Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.

Ein Roman? Nicht genug. Ein Buch, das über die Ufer tritt und mitreißt, was Formen und Inhalte zu bieten imstande sind. Der Erzähler heißt Ijon Tichy: Der Held der Sterntagebücher setzt hier seine außerirdischen Erkundungen fort. Zunächst betreibt er in der Schweiz Studien im Institut für Geschichtsmaschinen, einer Filiale des Ministeriums für Außerirdische Angelegenheiten. Dort wird mit allen verfügbaren Daten die Geschichte ferner Planeten simuliert. Ausgangspunkt ist Tichys Darstellung des Planeten Entia in der 14. Reise: Anscheinend hat Tichy einen Vergnügungsmond, ein kosmisches Disney-Land, mit dem Planeten selbst verwechselt.

Während der wichtigsten Reise seiner Laufbahn führt Tichy Gespräche mit Russell, Popper, Feyerabend und Shakespeare, d. h. mit kybernetischen Persönlichkeitskopien auf Kassetten.

Was Tichy sodann auf Entia erlebt und beobachtet, in den beiden verfeindeten Staaten Losannien und Kurdland, füllt den Hauptteil des Buches. Losannien erinnert dabei an westliche Staaten, Kurdland dagegen trägt Züge des Kommunismus fernöstlicher Staaten. In Losannien gibt es insbesondere den kühnen Entwurf einer »Ethosphäre«, in der es schon physisch unmöglich ist, anderen Gewalt anzutun. Ein Paradies also? Oder doch nur eine andere Hölle?

Stanisław Lem

Lokaltermin

Roman

Aus dem Polnischen von Hubert Schumann

Phantastische Bibliothek

Suhrkamp

Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner

Titel der Originalausgabe: Wizja Lokalna

Wydawnictwo Literackie, Kraków 1982

Die Übersetzung wurde vom Autor autorisiert

Umschlagfoto: Andrzej Zak

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte für die Bundesrepublik Deutschland, West-Berlin, Österreich und die Schweiz beim Insel Verlag Frankfurt am Main 1985

© der deutschsprachigen Ausgabe Verlag Volk und Welt, Berlin/DDR 1985

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74326-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

I. In der Schweiz

II. Das Institut für Geschichtsmaschinen

III. Unterwegs

IV. Lokaltermin

Anhang

Kleines Sachwörterbuch der losannischen und kurdländischen Umgangssprache sowie syntureller Begriffe (siehe: Syntur)

I. In der Schweiz

Nach der Landung auf Cape Canaveral gab ich das Raumschiff zur Durchsicht und konzentrierte mich voll auf den Urlaub, der mir schließlich zustand nach einer so langen Expedition. Vom All aus gesehen, erscheint die Erde als Pünktchen, nach der Landung erweist sie sich als beträchtlich groß. Urlaub aber ist nicht nur eine Frage der schönen Umgebung, sondern der gehörigen Vorsorge. Ich suchte einen Vetter des Professors Tarantoga auf, der den vernünftigen Brauch pflegt, die Tageszeitungen vor der Lektüre erst einige Wochen ablagern zu lassen. Es war mir lieber, meinen Erholungsort bei einem Bekannten auszuwählen als in einer öffentlichen Bibliothek. Die Durchquerung der galaktischen Magnetfelder ist kein Kinderspiel, ich habe das Reißen in allen Knochen, und auch das Knie macht mir zu schaffen, das ich mir im Himalaya verrenkt habe, als der Alumiuniumhokker unter mir zusammenklappte. Gegen Rheumatismus hilft am besten trockene Wärme, die natürlich vom Klima, nicht vom Schlachtfeld kommen muß. Der Nahe Osten schied demnach wie üblich aus. Die Araber spielen unverwüstlich »Bäumchen, wechsel dich«, wobei ihre Staaten sich zusammenschließen, trennen, vereinigen oder einander aus verschiedenen Ursachen bekriegen – ich habe es längst aufgegeben, auch nur den Versuch zu machen, sie zu verstehen.

