihr müsst vor dem Reichstag links abbiegen«, antwortet er, »am Tiergarten entlang, dann über die Brücke und nach rechts, nach der zweiten Bushaltestelle in die Gegenrichtung, also nach links, aber dann wird’s schwierig, weiter kann ich es euch nicht erklären.« »Los, fahr mit«, schlägt Gašpar vor, »du zeigst uns, wo’s langgeht, und wir bringen dich wieder zurück.« »Nein, das geht nicht.« Der Typ drückt sein Köfferchen fest an die Brust. »Ich warte auf einen Freund.« »Doch nicht etwa den Panzerfahrer?«, fragt Gašpar, um das Gespräch in Gang zu halten. Der Typ dreht sich zu dem nassen teuflischen Panzerwagen um und lächelt selig. »Nein, er ist Ingenieur.« »Super!«, ruft Gašpar und lässt den Typen mit dem T-34 allein. Komische Typen, diese Berliner Ingenieure, denke ich und schlafe auf der Rückbank ein.

»Serzh, steh auf«, sagt Silvi zu mir.

»Wo sind wir?«

»Auf dem Bahnhof.«

»Welchem Bahnhof?«, frage ich erschrocken.

»Dem Hamburger.«

»Wie spät ist es denn?«

»Ein Uhr. Los, komm.«

Ich klettere aus dem Auto und folge brav meinen Freunden. Ihnen kann ich vertrauen, sie treiben sich nicht um Mitternacht an sowjetischen Panzern herum oder pfeifen Schlaftabletten ein, bevor sie in ein Konzert für atonale Musik gehen. Die Bahnsteige und Hallen des früheren Bahnhofs sind tatsächlich zu einer Art großem Museum umgestaltet worden, wir gehen die langen, leeren Gänge entlang, die eher wie Schiffsdocks aussehen, am einen Ende steht der Wachdienst, wo wollt ihr hin, fragen sie, wir, sagen wir, wollen zum Konzert, wir sind Musikfreaks, aha, na dann, die Wachleute zucken gleichgültig die Achseln und demonstrieren ihre Ignoranz, sind offenbar schon auf dem Sprung, die Typen, denke ich, vielleicht waren sie in ihrem früheren Leben auch Wachleute − auf demselben Bahnhof.

Es war schon nach eins, und von den Ausstellungsräumen hatten nur noch das Klo, die Bar und ein anderer – ziemlich geräumiger – Saal geöffnet, in dem die Aktion stattfand. Gašpar versuchte erst noch, um die Eintrittskarten zu feilschen, gab aber bald auf, wir bezahlten, was sie verlangten, und betraten unter Umgehung der Bar den Saal, in dem sich die Musikfreaks drängten. Rechts an der Wand stand eine Frau mit einem Mikro und sang. An der Wand neben ihr lief ein Trickfilm, den sie produziert hatte. Musik und Text waren, soweit ich verstand, auch von ihr. Beim Umbau des Bahnhofs und beim Fall der Berliner Mauer hatte sie wahrscheinlich auch mit Hand angelegt. Die Frau sang zur Playbackmusik, während irgendwelche Tiere über die weiße Kinoleinwand krochen, eine hässliche Papierprinzessin tauchte auf, dazu der passende Prinz, zwischen ihnen war irgendwas, die Frau sang lange und hingebungsvoll, irgendwann hielten wir es nicht mehr aus und gingen in die Bar. Gašpar regte sich auf und wollte sein Geld zurück. Aber die beiden Einlasser, die uns kurz zuvor die Karten angedreht hatten, waren in weiser Voraussicht bereits am Zusammenpacken und kurz darauf in den Gängen des Hamburger Bahnhofs verschwunden. Es blieb uns nichts weiter übrig, als in die Bar zurückzukehren, wo schon zwei Dutzend Abtrünnige saßen und traurig becherten.

»Wenigstens tanzt sie nicht«, regte sich Gašpar weiter auf. »Und was sind das alles für Ärsche, die ihr da zuhören?«

Lacher am Nachbartisch. Wir drehen uns um und sehen eine grauhaarige Frau, die ein Glas Wein in der Hand hält und offenbar ganz unserer Meinung ist. Vor ihr auf dem Tisch zwei leere Gläser.

»Kollektive Selbstbefriedigung«, sagt Gašpar zu ihr, als wollte er sie begrüßen, »oder etwa nicht?«

»Doch«, sagt die Frau, sie steht auf und kommt schwankend an unseren Tisch.

