In der Nacht vom 31. August auf den 1. September 2008 nehmen sich in einer kleinen Stadt im verarmten und weitgehend isolierten Osten Grönlands elf Menschen das Leben. Wie eine Epidemie breitet sich der Freitod in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen des Ortes aus, dessen Bewohner sich »durch eine Berührung oder einen Blick infiziert« zu haben scheinen. Oberflächlich betrachtet, stehen diese Selbstmorde in keinerlei Zusammenhang, nur einige der Toten kannten sich flüchtig. Und doch fragt sich der außenstehende Beobachter: »Ist es nicht ein Trugschluss zu glauben, das Leben eines Einzelnen habe Bedeutung nur für sich betrachtet? Genauso wenig wie der Tod eines Einzelnen Sinn macht, isoliert vom Leben der anderen.«

Der Roman Anatomie einer Nacht erzählt die letzten Stunden von elf Menschen, und er erzählt von Grönland, diesem Land der Extreme, über dem so viel Kälte und Einsamkeit und tröstlicher Zauber zugleich liegt. Behutsam und in eindringlichen Bildern folgt Anna Kim den lebensgeschichtlichen Verzweigungen und gibt Antwort darauf, warum diese eine Nacht nur so ablaufen konnte, wie sie ablief.

»Anna Kims Roman steht in großen Traditionen, und wenn mit diesem Buch etwas bewiesen ist, dann vor allem eines: Dass es eine hellsichtige Literatur braucht, um durch ein großes Dunkel zu führen, das so viel größer ist, als es eine einzige Nacht je sein könnte.« Die Welt

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren. 1979 zog die Familie nach Deutschland und schließlich weiter nach Wien, wo die Autorin seit 1984 lebt. Von ihr sind bisher die Erzählung Die Bilderspur (2004), der Roman Die gefrorene Zeit (2008) sowie der Essay Invasionen des Privaten (2011) erschienen. Anatomie einer Nacht ist ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag. 2012 wurde sie mit dem EU-Literaturpreis ausgezeichnet.

Anna Kim

ANATOMIE

EINER

NACHT

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage

der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4478

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlaggestaltung: Judith Schalansky, Berlin

eISBN 978-3-518-79550-7

www.suhrkamp.de

The nights now are full of wind and destruction.

Virginia Woolf, To the Lighthouse

Hauptpersonen

(in der Reihenfolge ihres Auftretens)

Sivke Carlsen, 22, Aushilfe im Museum

Jens Petersen, 29, Polizist

Julie Hansen, 14, Schülerin

Mikkel Poulsen, 41, Lehrer

Inger Poulsen, 21, Verkäuferin im Buchgeschäft

Keyi, 59, obdachlos

Per Kunnak, 21, arbeitslos

Ole Ertaq, 17, Schüler

Magnus Uuttuaq, 17, Schüler

Mikileraq (Miki) Bak, 34, Lehrerin

Niels Miteq, 28, Traumdeuter

Lars Kilimi, 25, Betreuer im Kinderheim

Sara Lund, 20, Studentin

Anders Tukula, 24, arbeitslos

Idisitsok (Idi) Tukula, 8, Schülerin

Malin Olsen, 29, Touristin

Amarâq, Ittuk, Qertsiak und Aputiq sind fiktive Orte in Ostgrönland.

Prolog

Die Epidemie fand ihren Höhepunkt im Spätsommer, an der Schwelle zum Herbst. Die elf Selbstmorde geschahen innerhalb von fünf Stunden, in der Nacht von Freitag auf Samstag, ohne Vorwarnung, ohne Ankündigung, ohne Abmachung. Das Sterben breitete sich seuchenartig aus, die Opfer schienen sich nur durch eine Berührung oder durch einen Blick infiziert zu haben –

im Nachhinein sprach man von einer Krankheit.

22:00 – 23:00

1   Gerade ist Sivke Carlsen einem Fremden begegnet, der seine Schuhe in die Luft wirft, sie bleiben in der Dunkelheit kleben, als befände sich dort eine Loipe, ein unsichtbarer Pfad. Der Fremde, dessen Gesicht sie nicht erkennen kann, ist in eine Uniform gehüllt, er scheint groß zu sein, wenn auch sehr schmal, die Kleidung liegt nirgends an, sondern steht vom Körper ab, wie ein Brett. Er verirrt sich öfter auf die Erde, weil dem Himmel in Wahrheit keine Grenzen gesetzt sind, im Flug ist die Eindeutigkeit der Ebene aufgehoben und macht einer Mehrdeutigkeit Platz, die die Verbindung zwischen den Augen und dem Gehirn kurzschließt, plötzlich ist es möglich, Schlitten in die Höhe zu werfen, so dass sie am Firmament kleben bleiben und man eine Fahrt über den Himmel antreten kann, die sich anfühlt wie eine Fahrt im Schnee: Etwas leiser ist es hier, es dominieren vereinzelte Vogelstimmen, das Rauschen des Windes ersetzt das Rauschen des Meeres, und die Kufen gleiten wie auf frischem Schnee, genauso geräuschlos.

Ich heiße Jens, sagt der Polizist und schlüpft in seine Stiefel, ich bin für ein halbes Jahr hier, hört sie und schiebt ihre Konkurrenz beiseite. Fragt ihn, ob er mit ihr tanzen wolle, wartet seine Antwort nicht ab, sondern gräbt sich Kopf voran in seine Arme, während sie sich erzählen lässt, dass er seit einem Monat in Amarâq sei, er komme von einem Einsatz im Sudan und sei mit seinen Kollegen die Westküste Grönlands entlanggesegelt, über die Südspitze in den Osten, und sie rückt mit ihren Lippen etwas näher an seine heran, bis sie bloß einen Fingerbreit von ihm getrennt ist, so spricht sie weiter, vielleicht sagt sie, er gefalle ihr, vielleicht antwortet er, sie sei sehr hübsch, aber im Grunde geht es nicht um das, was gesagt wird, sondern darum, die sanft geflüsterten Nebentöne herauszufiltern, so dass nur eine Botschaft übrigbleibt: Nimm mich mit.

