
Vladimir Jankélévitch
Die Ironie
Aus dem Französischen
von Jürgen Brankel
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe:
L’ironie
© Flammarion, Paris 1964
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Unterstützung des französischen Ministeriums für Kultur – Centre National du Livre und der Maison des sciences de l’homme.
Ouvrage publié avec le concours du Ministère français chargé de la culture – Centre National du Livre et la Maison des sciences de l’homme.
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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ISBN 978-3-518-79540-8
www.suhrkamp.de
Мόνῳ γὰρ τῳ σπουδαίῳ σπουδαστέον ἐν σπουδαίοις τοῖς ἔργοις.
Denn allein mit dem ernsten und edlen Menschteile darf man bei ernstem Werke ernstlich sich bemühen.
Plotin, Enneaden, III, 2, 15.
Ἔστι δὴ τοίνυν τὰ τῶν ἀνθρώπων πράγματα μεγάλης μὲν σπουδῆς οὐκ ἄξια, ἀναγκαῖόν γε μὴν σπουδάζειν.
Es sind nun zwar die menschlichen Angelegenheiten erheblicher Mühe und ernsten Eifers nicht wert; gleichwohl bleibt uns dies Bemühen nicht erspart.
Platon, Gesetze, VII, 803 b.
Inhalt
KAPITEL I
Die Bewegung des ironischen Bewusstseins
1. Die Ironie über die Dinge
2. Die Ironie über sich: »Ökonomie«
3. Die Ironie über sich: die Kunst zu streifen
KAPITEL II
Die ironische Pseudologie und über die Finte
1. Varietäten des Geheimnisses und der Allegorie
2. Von der ironischen Verkehrung
3. Über die doppelte Verneinung
4. Zynismus
5. Ironischer Konformismus
KAPITEL III
Über die Fallen der Ironie
1. Konfusion
2. Schwindel und Überdruss
3. Probabilismus
4. Die humorige Ironie
5. Spiele der Liebe und des Humors
KAPITEL I
Die Bewegung des
ironischen Bewusstseins
ΑΛΚΙΒΙΑΔΗΣ: Σώκρατες, καθεύδεις; – ΣΩΚΡΑΤΗΣ: Οὐ δὴτα …
Alkibiades: Sokrates, schläfst du? – Sokrates: Bewahre …
Platon, Gastmahl, 218 c.
Οὐ καθευδητέον ἐν τᾑ μεσημβρίᾳ.
Sollten sie nun gewahr werden, dass auch wir beide während des Mittags einnicken, so würden sie uns mit Recht auslachen.
Phädros, 259 d.
Ἄρα οὖν μὴ καθεύδωμεν ὡς οἱ λοιποί, ἀλλὰ γρηγορῶμεν …
So lasset uns nun nicht schlafen wie die anderen, sondern lasset uns wachen und nüchtern sein …
1. Thess., V, 6.
Es gibt eine elementare Ironie, die sich mit der Erkenntnis vermischt und wie die Kunst eine Tochter der Muße ist. Sicherlich ist die Ironie wohl zu moralisch, um wirklich künstlerisch zu sein, wie sie zu grausam ist, um wirklich komisch zu sein. Es gibt jedoch einen Wesenszug, der sie annähert: Kunst, Komik und Ironie werden da möglich, wo die vitale Dringlichkeit nachlässt. Doch ist der Ironiker noch freier als der Lacher; denn der Lacher beeilt sich sehr oft nur zu lachen, um nicht, wie diese Feiglinge, weinen zu müssen, die lauthals in die tiefe Nacht hineinrufen, um Mut zu bekommen; sie glauben, der Gefahr allein dadurch zuvorzukommen, dass sie sie benennen, und sie geben sich als Freigeister in der Hoffnung, ihr zuvorzukommen. Ironie, die keine Überraschungen mehr fürchtet, spielt mit der Gefahr. Diesfalls ist die Gefahr in einem Käfig; die Ironie wird sie besuchen, sie ahmt sie nach, provoziert sie, macht sie lächerlich und nährt sie für ihre Erholung; die Ironie wird sich sogar durch die Gitter zwängen, damit das Vergnügen so gefährlich wie möglich ist, um die vollständige Illusion der Wahrheit zu erhalten; sie spielt mit ihrer falschen Furcht und ermüdet nicht, diese kostbare Gefahr, die ständig stirbt, zu besiegen.