Sie heiße Nina und sei zufällig hierhergeraten, sagt sie und setzt sich zu uns, eigentlich hätte sie den Trickfilm gern bis zu Ende gesehen, aber es ging nicht. Sie fände uns nett, sagt sie. Besonders nett findet sie Silvi. Nina macht sie offen an und hält gleichzeitig das Gespräch mit Gašpar in Gang, der nicht zu bremsen ist bei seinem stürmischen Vortrag zu allen möglichen abseitigen Themen, Labern, da ist Gašpar in seinem Element, statt Künstler hätte er besser Dozent werden sollen, da könnte er jetzt seinen Studenten in Ljubljana Vorlesungen halten, über atonale Musik zum Beispiel.

»Und das ist Sarah«, sagt Nina, »wir sind befreundet.«

Sarah kommt von der Theke, ein Glas Wein in jeder Hand. Sie ist höchstens halb so alt wie Nina und erinnert mich an eine Lemberger Bekannte, ein von Schlaflosigkeit und Alkohol leicht aufgedunsenes Gesicht, grüne Augen und langes, blondes Haar. Nina erklärt ihr, diese jungen Vertreter der slawischen Kultur hier, die Musikfreaks sozusagen, hätten auch keinen Bock mehr, sie hätten diesen blöden Trickfilm auch nicht bis zu Ende sehen können, genau wie wir zwei, Süße, aber die sind klasse, sagt sie und zeigt auf Silvi. Gašpar labert weiter, und irgendwann verliert Sarah den Faden, dreht sich um und erklärt mir, sie sei sehr erschöpft, denn die letzten zwei Tage habe sie etwas Wichtiges fertig machen müssen und daher kaum geschlafen. »Ich mache auch Kunst«, sagt sie. »Wirklich?«, frage ich. »Und was genau?« »Also, ich mach da so Projekte«, sagt sie unsicher. »Und wie heißt du?« »Serzh. Also Serhij.« »Ach, der Name ist bei euch echt populär.« »Ja«, sage ich, »bei uns heißt jeder zweite Serzh.« »Wir müssen uns wiedersehen, in Wien zum Beispiel.« »Gib mir deine Adresse«, sage ich, »ich schreibe dir.« Sarah kramt lange in den Taschen ihrer Jeansjacke, bis sie ein Stück Papier findet, eine Werbung für Katechismus-Kurse, und auf die Rückseite schreibt sie ihre Adresse. »Perfekt«, sagt Nina, »ich gebe dir meine.« Und gibt mir eine Visitenkarte. Ich lese die Adresse auf der Karte und die auf dem Zettel, es sind dieselben, nur mit verschiedenen Nachnamen. »Okay«, sage ich, »ich schreibe euch zwei Briefe.«

Unterdessen öffnet sich eine Tür, und die Sängerin kommt heraus, gefolgt von einem Schwanz Zuschauer, die wie Ratten aus ihren Löchern kriechen. Vor der Tür, die sie von der Bar trennt, in der wir alle sitzen, steht ein Wandschirm. Die Sängerin tritt hinter den Wandschirm und setzt sich, die Zuschauer bleiben auf der anderen Seite und können sie, anders als wir, nicht sehen, sie sehen nur den Schirm. Die Sängerin hockt sich hin und singt weitere zehn Minuten in ihr Mikrofon. Zwanzig betrunkene Augenpaare sehen sie missbilligend an. Das Publikum auf der anderen Seite wartet geduldig. Schließlich macht sie Schluss, und die Huldigungen beginnen. Irgendwer küsst sie sogar, obwohl sie von dem Dauergesang bestimmt stark ins Schwitzen gekommen ist, sie zu küssen muss etwa so angenehm sein, wie ihr zuzuhören.

Es war kurz vor drei, als Nina vorschlug, noch irgendwo was essen zu gehen, alle willigten träge ein und ließen die Musikfreaks mit ihrer Sängerin auf den leeren Bahnsteigen des früheren Hamburger Bahnhofs allein.

