In der Gegenwartsgesellschaft haben sich die Anforderung und der Wunsch, kreativ zu sein und schöpferisch Neues hervorzubringen, in ungewöhnlichem Maße verbreitet. Was ehemals subkulturellen Künstlerzirkeln vorbehalten war, ist zu einem allgemeingültigen kulturellen Modell, ja zu einem Imperativ geworden. Andreas Reckwitz untersucht, wie im Laufe des 20. Jahrhunderts das Ideal der Kreativität forciert worden ist: in der Kunst der Avantgarde und der Postmoderne, den creative industries und der Innovationsökonomie, in der Psychologie der Kreativität und des Selbstwachstums sowie in der medialen Darstellung des kreativen Stars und der Stadtplanung der creative cities. Es zeigt sich, dass wir in Zeiten eines ebenso radikalen wie restriktiven Prozesses gesellschaftlicher Ästhetisierung leben.

Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Im Suhrkamp Verlag ist erschienen: Poststrukturalistische Sozialwissenschaften (stw 1869, hg. zusammen mit Stephan Moebius).

Andreas Reckwitz

Die Erfindung der Kreativität

Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung

Suhrkamp

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7»Wir könnten ein Bild malen […]. Na, das ist ja wohl schon gemacht worden […]. Wir könnten es auch mit einer Skulptur versuchen. Oh! Eine aus Ton oder aus Bronze? […] Irgendwie hab’ ich den Eindruck, dass das auch schon gemacht wurde. […] Wir könnten uns umbringen, aber selbst das ist ja nicht neu […]. O nein […]. Wie wär’s denn damit, eine Handlung in die Welt zu setzen, ohne dass wir an ihr beteiligt wären? Neeeein. Das wurde schon gemacht. […] Und sprechen? Könnten wir nicht einfach etwas sagen? […] Alter Hut. Etwas zu verkaufen, bevor es angefertigt wurde? […] Das ist auch schon gemacht worden? Und es einfach noch mal zu verkaufen? Das wurde auch schon gemacht. Schon mal gemacht? Zweimal sogar?«

Grupa Azorro, Everything has been done I/II, 2003

9Einleitung: Die Unvermeidlichkeit des Kreativen

Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Dies gilt für Individuen ebenso wie für Institutionen. Nicht kreativ sein zu können ist eine problematische, aber eventuell zu heilende und mit geduldigem Training zu überwindende Schwäche. Aber nicht kreativ sein zu wollen, kreative Potenziale bewusst ungenutzt zu lassen, gar nicht erst schöpferisch Neues aus sich hervorbringen oder zulassen zu wollen, erscheint als ein absurder Wunsch, so wie es zu anderen Zeiten die Absicht gewesen sein mag, nicht moralisch, nicht normal oder nicht autonom zu sein. Wie könnte ein Individuum oder eine Institution, ja, eine ganze Gesellschaft das nicht wollen, was scheinbar natürlich in ihr angelegt ist, wohin es oder sie natürlicherweise strebt: zur kreativen Selbsttransformation?

Welche außergewöhnliche Relevanz der Kreativität als individuelles und soziales Phänomen in unserer Gegenwart zugeschrieben wird, lässt sich an Richard Floridas programmatischer Studie The Rise of the Creative Class aus dem Jahr 2000 ablesen.[1] Florida zufolge ist die zentrale Transformation, die sich in den westlichen Gesellschaften zwischen der Nachkriegszeit und der Gegenwart ereignet hat, weniger eine technologische als eine kulturelle. Sie findet seit den 1970er Jahren statt und betrifft die Entstehung und Verbreitung eines »kreativen Ethos«. Dessen Träger ist eine neue, sich rasch ausbreitende und kulturell tonangebende Berufsgruppe, die creative class mit ihren charakteristischen Tätigkeiten der Ideen- und Symbolproduktion – von der Werbung bis zur Softwareentwicklung, vom Design bis zur Beratung und zum Tourismus. Kreativität bezieht sich in Floridas Darstellung nicht allein auf ein privates Modell der Selbstentfaltung. Sie ist in den letzten drei Jahrzehnten auch zu einer allgegenwärtigen ökonomischen Anforderung der Arbeits- und Berufswelt geworden.

Nun ist Floridas Studie alles andere als eine neutrale Darstellung, 10vielmehr versucht sie genau das zu fördern, von dem sie spricht. Ihr Blick ist selektiv. Aber tatsächlich sprechen viele Indizien dafür, dass das normative Modell der Kreativität und entsprechende Praktiken, die versuchen, das scheinbar flüchtige Moment der Kreativität zu institutionalisieren, spätestens in den 1980er Jahren im Kern der westlichen Kultur angekommen sind und diesen seitdem hartnäckig besetzt halten.[2] Kreativität umfasst in spätmodernen Zeiten dabei eine Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung: Man will kreativ sein und soll es sein.

Was meint hier Kreativität? Kreativität hat zunächst eine doppelte Bedeutung. Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen. Kreativität bevorzugt das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard, das Andere gegenüber dem Gleichen. Diese Hervorbringung des Neuen wird nicht als einmaliger Akt gedacht, sondern als etwas, das immer wieder und auf Dauer geschieht. Zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des »Schöpferischen«, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet.[3] Es geht um mehr als um eine rein technische Produktion von Innovationen, sondern um die sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue. Das ästhetisch Neue wird mit Lebendigkeit und Experimentierfreude in Verbindung gebracht, und sein Hervorbringer erscheint als ein schöpferisches Selbst, das dem Künstler analog ist. Das Neuartige im Sinne des Kreativen ist dann nicht lediglich vorhanden wie eine technische Errungenschaft, es wird vom Betrachter und auch von dem, der es in die Welt setzt, als Selbstzweck sinnlich wahrgenommen, erlebt und genossen.

