Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
In Lems erstem Roman, geschrieben Ende des Krieges, werden Gedankengänge deutlich, die in seinem späteren Werk hervorragend in Erscheinung treten: Eine außerirdische Zivilisation wird ganz anders beschaffen sein als die unseres Planeten; eine Verständigung wird vielleicht unmöglich sein; erkennbar ist auch die Idee einer Evolution der Mechanismen.
Der Mensch vom Mars landet mit seinem Raumschiff in einem Berg; er wird ausgegraben und von einer privaten Gruppe von Wissenschaftlern, einem selbsternannten Vertretungskomitee der Menschheit, in einem Landhaus in der Nähe New Yorks auf eigene Faust untersucht. Ein Journalist wird Zeuge der Geschichte, er ist der Erzähler.
»In der Tat, es ist ein echter, unverfälschter Lem, wie er seinem Publikum treu und lieb ist, mit Vorliebe für technisches Gerät und die Mysterien der menschlichen Seele.«
Mittelbayerische Zeitung
Der Mensch vom Mars
Roman
Mit einem Nachwort von Stanisław Lem
Aus dem Polnischen von Hanna Rottensteiner
Phantastische Bibliothek
Band 291
Suhrkamp
Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner
Originaltitel:
Człowiek z Marsa.
Erschienen 1946 in der Zeitschrift
Nowy świat przygód, Kattowitz
Umschlagfoto: Detlev von Ravenswaay
SPL / Agentur Focus
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Stanisław Lem
© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag
Frankfurt am Main 1989
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74328-7
www.suhrkamp.de
Die Straße brodelte. Das Rattern der Straßenbahnwagen, das Hupen der Autos, das Gebrumm der vorbeirasenden Trolleybusse, das Schrillen der Signale und ein Gewirr von Stimmen verschmolzen in der dunkelblauen Luft, die von Lichtbündeln aller möglichen Farben und Schattierungen in Streifen von Dunkelheit zerschnitten wurde. Die Menschenmassen bildeten eine endlose Schlange, die die Gehsteige füllte und grell in den Lichtquadraten der Auslagen und in der Halbdämmerung schimmerte, in die die Häuser versunken waren. Der frisch gesprengte Asphalt zischte unter Hunderten von Autoreifen. Die schwarzsilbern glitzernden Karosserien langer Wagen leuchteten eine nach der anderen auf.
In die Menge eingezwängt ging ich dahin, ein untrennbares Molekül von ihr, ohne Ziel und Gedanken, und ließ mich wie Kork auf der Woge dahintreiben.
Die Straße keuchte, rumorte und donnerte, Lichtfluten und Schwaden schweren Parfums ergossen sich über mich, ab und zu drang der scharfe Duft südlicher Zigaretten zu mir, manchmal sogar das Süßlich-Stickige von Opiumrauch. An den Hausfassaden kletterten die Neonbuchstaben der verlöschenden und wieder aufflammenden Leuchtreklamen in wahnwitzigem Tempo auf und ab, Lichtfontänen sprudelten und irre Feuerwerksraketen und Leuchtkörper zischten, die über den Köpfen der Menge niedergingen und ihren letzten Glanz versprühten.
Ich gelangte unter riesige, lichtdurchflutete Portale, zwischen Reihen unbekannter Bauwerke, eingekeilt in eine vielsprachige Menschenmenge, und war doch einsamer als auf einer unbewohnten Insel. Meine Hand in der Tasche spielte mechanisch mit zwei Fünf-Cent-Münzen, die mein ganzes Vermögen darstellten. An der Kreuzung zweier großer Straßen, deren steinerne Rachen sich in der Ferne erstreckten, mit ihren in der Perspektive immer kleiner werdenden Ampeln, deren Rumpf mit Lichtmosaiken gespickt war, löste ich mich aus der Menge und trat an den Gehsteig.