Die Schliche können, um die Wahrheit zu sagen, schlecht enden, und Sokrates ist daran gestorben; denn das moderne Bewusstsein versucht nicht ungestraft die monströsen Geschöpfe, die das alte Bewusstsein in Furcht und Schrecken versetzten. Dennoch ist der Geist der Ironie wohl der Geist der Entspannung, und er nutzt die geringste Windstille, um sein Spiel wiederaufzunehmen. Im Verlauf seiner Geschichte hat so das Denken mehrere Oasen der Ironie durchquert; es sind Epochen des »scholastischen Lebens« und freien Gespötts, in denen das Denken Luft holt und sich von den kompakten Systemen ausruht, die es bedrückten; Generationen von Ironikern wechseln mit den zu ernsten Generationen ab, wie sich im individuellen Leben das Tragische und das Frivole abwechseln. Das Auftreten von Sokrates am Ende des fünften Jahrhunderts stellt sozusagen diese erste Ironie des Jugendalters dar, die in uns auf die panischen Ängste und vorschnellen Begeisterungen der Jugend folgt. Die sokratische Ironie ist eine fragende Ironie;1 Sokrates zersetzt durch seine Fragen die massiven Kosmogonien der Ionier und den erstickenden Monismus des Parmenides. Bemerken wir zunächst, dass Sokrates ein Sophist ist, wie Prometheus ein Titan; aber er ist ein Sophist, der sich über die Sophistik ebenso lustig macht wie über die Wissenschaft der Meteore. Im Grunde ist der Geist des Humanismus und der Kontroverse, der bei diesen Scharlatanen weht, eben Sokrates’ Geist; wenn Gorgias zugunsten des Nichtseins argumentiert, bemüht er sich, uns zu mystifizieren, und ebenso der abderitische Protagoras, der ein Virtuose der »Antilogie« ist. Zum Beispiel: Die Sophisten räumen, wie auch Sokrates, die Lehrbarkeit der Tugend ein, aber aus dermaßen suspekten Gründen, dass der Sokrates des Protagoras vorgibt, ihre Nichtübertragbarkeit zu lehren; dass er die Wissenschaft und nicht die Kniffe oder Rezepte sucht. Was Sokrates den Marktschreiern vorwirft (wie später Auguste Comte Saint-Simon), ist, das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen, da zu improvisieren, wo man analysieren müsste, und kurzum zu den routinemäßigen Approximationen des Probabilismus zurückzukehren. Auf einen Sophisten gehören anderthalb Sophisten: Sokrates vereitelt den Skandal dieser Eristik, die Hochstapelei dieses »Aktivismus«; Sokrates löchert mit Fragen die Händler der schönen Phrasen und hat ein listiges Vergnügen daran, ihre Schläuche der Beredsamkeit aufzuschlitzen und aus ihren Blasen voller leeren Wissens die Luft herauszulassen. Sokrates ist das Bewusstsein der Athener, ganz zugleich ihr gutes und schlechtes Gewissen;2 das heißt, man findet in seiner Funktion die Diskrepanz, die den Effekten der Ironie je nachdem eigen ist, ob diese uns von unseren Schrecken befreit oder unsere Glaubensüberzeugungen wegnimmt. Einerseits amüsiert Sokrates die Athener; Schelling vergleicht ihn mit Dionysos, dem jungen Gott, dank dessen sich der öde Himmel des Uranos mit Gesängen und Geräuschen erfüllt. Parmenides ist seinerseits der Kronos der Philosophie, der bei ihrer Geburt die konkreten Besonderheiten, die Vielfalt, die Beweglichkeit, die Andersheit verschlingt. Sokrates, eine dionysische Natur, macht diese gierige Einheit lächerlich, dieses Prinzip Kronos’, das auf der fröhlichen Varietät der Unterschiede lastete; Sokrates hat etwas vom Scharlatan, vom Jongleur, vom Magier; er berauscht die alte starke und steife Polis, er begründet schließlich ein beflügeltes, subtiles, menschliches Wissen, in dessen Umfeld die Analyse des Aristoteles stattfinden wird. Ein Hauch Wahnsinn weht also über den Athenern; der Dämon der Dialektik bestürmt die Jugendlichen auf den Plätzen und an den Kreuzungen; Alkibiades leistet sich alle Arten von Extravaganzen, um die Aufmerksamkeit der Stadt auf sich zu ziehen … Es ist Sokrates, der dämonische Mensch, der die Bürger wahnsinnig macht, der sie mit Dialektik und scharfen Ideen trunken macht; es gibt nunmehr Platz in Griechenland für die beweglichen und losgelösten Ideen, für die fruchtbare Kritik. »Wenn ich dich höre«, sagt ihm Alkibiades am Tisch des Dichters Agathon, »schlägt mein Herz heftiger, als wenn ich von dem Tanz der Korybanten erregt wäre […]«; und er vergleicht ihn nacheinander mit einem Silen und dem Satyr Marsyas, die dionysische Wesen sind. Doch ist Sokrates auch der einzige Mensch, der Alkibiades zum Erröten bringt; der Einzige, der ihm begreiflich macht, dass zu leben, wie er es macht, nicht zu leben wert ist. Alles erscheint flach neben dem herrlichen und bewegenden Lob, mit dem Platons Gastmahl endet. Alkibiades ist ein wenig trunken, gerade genug, um in der ganzen Spontaneität einer ersten Bewegung zu sprechen. »Ich muss ihn also meiden und mir die Ohren zustopfen, wie um den Sirenen zu entkommen […]. Er ist der Einzige, der in mir ein Gefühl erweckt, dessen man sich kaum für fähig halten würde: Scham in Gegenwart eines anderen Menschen; und oft würde ich, glaube ich, es vorziehen, dass er nicht existierte.