Aus soziologischer Perspektive ist Kreativität nun kein bloßes semantisches Oberflächenphänomen, sondern das Zentrum eines 11sozialen Kriterienkatalogs, der seit gut dreißig Jahren in zunehmendem Maße in den westlichen Gesellschaften zu einer prägenden Kraft geworden ist. Als besonders bemerkenswert erweist sich diese Entwicklung zunächst im ökonomisch-technischen Herzen der kapitalistischen Gesellschaften, der Sphäre der Arbeit und des Berufs. Das, was ich den »ästhetischen Kapitalismus« der Gegenwart nennen will, basiert in seiner fortgeschrittensten Form auf Arbeitsweisen, die das lange vertraute Muster einer routinisierten Arbeiter- und Angestelltentätigkeit, ihres standardisierten und versachlichten Umgangs mit Objekten und Subjekten, hinter sich gelassen haben. An deren Stelle sind Tätigkeiten getreten, in denen die ständige Produktion von Neuartigem, insbesondere von Zeichen und Symbolen (Texten, Bildern, Kommunikation, Verfahrensweisen, ästhetischen Objekten, Körpermodifizierungen), vor einem an Originalität und Überraschung interessierten Publikum zur wichtigsten Anforderung geworden ist: in den Medien und im Design, in der Bildung und in der Beratung, in der Mode und in der Architektur. Die Konsumkultur erwartet diese ästhetisch ansprechenden, innovativen Produkte, und die creative industries bemühen sich, sie bereitzustellen. Der Kreative als Berufstätiger dieser creative economy bezeichnet mittlerweile eine Sozialfigur von beträchtlicher kultureller Attraktivität auch über ein engeres Berufssegment hinaus.[4] Die Orientierung an Kreativität betrifft jedoch nicht nur die Arbeitspraktiken, sondern auch die Organisationen und Institutionen selbst. Diese haben sich einem Imperativ permanenter Innovation unterworfen. Insbesondere Wirtschaftsorganisationen, aber mittlerweile auch andere – politische oder wissenschaftliche – Institutionen haben sich so umstrukturiert, dass sie nicht nur die Fabrikation immer wieder neuer Produkte auf Dauer stellen, sondern ihre internen Strukturen und Abläufen permanent erneuern, um damit in einer sich beständig verändernden Organisationsumwelt »responsiv« zu bleiben.[5]

12Über die Berufs-, Arbeits- und Organisationswelt hinaus ist das Doppel von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ seit den 1970er Jahren immer tiefer in die kulturelle Logik der privaten Lebensführung der postmaterialistischen Mittelschicht (und darüber hinaus) eingesickert. Es würde zu kurz greifen, anzunehmen, dass deren spätmodernes Selbst im Wesentlichen nach Individualisierung strebt. Diese Individualisierung hat eine besondere Form: sie zielt auf eine kreative Gestaltung von Subjektivität ab. Kreativität bezieht sich hier weniger auf das Herstellen von Dingen, sondern auf die Formung des Individuums selbst. Es handelt sich – wie es Richard Rorty umschreibt – um eine Kultur der »Selbsterschaffung« (self-creation).[6] Man kann nicht genug betonen, dass diese Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung, die das spätmoderne Subjekt verfolgt, nicht als Universalien missverstanden werden sollten. Sie gehen vielmehr auf ein historisch außergewöhnliches Vokabular des Selbst aus dem Umkreis der Psychologie des Selbstwachstums (self growth) zurück, die wiederum ein romantisches Erbe verwaltet. Erst vor ihrem Hintergrund geht es dem Selbst um eine quasikünstlerische, experimentelle Weiterentwicklung in allen seinen Facetten, in persönlichen Beziehungen, Freizeitformaten, Konsumstilen und körperlichen oder psychischen Selbsttechniken. Die Orientierung an der Kreativität des Selbst ist dabei regelmäßig mit einem Streben nach Originalität, nach einer Unverwechselbarkeit des Ichs verbunden.[7]

Schließlich sticht die gesellschaftliche Ausrichtung an Kreativität in einem weiteren Bereich ins Auge: in der Transformation des Urbanen, in der Umgestaltung des gebauten Raums der westlichen Großstädte. Viele der Metropolen zwischen Barcelona und Seattle, zwischen Kopenhagen und Boston sind seit den 1980er Jahren dabei, sich über den Weg spektakulärer Architektur, der Restaurierung von Stadtvierteln, der Neugründung von Kulturinstitutionen und einer gezielten Arbeit an ansprechenden Atmosphären ästhetisch neu zu erfinden. Es reicht nicht mehr aus, dass die Städte ihre Grundfunktionen erfüllen, Wohnraum und Arbeitsstätten 13zur Verfügung zu stellen, wie es für die klassische Industriegesellschaft galt. Es wird von ihnen vielmehr eine permanente ästhetische Selbsterneuerung erwartet, die immer wieder die Aufmerksamkeit der Bewohner und Besucher fesselt – sie wollen und sollen creative cities sein.[8] Das kreative Arbeiten, die innovative Organisation, das sich selbst entfaltende Individuum, die creative cities – sie alle nehmen teil an einem umfassenden kulturellen Ensemble, das die Produktion von Neuem auf Dauer stellt und das Faszinosum der Schöpfung und Wahrnehmung von neuartigen, originellen Objekten, Ereignissen und Identitäten nährt.

Im Grunde ist das alles höchst merkwürdig. Man muss nur historisch einen Schritt zurücktreten, um sich der Seltsamkeit bewusst zu werden, die angesichts der gegenwärtigen Universalisierung der Kreativität, ihrer Festlegung auf eine scheinbar alternativlose und allgemeingültige Struktur des Sozialen und des Selbst leicht verdeckt wird. Die Idee der Kreativität ist zwar sicherlich keine Erfindung unserer Post- oder Spätmoderne. Aus einer soziologischen Perspektive auf die Genese der Moderne insgesamt ist sie jedoch vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen auf kulturelle und soziale Nischen beschränkt gewesen.[9] Es waren die künstlerischen und ästhetischen Bewegungen seit dem Sturm und Drang und der Romantik, die in immer neuen Schüben die Überzeugung forciert haben, dass die Welt und das Ich schöpferisch-kreativ zu gestalten seien. Gegen das bürgerliche und nachbürgerliche Establishment, gegen deren Moralität, Zweckrationalität und soziale Kontrolle gerichtet, haben sie die nichtentfremdete Existenz als einen Dauerzustand kreativer Neuerfindung definiert und zelebriert. Dies gilt für die Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts ebenso wie für die ästhetischen Avantgarden und vitalistischen Bewegungen der Lebensreform um 1900, schließlich für die Counter Culture der 1960er Jahre, die das 14»kreative Zeitalter« als ein age of aquarius proklamierte. In diesen künstlerischen und gegenkulturellen Nischen ist Kreativität als eine Emanzipationshoffnung in Stellung gebracht worden, die den repressiv scheinenden okzidentalen Rationalismus von bürgerlicher Erwerbsarbeit, Familie und Bildung überwinden sollte.[10] Für den dominanten Alltagsrationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, gegen den der Kreativitätswunsch dieser Minderheiten gerichtet war, wäre ein verallgemeinerter Kreativitätsimperativ völlig undenkbar gewesen.