Die Menge wälzte sich über die Straße, wie von einer riesigen Schleuse ausgespien, je nach der Farbe der blinkenden Lichter. Zugleich dröhnten, heulten und schrillten die Motoren riesiger Autos, deren Bremsen von Zeit zu Zeit ohrenbetäubend quietschten. Ein vorbeihastender Zeitungsverkäufer drückte mir irgendeine unnötige Zeitung in die Hand, die ich erstand, um ihn loszuwerden. Ich steckte sie in die Tasche und sah mich weiter um. Die Menge veränderte sich ständig, war aber doch immer gleich. Zwei Straßen kreuzten sich hier, der Asphaltrachen der Kreuzung ließ immer nur einen Bruchteil der Menschenmasse durch, zäh wie Kaugummi, immer abwechselnd mit den glänzenden Blechkarosserien der Autos. Aus einem schmalen Straßenstreifen kam plötzlich ein mächtiger Schatten geschossen und hielt vor mir mit einem leisen Quietschen der Reifen. Es war ein Buick, dessen linkes Vorderfenster heruntergekurbelt wurde. Aus dem Wageninneren drang eine Stimme:
»Was ist das für eine Zeitung?«
Gleichzeitig wies eine in einem dicken Autohandschuh steckende Hand auf den weißen Papierzipfel, der aus meiner Tasche ragte.
Die ganze Frage, die Art und Weise, wie sie gestellt wurde, ebenso wie ihr Inhalt, war höchst sonderbar, doch das Leben hatte mich gelehrt, mich über nichts zu wundern, schon gar nicht in einer Großstadt. Ich holte die Zeitung hervor (denn ich kannte ihren Titel nicht) und erwiderte: »Die New York Times!«
»Und den wievielten haben wir heute? Welchen Tag?« fragte dieselbe Stimme. Dieses dumme Spiel ging mir auf die Nerven.
»Freitag«, erwiderte ich, um den Kerl loszuwerden.
Im selben Augenblick öffnete sich die Wagentür, und die Stimme sagte:
»Steigen Sie bitte ein.«
Ich machte eine Bewegung, als schreckte ich zurück. »Go on!« Die Worte wurden mit solchem Nachdruck ausgesprochen, daß ich unwillkürlich gehorchte.
Kaum war ich in die weiche Polsterung gesunken, knallte die Tür auch schon zu und der Wagen schoß davon, wie in einem Gangsterfilm. Die Lichter der Straße zitterten, sie dehnten sich aus zu vibrierenden Fäden, und wir huschten mitten zwischen ihnen hindurch.
Ich schaute mich im Wagen um. Der Innenraum war dunkel. Ich saß allein im Fond des Wagens. Vor mir, vor dem Hintergrund des schwach beleuchteten Armaturenbretts und der Frontscheibe, waren zwei einander sehr ähnliche, gedrungene männliche Silhouetten zu sehen: die des Fahrers und seines Begleiters. Ich begann nachzudenken. Mein Verstand hatte zwar durch das zweitägige unfreiwillige Hungern gelitten, war jedoch recht leistungsfähig. Dieser Hunger verursachte aber eine gewisse Leichtigkeit beim Fassen außergewöhnlicher Entschlüsse und eine extreme Gleichgültigkeit gegenüber den äußeren Umständen. Doch nun – was ging da eigentlich vor? Der Wagen fuhr jetzt langsamer, denn der Motor begann mit dem charakteristischen hohen, singenden Ton zu arbeiten, den Motoren bei Vollgas und hoher Drehzahl von sich geben. Plötzlich eine scharfe Kurve – Bremsen, ein Schlag, ein Quietschen, der Wagen hüpfte einige Male, bis er weich in eine Mulde fiel und zum Stehen kam.
Die Türen öffneten sich nicht. Der Fahrer hupte nur, einmal kurz, einmal lang. Dann drehte er zweimal das Fernlicht aus, schaltete das Abblendlicht ein und löschte auch dieses. Jetzt standen wir in ägyptischer Finsternis.
»Was für ein Schmierentheater, zum Teufel ...«, begann ich, aber meine Stimme erwies sich als zu schwach, denn meine Ohren waren noch voll vom Summen des Motors und der Fahrt – im selben Augenblick erschien übrigens vor der Kühlerhaube des Wagens ein Viereck aus weißem Licht. Das Auto surrte und fuhr los. Plötzlich spürte ich, daß der Boden abfiel. Aha! dachte ich, eine Tiefgarage. Wir waren angelangt.
Die Tür sprang auf. Der Fahrer des Wagens zeigte mir sein Gesicht – eine riesige, breite Physiognomie mit mächtigen Kiefern und wulstigen, buschigen Augenbrauen. Ich stieg aus. Die Füße traten leicht auf, der Belag in diesem unterirdischen Gang bestand aus schalldämpfendem Material. Eine Seitentür öffnete sich, und ich sah in einen Raum, in dem fünf Männer saßen. Der Raum war nicht sehr groß, und die Männer saßen hinter einem kleinen runden Tisch. Bei meinem Anblick standen alle auf und betrachteten mich schweigend, als warteten sie auf etwas.
