Zorniger hat Andrzej Stasiuk nie über Polen und den Westen geschrieben als nach seiner jüngsten Reise durch Südosteuropa. Zurück aus den »Ländern mit ausgeprägter Persönlichkeit«, wo Minarette neben Minen- und Gräberfeldern stehen, stößt er sich an obszönen Widersprüchen im eigenen Land: Nach Märtyrertum dürsten, aber zwischen zwanzig Chipssorten und erschwinglichen Tunesien-Angeboten wählen − wie passt das zusammen? Sieht Polen nicht längst aus wie ein zurückgebliebenes Deutschland? Bleibt der Südosten deshalb ein nie einzuholendes Ziel, weil den Reisenden dort eine Realität anspringt, die zu Hause verdrängt oder neutralisiert ist? Reisebilder und Reflexionen, Rhapsodie und Pamphlet − Andrzej Stasiuk radikalisiert in seinem neuen großen Prosatext seine Kunst des scharfen Blicks und der pointierten Poesie.
Andrzej Stasiuk, 1960 geboren, lebt seit 1986 in den Beskiden und reist seit Jahren immer ein Stück weiter in den Osten bis an die chinesische Grenze. 2011 erschien sein Roman Hinter der Blechwand.
Tagebuch
danach geschrieben
Aus dem Polnischen
von Olaf Kühl
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
Dziennik pisany później bei Czarne, Wołowiec.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Deutsche Erstausgabe
© by Andrzej Stasiuk, 2010
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-79850-8
www.suhrkamp.de
Und wieder bin ich hier. Wieder habe ich den Gestank von Abwässern und brennendem Müll in der Nase. Nachts hat es heftig geregnet, im Morgengrauen steht gelblich schlammiges Wasser zwischen den Häusern. In den Pfützen spielen Kinder. Um sieben Uhr früh setzt die Hitze ein. Kneipen- und Ladenbesitzer spülen den Dreck vom Bürgersteig auf die Fahrbahn. Überall stehen Stühle, und gleich werden die Typen kommen, um den ganzen Tag rumzusitzen. Sie umarmen und küssen sich, als hätten sie sich weiß Gott wie lange nicht gesehen, dabei haben sie den Abend zuvor in gleicher Besetzung hier gesessen. Nichts ändert sich. Sie bekommen ihren Kaffee, ein Glas Wasser und beginnen ihre Unterhaltung. Von sieben Uhr an tratschen sie wie die Weiber. Sie sitzen in den zerfallenden Städten, zwischen zerstörten Häusern und unterhalten sich. Die nächsten kommen, küssen sich, setzen sich und fangen an zu reden. Knöpfen die Hemden auf, damit man die Goldkettchen sieht. Sie heben die Tassen und spreizen die kleinen Finger ab, um ihre Siegelringe zu zeigen. Auf Schritt und Tritt ein paar Stühle und ein Tischchen. Sie fliehen ihr Zuhause und sitzen auf der Straße, als könnten sie es nicht ohne einander aushalten, als würden sie sterben aus Angst vor der Einsamkeit. Würde man sie trennen, sie würden bestimmt den Verstand verlieren. Wie große Kinder sind sie, mit Bauch. Sie leben in der Herde. Ein Einzelgänger hat keine Chance. Einsamkeit ist Krankheit, Einsamkeit ist Wahn. Der Kellner räumt die Tische ab und wirft den Müll auf die Fahrbahn. Kippen, Zigarettenschachteln, Cola-Dosen. Er pfeffert es dorthin, wo das Niemandsland beginnt, das heißt der Rest der Welt, die Leere, das Vakuum, das schwarze Loch, finsterer, herrenloser Kosmos, worin der ganze Dreck von Albanien Platz findet.