Was sich in der spätmodernen Kultur seit den 1970er Jahren vollzieht, ist nun eine bemerkenswerte Umkehrung: Ideen und Praktiken ehemaliger Gegen- und Subkulturen sind in die Hegemonie umgeschlagen. Das Kreativitätsideal der scheinbar hoffnungslos randständigen ästhetisch-künstlerischen Gegenbewegungen ist in die dominanten Segmente der Gegenwartskultur, in ihre Arbeits-, Konsum- und Beziehungsformen eingesickert und dabei nicht dasselbe geblieben. Aus funktionalistischer Perspektive können die ästhetischen und künstlerischen Subkulturen in der Geschichte der Moderne dann wie jene Seedbed-Kulturen scheinen, die Talcott Parsons im alten Griechenland und Israel, in der griechischen Philosophie und der jüdischen Religion ausgemacht hat:[11] Brutstätten alternativer und zunächst marginaler kultureller Codes, die mit zeitlicher Verzögerung den Mainstream revolutionieren. Die unbeabsichtigten Auswirkungen der künstlerischen Gegenbewegungen auf die Gegenwart hat Daniel Bell bereits 1976 in The Cultural Contradictions of Capitalism hellsichtig herausgearbeitet und diese insbesondere im zeitgenössischen Konsumhedonismus ausgemacht. In Bezug auf die Arbeits- und Organisationswelt haben Luc Boltanski und Ève Chiapello vor wenigen Jahren in ihrer Analyse von Managementdiskursen unter dem Titel Der neue Geist des Kapitalismus die Kippbewegung von Ideen der künstlerischen Gegenkulturen in den gegenwärtigen »neuen Geist« der Netz15werkökonomie nachgezeichnet: Die ehemalige antikapitalistische »Künstlerkritik« von 1800 bis 1968, die Kritik an der Entfremdung im Namen von Selbstverwirklichung, Kooperation und Authentizität ist in das aktuelle projektorientierte Arbeiten und in die Organisationen mit ihren flachen Hierarchien bereits eingebaut. Scheinbar hat sich dann die Tradition der Künstlerkritik durch ihre flächendeckende ökonomische Realisierung überflüssig gemacht.[12]

Das Doppel von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ reicht jedoch weit über die Felder von Arbeit und Konsum hinaus. Es umfasst die gesamte Struktur des Sozialen und des Selbst der Gegenwartsgesellschaft. Wie der Prozess aussieht, in dessen Verlauf die minoritären Ideen der Kreativität in eine verbindliche gesellschaftliche Ordnung umgeschlagen sind und sich in verschiedenen sozialen Feldern schrittweise institutionalisieren, haben wir noch gar nicht richtig verstanden. Das ist die Ausgangsfrage dieses Buches. Was sich seit dem letzten Viertel des gerade vergangenen Jahrhunderts abspielt – so meine Leitthese –, ist tatsächlich die Ausbildung eines ebenso heterogenen wie wirkungsmächtigen Kreativitätsdispositivs. Dieses betrifft verschiedenste gesellschaftliche Sektoren und ihre Praktiken – von der Erziehung bis zum Konsum, vom Sport bis zum Beruf und zur Sexualität. Sie alle werden gegenwärtig Imperativen der Kreativität entsprechend umgeformt. Zur Klärung der Genealogie dieses Kreativitätskomplexes, seiner unreinen und unebenen Vorgeschichte will dieses Buch beitragen. Es geht dabei nicht um eine Ideengeschichte von Kreativitätsvorstellungen. Vielmehr soll der widersprüchliche Prozess rekonstruiert werden, in dessen Verlauf in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern im gleichen Zeitraum Techniken und Diskurse entstanden sind, welche die soziale Praxis und ihr Subjekt mehr und mehr in die Richtung einer scheinbar natürlichen und universalisierten Kreativitätsorientierung gelockt und sie geformt haben: in der Kunst, in einzelnen Segmenten der Ökonomie, in Teilen der Humanwissenschaften, in den Massenmedien, in der politischen Planung des städtischen Raumes. Am Ende ist die einstmals elitäre und oppositionelle Orientierung am Kreativen allgemein erstrebenswert und zugleich für alle verbindlich geworden.

16Ein solcher Blickwinkel auf das, was man das kreative Ethos der spätmodernen Kultur nennen kann, setzt voraus, dieses nicht als Ergebnis einer Befreiung von Individuen und Institutionen aus Zwängen zu verstehen, so dass sie nun endlich kreativ sein dürfen. Aus der Perspektive einer allgemeinen poststrukturalistischen Ontologie des Sozialen kann man zu Recht davon ausgehen, dass soziale ebenso wie psychische und organische Strukturen ganz generell in einem ständigen Prozess des Entstehens und Verschwindens, des Neuknüpfens und Auflösens begriffen sind.[13] Auch wenn man an den Individuen und ihrer Alltagspraxis ansetzt, kann man ganz allgemein voraussetzen, dass in ihrem Verhalten trotz aller Routine immer schon Unberechenbares und Improvisiertes steckt. Dieses Werden und Vergehen der sozialen Formen und die Unkalkulierbarkeit der Individuen als Kreativität zu beschreiben hieße jedoch, sich vorschnell eines besonderen kulturellen Vokabulars zu bedienen. In diesem Buch geht es mir nicht um diese ontologische Ebene des Werdens und Vergehens, die ständige Entstehung des Neuen in der Welt per se, sondern um ein sehr viel spezifischeres kulturelles Phänomen, das unsere Gegenwart prägt: um den gesellschaftlichen Kreativitätskomplex als eine historisch außergewöhnliche Erscheinung des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und insbesondere seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vorbereitet worden ist. Dieser vielgliedrige Komplex legt uns nahe, in sehr voraussetzungsreichen Begriffen über unsere Kreativität zu denken und diese zu begehren, sie in entsprechenden Techniken zu üben und uns selbst in die Richtung kreativer Subjekte zu gestalten: Kreativität als ein soziales und kulturelles Phänomen ist in diesem Kontext gleichsam erfunden worden.[14] Das Kreativitätsdispositiv registriert dabei nicht kurzer17hand, dass Neues entsteht, es fördert systematisch in allen möglichen Bereichen die dynamische Produktion und die Rezeption von Neuem, und zwar von Neuem als ästhetisches Ereignis. Es lockt kreative Praktiken und Subjektkompetenzen hervor und legt dem gesellschaftlichen Zuschauer nahe, überall nach dem ästhetisch Neuen und nach kreativen Leistungen Ausschau zu halten. Kreativität scheint als ein natürliches Potenzial immer schon vorhanden, aber zugleich wird systematisch dazu angehalten, sie zu entwickeln, und zugleich wird sehnsüchtig gewünscht, kreativ zu sein.