Sogar im Schlaf tanzten, zuckten sie, während manche über sie hinwegstiegen, -hüpften oder -stolperten oder an der Grauen Bar lehnten, deren Sortiment ausschließlich aus Tuborg und Coca-Cola bestand, die Rundung an Rundung im Regal wachten, unförmig, kleine Bomben aus Aluminium. Andere tranken an den runden Tischen, die in hoher und tiefer Ausführung in einem Halbkreis um die Tanzfläche angeordnet waren, auf das Ende des Tages, auf das Ende der Woche, bis zum Ende des Geldes. In dieser Säulenhalle werden Affären begonnen und beendet, in diesem Säulenzimmer, das sich Pakhuset nennt, Lagerhaus. Man findet es in der dunkelsten Ecke des Hafens, am Hafenmund, dort, wo die Glühbirnen in den Straßenlaternen nicht ausgewechselt werden, wenn sie ausfallen.

Doch das Pakhuset ist mehr als eine Diskothek, ein Nachtclub, eine Bar, es ist ein Angriff auf die Stille Amarâqs, ein Angriff auf die Isolation und als solcher ein Ort der Gegenwart: Alles, was hier passiert, passiert jetzt. Indem er die Einsamkeit aussperrt und das Leben einsperrt, hat er sich in den Köpfen der Bewohner festgesetzt als die einzige Möglichkeit, der Vergangenheit und der Zukunft zu entkommen, in diesen fünf Stunden, zwischen zehn Uhr nachts und drei Uhr morgens.

Julie Hansen ließ sich von Jens auf die Tanzfläche ziehen, obwohl sich ihr Körper der Musik verschloss, nicht einmal die Ränder des Liedes traf, er musste sie steuern, Kurven lenken, Linien und Kreise, damit sie halbwegs den Rhythmus erkannte, sie bemerkte nicht, dass es ihm einzig darum ging, den Abstand zu verringern, näher zu rücken, mit jedem Schritt, bis er so dicht vor ihr stand, dass seine Augen jede Aussicht versperrten. Sie blieb stehen, wurde angerempelt, takteweise mitgezerrt, man stieg auf ihre Zehen, Schuhe, trotzdem stand sie still, atmete so flach wie möglich, vielleicht glaubte sie, den Blick nur halten zu können, wenn sie sich nicht bewegte. In diesem Moment war ihre ganze Existenz auf einen Blickkontakt geschrumpft und sie nicht mehr als die Summe ihrer Augen. Sie versuchte diesen Augenblick fest zu stehen, fest zu atmen, und es gelang ihr, die Geschwindigkeit der Zeit zu drosseln –

bis er sich ihrem Mund näherte und sie mit seinen Lippen festhielt.

In seinem Dienstauto verlassen sie den Hafen auf der schmalen gewundenen Straße, in einer Schleuse, in der es auch tagsüber, im Sonnenlicht, dämmrig ist. Sie fahren durch eine vermummte Stadt, die selbst im Sommer eine Stadt des Winters ist: Sogar wenn die letzten Anzeichen von Eis verschwunden sind und man glauben könnte, es habe ihn nie gegeben, beschwören die blinden Flecken vor den Häusern, kleinste Landstriche, die für Schlitten, Schlittenhunde und Schneemobile freigehalten werden, im Grunde Schablonen, das Bild frischgefallenen Schnees, nur derjenige im Sommer ist braun, teilweise begrünt und schlammig bei Regen.

Sie folgen dem Straßenverlauf in Richtung Heliport, bergauf, immer bergauf, bis sie nach drei Kurven stehen bleiben, schräg gegenüber vom Kleinen Kaufmann, einem Greißler, in dem auf drei gerade noch roten Regalböden vier Kekssorten, zwei Nudelsorten, altes abgepacktes Brot, abgelaufener Sugo im Glas, chinesische Instant-Nudelsuppen, Mehl, Zwieback, Haltbarmilch und Anhänger für heimatlose Schlüssel erhältlich sind. Diese Gegend ist nachts dunkler als der dunkelste Platz Amarâqs, da es bloß eine Straßenlaterne gibt, die sie beleuchtet, und trotz der Überfülle an Wasser, trotz des Regens, der die benachbarten Seen speist und den Fluss, haben die Häuser in diesem Stadtteil kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, sie sind kleiner, hüttenhafter und werden von den Ärmeren und Ärmsten bewohnt. Einmal in der Woche fährt der Jauchewagen durch dieses Viertel, um die gefüllten Kotsäcke aus den Plumpsklos abzuholen, das Wasser muss aus einem der grüngestrichenen Miniaturblockhäuser gezapft werden, der Hahn ist für die Kinder meistens außer Reichweite, sie müssen auf einen Stein steigen, um ihre Eimer zu füllen; Wasserholen ist die Aufgabe der zehnjährigen Buben.

Das Viertel der einstöckigen Häuser, die mit fließendem Wasser und Elektrizität ausgestattet sind, ist in der Nähe des Hafens –

aber Armut in Amarâq ist relativ, solange der Einzelne keine Freiheit fordert und in der Gemeinschaft glücklich ist, dann wird alles geteilt, und alle besitzen ausschließlich das eine, nämlich sich selbst. Und dieser Besitz, der akkurat durch die Grenzen der Haut abgesteckt ist, wird lediglich im Schlaf in Frage gestellt, wenn die Seele des Schlafes den Körper verlässt und einen Zustand verursacht, der jenem der Einsamkeit ähnelt: Betäubung.

Wir sind da, sagt Jens und steigt aus, das ist Johannas Haus, antwortet Sivke und bleibt stehen, um ihr Kleid glattzustreichen.

Er zog sie mit sich durch den Notausgang auf die andere Seite des Pakhuset, wo auf der schmalen Straßenausbuchtung im schwachen Schein des Notlichts geraucht wurde: Die Nacht war an dieser Stelle mit rötlich glimmenden Tupfen übersät, die sich zu Schritten bewegten, zum Atem. Er stellte Julie in die lichtfreie Ecke, schlüpfte neben sie und drückte sie gegen die Mauer, während er ihren Hals, die Halsbeuge, ihren Nacken und ihr Gesicht küsste, sanft den Träger von ihrer Schulter zog und die andere Hand unter dem Stoff über den Bauchnabel und die Rippen in Richtung Büstenhalter robben, vorsichtig das eine, dann das andere Körbchen herunterklappen und die Brüste streicheln ließ, und Julie erwiderte seinen Kuss, seine Berührungen, steckte ihre Hand in seine Hose, strich über seinen Bauch, die Oberschenkel –

als sie unterbrochen wurden, angesprochen und angeschubst. Hej, lallte es aus der Dunkelheit, habt ihr Bier für mich? Per ließ sich nicht ignorieren, Jens holte seine Hände ein, packte Per am Kragen, zerrte ihn ins Innere und stieß ihn auf die Tanzfläche.