Die achtzehnjährigen Halbstarken begrüßen sich wie die Alten, unterstreichen es mit Gesten, die sie sich auf MTV oder bei der NBA abgeschaut haben, dieses ganze komplizierte, von den Black Brothers erfundene Ritual des Händeklatschens. Das ist aber auch schon alles, was sie von ihren Vätern unterscheidet. Der Rest gleicht sich. Die gleichen Goldkettchen, der gleiche Gockelgang und das gleiche unbewusste Herumkneten zwischen den Hosenbeinen. Sie sehen aus, als wären sie leibhaftig der Fernsehreklame entstiegen mit diesem Gehabe von italienischen Gigolos. Pomade im Haar, gegelt, herausgeputzt, in engen Jeans und Schuhen aus feinem Leder sitzen sie inmitten der lodernden Müllhalden, der faulenden Innereien der Lämmer, den Rinnstein zu Füßen, und schwadronieren über das Schicksal der Welt. Sechshundert Jahre lang war hier die feudale Türkei, ein kurzes Aufflammen der Freiheit zwischen den Kriegen und dann die Katatonie des Urhorden-Kommunismus. Jetzt sieht man, wie lebendig die Phantome der Fernsehwelt sind, wie sie sich rühren in diesem steinalten Raum, dieser neuen fragilen Zeit, die zu zerbrechen droht wie frisches Eis. Alte Frauen tragen traditionelle weiße Gewänder, unter den Röcken Hosen aus dem gleichen gestärkten Stoff, und an den Füßen Bergschuhe.
Wieder bin ich hier. Angekommen mit der rostigen Fähre von Brindisi. Die Kabine hatte kein Fenster. Ich nahm Isomatte und Schlafsack und ging an den Bug. Das Deck vibrierte und stank nach Dieselöl. Der Himmel war sternenübersät. Ich schlief sofort ein. Im Morgengrauen erwachte ich. Man sah Festland. Männer standen an der Bordwand und hielten nach den umnebelten Bergen Ausschau. Sie standen vereinzelt, unterhielten sich nicht. Sie machten ernste Gesichter. Sie waren unterwegs in ihre Heimat, doch von Erregung oder Freude konnte ich bei ihnen keine Spur entdecken. Durch den Nebel, durch das goldene Morgenlicht sahen sie die grenzenlose Traurigkeit ihres Landes. Sie kamen nach Hause, um gleich wieder wegzufahren. Sie kamen für einen Monat, für eine Woche, das Geld aus Italien, Deutschland oder der Schweiz in den Tiefen der Kleidung versteckt. Ende August fahren alle wieder zurück, und die Baracke im Hafen von Durrës, die als Abfertigungshalle dient, verwandelt sich in den Vorhof der Hölle. Doch bis dahin sind es noch zwei Wochen. Jetzt lief die zitternde, von Rost zerfressene Fähre im Hafen von Vlora ein.
Als wir angelegt hatten, tauchten Uniformierte auf und begannen, aus der verglasten Bude, in der vorher Bier und Kaffee verkauft worden waren, die Passdaten auszurufen. Die Menschen drängten sich am Fenster, reckten die Hälse und horchten, als fürchteten sie, ihre Namen könnten irgendwo untergehen, wegkommen, und sie wären zum Nichtsein verdammt. Unbefangen reichte man sich fremde Namen von Mund zu Mund.
Zwei Tage später fragte Orges: »Und wozu kommst du hierher? Zum Vergnügen? Weil es so schön ist? Wegen der Exotik? Willst du sagen, die Scheiße hier stinkt nicht? Und wie sie stinkt. Das ist doch ein Saustall.«
Er hatte recht. Saustall total. Auf dem Marktplatz lagen große Fische im Dreck des Bürgersteigs. Er hatte recht. Es stank zum Himmel. Daneben hockten die Typen, die sie verkaufen wollten. An der Ausfallstraße der Stadt, zwischen Buden, Marktständen, Müllhaufen, zwischen Gerümpel, ewiger Ebenerdigkeit und postosmanischem Slum, war ein Schlachthof: eine von vielen Buden, in einer dunklen Baulücke, eine düstere Höhle aus Spanholz, Lehmziegeln, weiß der Teufel, einfach ein bisschen Schatten, und dort, in diesem Halbdunkel, machte sich ein Mann zu schaffen; an Haken hingen die nackten, roten Kadaver von Tieren, und vor dem Eingang, im Grunde auf der Straße, so dass man ihnen ausweichen musste, lagen noch lebende, graubraune Schafe, drei oder vier, und warteten in aller Ruhe, dass sie an die Reihe kämen. Mit Blut vermischtes Wasser floss auf die Straße. Die Stadt war über zweitausend Jahre alt und konnte sich das alles erlauben. Sie war zu Tode erschöpft. Nachts gingen alle auf die Straße. Es gab keinen Strom, überall ratterten die japanischen Generatoren. Die Laternen brannten nicht, doch aus allen Ecken waren Männerstimmen zu hören, Gespräche und Gelächter. Feuerzeugflammen und Autoscheinwerfer fischten einzelne Gesten aus der Finsternis, Gesichter, Krümel von Leben, von Gestalten. Eine Art großer Termitenbau, tief in die Nacht gegraben. Die Menschen spürten ihre Nähe wie Tiere. »Hier zahlt einfach niemand für Strom«, sagte Orges später. »Zur Strafe ist es dunkel.«
Ja. Ich weiß selbst nicht, wozu ich hergekommen bin. Exotik gibt es hier nicht. Alle diese Dinge, Gerüche, Ereignisse und der ganze Rest, existieren auch anderswo. Hier sind sie nur potenziert, vervielfacht und aufreizend wie billige und starke Parfums in einem engen Zimmer. Irgendwo bei Rranxë wurde asphaltiert. Die Fahrbahn war auf einen Streifen verengt. Die andere, frische, schwarze und glänzende Spur war mit Steinen, groß wie Hunde- oder Menschenköpfe, ausgelegt.