Auch die sonnenbeschienenen Südhänge der Alpen böten sich an, aber dorthin setze ich keinen Fuß mehr, seit ich in Turin einmal Opfer einer Entführung geworden bin – als Prinzessin di Cavalli oder di Piedimonte, das wurde nie restlos aufgeklärt. Ich nahm an einem Raumfahrtkongreß teil, die Tagung hatte bis nach Mitternacht gedauert, und den Morgen darauf sollte ich nach Santiago fliegen. Ich verfuhr mich mit dem Auto und konnte mein Hotel nicht finden, parkte also in einer Tiefgarage, um wenigstens am Steuer ein bißchen zu schlafen. Der einzige freie Platz war zwar mit bunten Bändern abgegrenzt, vielleicht zum Zeichen, daß die Prinzessin jemandem angetraut worden war, aber davon hatte ich keine Ahnung, und was sollte das um ein Uhr nachts auch zu sagen haben. Ich wurde geknebelt und gefesselt in den Kofferraum gesteckt, den Wagen fuhr man aus dem Parkhaus auf die Straße und verlud ihn auf einen jener großen Sattelschlepper, mit denen fabrikneue Autos ausgeliefert werden. Ich bin zwar ein Mann, aber das war dort nicht so im Handumdrehen zu erkennen, ich trage keinen Bart und bin von auffallender Schönheit, jedenfalls zerrte man mich in einsamer Gegend am Fuße des Gebirges aus dem Kofferraum und führte mich zu einem alleinstehenden Haus. Ich wurde von zwei kräftigen Kerlen bewacht, die sich abwechselten. Draußen glänzte der Firnschnee der Alpen, aber von Sonnenbaden konnte natürlich keine Rede sein. Der eine meiner Wächter war dunkelhäutig und schnurrbärtig (ich spielte mit ihm Dame, zum Schachspiel fehlte ihm die geistige Befähigung), der andere hatte statt eines Schnurrbarts einen Vollbart und besaß die üble Angewohnheit, mich Rumpsteak zu nennen – eine Andeutung dessen, was mich erwartete, falls das Fürstenhaus kein Lösegeld zahlte. Sie wußten, daß ich weder mit den di Cavallis noch den di Piedimontes etwas zu tun hatte, aber das brachte sie nicht aus der Fassung, denn inzwischen war die »Ersatzentführung« in Kraft. Der Begriff stammt von den Deutschen, die sich darin auskennen. Angefangen hatte es mit Kindern: ein ums andere Mal waren versehentlich die falschen entführt worden, und die Eltern der richtigen hatten den Zahlungsschwachen geholfen. Dieses Verfahren war dann auch auf volljährige Personen ausgedehnt worden und zu dem Zeitpunkt, da es mich erwischte, leider bereits so allgemeine Praxis, daß die Herzen der Reichen verhärtet waren und keiner auch nur einen roten Heller für mich geben wollte.

Meine Entführer suchten beim Vatikan etwas herauszuschinden. Die Kirche ist von Berufs wegen opferfreudig, aber die Sache zog sich furchtbar in die Länge. Einen Monat lang mußte ich Dame spielen und mir die gastronomischen Drohungen eines Kerls anhören, der unwahrscheinlich schwitzte und in brüllendes Gelächter ausbrach, wenn ich ihn bat, sich wenigstens zu duschen, ich wäre sogar bereit gewesen, ihn eigenhändig einzuseifen.