Der Kleinste von ihnen, ein Dunkelblonder mittleren Alters mit einem bleichen, schweißüberströmten Gesicht, etwas untersetzt, wandte sich an meinen Begleiter, den Fahrer:
»Ist er das?«
Den Fahrer schien diese Frage zu überraschen, er zögerte, antwortete dann aber: »Natürlich!«
Der Fragende wandte sich jetzt an mich. Er näherte sich so weit, daß wir einander gegenüberstanden, und fragte:
»Welchen Tag haben wir heute?«
Ich antwortete, diesmal wahrheitsgemäß, daß es Mittwoch sei, was ein Zucken zur Folge hatte, das alle erfaßte. Zuerst dachte ich, ich sei unter Wahnsinnige geraten, aber kaum schrak ich zurück, als der Fahrer, ein Mann von athletischer Statur, vortrat und zu reden begann.
»Mr. Frazer, ich schwöre es, er sagte: Freitag. Und er hatte an der Ecke Fifth Avenue die ›New York Times‹ bei sich.«
»Was soll das bedeuten?« fragte der Mann mit dem bleichen Gesicht. »Woher kommen Sie?«
»Aus Chicago«, antwortete ich, »aber vielleicht bin ich jetzt an der Reihe, Fragen zu stellen? Und diese rätselhafte Fahrt mit dem Auto?«
»Bemühen Sie sich nicht«, unterbrach er mich in eisigem Ton. »Sie sind noch nicht an der Reihe, Fragen zu stellen. Warum haben Sie gesagt, heute sei Freitag?« Mich überkam der Gedanke, es doch mit Wahnsinnigen zu tun zu haben. Man soll ihnen nachgiebig und entgegenkommend begegnen, das hatte ich irgendwo gelesen.
»Wenn man recht überlegt, ist heute vielleicht doch Freitag«, begann ich. »Insbesondere nach der Weltzeit von Greenwich.«
»Machen Sie keine Faxen – zur Sache. Haben Sie den Brief und das Werkzeug?«
Ich schwieg.
»Ja ...«, sagte mein Gesprächspartner stockend.
»Nun ja, aber bevor ... bevor ... also, Sie müssen mir sagen, wer Sie geschickt hat. Mit welchen Absichten sind Sie hierhergekommen? Und wer hat Ihnen verraten, was gemacht werden muß und wie, um hierherzugelangen?« Die letzten Worte sprach er fast zischend aus, wobei er die Zähne zeigte, die noch bleicher waren als das Gesicht. Die anderen standen immer noch unbeweglich da, mit glotzenden Augen, weder drohend noch erwartungsvoll. Langsam ging mir ein Licht auf. Eines wußte ich schon: Es waren keine Verrückten. Nein, ich war ein verdammter alter Narr, der in eine riesige häßliche Geschichte hineingestolpert war.
»Mein Herr«, begann ich. Dieser joviale Ton war zwar nicht am Platz, ich versuchte jedoch, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und fuhr fort: »Ich bin, das heißt, ich war Reporter der ›Chicago World‹ ... aus gewissen Gründen wurde ich vor zwei Monaten entlassen. Auf der Suche nach Arbeit kam ich nach New York. Ich bin schon einige Wochen hier, habe aber nichts gefunden, und die Art und Weise, wie ich hierher kam, war – ich versichere es Ihnen – reiner Zufall. Jeder kann doch eine ›New York Times‹ haben?«
»Und auf die Frage nach dem Wochentag am Mittwoch antworten, es sei Freitag – nicht wahr?«
Darauf meldete sich zum ersten Mal ein großer, magerer Mann mit Brille zu Wort. Ich wandte mich ihm zu und bemerkte dabei, daß die Tür blockiert war. Im Türrahmen stand der Fahrer mit erstarrtem, steinernem Gesicht, ganz ohne jeden Ausdruck, und füllte mit seinem Körper völlig den Ausgang, was mir gar nicht paßte. Ich begriff, daß man mir nicht glaubte.