Zerlumpte und sonnenverbrannte Arbeiter gingen am Straßenrand und legten weitere weiße Felsstücke ab. Wie ein Meteoritenregen sah das aus. Und nicht die Spur einer Maschine. Nur die Leere der menschenleeren Landschaft, die glitzernde, eidechsenhafte Nacktheit des neuen Streckenabschnitts und drei Männer, die Felsbrocken vom Randstreifen zusammentrugen. Dann endete das alles, und man konnte wieder die ganze Breite befahren.
Drei Tage später waren wir in Bajram Curri. Ein amerikanischer Journalist hatte hier vor ein paar Jahren zusammen mit dem Zimmerschlüssel des Hotels eine Pistole ausgehändigt bekommen, damit er sich notfalls selbst verteidigen konnte. So steht es zumindest im albanischen Blue Guide von James Pettifer. Jetzt lief in der Hotelkneipe ein Schlager mit dem Refrain »Auf Wiedersehen im freien Kosovo«, doch ging es nicht um Politik, sondern um einen untreuen Geliebten, der sich mit diesen Worten verabschiedete, um nie aus der großen weiten Welt zurückzukehren. Der Kellner war groß und hager und sprach ein ausgezeichnetes Englisch. Er umsorgte uns auf leichte, unprätentiöse Art, wie das in Albanien nicht häufig anzutreffen ist. Die Bedienung ist hier entweder unterwürfig oder verklemmt. Dieser Junge benahm sich so, als wäre das Servieren seine Berufung, als wäre es sein Traum, den Gast zu beraten und ihn diskret zu bedienen. Er nahm sich die Zeit und ließ sich auf ein Gespräch mit uns ein. Als wir ihn fragten, woher er so gut Englisch könne, erwiderte er leicht melancholisch: »Ach, ich habe ein paar Jahre in London verbracht.«
Er kam aus dem Kosovo. Das Vereinigte Königreich hatte er im Fahrgestell eines Lastkraftwagens erreicht. Er hatte in Autowäschereien gearbeitet, in Restaurants, und nach einiger Zeit, als ihm schien, er sei so etwas wie ein Staatsbürger oder ein ehrbares Mitglied der Gesellschaft geworden, beschloss er, seinen Status zu klären. Er nahm sich einen Anwalt. »Der kam aus Jamaika«, sagte er seufzend. Der Anwalt riet ihm, sich beim Immigration Office zu melden, und entwarf ein Schreiben, das der Junge dort vorlegen sollte. Der Jamaikaner nahm fünfzig, sechzig Pfund, und unser Kellner wurde sofort nach dem Amtsbesuch abgeschoben. Jetzt servierte er uns geschmuggelten Martini, schwarzen albanischen Fernet und lächelte milde.