Für die Genese des Kreativitätsdispositivs kommt dabei einem bestimmten sozialen Feld eine zentrale Bedeutung zu, das ansonsten von der Gesellschaftsanalyse gerne an den Rand gedrängt wurde: der Kunst, dem Künstlerischen und dem Künstler. Sicherlich ist die Entstehung des ästhetisch-kreativen Komplexes kein Ergebnis einer einfachen Expansion des Kunstfeldes. Auch scheint auf den ersten Blick Kreativität als kulturelles Modell historisch nicht auf die Kunst beschränkt, sondern auch anderswo, vor allem im Bereich von Wissenschaft und Technik, entwickelt worden zu sein.[15] Ausgehend von unserer gegenwärtigen Situation stellt sich jedoch heraus, dass gerade der Kunst die Rolle eines langfristig wirksamen Schrittmachers zukommt, dessen struktureller Grundriss – in einer Weise, die sicherlich in vielerlei Hinsicht den Intentionen und Hoffnungen, welche die Kunst in der Moderne gehegt hatte, widerspricht – sich im Kreativitätsdispositiv einprägt. Nicht die technische Innovation des Erfinders, sondern die ästhetische Kreation des Künstlers liefert am Ende das soziale Modell für Kreativität. Dieses trägt damit zu einem Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung bei.

Die Herauskristallisierung des Kreativitätsdispositivs lässt sich kühl beobachten und sezieren. Aber Kreativität und Ästhetik sind im Horizont der Kultur der Moderne normativ und affektiv zu aufgeladen, als dass Wertfreiheit möglich wäre. Der Rückgriff auf nicht 18ausgeschöpfte kreative Potenziale des Menschen liefert in den letzten zweihundert Jahren einen gängigen Maßstab der Kultur- und Gesellschaftskritik. Die grundsätzliche Haltung, in der ich dieses Buch geschrieben habe, ist dann auch die eines Schwankens zwischen Faszination und Distanz. Auf der einen Seite steht die Faszination darüber, dass die ehemals gegenkulturelle Hoffnung auf eine self-creation des Individuums in neuen institutionellen Formen Realität geworden scheint, dass Elemente ehemaliger ästhetischer Utopien gegen alle Widerstände anscheinend in gesellschaftliche Praxis umgesetzt werden konnten. Die Faszination schlägt jedoch rasch in ein Unbehagen um: dass die Verwandlung dieser alten, ja auch emanzipatorischen Hoffnungen in einen Kreativitätsimperativ neuartige Zwänge eines Aktivismus permanenter ästhetischer Innovationen mit sich gebracht hat und eine zwanghafte Zerstreuung der subjektiven Aufmerksamkeit im unendlichen, niemals befriedigenden Zyklus der kreativen Akte.

Der methodische Leitgedanke der Arbeit an diesem Buch war, gesellschaftstheoretische Überlegungen und genealogische Detailanalyse miteinander zu verzahnen. Das Buch will einerseits allgemein die Strukturen einer Gesellschaftsformation herausarbeiten, welche die Orientierung an der Kreativität in ihr Zentrum gestellt hat. Die systematische Analyse dieses Kreativitätsdispositivs als spezifische Form einer Ästhetisierung des Sozialen findet sich konzentriert in Kapitel 1 und Kapitel 8, die eine theoretische Klammer bilden. Zugleich aber will das Buch die Genealogie des Kreativitätsdispositivs anhand einzelner wichtiger Komplexe von Praktiken und Diskursen im Detail nachverfolgen. Daher gilt das Interesse der Kapitel 2 bis 7 sehr unterschiedlichen, spezialisierten Kontexten und ihrer Genese: der Entwicklung künstlerischer Praktiken (Kapitel 2 und 3), den ökonomischen Managementtechniken und creative industries (Kapitel 4), der Psychologie (Kapitel 5), der Entwicklung der Massenmedien und ihres Starsystems (Kapitel 6), schließlich den Veränderungen in der Gestaltung des städtischen Raums und der Stadtplanung (Kapitel 7). In jedem dieser Kapitel geht es darum, anhand der wichtigsten Stationen nachzuzeichnen, wie sich in den widersprüchlichen und konflikthaften Konstellationen der einzelnen Felder allmählich eine kulturelle Orientierung an Kreativität herausgeschält hat und ein entsprechender Ästhetisierungsprozess in Gang gekommen ist. Zeitlich umfassen die Ana19lysen – bis auf das Kapitel 2, das in einem systematischen Zugriff auf das Kunstfeld bis ins 18. Jahrhundert zurückgeht – das 20. Jahrhundert. So wie die unterschiedlichen sozialen Felder in der gesellschaftlichen Realität keineswegs nahtlos aufeinander abgestimmt sind und – wenn auch miteinander vernetzt – sich jeweils durch ihre eigene Dynamik auszeichnen, so bauen diese Kapitel nicht aufeinander auf, sondern haben den Status miteinander verbundener Einzeluntersuchungen, in denen die Entstehung der Kreativitätskultur von verschiedenen Seiten gewissermaßen »in die Zange genommen wird«. Zusammen bilden sie ein Mosaik, bei dem trotz aller Eigentümlichkeit der einzelnen Elemente sich die übergreifenden Konturen des Dispositivs der Kreativität herausschälen.[16]

201.
Ästhetisierung und Kreativitätsdispositiv: Das gesellschaftliche Regime des ästhetisch Neuen