Fahren wir zu dir?

Julie drückte Jens’ Hand, er nickte, und sie kletterten über den einzigen Zaun in Amarâq, er war wackelig und sollte doch Zechpreller abhalten, und schlenderten zum parkenden Auto. Im Wagen duftete es nach künstlichen Tannen, ein Duft, der Julie exotisch erschienen war, als sie ihn das erste Mal gerochen hatte, vor genau einer Woche. Sie nahmen die Straße zum Hafen, zur einzigen Tankstelle der Stadt, fuhren am Fjord entlang, vorbei am Krankenhaus, an der Schule, am großen Pilersuisoq, dem Allesmarkt, und an der Polizeistation, Julie kurbelte das Fenster hinunter und steckte ihren Kopf in den Fahrtwind, sie lachte nicht, aber sie lächelte, breit, auch die geschlossenen Augen lächelten mit und die Augenbrauen, und Jens, der sie von der Seite her musterte, fühlte sich an seinen Hund erinnert: Könnte sie ihre Ohren aus dem Fenster hängen, im Wind flattern lassen, sie würde es tun.

Wir sind da, sagte er und ging voraus, wie gefällt es dir in unserem alten Haus?, fragte Julie und blieb stehen, um ihr Kleid glattzustreichen.

Amarâq liegt am Ende der Welt, es ist ein Ortschlucker: ein Ort, der einen ebenso verschluckt wie den Ort, an dem man sich befindet; der vorgibt, weniger ein Ort zu sein als vielmehr ein Eingang zu einem Ort, den man nicht wieder verlassen kann, sobald man ihn betreten hat, denn der Eingang ist kein Ausgang.

Einerseits liegt das daran, dass mit dem Betreten Amarâqs die Erinnerung auszutrocknen beginnt und man allmählich vergisst, wie man an diesen Ort gelangte und dass man einmal ankam, ja, man beginnt zu vergessen, wie es war, als man ankam, und man glaubt sich an keinen anderen Ort mehr zu erinnern als an Amarâq, denn die Grenzen, die diese Stadt einschließen, legen sich um den Hals wie ein schwerer Schal, der das Wenden des Kopfes unmöglich macht, den Blick zurück. So setzt ein Vergessen ein, das maßgeblich das Ende der Welt zu dem macht, was es ist: zum Ende.

Andererseits ist am Ende der Welt das Ende all dessen, was zur Welt gehört. Amarâq ist nicht nur ein Ort mit eigenen, unverwechselbaren Koordinaten, Amarâq besitzt auch eine Aufgabe, nämlich die, zu beenden. Das bedeutet, dass es an dieser Stelle zu einer Unterbrechung von Welt kommt, es bedeutet auch, dass es hier keine Fortsetzung von Welt gibt, dass es nach Amarâq nichts mehr gibt. Am Ende der Welt wartet demzufolge das Nichts, bis es an der Reihe ist, aber vielleicht ist es gar nicht das Nichts, das wartet, sondern das Etwas, das jedoch dermaßen ungeformt und ungeordnet ist, dass es dem Nichts ähnelt, wo es doch in Wahrheit alles ist. Amarâq wäre dann ein Ort, der alle Möglichkeiten bereithält, weil er in Wirklichkeit keine bereithält, da aber alles offen ist und sich diese Möglichkeiten im Chaos verbergen, weiß man nicht von ihrer Existenz.

Weil an dieser Stelle die Welt aufhört, befinden sich hier lediglich ihre Reste, vereinzelte, zaghaft bunte Häuser, die Ausläufer vereinzelter, zaghaft bunter Häuser, und auch die Vegetation geht zu Ende, es gibt sie ausschließlich in Miniaturversionen: winzig kleine Pflanzenausläufer.

Amarâq ist eine auslaufende Welt, weswegen das, was von ihr übrig ist, das Elementare, das Unverzierte, Unverstellte, geometrische Grundformen sind: Kegel und Quader. Die Stille, die von dieser Kargheit ausgeht, wird vom Kalben des Eises unterbrochen, den Meereswellen, dem Plätschern des Regens, dem Rieseln des Schnees; dieser Ort ist lediglich Kulisse für die Spielformen des Wassers.

Aber vielleicht muss die Landschaft Amarâqs eine verhaltene sein, damit sie zeigen kann, dass die Erde in Wahrheit nicht das Gegenteil des Himmels, sondern seine Ergänzung ist: dass am Ende der Welt die Unterscheidung zwischen Himmel und Erde aufgehoben und der Himmel ein ebenso gewaltiges Meer ist wie das Meer ein gewaltiger Himmel und die Berge Wolken mit grauen Säumen und dass es im Bereich des Möglichen liegt, diese Spiegelung zu besteigen, und nicht bloß sie, sondern auch das echte Gewölbe, indem man auf die letzten Regentropfen wartet, den ersten Sonnenstrahl und den Regenbogen, auf den untersten Himmel, um anschließend langsam von Bogen zu Bogen, von Farbe zu Farbe zu klettern, im Winter, wenn alles gefroren ist, und mit jedem Schritt würde sich bestätigen, dass sich das Ende der Welt in der Höhe fortsetzt, dass es sich demnach nur um ein scheinbares Ende handelt.

Natürlich hängt es von der Art des Blicks ab, wie und was gesehen und was übersehen wird: Der erzogene Blick wird sich an Gewohntem festhalten, der verzogene wird auch Dinge wahrnehmen, die er nicht hätte sehen sollen. Vielleicht liegt das Besondere an Amarâq daran, dass es eines besonderen Blicks bedarf, um es zu sehen, um gegen das Nichts anzusehen und das Etwas zu entdecken, das, wenn auch in Miniatur oder spärlich, trotzdem existiert. Gerade weil das, was in Amarâq übrig ist, Ausläufer sind, erzählen sie ausschließlich dem richtigen Blick ihre Geschichte, der falsche bleibt blind. Es ist, als würde die Natur, als würde die Stadt eine andere Sprache sprechen und sich über Bilder mitteilen, für die man besondere Augen benötigt. Allerdings ist es eine fragile Sprache, eine Scheibe, von deren Rändern man leicht abstürzt, und dies würde unvermittelt geschehen, es würde keine Warnung geben, das Nichts wäre mit einem Mal da, denn es ist getarnt –

als Einsamkeit: Sie hat den Inhalt Amarâqs verdrängt, ihn weggeschoben und sich ausgebreitet, unübersehbar, unaustauschbar. Sie ist es auch, die sich in jedes Gespräch drängt und darauf achtet, dass ihr genug Raum gegeben wird. Das Gesagte selbst interessiert sie nicht, ausschließlich die Zeitspanne, die es braucht, um es auszusprechen, so zensiert sie nach Dauer und Satzlänge –

und die Stille legt sich über Amarâq, ein dichter Nebel, der den eigenen Atem zum Verbündeten hat.