Bajram Curri war jung. Ungefähr fünfzig Jahre alt. Es war gebaut worden, um die Gebirgsbewohner aus dem Norden in Schach zu halten. Die waren schon immer rebellisch gewesen und duldeten keine fremde Macht. Sie gehorchten einzig den Oberhäuptern ihrer eigenen Clans. Ich habe ihre Häuser gesehen. Sie erinnern an rechteckige Türme mit Schießscharten statt der Fenster. Tagsüber musste es darin dunkel wie im Keller sein. So standen sie seit hundert oder zweihundert Jahren da.
Wir waren zu Wasser dorthin gelangt. Die Fähre fuhr auf einem langen, schmalen See zwischen Bergen und legte ab und zu am Ufer an. Ein oder zwei Personen stiegen aus und beschritten den unsichtbaren Pfad in Richtung Pass oder Grat, der sich irgendwo dicht unter dem Himmel abzeichnete. Manchmal wartete jemand mit einem Esel. Der See hieß Komani. Er war künstlich und erinnerte an einen Fjord. Er erstreckte sich einige Dutzend Kilometer weit. Die Drin war mit einem Staudamm geschlossen worden, um Strom zu produzieren. Zur Anlegestelle in Koman fuhr man durch einen in den Fels gehauenen schwarzen Tunnel. Der Tunnel wirkte wie eine Natursteinhöhle. Ein Lieferwagen passte da gerade noch durch. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Wände nach den Dynamitsprengungen zu glätten. Dahinter begann einer der schönsten Abschnitte der Welt. Weißes Gebirg schoss senkrecht aus dem grünen Meer mehrere hundert Meter in die Höhe. Bisweilen wurde die Landschaft sanfter, auf den Felsen wuchs Fichtenwald. Drei Stunden lang begegneten wir keinem Boot, keinem Schiff, nichts als grüne Wasserfläche und unsere altertümliche Fähre, eigentlich nur ein klobiger Rumpf, auf dem eine alte Autobus-Karosserie mit Sitzen montiert war. Die Passagiere tranken Cola, aßen Chips und ließen die Verpackungen direkt in hundert Meter Tiefe flattern. In der Gegend gab es keine Straßen, nur diese Fähre. Eselpfade führten zu den in felsiger Höhe verborgenen Dörfern, die aus einigen wenigen vierseitigen Steinhäusern bestanden; hier wohnten Menschen, die jahrhundertealte Blutsbande miteinander vereinte.
So reiste man nach Bajram Curri, der letzten Stadt im Land. Man musste in Fierzë aussteigen und zusehen, wie man weiterkam. Uns holte Xhemal mit dem weißen Transit ab. Er schwieg die ganze Fahrt über und fing erst vor dem Hotel an, sich mit Rigels zu unterhalten. Er versprach, uns am nächsten Tag überall hinzubringen, wo wir hinwollten.
Doch schon am selben Abend sahen wir uns wieder. Er kam auf einen Kaffee in unsere Hotelkneipe. Er begann von seiner Stadt zu erzählen. Es sei nicht mehr so wie früher, als die Menschen einfach Angst hatten, dort zu leben. Aus den Bergen seien die Dörfler gekommen, die vorher niemand hier gesehen habe. Sie hätten ihre Schafe und Ziegen zurückgelassen und seien gekommen, um vom Stadtleben zu kosten. Aufgewachsen in Steintürmen, auf Angriff oder Verteidigung eingestellt, misstrauisch gegen Fremde, behandelten sie den Rest der Welt wie ihre Beute. »Sie leben mit den Wölfen und verhalten sich wie Wölfe«, sagte er.
Ein gelber Sportwagen fuhr kreuz und quer durch die Stadt. Zwischen grauem Stein, Staub und Müll wirkte er wie ein Sinnbild des Absurden. Er beschleunigte, mit seiner tiefliegenden Karosserie schlug er Funken aus dem löchrigen Pflaster und musste gleich wieder bremsen, denn in Bajram Curri war wenig Platz. Dahinter begann gleich eine Art heruntergekommener Vorstadt. Ja, alle redeten von ihnen. In Tirana, in Shkodra und hier. Von den Menschen aus den Bergen, von den Menschen aus dem Norden. An der Straße von der Hauptstadt nach Fushë-Kruja war das Land aufgeteilt und abgezäunt. Die rechteckigen Grundstücke waren von soliden Metallzäunen begrenzt. Sie kamen einfach aus den Bergen und steckten ab, was sie für Niemandsland hielten. Wenn dann später die vom Kommunismus enteigneten Eigentümer kamen, verjagten sie sie einfach. Schließlich verfügten sie über Kalaschnikows und die altmodische Klarheit der Gebräuche, nach denen man das Eroberte verteidigen muss. Nur auf diese Weise konnte man es in Eigentum verwandeln. Manchmal standen auf diesen Grundstücken Häuser, die sich ähnelten wie ein Wassertropfen dem anderen. »Das sind bestimmt Brüder«, sagte Rigels.