Im nächtlichen Berlin sind unzählige Leute unterwegs, Touristen, Japaner, Skinheads, Studenten. Vor dem Hilton ein endloser Stau: Bullen auf Motorrädern haben alle Zufahrten abgeriegelt, vor dem Haupteingang kommen Mercedeslimousinen zum Halten, und superoffizielle Personen steigen aus. »Hast du gesehen, Alter«, sagt Gašpar, »das war Joschka Fischer.« Wir versuchen, Ninas Auto nicht aus dem Blick zu verlieren, das vor uns durch die Straßen rast. Nina war schon ziemlich alle, als sie sich ans Steuer setzte, schon zweimal blinkte es rot aus dem Dunkel, die Bullen in ihren Tarnwagen verfolgen und fotografieren jeden, der mit überhöhter Geschwindigkeit fährt. Während es Gašpar egal sein konnte, da er in ein paar Tagen sowieso über alle Berge wäre, musste Nina mit Unannehmlichkeiten rechnen. Nach etwa zwanzig Minuten hatten wir ein kleines italienisches Restaurant gefunden, das Viertel war total zugeparkt, die Nacht ging zu Ende, als wir endlich am Tisch saßen, und dann kamen noch die Stammgäste, keine Ahnung, wer sie waren, aber jeder grüßte sie. Auch sie grüßten jeden, sogar uns, sie kamen uns vor wie Arbeiter aus der Nachtschicht, aber italienische Arbeiter würden wohl kaum um vier Uhr nachts durch die Restaurants ziehen, zu großkotzig, vermutlich auch irgendwelche Musikfreaks. Oder Zuhälter. Die nächste Stunde ging mit Gašpars Erzählungen hin, Nina nickte traurig zu allem, ich döste langsam ein, und Sarah baggerte unsere tschechische Freundin an. »Treffen sich zwei Bosnier«, sagt Gašpar, und ich wache auf, es geht in die Schlussrunde, Zeit, nach Hause zu fahren, auch Sarah sammelt ihre sämtlichen Brillen ein, das unbezahlte Handy, ein Arabertuch, ihr Telefonbüchlein, mit Lippenstift verschmiert, sie stopft alles in ihre Tasche und will nach Hause. Ihre Nachbarin reagiert nicht. »Soll ich dir ein Taxi rufen?«, frage ich und gehe zum Kellner. Der Kellner, ein junger Italiener, zwinkert mir mit beiden Augen zu, ruft ein Taxi und schiebt mir grinsend ein Präservativ rüber.

»Danke«, sage ich, »brauch ich nicht.«

»Nimm es ruhig, ist gratis, also kostenlos.«

Nun krame ich in meinen Taschen, finde eine Schachtel Streichhölzer vom Wiener Radio Orange, ein guter Sender, sie spielen immer Hip-Hop, und schiebe sie ihm rüber. »Hier, aus Wien.« Der Typ drückt mir die Hand und rennt los, um neue Gäste zu begrüßen. »Und warum hast du das Loch gegraben, wird der Bosnier gefragt.« Gašpar ist in Hochform. »Sarah«, sage ich, »dein Taxi ist gleich da.« Sarah verabschiedet sich allerseits und tritt in die Morgendämmerung hinaus. Etwas später gehen wir auch, jetzt müssen wir nur noch diese Scheißautos finden – und dann ab nach Hause, ins Hotel, zu Dusche, MTV und Neuem Testament, sogar zwei Neuen Testamenten, man kann unter Umständen sogar im Chor lesen. Nina versucht auszuparken, touchiert dabei den Vorderwagen, setzt zurück und touchiert den Hinterwagen, stößt sie auseinander wie Billardkugeln, kommt endlich doch noch raus, tritt aufs Gaspedal und verschwindet um die Ecke. Silvi winkt ihr nach, aber eher zögerlich, dass sie bloß nicht wieder umkehrt.

Vor dem Fenster hängt Nebel, trübes Morgenlicht sickert herein, große, nasse Schneeflocken bleiben an den Scheiben kleben und tauen sofort. Mit dem Hotelhandtuch und meinem Head&Shoulders irre ich durch die Gänge auf der Suche nach einer Dusche. Am Ende des Flurs hallt lautes Stimmengewirr. Ich öffne die Tür, Dampf schlägt mir entgegen, warmer Nebel quillt in den Flur, ich mache einen Schritt und versuche zu erkennen, was da ist, im Nebel, und da stehen ein paar nackte Jungs, auf dem Fußboden liegen ihre T-Shirts, vielleicht eine Fußballmannschaft, denke ich, wer weiß, wer hier alles absteigt, aber unter dem Wasserstrahl treten noch zwei nackte Mädchen hervor, obwohl das hier eigentlich eine Männerdusche ist. Als sie mich sehen, sammeln die Teenies ihre Sachen ein, ich gebe ihnen ein Zeichen, dass sie duschen sollen, duscht euch, duscht euch doch, ich komme später wieder, aber sie lachen und sagen, schon gut, Alter, wir sind fertig. Wir auch, sagen die Mädchen. »Habt ihr hier übernachtet, oder was?«, frage ich, um etwas zu sagen. Die Teenies lachen weiter, nein, sagen sie, aber man ist besser früh hier, bevor die Türken kommen. »Stimmt«, sage ich, »ist überhaupt besser, nachts zu duschen, dann hat man es morgens schon hinter sich.« Die Jungs lachen – es sind wirklich Fußballer, und als sie ihre Dresse, ihre Handtücher und ihre nackten Girlies geschnappt haben, ziehen sie ab ins Ungewisse, vielleicht ins Trainingslager.