Mikkel Poulsen greift nach dem Anorak und dem Hausschlüssel, zögert aber und hängt beides zurück. Er schlüpft aus den Schuhen und späht in die Küche. Inger hat begonnen, die Kaffeekanne zu waschen, sie lässt das Spülmittel ins Kanneninnere tropfen, schrubbt das Gefäß langsam, rhythmisch, schwenkt es im Wasser, schwenkt es in Bögen und Zacken, taucht es unter, bis Blasen an die Oberfläche steigen, danach erst holt sie es aus der Plastikwanne und trocknet es ab. Entnimmt der Kaffeemaschine den Papierfilter, leert ihn aus, klopft auf die Naht, den Filterrücken, die Reste fallen in den Abfalleimer, Kaffeehagel, und stülpt ihn zum Trocknen auf den Pfefferstreuer. Bettet das Besteck in die Holzkiste, schlichtet Gabel auf Gabel, Messer auf Messer, Löffel auf Löffel, schiebt die Gläser im Regal gerade.

Die Küche ist klein, sie enthält einen Herd, einen Kühlschrank, einen weißgestrichenen Tisch und zwei Stühle. Schmale hölzerne Gestelle sind an der Wand befestigt, Schöpfkelle, Kochlöffel, Pfannenwender baumeln über dem Herd, je drei Eimer Nutz- und Trinkwasser stehen unter dem Tisch. Inger hebt sich kaum von der Einrichtung ab, Mikkel würde sagen, sie sei gut getarnt, nicht nur ihre Kleidung, auch sie selbst sei ausgeblichen, als hätte man versucht, sie wegzuradieren, und übrig geblieben sei ein widerspenstiger Rest, der sich im eigenen Haus wie ein Gast bewege, stets über die Einrichtung stolpere, vollkommen fehl am Platz; mit der Zeit werde sie vollständig verblassen.

Mikkel denkt kurz darüber nach, ob es möglich ist, mit einem Menschen zu sprechen, der chronisch abwesend ist, weil er im Grunde nicht an dem Ort ist, an den er gehört, mit einer unbeirrbar Verirrten, und noch während ihn diese Frage beschäftigt, wandern seine Augen von einem Ende des Raumes zum anderen, halten sich an den Gegenständen fest, am Fernseher, am Radio, am Fernglas, am Tisch, an den beiden Stühlen und an der Couch, Dinge, die er einst liebte und die ihm nun widerwärtig sind, und er erinnert sich an das gestrige Gespräch, das er belauschte, als Inger zu Sofie sagte, und ihre Stimme klang dabei so fremd, dass er meinte, er höre sie zum ersten Mal: Ungeteilte Liebe sei unfähig zu überleben, und doch sei sie in Amarâq oft einseitig.

Als Inger seinen Blick auf sich spürt, hebt sie die Augen und beginnt, mit ihm zu sprechen, wortlos. Er greift nicht ein, versucht nicht, Wörter einzuflicken, Sätze, die das Mehrdeutige in Eindeutiges verwandeln würden. Sie antwortet, indem sie ihre Augen seinen entgegenhält und den Kontakt nicht abreißen lässt.

Er wendet sich ab.

Im ersten Moment ist sich Keyi nicht sicher, wo er ist.

Er liegt unter einem Tisch, über ihm klebt Kaugummi, die Tischbeine sind zerkratzt, angeritzt, es riecht nach feuchtem Holz, Keyi rutscht in die Mitte des Raumes, setzt sich auf den Gulli, ein Lichtstrahl fällt auf seine Hand, und plötzlich bemerkt er den Geruch nach Waschpulver und erinnert sich, dass er in der Waschküche eingeschlafen ist, als Kissen diente ein Bündel zusammengerollter Kleidung, Hose und Pullover, als Decke sein Mantel, als Bett der Linoleumboden, und er wurde nicht weggedrängt wie gestern von Ulrika und Lone, die sagten, rück mal Keyi, rück ein wenig zur Seite, und die Maschine befüllten, den Seifenbehälter und den Geldschlucker und ein Gespräch mit ihm begannen, eines, das bloß die Zeit vertreiben sollte, das er daher mit Recht ignorierte, bis sie ihn in die Rippen stießen.

Mach, dass du wegkommst, was bist du noch hier?

Er geht in die Küche, lässt Wasser in den Wasserkocher laufen und drückt auf die Start-Taste. Nimmt einen Beutel Schwarztee aus der Dose, sucht in den Regalen nach etwas Essbarem, oft werden Lebensmittel zurückgelassen. Kein Brot, kein Kuchen, dafür findet er einen Beutel Zwieback, eine Packung alter Butterkekse und einen Becher Orangenmarmelade. Er bestreicht die Kekse mit Marmelade, wartet, bis der Tee abgekühlt ist –

während er am Gebäck knabbert, weht durch eines der gekippten Fenster, auf deren Sims sich ein Grüppchen mumifizierter Fliegen versammelt hat, nachdem diese mit Sommerende zu Tode gefallen waren, einfach so, die Stille vom Tal der Blumen herein, jene Stille, die die Kehrseite der Einsamkeit ist und die Fähigkeit besitzt, die Welt, und sei es für ein paar Sekunden, auszuschalten. Sie lebt vor allem in den Nächten Amarâqs, und wenn Keyi sie fühlt, scheint es ihm, als sei er endlich heimgekehrt.