Diese alte gelbe Karre also fuhr immer im Kreis. Es gab einfach kein Ziel. Zwei Typen mit den obligatorischen verspiegelten Sonnengläsern und Goldkettchen saßen in dem Wagen. Das war ihre Vorstellung von großer, weiter Welt: erster Gang, Quietschen, zweiter, dritter und Bremsen mit noch lauterem Gequietsch. Nur auf die Ziegen und Esel mussten sie achten. Sie fuhren fünfzig Meter, hielten an, begrüßten jemanden, fuhren weiter und hielten wieder an, um jemandem guten Tag zu sagen. In Bajram Curri kannten sich alle und mussten sich alle guten Tag sagen. Aus Bajram Curri konnte man nirgendwohin fahren. Man konnte entweder dableiben oder wieder zurückkommen. Zehn, zwanzig Kilometer weiter begann der Kosovo. In diesem Jahr wurde von dort bulgarisches Vieh geschmuggelt. Das sagte uns jedenfalls ein Polizist auf der Fähre. Er fuhr zur Arbeit, zu seinem Kommando. Dreißig Mann sollten einen sechzig Kilometer langen Grenzabschnitt bewachen, der sich über zweitausend Meter hohes Gebirge zog. Xhemal schlückelte an seinem Kaffee und dachte an die alten Zeiten. Heute hätten die Menschen keine Achtung mehr voreinander, nur noch Angst. Sagte er. Er war Anfang vierzig, hatte einen Schnurrbart, ein kleines Bäuchlein und machte einen gesetzten und sympathischen Eindruck. Das ganze Leben war er Kraftfahrer gewesen. Er erzählte von den Barbaren, die in seine Welt eingedrungen waren. Es hatte den Anschein, als seien ihm die Menschen aus den Bergen, immerhin seine Landsleute und Nachbarn, fremder gewesen als wir. Und Bajram Curri wirkte wie eine Hochburg der Zivilisation. Da kehrten die alten Erzählungen von Angreifern, berittenen Nomaden, von Stammes- und Völkerwanderung wieder. Das Wilde, Brutale und Unersättliche wollte das Zivilisierte erobern. »Manchmal genügte ein schiefes Lächeln, schon zogen sie die Waffe.« Ja, die Stadt, die in ihr angehäuften Dinge und Möglichkeiten waren nichts anderes als Beute. Diese Menschen aus den Bergen hatten schließlich nie etwas besessen. Jedenfalls nie mehr, als sie zum Überleben brauchten. Von der Fähre aus sah ich die einsamen Häuser. Sie waren autark: Mais, Obstbäume, Tabak, Heuschober, irgendwo weiter oben unsichtbare Schafherden. Unten am Ufer lagen kleine Boote. Diese voneinander entfernten, einsamen Wirtschaften hatten etwas von Robinson Crusoes Gehöft. Ich stellte mir den Winter vor, den hohen Schnee und die Einsamkeit dieser Höfe. In den dunklen Innenräumen lebten Großväter, Söhne und Töchter mit ihren Frauen und Männern, Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern, Enkeln und Urenkeln. Seit hundert, zweihundert Jahren immer an demselben Ort. Vom selben Geschirr essend, immer das Gleiche, seit Generationen unverändert gekleidet, das Gewehr oder den Karabiner griffbereit, denn das Böse lauerte schon hinter der Türschwelle des Hauses, das man vor allem gegen das Fremde verteidigen musste, und fremd waren, außer der eigenen Familie und dem Clan, alle.