Das Kreativitätsdispositiv ist mit Prozessen einer gesellschaftlichen Ästhetisierung eng verbunden, aber nicht mit ihnen identisch. Formate des Ästhetischen und Prozesse der Ästhetisierung finden sich in der Moderne wie auch zuvor und andernorts in sehr unterschiedlichen Versionen und Richtungen. Das Kreativitätsdispositiv heftet sich an eine besondere Ästhetisierungsweise, koppelt sie an bestimmte nichtästhetische Formate (Ökonomisierungen, Rationalisierungen, Medialisierungen) und bringt sie damit in eine sehr spezifische, einseitig gesteigerte Struktur. Das Ästhetische lässt sich so wie ein Medium begreifen, in dessen Rahmen das Kreativitätsdispositiv eine Form markiert.[1] Oder anders formuliert: Der gesellschaftliche Komplex der Kreativität territorialisiert die flottierenden Prozesse des Ästhetischen auf eine bestimmte Weise. Er setzt sie voraus und macht aus ihnen etwas ganz Bestimmtes – so wie es auch andere Wege und Formen der Ästhetisierung gegeben hat, gibt und noch geben wird. Die Besonderheit des Kreativitätsdispositivs besteht darin, dass es eine Ästhetisierung forciert, die auf die Produktion und Rezeption von neuen ästhetischen Ereignissen ausgerichtet ist. Die moderne Gesellschaft hat seit ihren Anfängen das Neue strukturell vorangetrieben, auch auf politischer und technischer Ebene. Das Kreativitätsdispositiv richtet nun das Ästhetische am Neuen und das Regime des Neuen am Ästhetischen aus. Es markiert eine Schnittmenge zwischen Ästhetisierungen und den sozialen Regimen des Neuen.

1.1 Ästhetische Praktiken

Was ist das Ästhetische, und was sind Ästhetisierungen? Was haben sie mit der Moderne und dem Kreativitätsdispositiv zu tun? Das Adjektiv »ästhetisch« wurde im philosophischen Diskurs Mitte 21des 18. Jahrhunderts parallel zur Ausbildung des sozialen Feldes der Kunst geprägt und hat seitdem eine wechselvolle Karriere hinter sich. In mancher Hinsicht scheint der Begriff dermaßen mehrdeutig und zudem normativ vorbelastet, dass nicht wenige Autoren empfohlen haben, auf ihn besser zu verzichten: Paul de Man weist auf eine – nicht zuletzt deutsche – »ästhetische Ideologie« hin.[2] Erst recht aus Sicht der Soziologie spricht auf den ersten Blick fast alles dafür, jeden Rückgriff auf die Vagheit des Ästhetischen zu vermeiden, das denkbar fern von allem Sozialen angesiedelt scheint. Eine historisch-soziologische Analyse des Kreativitätsdispositivs kann sich eine solche Enthaltsamkeit jedoch nicht leisten. Dies deshalb, weil sich das Kreativitätsdispositiv nur dann erschließt, wenn man in seiner Wirkung einen Prozess der Ästhetisierung sieht. Die spätmoderne Gesellschaft ist auf ihre Weise eine ästhetisierte. Ästhetisierung aber bedeutet – parallel zu den gängigeren und traditionsreicheren soziologischen Steigerungs- und Intensivierungsbegriffen (Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung etc.) –, dass sich etwas ausdehnt und an Komplexität gewinnt: dieses Etwas ist das Ästhetische. Von Ästhetisierung zu reden, setzt also voraus, zumindest über einen Minimalbegriff des Ästhetischen zu verfügen – einen Begriff in soziologischer Absicht.

Der Begriff des Ästhetischen wurde in der Philosophie seit Alexander Baumgarten und Edmund Burke in dezidiert antirationalistischer Stoßrichtung entwickelt und hat ein vielgestaltiges semantisches Feld hervorgebracht, das Sinnlichkeit, Imagination, das Unbegriffene, das Empfinden, Geschmack, Leiblichkeit und das Schöpferische, das Zweckfreie, Erhabene und Schöne umfasst.[3] Es handelt sich hier um ein Diskursphänomen eigenen Rechts, auf das wir im Zusammenhang mit der Formierung des modernen Kunstfeldes noch etwas näher werden eingehen müssen. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist das Ästhetische als Begriff der Kulturwissenschaften – häufig auf Distanz zu einem idealistischen Ästhetikverständnis – reaktiviert und dabei erweitert oder umfunktioniert worden: etwa in die Richtung einer Ästhetik des Performativen, 22einer Ästhetik der Präsenz oder einer ökologischen Ästhetik.[4] Bei aller Heterogenität hat das Ästhetische dabei doch stets einen begrifflichen Kern: Aisthesis bezieht sich in seiner ursprünglichen Bedeutung auf die sinnliche Wahrnehmung in ihrer ganzen Breite. An diese Anfangsintuition sollte man zunächst anschließen. Das Konzept des Ästhetischen lenkt den Blick auf die Komplexität dieser perzeptiven Sinnlichkeit, die in das menschliche Verhalten eingebaut ist und die in ihrer ganzen Vielschichtigkeit soziologisch und kulturhistorisch zweifellos höchst relevant ist. Eine Soziologie der Sinne kann die soziale Modularisierung des Sehens, Hörens, Tastens, Schmeckens und Riechens, der leiblichen Bewegung und der räumlichen Verortung des Selbst in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und in ihrer historischen Transformation unter die Lupe nehmen.[5] Im Rahmen eines derart allumfassenden Begriffs würde das Ästhetische also mit der sinnlichen Wahrnehmung insgesamt identifiziert – aber damit der Begriff letztlich entbehrlich werden. Vor allem lassen sich mit diesem breiten Ästhetikverständnis Prozesse der Ästhetisierung kaum präzisieren: Ästhetisierung verweist ja auf die Expansion und Intensivierung des Ästhetischen auf Kosten eines Nichtästhetischen. Die Identifikation von Ästhetischem und sinnlicher Wahrnehmung bedeutet jedoch, dass das Ästhetische ohne Gegenbegriff auskommen müsste: Denn jede menschliche Aktivität mobilisiert die Sinne schließlich auf irgendeine Weise; eine nichtsinnliche Tätigkeit scheint ein Grenzfall zu sein.