« Sokrates ist also für die frivole Polis eine Art lebender Gewissensbiss; er erquickt sie, aber beunruhigt sie auch; er ist ein Spielverderber. Die Menschen verlieren bei seinem Kontakt die täuschende Sicherheit der falschen Evidenzen, denn man kann Sokrates nicht gehört haben und weiterhin auf dem Kissen der alten Gewissheiten schlafen: Es ist also nunmehr vorbei mit dem Dämmerzustand, dem Ausruhen und dem Glück. Er stachelt an, er hält die Dämmernden in Atem: Eutyphron, den schüchternen Frömmler, Laches, den Soldaten, Hippias, den Allwissenden, den Scharlatan … Er drängt sie alle in eine Sackgasse, er wirft sie in die Unschlüssigkeit der Aporie, die die durch Ironie hervorgerufene, symptomatische Verwirrung ist: Obgleich du selbst verlegen bist, bringst du die anderen in Verlegenheit (αὐτός τε ἀπορεῖς καὶ τοὺς ἄλλους ποιεῖς ἀπορεῖν)!3 Nachdem sie sich ihrer eigenen Unwissenheit bewusst geworden sind, fühlen sie sich von einem unerklärlichen Unwohlsein bedrängt: ein durch den Widerspruch hervorgerufenes Unwohlsein, das gemäß dem Platon des Menon die Wiedererinnerung einleitet. Daher heißt es im Theätet: Iris ist Tochter des Thaumas, und die Wissenschaft ist Tochter des Erstaunens,4 das heißt: der Aporie. Diese Aporie, die mit der Mäeutik verbunden ist, das heißt mit einer Art von geistiger Geburtshilfe, enthüllt uns noch deutlicher ihre erotische Natur: Das Unwohlsein der Widerlegung, ἔλεγχος, ist wie eine Liebesqual, und der »Gott der Widerlegungen«, θεὸς ἐλέγχων, sollte vielleicht den Namen Eros tragen. Sokrates stellt also ein Alarm- und Mobilitätsprinzip dar: Als elektrisches Geschöpf mobilisiert er das Unbewegliche, bestreitet er das Unbestreitbare, und sein unermüdliches Misstrauen ist immer wach. Er lähmt nicht seine Gesprächspartner wie die Eule, die nach dem Sophisten Elien die Vögel durch ihre Grimassen fasziniert, wie die Maske der Medusa, die die Menschen erstarren lässt, sondern er lässt sie erschlaffen, um sie gewitzter zu machen. So beschämt Jesus5 durch seine Fragen die Männer des Gesetzes und bringt sie entweder zum Schweigen oder zur Absurdität: Zum Beispiel erklärt er ihnen, dass aller Reichtum von der List oder Gewalt abstammt, dass aller Besitz die Tochter der Ungerechtigkeit und des Instinkts der Habsucht ist; das ›Haben‹ ist unwesentlich: Jesus löst also das ›Haben‹ in Luft auf; es gibt kein Eigentum, keine Erbschaft, kein Geld, keine Zugehörigkeit, kein Mein und Dein, was substanziell wäre. Aber Jesus wird nicht über eine Heimtücke, die die Grundlage der Böswilligkeit ist, triumphieren, es sei denn durch seinen Tod selbst; dagegen fährt Sokrates die Spaßmacher an und entlarvt so schon hier auf der Erde eine oberflächliche Selbstgefälligkeit, die nach allem nur ein schlechtes Gewissen ist. Das Evangelium sagt zu Recht: Sie wissen nicht, was sie tun; aber ihre Verblendung selbst ist übernatürlich und fordert ein übernatürliches Vergeben. Nun, es gibt in Athen keine teuflische Halsstarrigkeit, keine Unkenntnis, deren Geständnis die Ironie nicht herbeiführen könnte. Ξύνοιδα ἐμαυτῶ ὅτι οὐκ οἶδα (Ich bin mir bewusst, dass ich nicht weiß).6 Sokrates lässt die Luft aus der zufriedenen Selbstgefälligkeit heraus; er macht die Menschen unzufrieden, gewissenhaft, für sich selbst schwierig, er verleiht ihnen den Stachel, sich zu erkennen und zu definieren. Dennoch betet das Gewissen im Grunde den beruhigenden Irrtum an, von dem Sokrates es befreit; es ruft die dialektische Person, die es operieren will, herbei und verdammt sie zugleich, es empfindet ihr gegenüber ein ambivalentes Gefühl; es will nicht der Versuchung zu untersuchen, dem Geist der Prüfung und der freien Bewegung nachgeben. Der misstrauische Philosoph wird also seinerseits verdächtig werden: So wird Sokrates den Schierlingsbecher leeren. Sokrates ist tot, und dennoch ist sein Tod unter den Menschen lebendig geblieben; Sokrates lebt jeden Augenblick in unseren Herzen auf, denn man weicht nicht seinem schlechten Gewissen nur dadurch aus, dass man ihm den Schierling zu trinken gibt: Denn das Schierlingsgift selbst verwandelt sich nach dem Wort von Leo Schestow7 in ein herzhaftes Stärkungsmittel. Im Übrigen wissen die Menschen nicht, was sie wollen; οὐδεῖς ἑκὼν ἁμαρτάνει (niemand verfehlt sich freiwillig),8 das heißt: Sie sind noch dümmer als bösartig. Sie töteten Sokrates, aber Sokrates hat Zeit gehabt, sie zu definieren. Er hat sich an seinen Anklägern gerächt, indem er ihnen seinen Tod vererbte.