2   Nachts wird Amarâq von einer Schwärze übermalt, so dickflüssig wie unvermischte Farbe, dann existieren weder der Fjord noch die Berge, Täler, Seen oder der Fluss, es gibt bloß eine schwarze Masse, ein Nichts, das sich fleckenweise über der Landschaft verteilt, den Rest bedrängt, aber Lücken zulässt, die es mit abstrakten Elementen, Lichtspielen, Lichtwellen, einem Meer aus Licht, füllt.

Nachts verwandelt sich Amarâq in eine weite Ebene, die zweite Dimension verschmilzt mit der dritten, die Erde mit dem Himmel, und alles ist mit einem Mal Himmel. An klaren Nächten funkeln die Sterne wie erleuchtete Fenster eines fernen Ortes, an wolkendichten Tagen gesellt sich zur Finsternis ein Nebel, so undurchlässig, dass man glaubt, jemand habe ein weißes Leintuch über die Stadt gebreitet, das zwar die Dunkelheit verdünnt, Amarâq dafür stark verkleinert: jene Teile, die unter dem Laken liegen, scheinen nicht mehr zu existieren –

bis zum nächsten Wind. In mondarmen Nächten dehnt sich diese Finsternis weiter aus, dann wird die Erde von silbrig schimmernden Eisbergen markiert, die wie Bilder aus einer Vergangenheit durch die Ebenen schweben, undeutlich, unnahbar, und beobachtet man sie, wird man sich im Wunsch verlieren, sie zu fassen, ihre Konturen nachzuzeichnen, ihre Formen, so bizarr sie auch sein mögen, so außerirdisch. Schließlich wird man sich an eine Sehnsucht erinnern, von der man nicht wusste, dass man sie besaß.

Sivke trinkt aus dem Glas, das ihr Jens gegeben hat. Sie steht vor dem Fenster bei den drei Veilchen, die hartnäckig in ihren Töpfen wachen, so überaus fremd am Ende der Welt, so vollkommen fehl am Platz. Sie sind genauso übernächtigt wie das Gespräch, das Jens anstrengt, das aber nach jedem Satz abstirbt, in dieser nüchternen, weißen Wohnung, die, indem sie ausschließlich das Nötigste bereitstellt, jede Stimmung sterilisiert, dabei will Sivke die Worte nicht welken lassen, sie mag Jens, sie glaubt Jens zu mögen, doch die Taubheit des Raumes treibt sie dazu, sich an die Aussicht zu klammern: Es ist wärmer hier, voll Leben, im Licht der Straßenlaterne geht ein Mensch vor dem Haus auf und ab, ein Mädchen.

Julie stand an einem der Fenster, so breit und hoch wie die Wand, mit Blick auf den Fjord. Tatsächlich war sie versucht zu glauben, sie stünde vor einem Aquarium, ohne Fische oder Meeressäuger, dafür gefüllt mit braungrauen Bergen, lichtblauem Wasser, bei Sonnenschein glatt, bei Bewölkung gelockt, und Pyramiden aus Eis, deren Gipfel im Sommer vereinzelt durch die Bucht schwimmen, stark geschrumpft: Eishaie. Abgesehen von einer Sitzgruppe, einem Tisch und vier Stühlen aus hellem Holz, gab es in diesem Raum noch eine Küchenzeile mit Kühlschrank, Mikrowelle und Kaffeemaschine sowie ein braunes Sofa, das durch seine durchdringende Farbe und die Aufstellung in der Raummitte herausstach, als wäre es ein Ausstellungsstück: auf ihm zu sitzen fühlte sich an, wie im Zimmer zu stehen.

Es war der Morgen danach. Während Jens Kaffee kochte, beobachtete er Julie aus den Augenwinkeln. Wie groß sie ist, sie ist ein langes Wesen, dachte er, langgezogen, Tentakel kamen ihm in den Sinn, im Gegensatz dazu sind ihr Mund, die Nase und die Augen sehr klein, sie scheinen sich vom Rand wegbewegt und in der Gesichtsmitte versammelt zu haben, keine friedliche Versammlung, sondern eine Demonstration, ein Protest. Auf den zweiten Blick aber ist Julie die menschliche Entsprechung zur Landschaft Amarâqs: Ihr Körper ist das Gebirge, das Meer, die Weite und Leere, ihr Gesicht dagegen die in der Natur verstreute Flora, Miniaturblumen und -büsche, Moose und Beeren, und man kann sich geradezu in ihrem Blick verirren, dachte er, denn er fordert es heraus, ihn zu studieren, aber die Abzweigung zu vergessen und den falschen Weg einzuschlagen. Er ist klein, dachte Julie, er reicht mir gerade bis ans Kinn, ich muss mich zusammenkauern, wenn ich neben ihm stehe, in die Knie gehen, mich reduzieren um einen Kopf, doch er kommt aus der Ferne, dachte sie und sah, wenn sie ihn ansah, eine Tür, einen Ausgang.

Sein Schlagzeug liegt auf der Straße, die Trommeln, die Lautsprecherbox und der Drahtsitz. Per Kunnak zündet sich eine Zigarette an, Malin hat es draußen liegen gelassen, in der Pfütze, in der sich ihr Haus spiegelt, so hart ist das Wasser, so glatt, ein deutliches Zeichen, dass er nicht mehr willkommen ist.

Dies ist ihre dritte Trennung, und er weiß nicht, ob sie ihn dieses Mal wieder aufnehmen wird, wenn sie sich beruhigt hat, vor allem ist er nicht sicher, ob er wieder aufgenommen werden will. Er schnippt die Asche auf die Erde und setzt sich neben die große Trommel, deren Haut eingerissen ist. Um seinen Hals trägt er die Walflossen-Amulette, die er tagsüber nicht verkaufen konnte, in der rechten Tasche klappern kleine Figuren aus Robbenknochen, Eisbären und Tupilaks, die ebenfalls zum Verkauf stehen, heute jedoch nahm ihm niemand etwas ab, er greift in die linke Jackentasche und wiegt die letzte Dose Bier in der Hand. Während er sie öffnet, überlegt er, wo er die nächste herbekommen wird, vor der Disko in einer halben Stunde, denkt er, dann warten alle auf den Einlass, und die Ungeduldigen werden schon begonnen haben zu feiern, von ihnen Bier zu schnorren ist einfach. Vorher, denkt er, wird er nachsehen, ob Malin Geld im Haus hat, er drückt die Zigarette aus, sie hat immer ein paar Kronen in der Schublade.