»Meine Herren«, begann ich. »Es handelt sich um ein dummes Zusammentreffen von Zufällen. Bitte, lassen Sie mich gehen ... ich weiß doch gar nichts, verstehe nichts, ich weiß nicht einmal, wo ich mich jetzt befinde ...«
»Sie haben wohl immer noch nicht begriffen ...«, sagte der Mann mit dem bleichen, schweißüberströmten Gesicht langsam. »Sie können hier nicht weg.«
»Jetzt nicht. Wann denn?«
»Niemals.«
Als dieses Wort fiel, wurde alles irgendwie leichter. Jetzt war alles klar. Die vier zündeten sich langsam, ohne sich zu beeilen, Zigaretten an, setzten sich nahe der kleinen Öllampe hin, und ich schaute zu. Ich folgte ihren Bewegungen mit großer Neugier, sah in den grell erleuchteten Raum auf das Gesicht des vor mir stehenden Menschen, der das Urteil über mich sprechen würde. Ich sollte doch wohl etwas sagen? Ich hatte vor zu flehen, zu überzeugen, detailliert zu erklären. Zu argumentieren. Als ich aber diese fahlen blauen Augen sah, ganz fern, wurde mir klar, daß jedes Wort nur Verschwendung wäre.
»Ich verstehe gar nichts«, sagte ich und richtete mich auf. Ich war müde und hungrig. »Ich habe keine Ahnung, wofür ich sterben soll. Oder wozu. Aber selbst die Kannibalen füttern ihre Opfer – bitte, ich habe Hunger.« Damit trat ich an den Tisch heran, holte mir eine Zigarette aus dem Etui und steckte sie an der Petroleumflamme an.
In diesem Augenblick bemerkte ich, daß die Männer einander ansahen – dann über meinen Kopf hinweg auf den blickten, der mit mir gesprochen hatte, als sei er ihr Anführer. Darauf erstarrten sie wieder in Bewegungslosigkeit. Der Anführer sah mich an. Ich ließ diese Musterung gleichgültig über mich ergehen. Die Tür war versperrt von einer Körpermasse, die ich auf zweihundert Pfund schätzte und die den Zugang zu der Klinke verstellte. Ich war unausgeschlafen, müde, hungrig – ein Kampf war aussichtslos.
»Bitte, geben Sie ihm etwas zu essen«, sagte der fahle Mann. »Und kümmern Sie sich um ihn. Aber gut!« Dieses Wort ließ den gedrungenen Rücken des Fahrers schrumpfen. Schweigend öffnete er die Tür und gab mir ein Zeichen.
»Gute Nacht, meine Herren«, sagte ich und folgte ihm. Die Tür schlug zu, ich trat in den halbdunklen Korridor hinaus. In diesem Augenblick packten mich zwei starke Hände an den Gelenken, ein Knacken war zu vernehmen, und ich spürte das kalte Eisen von Handschellen.
»So behandelt ihr eure Gäste?« fragte ich, ohne die Stimme zu heben.
Der Fahrer und sein in der Dunkelheit unsichtbarer Helfer, der mir die Handschellen angelegt hatte, schienen nicht sehr gesprächig zu sein. Einer der beiden tastete gründlich meine Taschen ab, wobei er nichts Verdächtiges fand, und schob mich leicht nach vorn. Ich verstand es als Einladung zum Abendessen. Wir gingen eine gute Minute durch die ägyptische Finsternis. Plötzlich blieb mein Entführer so schnell stehen, daß ich fast auf die jählings vor mir aus dem Boden geschnellte, bis dahin unsichtbare Wand geprallt wäre. Ein dumpfes Gerassel war zu hören, eine Tür öffnete sich – ein Rechteck aus Licht.