Sokrates’ Tod ist also eine normative Tatsache wie die Schlacht von Marathon geworden, ein erhebendes Symbol, das die alten asiatischen Schicksale des Bewusstseins abwendet: So wird die Jugend dieses Todes immer im undankbaren Volk wohnen, dessen Freundin sie ist. Er hat dem Vielfachen Luft zum Atmen gegeben; er ist wie ein Rätsel oder Skandal aufregend geblieben; und wie die Unterhaltung mit Sokrates die Rhetoren in Verlegenheit brachte, so hat seine Marter eine dauerhafte Verlegenheit provoziert, eine Art fruchtbarer Aporie, dank welcher der Geist in Habachtstellung geblieben ist. Von Platon bis zu Lamartine und von Schelling bis zu Hegel, Kierkegaard, Nietzsche … bis zu Erik Satie hat man nie aufgehört, die Hieroglyphe dieses Todes zu entziffern: Der christliche Sokrates, der dionysische Sokrates, der plebejische Sokrates – der große Hexer (wie ihn Menon nennt) – hat uns für alle Zeiten vor der einfältigen »Euphorie« des Unbewusstseins bewahrt. Sokrates macht eine ganze Ahnenreihe von protestierenden Philosophen möglich, die die Tradition immer frecher erschüttern; und wie die Olympier in der klassischen Mythologie Mühe haben, sich ohne Lachen anzusehen,9 so wächst die Skepsis unter den Menschen; die Götter beginnen, einander Streiche zu spielen, und die Farce, deren Opfer nach der Odyssee Ares und Aphrodite sind und die die Menschen und Götter zum Lachen bringt, diese göttliche Farce zeigt uns, dass Respektlosigkeit nicht die Unsterblichen verschont. Wie Hephaistos fängt der Sokrates des Eutyphron und der Bücher II und III des Staats die Götter in einem feinen Netz ein, damit wir die Fabeln nicht mehr ernst nehmen. Nach der sokratischen Ironie die zynische Unverschämtheit: Denn nach Sokrates kommt Diogenes, der sozusagen ein fanatischer Sokrates ist, eine Art dem bacchischen Umzuge entkommener Ziegenfuß. Der Zynismus ist oft ein enttäuschter Moralismus und eine äußerste Ironie: Wechselt Friedrich Schlegel nicht ständig von dieser zu jenem? In dieser Hinsicht ist der Zynismus nichts anderes als eine rasende Ironie, die sich damit amüsiert, die Philister aus Vergnügen zu schockieren: Es ist der Dilettantismus des Paradoxes und des Skandals. Kallikles, ein Emporkömmling und Immoralist, stellt im Gorgias einen ganz anderen Typus dar! Denn der wahre Zynismus ist deswegen die Kunst des ›Sich-Durchwurstelns‹ oder des gewissenlosen Pragmatismus, denn er verwirft im Gegenteil die sozialen Konventionen, denn er ist asketisch und neigt zur Tugend, dem Genießen feindlich und steht den weltlichen Größen verächtlich gegenüber; wie Kallikles ist gewiss auch Antisthenes Realist, aber zusätzlich mit eine Nuance an Sittenstrenge und moralischem Fanatismus, der Rousseau ankündigt und diese christliche Religion, über die Friedrich Schlegel gesagt hat, dass sie ein »universeller Zynismus« sei. »Inmitten des roten Rauchs des Stolzes ist BESACE10 (der Bettelsack) errichtet, die Stadt des Zynikers, in die kein Parasit Eintritt hat, der nur Thymian, Feigen und Brot erzeugt […].«11 Sokrates war arm: Also werden sie Bettler sein. Sokrates flanierte an den Straßenecken: Sie werden in Tonnen wohnen. Sokrates praktizierte mit einer ausgesuchten Bescheidenheit die Kunst des Dialogs; sie werden beißende Kritiken, Predigten, Apologien des Propagandisten vorziehen, weil sie mehr darauf bedacht sind, zu kämpfen und zu predigen als zu diskutieren, mehr darauf brennen, zu bekehren als zu überzeugen. Auf die feinsinnige Ironie folgt die leidenschaftliche Übertreibung des Grobians; sie meinen, dass sie an tausend Dummheiten, an eine ganz komplizierte Schauspielerei gehalten sind, die Teil ihrer Legende sein wird; die anonyme Ironie bei Sokrates hat das Bedürfnis, sich als struppig, verschmutzt und aggressiv zu zeigen; statt die Ideen zu analysieren, zieht sie die Aphorismen vor (χρεῖαι, σίλλοι, Geschäfte, Gespött), und man sammelt liebevoll ihre Sentenzen. Das »Bonmot« ist eine Waffe: Die dialektische Ironie weicht bei Lukian einer Ironie der Sentenzen, und die Weisheit wird lange »im Zustand des Epigramms« bleiben, bevor sie die »Agudeza« von Baltasar Gracián entstehen lässt. Der Zynismus ist also die Philosophie des Überbietens: Nach Sokrates spannt sich die Ironie bis zur Gotteslästerung und bis zu den schlimmsten Übertreibungen des moralischen Radikalismus.