Eine Analyse der kulturellen Struktur und Transformation menschlicher Sinne, also von aisthesis in der weitesten Bedeutung des Wortes, liefert zwar einen unverzichtbaren Hintergrund für jede Rekonstruktion von Ästhetisierungsprozessen. Aber um diese zu verstehen, ist ein spezifischerer Begriff des Ästhetischen nötig, 23der gleichwohl idealistische Verengungen zu vermeiden sucht. Ein solches trennscharfes Verständnis kann auf eine andere Grundintuition der klassischen Ästhetik zurückgreifen, die bis zur Gegenwart relevant geblieben ist. Das Ästhetische bezieht sich in diesem engeren Verständnis, auf das ich zurückgreifen möchte, nicht auf alle, sondern auf besondere sinnliche Prozesse: auf eigendynamische Prozesse sinnlicher Wahrnehmung, die sich aus ihrer Einbettung in zweckrationales Handeln gelöst haben. Aisthesis als die Gesamtheit sinnlicher Wahrnehmung lässt sich dann von ästhetischer Wahrnehmung im Besonderen unterscheiden.[6] Deren Spezifikum ist ihre Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbezüglichkeit, ihre Orientierung am eigenen Vollzug in diesem Moment. Ihr Spezifikum ist ihre Sinnlichkeit um der Sinnlichkeit willen, ihre Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen – genau dies soll mit der Eigendynamik sinnlicher Wahrnehmung gemeint sein.[7] Das Ästhetische auf zweckfreie Sinnlichkeit zu beziehen, folgt dabei durchaus einem Impuls des klassischen Diskurses der modernen Ästhetik, der sich von Kant und seinem »interesselosen Wohlgefallen« herleitet. Zugleich ist das Ästhetische in einem zeitgemäßen Verständnis jedoch von den traditionellen Kopplungen an den guten Geschmack, die Schönheit, die Reflexivität, Kontemplation oder autonome Sphäre der Kunst zu lösen. Entscheidend für ästhetische Wahrnehmungen ist nicht, ob ihr Gegenstand schön oder hässlich erscheint, ob die Erfahrung harmonisch oder dissonant oder die Haltung introvertiert-reflexiv oder lustvoll-mitgerissen ist, sondern dass sie sich nicht im Sinne einer bloßen Informationsverarbeitung dem zweckrationalen Handeln unterordnen, vielmehr diesem gegenüber eine relative Eigendynamik besitzen.

Das Phänomen des Ästhetischen bezieht noch eine weitere Dimension mit ein: Die ästhetischen Wahrnehmungen sind nicht reine Sinnesaktivität, sie enthalten auch eine erhebliche Affektivität, eine emotionale Involviertheit des Subjekts. Sie umfassen also immer 24ein Doppel von »Perzepten und Affekten«.[8] Ästhetische Wahrnehmungen schließen eine spezifische Affiziertheit des Subjekts durch einen Gegenstand oder eine Situation ein, eine Befindlichkeit oder Erregung, ein enthusiastisches, betroffenes oder gelassenes Fühlen. Im Bereich des Ästhetischen geht es also nicht um Wahrnehmungen, die auf eine objektive und instrumentelle, scheinbar affektneutrale Erkenntnis von Gegebenheiten ausgerichtet sind, sondern um jene sich vom zweckrationalen Handeln lösenden sinnlichen Akte, die das Subjekt zugleich emotional affizieren, berühren, in eine Stimmung versetzen. Affekte lassen sich dabei generell als kulturell modellierte leibliche Erregungsintensitäten verstehen, und ästhetische Affekte als solche, die sich an selbstbezügliche sinnliche Wahrnehmungen heften.[9] Wiederum sind hier ästhetische Affekte von nichtästhetischen zu unterscheiden, das heißt von solchen, die völlig in der Pragmatik des Handelns aufgehen: Lebensweltliche Affekte wie die Furcht vor der Gefahr oder die Freude über das Gelingen haben eine subjektive und intersubjektive Signal- und Kommunikationsfunktion. Ästhetische Affekte hingegen sind Affizierungen um der Affizierung willen (die Furcht im Horrorfilm, die Freude an der Natur etc.), in denen das Subjekt seine emotionalen Möglichkeiten austestet. Das Ästhetische auf der Ebene von Perzeptionen und Affektionen setzt dabei nicht nur menschliche Subjekte voraus, die perzipieren und affiziert werden, es sind ebenso Objekte, das heißt, Gegenstände der Perzeption und Anreize der Affektion erforderlich. Aus diesen Objekten zusammengesetzt können sich auch ganze räumliche Umgebungen und ihre spezifischen ästhetischen Atmosphären bilden, mit denen Subjekte konfrontiert werden und in die sie einbezogen sind. Das Ästhetische in diesem Sinne ist damit in jedem Fall kein bloßes innerpsychisches Phänomen, sondern bewegt sich in einem sozialen Raum von Subjekten und Objekten, in dem sich ständig perzeptiv-affektive Relationen knüpfen.

Viele dieser Relationen sind einmalig und verschwinden sofort, aber es bilden sich auch relativ dauerhafte sozialkulturelle Prakti25ken, welche die Entwicklung von Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen auf ihre jeweilige Art fördern und hemmen, anregen und moderieren. Für ein soziologisches Verständnis von Sinnlichkeit und Affektivität ist ein praxeologischer Begriff des Ästhetischen zentral. Hier lassen sich zwei Aggregatzustände des Ästhetischen voneinander unterscheiden: ästhetische Episoden und ästhetische Praktiken. In ästhetischen Episoden scheint momenthaft und unberechenbar eine ästhetische Wahrnehmung auf. Ein Subjekt lässt sich durch ein Objekt affizieren und durchbricht damit den Kreislauf der Zweckrationalität – dann ist das Ereignis vorüber. In ästhetischen Praktiken hingegen werden immer wieder ästhetische Wahrnehmungen oder Objekte für eine solche Wahrnehmung routinisiert oder gewohnheitsmäßig hervorgebracht. Wenn Praktiken generell als sich wiederholende und intersubjektiv verstehbare, körperlich verankerte Verhaltensweisen – auch im Umgang mit Artefakten – zu verstehen sind, in denen ein implizites Wissen verarbeitet wird und die immer auch die Sinne auf eine bestimmte Weise organisieren, dann sind ästhetische Praktiken solche, in denen routinemäßig Sinne und Affekte als selbstbezügliche modelliert werden. Im Zentrum dieser Praktiken steht also die Hervorlockung ästhetischer Wahrnehmung – ob in anderen oder in einem selbst.[10] Ästhetische Praktiken enthalten damit immer ein ästhetisches Wissen: kulturelle Schemata, welche die Produktion und Rezeption ästhetischer Ereignisse anleiten. Sie sind als Praktiken damit paradoxerweise durchaus nicht zweckfrei, sondern so teleologisch wie jedes Handeln: Ihr Zweck ist die Generierung zweckfreier ästhetischer Ereignisse.