Dieser neue Ort glich dem Tresorraum einer Bank oder eher der Vorstellung von einem Tresor, wie ihn fleißige Kriminalromanleser haben. Gewaltige Stahltüren schlugen hinter mir und meinem Führer zu und fielen mit ihren mächtigen Riegelklauen ins Schloß. Der Raum war mit einer grellen, nackten Birne erleuchtet. Die Wände bestanden aus regelmäßigen Reihen von Stahltüren mit massiven Griffen und unzähligen Schlössern. Das einzige Mobiliar waren die auf dem Betonboden stehenden niedrigen zwei Stühle, ein Hocker und ein kleines Tischchen. Sonderbar daran war, daß sie alle aus Stahl waren. Ich bemerkte das erst, als mir der Fahrer den Hocker mit dem Fuß zuschob: Er gab einen charakteristischen Klang von sich. Ich setzte mich. Der Fahrer trat zum Tisch, hob die Platte hoch und nahm aus dem so freigelegten Fach einige Konservenbüchsen und einen langen weißen Brotlaib. Dann holte er ein großes Taschenmesser aus der Tasche, suchte die passende Klinge, öffnete eine Büchse und schnitt danach mit demselben Messer Brot. Schließlich begann er wieder in seinen Taschen zu kramen, bis er den Schlüssel zu meinen Handschellen gefunden hatte – als ich schon dachte, er würde mich gefesselt füttern. Dann setzte er sich mir gegenüber und verfolgte meine ziemlich eintönige Tätigkeit. Diese Meditation dauerte an, bis die Büchse ganz geleert war. Ich sah die nächste an – es war Hummer (ich mag Hummer) – und streckte die Hand nach dem Taschenmesser aus. Der Fahrer machte sein massives braunes Gesicht noch etwas breiter, was ein Lächeln bedeuten sollte, schüttelte verneinend den Kopf, ergriff das Taschenmesser und öffnete selbst die Büchse.
Er hat Angst vor mir! dachte ich zufrieden, denn er wollte sichtlich doppelt so viel wie ich. Als die Büchse leer war und ich sie mit Brot auswischte, fragte ich:
»Prohibition?«
Der Fahrer machte zum zweiten Mal seinen Mund breit, jetzt noch etwas breiter, hob die Tischplatte auf und holte eine Flasche vorzüglichen Cognac heraus. Ich glaubte, daß wir anstoßen würden, aber er löste nur den Korken und stellte einen Eierbecher vor mich hin, den ich aber ablehnte. Eine reichliche Portion Cognac brachte meine Hirnmaschinerie auf Touren: Es schien mir, als befände ich mich in einer überaus lustigen Lage, und ich wollte gerade nach einer Unterkunft in diesem miesen Hotel fragen, als über meinem Kopf ein kurzes tiefes Summen ertönte, das sich dreimal wiederholte. Der Fahrer zuckte leicht zusammen, nahm die Handschellen und sagte: »Gehen wir.«
Ich zögerte. Er trat einen Schritt zurück und berührte die Hosentasche, die verdächtig ausgebeult war.
»Noc Hercules«, sagte ich laut, lächelte und reichte ihm die Hände. Er lächelte ebenfalls, wenn auch etwas schief, öffnete die Tür, und wir stürzten in die auf der anderen Seite herrschende schwarze Brühe. Jetzt gingen wir einen anderen Weg, denn bald faßte er mich am Arm und zerrte daran. Das kam gerade recht, denn sonst wäre ich über die Treppe gestürzt. Wir gingen die Treppe hinauf, ich sah ein blasses blaues Licht, das stärker wurde, bis wir eine Stufe zu einem breiten Korridor betraten, der keinerlei Fenster aufwies. In die Wände waren quadratische matte Lampen eingelassen, die ihn erhellten. Der Korridor endete an einer großen Tür, die das ganze Korridorprofil ausfüllte. Als wir zu dieser Tür kamen, stieß mich der Fahrer nach vorn – die Tür öffnete sich von selbst und schloß sich wieder hinter mir. Meinem ersten Eindruck nach befand ich mich in einer riesigen Bibliothek. Die bis zur Decke reichenden Wandregale waren mit Büchern vollgestellt. Davor standen Leitern, Tischchen mit Lampen, Sessel, und in der Mitte ein kleiner runder Tisch, an dem die mir schon bekannten Männer saßen. Einer von ihnen, der nur einmal mit mir gesprochen hatte, ein hochgewachsener, schmächtiger Mann mit grauen Schläfen, trug ein Lorgnon mit glänzenden Gläsern. Ich trat näher.
»Wir haben gerade von Ihnen gesprochen«, sagte er endlich langsam und ziemlich leise. Er sprach, als sei er recht müde. Ich verbeugte mich kaum merklich und wartete.
»Wir wollen Ihnen glauben ... die Untersuchungen haben ergeben, daß Sie aller Wahrscheinlichkeit nach die Wahrheit gesagt haben.«
Ich sah ihn erstaunt an. Welche Untersuchungen? Meinte er das Abendessen mit dem schweigenden Fahrer? Ich mußte sie also für ziemlich nachlässig halten.