Die sokratische Ironie bestritt nur die Nützlichkeit und Gewissheit einer Naturwissenschaft; die romantische Ironie wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Existenz selbst der Natur bestreiten. Man kann sich darüber verwundern:12 Die romantische Glut hat eine Haltung der Distanzierung zur Folge, die eher zu Voltaires Candide als zum Besessenen von Hoffmann und eher zum Skeptizismus als zum Enthusiasmus zu passen scheint. Diese Ironie ist in Wahrheit kein Humor im Sinne von Swift, Stern und Voltaire, diese Ironie ist eine Trunkenheit der transzendentalen Subjektivität. Der kritische Idealismus ermutigte sie, die bei den Dichtern allmählich lyrischer Idealismus und »magischer« Idealismus wird. Von Kants Subjekt zu Fichtes Ich und von Novalis’ IMAGINATION zu Friedrich Schlegels GENIE hört der Geist nicht auf, sich aufzublasen, sozusagen sich an sich selbst zu berauschen; als Schöpfer seines Gegenstands determiniert er ihn in seinem Sein und nicht nur in seiner Ordnung oder in seinem Sinn. Vom transzendentalen Subjekt bis zum schöpferischen Willen ist der Abstand der gleiche wie von der Freiheit zum Ausschweifen, das heißt vom von der Pflicht determinierten Wollen zum hyperbolischen, willkürlichen und unmoralischen Wollen. Statt dass so die sokratische Weisheit sowohl der Selbsterkenntnis und der Kenntnis der Welt misstraut und beim Wissen seiner Unkenntnis über sich selbst endet, schwächt die romantische Ironie die Welt nur ab, um sich selbst ernster zu nehmen. Sie ist bei Friedrich Schlegel »Verstand«*,13 die Freiheit des Subjekts, das über das Objekt hinausragt; bei Novalis ist sie »Gemüt«*, die magische und poetische Freiheit, die die Welt verklärt, die schwärmerische Freiheit, die die Natur romantisiert; das Universum ist eine Erzählung der erhabenen Phantasie. Ironie ist die Macht, zu spielen, sich in die Lüfte aufzuschwingen, mit den Inhalten zu spielen, entweder um sie zu verleugnen oder um sie neu zu schaffen. Andererseits stellt Sokrates ein praktisches und staatsbürgerliches Problem, das Schlegel, wenigstens bis 1802, zu verachten vorgibt; von der einen Ironie bis zur anderen ist es ebenso weit wie vom »Moralismus« zum ästhetischen Dilettantismus und anarchistischen Nihilismus. Schlegel gibt sich selbst die Freiheit, aber eine Freiheit ohne Verantwortung, eine Freiheit, die aus nichts anderem besteht als dem Vergnügen, ausgeübt zu werden – mit einem Wort die Freiheit ohne rechtliche Ordnung und ohne all dieses ernste Pathos, das das fichtesche Ich verbürgerlicht. Stellen wir uns einen Diogenes vor, der die Wissenschaftslehre* gelesen hätte und sich damit begnügte, die »heilige Faulheit« und die »transzendentale Possenhaftigkeit« zu rühmen, um bei Beamten und Pädagogen Ärgernis zu erregen. Julius, der Held der Lucinde, spielt das zynische Spiel der Freiheit. Durch den Übergang von der klassischen Ästhetik Schillers zur dionysischen Ästhetik Schlegels hat die Idee des Spiels ein bohemeartiges Aussehen angenommen; von nun an bedeutet Spiel nicht mehr Muße, sondern Untätigkeit; nicht mehr olympische und liberale Muße, sondern die einer allen Sorgen des Spleens günstige Vakanz. Zufall und Schicksal vereinigen sich: Diese hyperbolische und faule Freiheit, die alle Kulturwerte verschlingt, endet bei einer Art quietistischer Indifferenz, für die es keine Tugend, kein Objekt und selbst keine Kunst mehr gibt! Aufgrund der romantischen Dichtung, wie Jean Paul sie versteht, lösen sich die Grenzen der objektiven Welt in der Unendlichkeit des Subjekts auf, wie sich plastische Formen in dem Halbschatten des Mondscheins auflösen. Hegel hat die Selbstherrschaft dieses ironischen Ichs sehr verspottet, das jede Determination und Besonderheit verschlingt … In der Nacht, macht Hegel sich lustig, sind alle Katzen grau; bezüglich unseres unendlichen freien Willens vernichten sich alle geformten Dinge im Chaos der Ironie,14 gleichen sich im Nichts. Dieses umgekehrte Erhabene, die unendliche Negation, die den Wahnsinn und die Weisheit gegeneinander ausspielt, ist das, was Jean Paul als Humor bezeichnet; statt aber den Hiatus nach Schlegel zwischen Ich und Welt zu platzieren, situiert ihn Jean Paul, indem er den christlichen Begriff der Sünde aufnimmt, zwischen Gott und den Dingen der Welt – unter denen sich das Ich befindet: Der Humor vernichtet nicht das Einzelne, sondern überhaupt die Endlichkeit durch ihren Kontrast zur Idee der unendlichen Vernunft;15 er stürzt das universal Menschliche von der Höhe des tarpejanischen Felsens16 in den Abgrund; der »Welthumor«* eines Cervantes oder eines Shakespeare ist kein Humor über Details oder Anekdoten, sondern über die Totalität. Vor allem bei Solger geht schließlich die Ironie in das Zentrum eines dogmatischen Systems ein: Sie, die bis dahin eine Art subjektiver und eher literarischer Humor war, ist nun zu einer metaphysischen Kategorie geworden; sie bezeichnet diesmal nicht mehr die Launen des genialen Amateurs, sondern die kosmischen Geschicke des ABSOLUTEN. Solger stellt die dialektischen Prozesse der Einverleibung des ABSOLUTEN heraus: Das Unendliche erlischt im Endlichen, die Idee geht im Wirklichen, wo sie sich offenbart, unter: Das heißt, dass die Idee sich als unendliche und allgemeine verneint und zugleich sich als endliche und partikulare behauptet; aber sie verneint ihrerseits diese Negation und behauptet sich so als universelle. Ironie, das ist das Bewusstsein der Offenbarung, durch welche das Absolute in einem flüchtigen Moment sich verwirklicht und bei dieser Gelegenheit sich zerstört; und die Kunst ist nichts anderes als der Augenblick des Übergangs, das schöne und gebrechliche Scheinen, das die Idee zugleich ausdrückt und vernichtet.17 So konstituiert sich im Gegensatz zum reflexiven, bissigen, spöttischen »Witz«* des 18. Jahrhunderts eine ein wenig wilde Ironie, eine übertriebene und ehrgeizige Ironie. Die Bescheidenheit, die Scham, die Klarsichtigkeit sind nicht mehr ihre Sache. Die aufsteigende Regression des Sokrates weicht der pedantischen Deduktion Solgers und die Suche nach der Wahrheit den metaphysischen Tragödien der Inkarnation: Die Ironie ist nicht mehr heuristisch, sondern nichtend; die Ironie dient nicht mehr zur Erkenntnis, auch nicht, um das Wesentliche unter den schönen Worten zu entdecken, sie dient nur dazu, die Welt zu überfliegen und die konkreten Unterscheidungen zu verachten.