Ein solches Verständnis des Ästhetischen hebt einen Aspekt sozialer Praxis hervor, der von einer rationalistischen Philosophie und Soziologie lange marginalisiert wurde. Der Gegenbegriff zum Ästhetischen in dieser auf eigendynamische sinnliche Wahrnehmung und Affektivität bezogenen Bedeutung ist der des zweckrationalen und regelgeleiteten Handelns. Idealtypisch lassen sich so ein rationalistischer Weltbearbeitungsmodus, der zielgerichtetes und nor26matives Handeln umfasst, und ein ästhetischer Weltverarbeitungsmodus der sinnlichen Wahrnehmung einander gegenüberstellen. Im einen Extrem kann soziale Praxis die Form eines interesse- oder normgeleiteten Handelns annehmen. Sie ist weitgehend entästhetisiert (aber natürlich nicht völlig entsinnlicht) und folgt normativen oder technischen Regeln. Hier taucht sinnliche Wahrnehmung nur sekundär und als kognitive Informationsverarbeitung auf, der im Verhältnis zum zielgerichteten Agieren eine instrumentelle Funktion zukommt. Auch das empfindsame, betroffene oder libidinöse Affiziertwerden durch Objekte, Subjekte oder Umgebungen erscheint hier der Sachlichkeit oder Normativität des Handlungszusammenhangs untergeordnet, der idealerweise affektneutral ist – dies ist der Idealtypus des Handelns, den die Soziologie klassischerweise voraussetzt.

Diesem Weltbearbeitungsmodus des rationalen Handelns steht der Welterfahrungs- und -verarbeitungsmodus des selbstreferenziellen Erlebens in den ästhetischen Praktiken gegenüber. Hier ist umgekehrt der Anteil des zweck- oder normorientierten Handelns auf ein Minimum reduziert. Stattdessen wirken die Akte der sinnlichen Wahrnehmung – der visuellen, auditiven, taktilen und olfaktorischen Sinne, ob allein oder in Kombination – als sich selbst steuernde Prozesse, die nicht bloß der effektiven Handlungsregulierung dienen. Die Perzeptionen sind dabei mit entsprechenden Affekten verknüpft, in denen Subjekte durch die Wahrnehmung von Objekten, anderen Subjekten oder Umgebungen in einem spezifischen Sinne emotional berührt werden. Generell sind Perzeptionen und Affekte dabei keine Akte reiner, unmittelbarer Erfahrung oder reinen Fühlens, sondern in ihnen kommen wiederum implizit Schemata, Muster und Selektionskriterien, kulturell angeeignete Kompetenzen zum Einsatz. Praktiken ästhetischen Wahrnehmens und Empfindens in diesem Sinne umfassen dann auch die kulturellen Manifestationen von Kants »interesselosem Wohlgefallen« in der Betrachtung eines Kunstwerks, aber sie gehen weit darüber hinaus. Sie schließen gleichermaßen die Ekstase der kollektiven Efferveszenz ein, wie Émile Durkheim sie in archaischen Riten wahrnimmt, und die chinesische Kalligrafie, in der François Jullien eine »Ästhetik des Faden« ausmacht. Sie umfassen Walter Benjamins Ästhetisierung der Politik in faschistischen Massenveranstaltungen und Charles Baudelaires Metropolen-27Flaneur.[11] Ästhetische Praktiken kommen beim Besuch von Disneyworld ebenso zum Einsatz wie in Jackson Pollocks Arbeit des Drip-Painting, beim Theaterspielen wie beim Theaterbesuch, bei den enthusiastischen Zuschauern im Fußballstadion wie beim höfischen Tanz.

Zwei Komponenten menschlichen Handelns haben in der ästhetischen Praxis einen besonderen Stellenwert: der Körper und die Zeichen. Im zweck- und normrationalen Handeln einerseits, in der ästhetischen Praxis andererseits werden diese in unterschiedlicher Weise eingesetzt. In der ersten Konstellation dient der Körper der Zielerreichung, so dass er phänomenologisch zu verschwinden scheint, obgleich er der Träger aller notwendigen Kompetenzen ist. Sprache und andere Zeichensysteme wiederum sind hier Mittel zur möglichst eindeutigen begrifflichen Welterfassung, Informationsgewinnung und Kommunikationssicherung. In der ästhetischen Praxis tritt der Körper hingegen als leibliche Instanz sinnlichen Affiziertwerdens und/oder als performativer Aufführungsort einer von anderen sinnlich wahrnehmbaren Darstellung hervor. Er ist hier also nicht mehr in erster Linie Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck, selbst- und vorgangsbezogen in seinem Fühlen und Sich-Zeigen. Wenn Zeichensysteme wie die Sprache in ästhetischen Praktiken zum Einsatz kommen, dann wiederum nicht primär um Informationen zu vermitteln, sondern um in ihrer Mehrdeutigkeit und ihrer Fähigkeit, narrative, ikonografische oder andere semiotische Formen hervorzubringen, die Subjekte sinnlich-affektiv anzuregen. Nicht dass die Zeichen auf »reale« Referenten verweisen, ist nun wichtig, vielmehr treten das Spiel der Signifikanten, die Fiktionalität der Bedeutungsproduktion und die alternativen Welten der Narrative in den Vordergrund.[12]

28Die idealtypische Gegenüberstellung von zweckrationalem Handeln und ästhetischem Wahrnehmen ist zunächst heuristisch hilfreich, um einen präzisen Begriff des Ästhetischen zu gewinnen. Als Dualismus ist sie jedoch nur mit Vorsicht zu genießen. Denn die strikte Opposition bleibt von der klassischen Ästhetik imprägniert, die seit Winckelmann und Baumgarten regelmäßig das Ästhetische vom Rationalen eindeutig zu scheiden suchte, um am Ende ein Reservat des autonom Ästhetischen – des Sinnlich-Empfindsamen, Schönen, Erhabenen, Begriffslosen – als Sphäre des Zweckfreien zu sichern. Die klassische Ästhetik agiert in diesen Differenzmarkierungen performativ. Sie betreibt das, was sie scheinbar neutral beschreibt: eine Reinigungsarbeit des Ästhetischen vom Rationalen, vom Sachlichen und Moralischen, die auf die umgekehrte Säuberung des Rationalen vom Ästhetischen in entsprechenden utilitaristischen, kognitivistischen oder moralistischen Diskursen antwortet. Bruno Latour hat von jenen Purifizierungsbemühungen der Moderne gesprochen, die klare Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen, zwischen Kultur und Natur/Technik schaffen wollen.[13] Eine vergleichbare moderne Separierungstechnologie findet sich jedoch im Verhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Rationalen.