Er schien mein Staunen gar nicht zu bemerken. »Sie sind, ohne es zu wollen ... in eine sehr komplizierte Lage geraten.« Er schien jedes Wort auf die Waagschale zu legen. »Eines müssen Sie wissen: So wie Sie bis jetzt waren, werden Sie nicht mehr sein.«
Blitzschnell kam mir der Einfall, daß hier die Zentrale einer hervorragend organisierten Gang sei – oder vielleicht eine politische Gruppe von Faschisten oder etwas von der Art?
Aber wozu diese Bücher?
»Oder Sie werden hier gar nicht herauskommen, oder ...«, er hielt inne. Sie betrachteten mich gelassen, aber ich spürte trotzdem eine gewisse Spannung.
»Oder?« fragte ich und wandte mich an den, der mir schon einmal eine Zigarette angesteckt hatte.
»Entschuldigung, darf ich Sie bitten? Wie Sie sehen, kann ich mich meiner Hände nicht bedienen und würde gerne rauchen.«
Er steckte mir langsam (alles machten sie langsam, es war lächerlich, aber zugleich schrecklich – als spielten sie eine Rolle auf der Bühne) eine Zigarette in den Mund und gab mir Feuer. Die anderen warfen einander Blicke zu – zum zweiten Mal.
»Oder Sie werden zu uns gehören ...«, schloß der Mann mit dem Lorgnon. »Und es scheint mir, daß das der Fall sein wird.«
»Der Anschein kann trügen«, erwiderte ich und bemühte mich ebenfalls, langsam zu sprechen, nicht so sehr, um mich ihnen anzupassen, sondern eher, um den Cognacnebel zu beherrschen, der nach dem langen Hungern meine Sinne verwirrte.
»Darf ich wissen, worum es geht?«
Der Mann mit dem blassen breiten Gesicht, der bis jetzt geschwiegen hatte, hob den Kopf.
»Das können Sie natürlich nicht wissen«, sagte er in irgendwie entschuldigendem Tonfall. Und lauter: »Ihnen ist es doch nicht ganz egal. Unsere Devise ist einfach: gehorchen und schweigen.«
Ich muß zugeben, daß mich dieses Gespräch in einen sonderbaren Zustand versetzte. Als ich von dieser seltsamen Gesellschaft zum Verschwinden, gleichsam zum Tod verurteilt worden war, war mir bewußt geworden, daß meine Situation hoffnungslos war, doch die neue Wendung erweckte neue Kräfte in mir. Ein Mensch in auswegloser Lage wird apathisch, abgestumpft. Ein Hoffnungsstrahl aber genügt, und die Kräfte vervielfachen sich, alle Sinne werden bis zum Äußersten geschärft, und man wird zu einem einzigen gespannten Muskel, um das Leben mit den gewaltigsten Anstrengungen zu meistern. Das war auch bei mir der Fall. Während ich mit gedämpfter Stimme sprach, musterte ich gleichzeitig mit blinzelnden Augen die Umgebung und schätzte die einzelnen Entfernungen ab. Flucht? Warum nicht? Ja, das war der letzte Ausweg. Ich konnte nach einem massiven Aschenbecher greifen und ihn dem Anführer an den Kopf werfen, aber das wäre eine Dummheit. Weitaus besser wäre es, ihn gegen die große elektrische Lampe zu schleudern, die den Saal erhellte. Es ging lediglich darum, ob in der runden matten Kugel eine oder mehr Birnen glühten? Davon konnte alles abhängen. Gut, aber die Tür? Diese sonderbare Tür, die sich von selbst öffnete und schloß. Ich stand mit dem Rücken zu ihr und wußte nicht, ob sie eine Klinke hatte.
»Sie dürfen keine Fragen stellen ...«, sagte langsam und mit Nachdruck der Mann mit dem bleichen, schweißüberströmten Gesicht und drückte die Zigarette in dem silbernen, ziselierten Aschenbecher aus. Er fegte ein unsichtbares Staubkörnchen von der Manschette und heftete plötzlich seinen kühlen blauen Blick auf mich.
»Erlauben Sie ...«, ich lächelte und zuckte leicht mit den Achseln; dabei sah ich verstohlen zur Tür. Sie hatte eine gewöhnliche Klinke. Ich hatte das Gefühl, daß ich doch ...