1. Die Ironie über die Dinge
Der Gipfel an Ernsthaftigkeit wäre, ganz einfach zu leben, ohne irgendeine Frage zu stellen, und der Evidenz der eigenen Organe innerlich zu gehorchen. Kann man dieses verzückte Bewusstsein, das ganz in seinen Herzschlägen absorbiert ist, ein ernstes Bewusstsein nennen, es sei denn aufgrund von Analogie? Das Ernste definiert sich im Verhältnis zu einer immer möglichen Heiterkeit, wie die Evidenz das bezeichnet, was man dem Zweifel wieder abgewonnen hat; man bewahrt seinen Ernst unter ironischen Gesichtern, nur mit Mühe bleibt man ernst, wenn die Ereignisse Anlass zum Lachen geben; oder auch, im Inneren des Individuums ist ein einziges Gefühl in einem ganz zynischen Bewusstsein ernst geblieben. Das Ernsthafte ist der Hintergrund, vor welchem sich die Possenhaftigkeit und das Tragische abheben, aber diese akzentuieren ihrerseits durch Kontrast den ERNST, der so eine Reliefwirkung wird. Und gleicherweise gibt es keine absolute oder einsame Evidenz; die Evidenz ist immer der Gegenstand einer ausdrücklichen Erklärung: Denn man wird beispielsweise zur irrationalen Evidenz zurückkehren, wenn man von den zu zivilisierten Strukturen und den zu bewussten Ideologien angewidert ist. Würde man diese vegetative Seele, die keine Freiheit auflockert, diese Seele, die mit dem Blutkreislauf und dem Zittern der Organe zusammenfällt, eine ernste Seele nennen? Daher kann man nicht, es sei denn metaphorisch, den »Ernst« der Natur behaupten: Denn, wenn man der Natur eine zu unverhoffte Finalität zuweist, so bedeutet es, den Pessimisten zu erlauben, gegen das Übel, das sie duldet, zu deklamieren. Und ebenso, wenn die einen im Übermaß dramatisieren, vereiteln die anderen – wie Schelling, Novalis oder von Schubert – im Tierreich die Ironien einer Natur, die sich nicht scheut, sich selbst zu parodieren. Ist die romantische »Naturphilosophie«* nicht die Physik der Metapher? Die Welt ist in Wirklichkeit ernst oder frivol nur für einen Kopf, der sie denkt, und das im Verhältnis zu unserem Geschick. So ist das Ernsthafte selbst bereits eine Wirkung der Beziehung, eine entstehende Spannung; etwas ist ernsthaft, aber das Ganze und die eigentliche Existenz können nur »gegeben« sein. Das SEIN des Parmenides ist selbst nicht ernsthaft! Es ist eher vor-ernsthaft (pré-sérieux).
Obgleich nicht jede Erkenntnis offen über seinen Gegenstand ironisiert, kann man das Gewissen eine entstehende Ironie nennen, ein Lächeln des Geistes. Zweite Bewegung im Gegensatz zur ersten, die absolute Leichtgläubigkeit oder naiv kategorische Bejahung ist, ist das Gewissen gewissermaßen eine Meinungsänderung, eine ἐποχή; Gewissen ist Revanche am Gegenstand, worüber es bewusst wird, und es ist hierin die Kraft des Schwachen: Das pascalsche Paradox des denkenden Schilfrohrs ist in dieser Hinsicht immer gültig. Dies nun ist die Überlegenheit des Unterlegenen, die Kraft der Schwachen, der Reichtum der Armen: Der Arme wird erst recht reicher als der Reiche sein. Als ein »nicht-reziprokes« Verhältnis gibt das Bewusstsein dem Bewussten die Initiative über das Unbewusste, über den ins Schlepptau genommenen Menschen. Zum Beispiel: Da der Erwachsene Bewusstsein zugleich von sich selbst und des Jugendlichen ist, der er gewesen ist, hat er das relativ Unbewusste, über das er sich bewusst ist, in der Hand; der Erwachsene ist das Bewusstsein des Jugendlichen, und er lächelt über seine naiven Begeisterungen, über seine törichten Hoffnungen, über seine unverbesserlichen Illusionen; er ironisiert über seine eigene Jugendlichkeit, wie das umfassende Bewusstsein das umfasste Bewusstsein ironisiert. Das zweite Alter der Komödie, das auf den erhabenen Ernst der Tragödie folgt, repräsentiert in der Geschichte eine Befreiung derselben Ordnung: Denn der moderne Mensch ist über sein tragisches, schroffes, massives und wie ein Felsen des Prometheus kompaktes Schicksal hinausgewachsen. Bewusstsein ist Ablösen. Ironisieren, schreibt der große russische Dichter Alexander Blok (der übrigens eine Anklagerede ausspricht),18 ist sich enthalten: Denn das in die zweite Bewegung der Ironie implizierte Bewusstsein wandelt die Gegenwart in Abwesenheit um; es ist die Macht, etwas anderes zu tun,19 anderswo, später zu sein; aliud und alibi! Es gibt uns mit seiner Meinungsveränderung Disponibilität. Wir verdanken ihm zunächst diesen Abstand und dieses Minimum an Müßiggang, ohne die es keine mögliche Vorstellung gibt: Denn der im Hintergrund sich haltende Geist nimmt Abstand, das heißt: Der Geist löst sich vom Leben, zögert die drohende Gefahr hinaus, hört auf, sich mit den Dingen zu beschäftigen und schiebt sie bis zum Horizont seines intellektuellen Felds zurück. Die Landschaften verkleinern sich wie durch ein umgekehrtes Fernrohr. Der Geist befreit sich zunächst schüchtern und intermittierend, indem er Fragen stellt; die am Fragezeichen aufgehängte Frage ist bei Erik Satie eine unvollendete melodische Geste, eine Bewegung, die in der Luft und in Erwartung auf etwas bleibt: So ermöglicht das Abwechseln von Fragen und Antworten in den sokratischen Dialogen eine respektlose Analyse der Ideen; das den kompakten Diskurs zerkleinernde Denken wird fähig, nach rechts und links zu sehen und nimmt schließlich dem schweren Mantel die Notwendigkeit weg. So führt die Ironie in unser Wissen das Relief