Malins Haus ist blau, die Farbe hat sich in all den Jahren vom Holz gelöst, es sieht nun gewaschen aus, geschrubbt, abgeschminkt wie die Nachbarhäuser, deren Dächer mit Planen aus Plastik abgedeckt und deren Fundamente schwarz vor Nässe sind, das Holz morsch; das Geländer ist mit Seilen notdürftig repariert. Auf dem Dach steckt noch die Holzkonstruktion, die Stangen, die er befestigt hat, damit Malin Fische trocknen, einen Vorrat für den Winter anlegen kann. Er geht die Stufen hinauf zur Eingangstür und klopft. Wenn sie öffnet, wird er sich entschuldigen, denkt er, er braucht einen Vorwand, um in die Küche zu gehen und die Schublade neben dem Kühlschrank zu durchsuchen, dort bewahrt sie ihr Erspartes auf.

Niemand antwortet. Es bleibt dunkel. Malin ist ausgegangen. Wahrscheinlich ist sie bei ihrer Mutter und heult sich aus, denkt Per, was kümmert es ihn, er drückt die Klinke hinunter, einen Dreck, er rüttelt an der Tür, abgeschlossen, er wird das Fenster benutzen müssen wie das letzte Mal, er grinst, als sie ihn hinausgeworfen hat wegen Ulrika, sie dachte, er hätte sie betrogen, nicht zum Zeitvertreib lieben, schrieb er sich damals hinter die Ohren, warum denn nicht, denkt er heute Nacht, springt auf die Erde und bückt sich nach einem Stein.

Der Schatten löst sich widerwillig von der Dunkelheit, geht auf Jens’ Haus zu, verschwindet aus Sivkes Sichtfeld, und Sivke drückt ihr Ohr an das Fensterglas. Die Nacht saugt Laute aus der Luft, sie muss sich ihnen nähern, versuchen, sie mit der Ohrmuschel einzufangen –

als sie Jens rufen hört.

Was ist denn? Wo bleibst du?

Sie schüttelt den Kopf, legt den Zeigefinger auf ihre Lippen.

Schsch…

Julie tritt unter dem Hausdach hervor, unter die Straßenlaterne, schlaksig, dünn, die Haare schulterlang, strähnig, das T-Shirt schmuddelig, und Sivke wundert sich, dass sie um diese Uhrzeit in einem dünnen Leibchen herumläuft, die Jacke um die Hüfte gebunden, dann fällt ihr ein, dass sie sie noch nie etwas anderes hat tragen sehen. Wieder hält sie ihr Ohr an die Scheibe, sie möchte hören, was als Nächstes geschieht: Nichts, noch immer vertreibt das Dickicht der Stille die Geräusche der Nacht.

Sivke umfasst die Klinke, sie ist kalt, eisig, drückt sie im Uhrzeigersinn hinunter, das Fenster öffnet sich mit einem Seufzen, in diesem Moment dreht sich Julie um die eigene Achse, eine schnelle Drehung, die eine Spur in der Luft zu hinterlassen scheint, eine Spirale, und sieht Sivke entschlossen an, und die Wortlosigkeit, die diesen Blick umgibt, scheint ihn zu schützen, zu retten, als gehörte er gerettet.

Erst als Jens zum dritten Mal fragt, was denn los sei, warum sie nicht antworte, winkt Sivke ihn zu sich ans Fenster.

Vielleicht möchte sie zu dir?

Er ignoriert ihre Frage, schnappt ihre Hand und führt sie ins Schlafzimmer, die erste Tür im Gang rechts, ein kleiner quadratischer Raum, der durch das Bett und den Kleiderschrank so gut gefüllt ist, dass er kaum Platz zum Umkleiden lässt.

Eine Leine mit dazugehörigem Spielzeughund hing aus Pias Hosentasche, während Caroline, der falsche Zwilling, sie hatte sich Pias Gesicht nur geborgt, Jens bewachte und ihre Klauen in seine Hosenbeine grub. Martin griff nach dem nächsten Umzugskarton, Johanna half ihm, die Schachteln in den Jeep zu schlichten, der Wagen war von Gunnar, dem Taximann, geliehen. Die Mädchen bellten, knurrten, scharrten mit den Füßen, manchmal wedelten sie mit unsichtbaren Schwänzen, diese Woche waren sie Hunde, letzte Woche Vögel, hatten mit ihrem Geflatter die bewegliche Landschaft der Küche versehrt –

Martin griff seinen Töchtern in die Haare, dirigierte sie heimwärts, sie versuchten, ihn zu beißen, schnappten nach seinen Händen, Fingern, er sagte, bye, und zog sie nach draußen, sie bockten, rodelten auf der Erde, er musste sie ein paar Schritte weit mit sich ziehen, sein Abschiedsgruß an Johanna wurde von ihrem Jaulen untermalt.

Jens, endlich frei, nahm seine Taschen und trug sie ins Wohnzimmer. Johanna führte den Mieter durch das Haus, zeigte ihm, wo sich die Sicherungen befanden, wo die Waschmaschine, der Staubsauger, die Töpfe, Pfannen, Teller und Tassen, wo das Bettzeug gestapelt war, wo die Badetücher, Handtücher, Geschirrtücher, und jedes Mal nickte Jens, brummte kurz, und Julie rückte näher an den Türspalt, rückte, so nahe es ging, ohne den Spalt zu verstellen, linste durch die lecke Wand. Er war aus ihrem Sichtfeld verschwunden, sie hörte noch den Umriss seiner Stimme, die fragte, wie es ihnen im neuen Haus gefalle und als Antwort erhielt, sehr gut.

Aber es ist noch nicht alles am richtigen Platz.

Johanna machte einen letzten Rundgang, sie vergewisserte sich, dass sie nichts vergessen hatte, öffnete stichprobenartig Schubladen und Schränke. Wir leben gleich um die Ecke, sagte sie, falls etwas ist, nahm ihren Rucksack und verließ das Haus. Vergaß, dass sie mit einer Tochter mehr angekommen war. Jens begann auszupacken, von Raum zu Raum zu gehen, einzuräumen, aufzuhängen, abzustellen, als er eine ihm unbekannte Tür entdeckte, etwas kleiner als die anderen, kleiner und schmaler, man könnte auch sagen: geheimer. Er öffnete sie, vorsichtig, ungeölte Scharniere meldeten sich, Licht blinzelte durch den Spalt, schon stand er im Halbdunkel und starrte in ein graues Gesicht.