Wenn man den Dualismus in diesem Sinne historisiert, wird deutlich, dass real häufig eine Vermischung von rational-teleologischen bzw. normativ-moralischen und ästhetischen Praktiken stattgefunden hat. Rein zweckrationale und regelorientierte, entästhetisierte und affektlose Handlungsformen einerseits, rein ästhetische, ausschließlich an Sinnen und Affekten orientierte Aktivitäten andererseits stellen Extrempunkte eines Kontinuums dar. Lässt man sich nun jedoch auf die unreinen Kombinationen ein, dann taucht das Ästhetische nicht nur in den exklusiv ästhetischen Praktiken auf, sondern auch in gemischten sozialen Feldern und in 29Mischpraktiken, in denen Zweck- und Normorientierung mit relativ eigengewichtigen sinnlichen Wahrnehmungsakten und Empfindungen kombiniert sind. So können sich religiöse Zeremonien ästhetisch imprägnieren lassen, ohne durch und durch ästhetisch zu sein. Handwerkliches Arbeiten oder die Spekulation an der Börse enthalten gleichfalls ästhetische Elemente eigendynamischer Perzeptionen und Affekte im Umgang mit dem Material oder im Reiz des Spekulationsspiels. Ähnliches kann etwa für kriegerische Aktivitäten, freundschaftliche Interaktionen, das Sich-Bewegen im öffentlichen Raum oder den Pflanzenanbau gelten. In allen Fällen sind die Wahrnehmungen und Affekte möglicherweise nicht bloß dem rationalen Handeln untergeordnet, sie wirken auch eigendynamisch und selbstreferenziell. Letztlich wird die gesamte Kulturgeschichte dann als eine Geschichte von Formaten des Ästhetischen rekonstruierbar, die weit über das, was die Moderne als zweckfreie Kunst versteht, hinausgehen und in verschiedenste – naturbearbeitende, kommunikative, politische, religiös-spirituelle etc. – Praktiken integriert sind. Hier kann man somit eine Unterscheidung innerhalb der Gesamtheit ästhetischer Praktiken ziehen: die zwischen reinen, ästhetisch orientierten Praktiken und gemischten, ästhetisch imprägnierten Praktiken, wobei es sich auch hier um ein Kontinuum handelt.

Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses des Ästhetischen kann das Phänomen der Ästhetisierung Kontur gewinnen.[14] Es handelt sich um einen präzise bestimmbaren gesellschaftlichen Strukturwandel. In Prozessen der Ästhetisierung dehnt sich innerhalb der Gesamtgesellschaft das Segment ästhetischer Episoden und ästhetisch orientierter wie imprägnierter Praktiken auf Kosten exklusiv nichtästhetischer Praktiken aus. Die exakte Form und Richtung der Ästhetisierung kann dabei kulturell und historisch 30äußerst verschieden sein. Solche Ästhetisierungsprozesse mögen auf bestimmte Klassen, Institutionen oder räumliche Einheiten konzentriert sein oder die Grenzen zwischen ihnen transzendieren. Sie lassen sich anhand einer zweifachen Differenz betrachten: Sie können quantitativ und/oder qualitativ und intendiert und/oder unintendiert ausgerichtet sein. In quantitativen Ästhetisierungsprozessen nimmt der Anteil der ästhetisch orientierten und imprägnierten Praktiken zu, sei es dadurch, dass sie häufiger vollzogen oder von einer größeren Zahl von Akteuren getragen werden (etwa eine Zunahme der Romanlektüre oder der Leser) oder umgekehrt dadurch, dass die nichtästhetischen Praktiken an Umfang und Relevanz verlieren (zum Beispiel durch einen Rückgang der maschinellen Arbeit). Ästhetisierungsprozesse können jedoch auch eine qualitative Komponente enthalten: dadurch, dass neue ästhetische Praktiken in die Welt gesetzt und diese durch neue ästhetische Diskurse gestützt werden, oder dadurch, dass eine Intensivierung bestehender ästhetischer Praktiken stattfindet. Die Ästhetisierung kann dabei intendiert sein: Soziale Instanzen wie politische Führungen, Intellektuelle, Architekten, das Management oder Subkulturen mit ihren ästhetischen Utopien und Kalkülen können sie gezielt und mit komplexen Begründungen vorantreiben. Ästhetisierungen können aber auch ganz unbeabsichtigt ablaufen, als Nebenfolge anderer Prozesse, etwa infolge einer Expansion potenziell ästhetisierbarer Artefakte. Für jenen umfassenden Ästhetisierungsprozess, der in das Kreativitätsdispositiv mündet, gilt, dass er auf allen vier Ebenen zugleich verlaufen ist.

1.2 (Ent-)Ästhetisierungen und Moderne

Wenn historisch eine breite Mischzone von ästhetischen und rationalen Praktiken existiert, die durch eine strikt durchgehaltene begriffliche Opposition zwischen beiden nur verdeckt würde, dann ist der moderne Dualismus von Ästhetischem und Rationalen, wie er den klassischen Diskurs der Ästhetik anleitet, zugleich doch kein bloßes Begriffsphänomen. In ihm spiegelt sich vielmehr eine sehr reale Bifurkation wider, wie sie die moderne Gesellschaft in vielerlei Hinsicht aktiv betrieben hat – wenn auch niemals zur Gänze erfolgreich. In der Moderne kann man damit einen in sich wider31sprüchlichen Prozess beobachten: Auf der einen Seite findet eine grundlegende Rationalisierung sozialer Praxis statt, die tatsächlich eine weitgehende Entästhetisierung nach sich zieht. Zugleich wirken gegenläufige Ansätze einer Ästhetisierung des Sozialen; und es finden sich jene schon beschriebenen Mischformen von Ästhetisierung und Rationalisierung.

Wenn man die klassische Gesellschaftstheorie – Marx, Weber, Durkheim – zu Rate zieht, dann stimmen die Theoretiker trotz aller tiefgreifender Differenzen stillschweigend darin überein, dass die moderne Gesellschaft im Kern entästhetisierend32tung und Beobachtungsform festgelegt werden. Die Spaltung zwischen Menschenwelt und Dingwelt schließlich bedeutet, dass man den Dingen – auch der Natur und der Technik – in erster Linie als Objekten der Verwissenschaftlichung und der instrumentellen Handhabung begegnet.