und die Staffelung der Perspektive ein. – Zur gleichen Zeit, wie er sich von uns entfernt, wird der Gegenstand im Raum die anderen Gegenstände antreffen, die ihm zur Definition dienen werden. Wenn es einen Gegenstand gibt, gibt es mehrere Gegenstände; oder umgekehrt, wenn es nur einen Gegenstand gibt, gibt es überhaupt keinen Gegenstand. Der Gegenstand, wie die Qualität oder die Farbe, impliziert unmittelbar den Plural. Wie das Sein in Platons Sophistes am Nichtsein teilhat, so bestimmt sich der Gegenstand durch all die anderen, die ihn nicht ausmachen und seine Umrisse zeichnen. Zwei Angaben zum Aufenthaltsort genügen gewissermaßen für seine Ortung: sein Verhältnis zum ihn reflektierenden Bewusstsein, sein virtuelles Verhältnis mit anderen Körpern, von denen er sich abhebt. Da aber der Gegenstand nie allein ist, wird er logischerweise an ihnen allen teilhaben. Derart ist nämlich die Amphibolie der Grenze: Denn sie sagt zugleich ja und nein, sie behauptet die Substanz in ihren Grenzen und sie verweigert ihr eine Unendlichkeit an Adjektiven; sie ist das Ende als Ziel und das Ende als Term, und sie zwingt den Geist, nacheinander die Vollkommenheit des Unendlichen zu bedauern und die Negativität des Unbestimmten zu fürchten. Lasst uns daran erinnern, dass die sokratische Wissenschaft eben die Wissenschaft der Definitionen ist, diejenige, die ganz zugleich die Begriffe in ihrem An-sich fixiert und dessen Rand abgrenzt: Unterscheidung und Klarheit, dies sind die unzertrennlichen Qualitäten – eine extrinsische und die andere eine intrinsische – des »vollendeten« Begriffs. Warum war es notwendig, dass die fleischgewordene Existenz den Preis des Verzichts hatte? Dass »positiv« »privativ« meinte? Welcher Fluch schrieb den Menschen vor, sich einzuschränken, um wirklich zu existieren? Im gegebenen Augenblick werden wir diese Alternative erklären müssen. Man kann nicht zugleich alles und etwas sein, und der Zwang, zwischen diesen Unvereinbarkeiten zu wählen, macht ganz zugleich die Größe und das Elend des Bewusstseins aus. Das sich in Worten und Begriffen artikulierende Denken trennt diese Verbündeten voneinander. Es ist die Ironie der Zerstückelung. Unsere Taktik besteht darin, überall die Disjunktion der Elemente durchzuführen, um jeden Preis zu vermeiden, dass das Universum sich wiederum in jedem seiner Teile darstellt. Das Universum wäre das stärkste, wenn wir es sich in jedem Detail totalisieren und überall die Einheitsfront der leichtgläubig aufgefassten Erfahrung wiederherstellen ließen. Unter diesen mystischen und gegen uns verbündeten Aktionen suchen wir den Spalt, der uns ermöglichen wird, an jedem Punkt mit unserer ganzen Seele aufzulasten. Der Gegenstand ist also nur noch er selbst; hier ist er, in beiden Bedeutungen des Wortes, »individualisiert«, das heißt, dass er zunächst einfach und im Inneren ungeteilt ist und dass er dann kein anderer ist. – Während er im Raum kleiner wird, verliert er in der Dauer seine Wichtigkeit: Denn die Ironie der Voraussicht kommt der Ironie der Definitionen zu Hilfe. Nicht nur ist der Gegenstand nur ein Detail, er ist auch nur ein Moment, und das Eigentümliche des »Moments« ist, eine ganz nebensächliche Rolle in der Aufeinanderfolge der Phänomene einzunehmen. Der zwischen einer gerade erloschenen Vergangenheit und einer Zukunft, die bereits an die Tür klopft, sich drängende Moment hat gerade begonnen, sich existent zu fühlen, als er schon die Koffer packen muss. Man klagt oft den Verstand an, den Aberglauben des Definitiven zu haben: Aber gibt es nicht eben nichts Vernünftigeres als den Sinn des Provisorischen, die Überzeugung, dass die Phänomene ihr Datum in der Zeit haben wie die Körper ihren Ort im Raum? Ebenso wenig, wie es einen absoluten Gegenstand gibt, gibt es eine ewige Gegenwart: Denn der mit den Barrieren der Definition ausgestattete Gegenstand wird darüber hinaus durch die Umstände, die ihn umkreisen, datiert. Das Bewusstsein ist ganz zugleich die Weltkarte, auf der sich die Verwirrung der Allgegenwart anordnet, und der Kalender, der die Ereignisse ortet, verteilt und umschreibt. Das Bewusstsein ist sagen: Heute und Hier mit einer einschränkenden Nuance und mit dem Lächeln über die närrischen Ängste oder unvernünftigen Ansprüche auf die Allgegenwart. Verstehen wir uns richtig: Die Vernunft ist Unterscheidungsfähigkeit, aber sie ist vor allem Funktion der Verhältnisse, indem sie Kurven mit der unzusammenhängenden Zeichenschrift zieht, kausale Verbindungen oder wenigstens gesetzliche Konstanten unter dem Zickzack der Natur entdeckt. Dies ist wahr; aber lassen Sie uns jedoch bemerken, dass diese Verbindungen sich in diskontinuierlichen Phasen ineinanderfügen und vor allem einschränkend sind: Denn sie drücken aus, dass alles nicht möglich ist, dass jede beliebige Ursache nicht jede beliebige Wirkung erzeugt, dass die Wege des Determinismus eng sind. Die unbestimmten Prophezeiungen weichen den prosaischen Voraussagen; im Sternennebel der unförmigen Analogien trennen sich Lichtkerne, zwischen denen unser Geist Sternbilder zeichnet, Figuren der Dauer mit feinen und gespannten Linien. Ganz wie der Atlas schätzt die Chronologie den Gegenstand gering; und unsere Vernunft, die zugleich in alle Richtungen blickt und »prospektiv« ist, beginnt, das Universum mit Lässigkeit zu behandeln.