Ich drehe das heiße Wasser auf und trete ans Fenster. Draußen hängt der triefende Berliner Himmel, auf dem Fensterbrett liegen ein paar dicke Schneeflocken, ich öffne das Fenster, und der Nebel kriecht nach draußen. Hinter mir geht die Tür auf, in den Nachbarraum mit den Toiletten tritt ein alter, vom Leben und von der Emigration gebeutelter Türke. »Hallo«, sage ich, »schöner Tag heute.« »Geht so«, sagt er durch seinen Schnurrbart hindurch, geht in die hinterste Kabine und fängt laut an zu reihern. Ich drehe den Hahn zu und gehe zurück auf mein Zimmer.

Am Nachmittag packt Gašpar ein paar Kataloge mit seinen Arbeiten zusammen, er will zu einer bekannten Galeristin. Als echte Freunde begleiten wir ihn gern, außerdem kann man in dem Hotel nicht viel anfangen – das Neue Testament haben wir durch, MTV kennen wir jetzt, Silvi hat den Türken sogar Analgin gegeben, wofür die allerdings Analgin brauchen, weiß der Geier. Gašpar telefoniert der Galeristin ewig hinterher, schließlich sagt sie, okay, kommt vorbei, und wir fahren los. Auf der Straße riecht es nach vorjährigem Gras und chinesischem Fastfood. Die Galerie samt Galeristin finden wir im vierten Stock eines Gebäudes in Mitte, Schilder gibt es keine, die Galerie ist Kult und nicht kommerziell, wovon sie leben, ist unklar, die Galeristin öffnet uns, und wir stehen in einer großen Wohnung, deren Wände mit abstrakten Gemälden vollgehängt sind. Unter jedem Bild ist ein Preisschild, die Preise sind völlig irreal, genau wie die Galerie. In bester nationalsozialistischer Tradition lässt uns die Galeristin an die dreißig Minuten warten, während sie mit einem Mann spricht, wohl ebenfalls Künstler, Fremde kommen nicht hierher, in einer Ecke stoßen wir auf ein großes Terrarium, in dem zwei Schildkröten liegen, die gar nicht daran denken, sich zu rühren, die ganze Zeit über, während die Galeristin sich lang und breit auslässt, liegen sie auf ihren einmontierten Glasterrassen und strecken uns ihre vorsintflutlichen Beinchen entgegen, sie wecken einen unüberwindlichen Ekel, zumindest bei mir. Mit demselben Erfolg könnte sich die Galeristin konservierte Schildkröten halten, die müsste sie wenigstens nicht füttern. Und sie riechen auch besser.

Gašpar drückt der Galeristin dann doch noch seine Kataloge in die Hand, und wir gehen ein Bier trinken. Silvi will uns zu einem befreundeten Künstler schleppen, einem alten tschechischen Dissidenten, aber für Besuche ist es noch zu früh, und wir steuern das Kulturzentrum schräg gegenüber an. Von außen ist es ein altes, halb zerfallenes Haus, ringsum Baustellen, aber drinnen gleicht es einer Festung anarchistischer Organisationen, linker Kunst und Alkoholiker weltweit. Wir entdecken ein Café im ersten Stock, an der Tür hängt ein kopierter Ausdruck mit der Aufschrift »Eingang«, hinter der Tür tut sich ein Hangar auf, eingerichtet mit Metalldekorationen und schweren Holzmöbeln, auch hier abstrakte Gemälde. An der Decke brechen hier und da Feuerzungen hervor – die Leute entspannen sich auf seriöse Art und sind scheinbar seit dem frühen Morgen am Saufen. Die Luft riecht anheimelnd nach Tequila und Kotze. An der Seite, auf der Bühne sitzt ein altes Hippiepärchen in zerrissenen Jeans: ein Junkie mit zwei Paar Kopfhörern um den Hals, neben ihm auf dem Fußboden ein Plattenspieler und ein großer Koffer, mit der einen Hand legt er eine neue 45er-Vinyl auf, die andere ruht auf der Schulter seiner treuen Squaw. Sie lassen Platten aus den Sechzigern laufen und stören eigentlich niemanden.