Lass mich in Ruhe –

Jens tritt gegen die Haustür,

geh weg –

er schlägt mit der Handfläche gegen das Holz, einmal, zweimal, dreimal,

du hast hier nichts mehr zu suchen!

Ein lautes Hämmern an der Tür, kleine harte Schläge in schneller Abfolge, mehr ein Rattern als ein Schlagen, manche hohl und flach, manche dumpf, manche mit klaren Konturen, man hätte sie nachzeichnen können, jagten, scheuchten Jens aus dem Schlafzimmer, er stellte sich vor das Pochen, schrie dagegen an, dann schlug er zurück, als kämen die Laute von der Tür selbst und nicht von außerhalb, schließlich brüllte und schlug er gleichzeitig, bis nur noch seine Stimme und Fäuste zu hören waren. Die Stille, die folgte, war die wiederhergestellte Norm, das sanfte Rollen der Wellen nach dem Ende des Sturms.

Jens rührt sich nicht mehr, er bleibt über die Fußmatte gebeugt stehen, seine Stirn scheint an der Haustür festzukleben. Einsamkeit ist über ihn hereingebrochen, so plötzlich und mit einer solchen Wucht, dass er versteinert ist. Sivke, die auf Zehenspitzen angeschlichen kommt, bleibt in sicherer Entfernung stehen, sie wagt sich nicht näher, erst als er sich nicht mehr rührt, tippt sie an seine Schulter, zaghaft, aber er reagiert nicht, auch nicht, als sie ihn sanft am Arm rüttelt.

Sie beugt sich vornüber in sein Gesicht, seine Augen sind erstickt, nicht erloschen, nein, erstickt. Als sie ihn anspricht, als sie seinen Namen ruft, wieder und wieder, rührt er sich. Er nimmt sie bei der Hand und führt sie zurück.

Julie kroch widerwillig aus der Abstellkammer, sie zog es vor, zu sehen, gesehen zu werden war ihr unheimlich, Jens musste sie mehrmals ansprechen, ehe sie den Kopf hob, andererseits suchte sie seinen Blick, jedes Mal, wenn er die Augen senkte.

Er begann sie zu befragen, wie sie heiße, wo sie wohne, was sie hier zu suchen habe, doch sie beantwortete keine seiner Fragen, sie streifte ihn aus den Augenwinkeln, so dass er meinte, sie wolle ihn nicht verstehen oder sie sei taub und stumm, so tänzelten sie umeinander. Das einseitige Gespräch jedoch steckte an: Je weiter der Zeiger der Uhr vorrückte, desto mehr Wörter fanden Julies Mund. Erst ein Klopfen beendete die Inquisition, es war die vergessliche Mutter –

und das sei nicht das erste Mal, sagte diese, außer Atem, schon als Säugling sei sie verlorengegangen, verloren, unterbrach Julie. Ich dachte, ich wurde entführt.

Aber ja, sagte Johanna, von der Alten am See.

Der erste Stein traf Laerke an der Schulter, hielt sie aber nicht davon ab, nach Jesper Sørensens Rucksack zu greifen und zu versuchen, ihn festzuhalten, der zweite traf sie an der Brust, sie schrie auf, blieb etwas zurück, holte dennoch gleich wieder auf, als er stolperte. Sie schnappte nach seinem Arm, bekam ihn am Ellbogen zu fassen, sie rangen kurz, er stieß sie von sich und schlug ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht, Laerke wimmerte, rutschte auf dem Geröll aus und fiel zu Boden. Sørensen horchte. Es war kein Laut zu hören. Er näherte sich ihr vorsichtig, sie war ein Schatten auf der Erde, nichts weiter als ein Fleck. Er kniete nieder, tastete nach dem Handgelenk, nach ihrem Puls. Schwach. Er fasste sie an den Schultern und rollte sie hinter einen Fels, vergewisserte sich, dass man sie nicht sofort finden würde. Wickelte den Säugling enger in den Pullover, drückte ihn an sich und lief in der Dunkelheit davon. Kletterte das Geröllfeld hinab, durchquerte den von hohen Steinen durchsetzten Abhang, bis er die stillgelegte Fischfabrik und das verlassene Pförtnerhaus erreichte, stolperte die letzten Meter zum hellerleuchteten Haus. Er holte tief Luft, wischte sich das Blut von der rechten Hand und klopfte. Johanna öffnete, überglücklich, Age umarmte ihn, bloß Kirsten, Johannas Nichte, versteckte sich hinter der Tür; sie wich Sørensen aus, der sich trotz Julies Gebrüll und Laerkes Rufen nicht hatte stören lassen –

Sie saßen bei Kaffee und Keksen, Mutter, Kind und Mieter, die Persipanplätzchen waren abgelaufen, Jens hatte das Haltbarkeitsdatum auf der Rückseite der Packung übersehen, am nächsten Tag sollte er entdecken, dass die meisten abgepackten Lebensmittel im Geschäft abgelaufen waren, dass abgelaufene Waren eine Spezialität Amarâqs sind, da Nahrung hier keiner Frist unterworfen ist, und Johanna meinte, Julie sei nicht aufgewacht, sosehr sie es auch versucht hatten, selbst der Arzt, Dr. Sørensen, habe ihnen nicht helfen können, so hätten sie schließlich Katrine geholt, ihre Mutter.

Die Großmutter hatte einen Blick auf den Säugling geworfen und gesagt: Ihre Seelen sind nicht vollzählig.

Im Grunde erstreckt sich Amarâq über zwei Berghänge, eine einzelne Straße verbindet ihre Enden, windet sich durch das Gebirge, ein asphaltierter Fluss, und mündet im Nirgendwo. Von ihr und ihren vier Nebenarmen abgesehen, deren Verlauf und Ende schon an der Abzweigung erkennbar sind, den bunten Blockhütten, die einem Bilderbuch entsprungen scheinen und manierlich die Landschaft bewohnen, als seien sie breite Bäume, und den Eisbergen, die im Fjord schaukeln oder an Land dösen, selbstvergessen, einfältig, als seien sie Amphibien, sind alle Flächen zwischen den Häusern Gehsteige: Ungebeten in privaten Gärten zu wandeln kann nicht passieren, denn es gibt keine Gärten, nur gezähmte Wildnis zwischen den Häusern und ungezähmte außerhalb, an den Grenzen der Stadt. Die Zellophanverpackung der Instant-Nudelsuppen flattert zwischen den Steinen und Gräsern und hat sich in ewiges Laub verwandelt, Herbstlaub.