Abstand, Dauer und Koexistenz – dies ist die Eitelkeit des dreifach ermittelten Gegenstands. Unser Bewusstsein nimmt sozusagen die synoptische Perspektive des Fliegers ein und lächelt über seinen alten Alptraum. Es bleiben in ihm jedoch Inseln der Tragödie. Jeder für sich genommene Augenblick ist belanglos und verdient nur eine amüsierte Aufmerksamkeit, aber die Totalität der aufeinanderfolgenden Augenblicke widersteht unserem Humor. Leben bleibt eine große Sache. Es gibt nur noch Anekdoten, aber das Leben selbst, das aus ihnen gebildet ist, bleibt schrecklich ernst. Nun, es besteht in uns etwas Totales weiter, nachdem das Universum seit langem in unbedeutende Parzellen und die Dauer in winzige Vorfälle aufgeteilt worden ist. Das ironische Bewusstsein treibt seinen Spaß mit der Welt; aber wie sollte das Bewusstsein keine hohe Vorstellung von seiner eigenen Wichtigkeit haben, das sich weder vom JETZT noch durch das DIES-DA beeindrucken lässt? Zerstört nicht das Bewusstsein, indem es sich selbst verspottet, das Werkzeug selbst des Spotts? Man macht ihm keine Angst: Denn dies ist seine Kraft, aber auch seine Schwäche; es ist bis aufs Äußerste bewusst, jedoch mit weiten Zonen der Bewusstlosigkeit; nach draußen empfindlich, nach drinnen betäubt, ähnelt es diesen großen Moralisten, die plötzlich ein heftiges Fieber der Tugend verzehrt und die nie Augen für ihre eigene niedrige Gesinnung haben. Wie es lokale Wutanfälle in einer ganz verderbten Seele gibt, so stellt man sich mühelos eine einseitige und spezialisierte Hellsichtigkeit vor, die schlimmer wäre als die Verblendung: Dies ist die falsche Klarsicht der schlecht erwachten Seelen. Man muss nicht nur von der Welt erwachen, sondern auch von sich selbst. Das Bewusstsein ist nicht ganz seiner selbst bewusst, solange es von sich selbst getäuscht wird, solange seine lächerliche Würde es der fremden Ironie aussetzt; denn die Würde, ein Symptom der Bewusstlosigkeit, macht verletzbar. Der Betrunkene sieht überall Betrunkene. Diese Halbtrunkenheit der Seele, die unsere Sinne schärft, aber unser Nachdenken schwerfällig macht, erzeugt eingebildete und komische Menschen: Denn alle Welt lacht über uns, und wir sind die Letzten, die es wissen. Menschen und Tiere umkreisen uns bereits, um über unsere Perücke, unsere Hemdbrust und unser großes Bewusstsein zu lachen, aber wir halten die Natur für noch drolliger als uns selbst und machen weiterhin Wortspiele!
Um sich von sich selbst abzulösen, braucht man eine völlige Abwesenheit von Selbstgefälligkeit, eine besonders fordernde Bescheidenheit und den unerschütterlichen Entschluss, gegebenenfalls bis zum Sakrileg zu gehen. Um über seinen eigenen Körper wie über eine äußere Sache humoristisch zu sein, muss man Epiktet sein; man muss ein Held der Ironie sein. Wir haben seit langem aufgehört, das Universum ernst zu nehmen – und wir beharren darauf, unserer Person eine privilegierte Stellung einzuräumen, eine Ausnahme zu ihren Gunsten zu machen; wir können nicht glauben, dass sie ein Gegenstand wie alle anderen ist: so wie ein Arzt, der sich nicht mit dem Gedanken abfände, dass seine eigene Krankheit gemeines Recht ist. Max Scheler und Louis Lavelle zeigen uns im Gefolge des Buddhismus20 ein Mittel, um das Leid zu objektivieren, aber das analysierte Leid erneuert und totalisiert sich ständig, so dass der schlecht erlöste Mensch ohne Ende vom Leid zum Bewusstsein und vom Bewusstsein zum Leid übergeht. Wie kann man causa sui Ist die Scham nicht eine gewisse Manier, die Verwirrung eines Geistes, dem weder ein ohnmächtiges Gewissen noch eine unwürdige Koinzidenz genügen? Die von der Lust versuchte Amphibie zögert zwischen zwei Leben, βίος und ζωή, deren Symbiose ihre Existenz selbst ausmacht.22