Und jetzt war dieses Fremde zu haben. Gelbe Autos, Vieh aus Bulgarien, Kalaschnikows für den Kosovo, Drogen für den übersättigten Westen und Sklavinnen für die europäischen Bordelle. Jetzt lag das alles auf der Straße, und man musste sich nur bücken, musste sich nur trauen, all diese Dinge, die nicht gut genug bewacht waren oder aussahen, als gehörten sie niemandem, als Eigentum zu betrachten. Man musste nur wissen, woher der Wind weht, und das Treibstoff-Embargo gegen Miloševićs Jugoslawien als eine einzige große Chance begreifen. Damals fuhren nachts Boote mit Fässern voller Diesel und Benzin über den Shkodra-See nach Montenegro. Ja, man musste nur die einfachen Mechanismen begreifen, die die Welt regieren, die Regeln von Angebot und Nachfrage, die noch stärker sind als die serbisch-albanische Feindschaft.
Rigels war der Meinung, man könne die Menschen aus den Bergen auf Anhieb erkennen. Zum Beispiel an den Falten um die Augen. »Sie haben ihr ganzes Leben unter freiem Himmel verbracht und nie Brillen getragen. Erst jetzt setzen sie welche auf.« Das war eine ziemlich gewagte Theorie, aber tatsächlich begegneten wir Typen, deren Gesichter von den obligatorischen Spiegelgläsern verdeckt waren, und sobald sie sie abnahmen, schien es, als könnten sie, ohne zu blinzeln, in die Sonne schauen. Es waren diese Leute, die meist mit aufgemotzten Geländewagen herumfuhren, deren Anblick in Bajram Curri wie eine Laune des Surrealismus wirkte. Zugleich konnte man sich schwer vorstellen, wo diese Geländewagen besser hingepasst hätten. Dabei belief sich der Marktwert einer solchen Karosse auf das mehrfache Jahresgehalt einer Bajramer Familie, vielleicht sogar eines kürzeren Straßenzugs von Bajram.
Xhemal holte uns früh am Morgen ab. Er hatte zwei seiner Kinder dabei: ein dreizehnjähriges Mädchen und einen achtjährigen Jungen. Wir wollten zum Dorf Valbona. Auf der Landkarte endete dort die Straße. Danach begann das Reich der Legenden. Halbnackte und langhaarige Engländer sollten dort in Höhlen wohnen. Sie sollten mit dem Speer jagen und sich wie ihre Vorfahren von Fleisch ernähren, das über dem Feuer gebraten wurde. Zwei tschechische Touristen waren dort verschollen, und niemand hatte eine Spur von ihnen gefunden, niemand jemals mehr etwas von ihnen gehört. Hätte man die Leichen, Kleidungsstücke, irgendetwas gefunden, dann wäre alles klar gewesen. Doch das Rätsel ihres Verschwindens war schwerer zu fassen als die Nachricht von ihrem Tod. Dort sollten auch Entrechtete sich verbergen, denen selbst in Bajram Curri der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war. Sie lebten in verlassenen Steinhäusern in menschenleerer Gegend, und die Hirten warnten sie vor Polizeirazzien aus Tirana, denn die hiesigen Bullen waren schließlich in ein tausendfältiges Netz von Familien- und Traditionsverbänden verstrickt.
Der Lieferwagen kämpfte sich die holprige Straße hoch, und ich spürte zum ersten Mal seit einer Woche, dass die Hitze ein wenig nachließ. Das Wasser des Flusses war grünlich blau. Felshänge stiegen mehrere hundert Meter neben der Straße auf. Das soll die Lieblingsecke von Enver Hoxha gewesen sein, diese gut zwanzig Kilometer felsigen Fahrwegs, der in die Tiefe der Berge und in die Tiefe der Zeit hinein führt. Wir bewegten uns durch einen der archaischsten Winkel Europas. Seit Jahrhunderten war hier nichts Neues passiert. Die Gegenwart imitierte die Vergangenheit, das war alles. Hoxha war vielleicht immer hierhergekommen, um einen Blick auf das vorsintflutliche Albanien zu werfen, das er zur revolutionären Avantgarde der Menschheit umschmieden wollte. Vielleicht ließ er sich von Halluzinationen leiten und projektierte eine Art Hyper-Kommunismus der Zukunft in diese Menschenleere? Irgendwelche illyrischen Arbeiter- und Bauernpyramiden? Oder suchte er einfach nur Kühle und Erholung von den eigenen Obsessionen und der Angst vor Verrat und Verschwörung?