Ein Stadtzentrum gibt es nicht, aber auf dem Platz vor dem Rathaus versammeln sich um die Mittagszeit Kindergartenkinder und junge Mütter mit ihren Kinderwagen vor einem runden Podium, von dem das Denkmal entflohen ist. Inzwischen studieren Väter die Anschlagtafel gegenüber, notieren sich Telefonnummern für Bootsteile, gebrauchte Kühlschränke oder Fahrräder, wenn sie es sich nicht auf dem kleinen Hang gegenüber dem Amtshaus gemütlich machen, picknicken, rauchen und vorüberschlendernde Bekannte, Verwandte oder Freunde begrüßen. Der kleine Teil der Bevölkerung, der Arbeit hat, huscht geschäftig vorbei.

Allerdings ist Amarâq nicht so übersichtlich, wie es den Anschein hat. In seinen Winkeln, Falten, verbirgt es geheime Welten, die man lediglich durch Zufall entdeckt, wie den alten Friedhof zwischen dem Polizeirevier und Emilias Buchgeschäft, der bloß an zwei Kreuzen als solcher zu erkennen ist und sich immer wieder aus dem Blickfeld zu ducken scheint, so dass man sich fragt, ob es ihn jemals gegeben hat, oder das Sommerquartier der Schlittenhunde, das aus unterirdischen Höhlen besteht, die sich am Ufer des Flusses entlangschlängeln.

Zwischen dem Armenviertel beim Heliport und dem modernen Viertel liegen die Administration mit dem weißgestrichenen, würfeligen Verwaltungsgebäude, die Polizei im gelben Hochblockhaus, die Post alias Bank mit einer von insgesamt zwei öffentlichen Telefonzellen, die alte Kirche, nunmehr das neue Museum, das Gemeinschaftshaus, in dem jeden Donnerstag und Freitag musiziert wird, die Touristeninformation sowie die neue Kirche, die auf dem höchsten Punkt der Stadt mit Blick auf den Hafen errichtet wurde.

Durch den tiefsten Punkt Amarâqs sprudelt ein Fluss, der in den Seen im Tal der Blumen seine Quelle hat. Am südlichen Talrand liegen das Waschhaus, in dem sich die öffentlichen Duschen und Waschmaschinen befinden, die Billard-Bar, die nur freitags geöffnet hat, sowie der neue Friedhof, den eine hartnäckige Düne in zwei Hälften gebissen hat und der sich bis zum Horizont mit unzähligen weißen Holzkreuzen und Blumen erstreckt, die nie vertrocknen oder ertrinken und erst dann ausgetauscht werden, wenn sie die Farbe des Schlammes angenommen haben. Mit ihrer Hilfe können die Gräber unterschieden werden, da die Kreuze keine Namen tragen, bis auf eines, in das eine Inschrift geritzt ist: Rasmus Petersen, 1995 – 2006, assuaki, ich liebe dich.

Im Winter, wenn der Himmel in Flocken zerfällt und die Erde in sein Spiegelbild verwandelt, wird der Friedhof unsichtbar, die Plastikblumen blühen unterirdisch weiter, und das Weiß der Kreuze wird vom Weiß des Schnees verdeckt. Ein Mal im Jahr verschwindet der Tod spurlos, und dies ist der Beweis dafür, dass er nicht endgültig ist, so sehen es die Bewohner Amarâqs, sondern durch die den Gräbern vorenthaltenen Namen überwunden wird, denn der Name ist nicht nur ein Zeichen der Zuordnung, ein Identifikationsmerkmal, ein Ordnungsstifter, er enthält auch die Seele seines Trägers, und solange es den Namen gibt, solange er weitergegeben wird, ist der Mensch unsterblich.

3   Ein leerer blauer Plastikbeutel mit der Aufschrift Pilersuisoq liegt auf dem Teppich, Ole Ertaq zieht ein Jagdmesser aus dem Rucksack, lässt es in die Tüte fallen.

Jetzt du.

Magnus Uuttuaq schiebt eine Fotografie dazu.

Sonst nichts?

Magnus schüttelt den Kopf.

Gut.

Ole nickt, verschließt den Sack und stellt ihn in die hinterste Ecke des Kleiderschranks, hinter die Schachteln voll Zeichnungen, Bücher und Hefte, die Stöße von T-Shirts, Hosen und Pullovern. Im Laufe der Jahre wurden die Zwischenböden aus dem Schrankinneren entfernt, um Platz zu schaffen, nun schieben sich die Wände langsam auseinander, es fehlt eine Schraube, und eine zweite hat sich gelockert.

Und du bist sicher, dass Lars ihn hier finden wird?

Magnus nickt. Lars sei schon einmal in seinem Zimmer gewesen und er habe damals gemeint, dass man in diesem Schrank alles verschwinden lassen könne. Wann sollen wir ihn anrufen, fragt Ole? Noch nicht, sagt Magnus, legt seine Hand auf den Mund, als er Schritte im Flur hört.

Ich dachte, deine Großeltern schlafen?

Magnus springt auf, geht zur Zimmertür und hält sein Ohr an das Holz. Manchmal wandert Großvater durch das Haus, flüstert er, nachts, wenn er glaubt, dass ich schlafe, dann knüpft er Köder an Angelschnüre, weiße, rote und hellgrüne, bis seine Brille vom Nasenrücken fällt, er auf die Tischplatte sinkt und einschläft.

Nebenan öffnet und schließt sich die Zimmertür, die Schritte werden leiser, dann öffnet und schließt sie sich erneut, sie hören das Knarren der Stufen, endlich ist es still. Wir warten besser noch, sagt Ole und greift zur Zigarettenschachtel.

Du hast doch niemandem etwas verraten?

Nein. Du?

Sie hätten lange genug an diesem Plan gearbeitet, sagt Ole, er würde ihn niemals gefährden.

Wir müssen sichergehen, dass deine Großeltern schlafen.

Seine Großmutter könne nicht sprechen, murmelt Magnus, selbst wenn sie wach sei, werde sie sie nicht verraten, sein Großvater habe einen leichten Schlaf, aber er höre schlecht. Es wird schon gehen, setzt er hinzu.