Als schließlich auch die Kirche versagte, kam es zum Streit und beinahe zum Handgemenge. »Umlegen!« brüllten die einen. »Fort mit der Prinzessin!« schrien die anderen. Mich Prinzessin zu nennen – darauf hatte sich der Dunkelhäutige versteift. Er trug auf dem Scheitel eine Balggeschwulst. Ich mußte immer wieder hinsehen. Zu essen bekam ich dasselbe wie sie alle, der Unterschied bestand nur darin, daß sie sich nach den öligen Makkaroni die Lippen leckten, während mir davon schlecht wurde. Auch der Hals tat mir noch weh, seit sie versucht hatten, mich zu dem Geständnis zu bewegen, ich müsse, da ich doch den Parkplatz benutzt hatte, wenigstens ein entfernter Angehöriger des Fürstenhauses sein. Zum Abschluß bekam ich von den Genasführten eine gehörige Tracht Prügel, und seither hat Italien für mich aufgehört zu existieren.

Österreich ist fesch, aber ich kenne es wie meine Westentasche und will lieber etwas Neues sehen. Blieb nur die Schweiz. Ich wollte Tarantogas Vetter fragen, was er von ihr halte, aber es war dumm, sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen. Er ist zwar ein Globetrotter, zugleich aber Hobbyanthropologe, der die Graffiti in sämtlichen Toiletten der Welt studiert. Sein Haus ist eine einzige Sammlung davon. Wenn er darauf zu sprechen kommt, was die Menschen an Klosettwände schreiben, zieht in seine Augen ein seliger Glanz. Er behauptet, nur dort sei die Menschheit freimütig bis auf die Knochen, und auf diesen Fliesen stehe unser Menetekel wie auch das »Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem«. Er fotografiert diese Sprüche, vergrößert sie, gießt sie in Plexiglas und hängt sie zu Hause an die Wand. Von weitem wirkt das wie ein Mosaik, aus der Nähe verschlägt es einem die Sprache. Unter exotischen Sprüchen, chinesischen etwa oder malayischen, sind Übersetzungen angebracht.

Ich wußte, daß er um dieser Sammlung willen auch die Schweiz bereist hatte, es war dumm, danach zu fragen, denn Berge waren ihm dort nicht aufgefallen. Er schimpfte, dort würden die Toiletten von früh bis spät ununterbrochen gereinigt und somit kapitale Wandsprüche vernichtet. Er habe beim Kulturdezernat in Zürich sogar eine Denkschrift eingereicht mit dem Vorschlag, man solle nur alle drei Tage saubermachen, aber er hatte nirgends Gehör gefunden, und von einer Erlaubnis, auch Damentoiletten aufsuchen zu dürfen, konnte nicht einmal die Rede sein, obgleich er (ich weiß nicht, wie er sich das erluchst hatte) ein Papier von der UNESCO vorwies, das seiner Arbeit wissenschaftlichen Charakter bescheinigte.

Tarantogas Vetter glaubt weder an Freud noch an die Freudianer. Man könne von Freud wohl erfahren, was einer im Sinn habe, wenn ihm im Wachen oder Träumen ein Turm, ein Kolben, ein Telegrafenmast, ein Scheit, eine Deichsel oder ein Pfahl erscheine, aber mit dieser Weisheit sei man am Ende, wenn einer ganz ohne Umwege träume! Tarantogas Vetter hatte eine persönliche Abneigung gegen die Psychoanalytiker, er hielt sie für Esel und mußte mir unbedingt erklären, weshalb. Er zeigte mir die Perlen seiner Sammlung, gereimte Sprüche in etwa achtzig Sprachen, ein reich illustriertes Buch war bereits in Vorbereitung, Handbuch, Bildband und Kartenwerk in einem, dazu natürlich die statistischen Angaben, wieviel wovon auf einen Quadratkilometer oder auch auf tausend Einwohner entfällt. Er ist ein Polyglott, freilich auf etwas schmalem Fachgebiet, aber auch das will etwas heißen, denkt man an den Reichtum der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten gerade in diesem Bereich.

Tarantogas Vetter sagt übrigens, er ekele sich vor den Umständen des Ortes, benutze Chirurgenhandschuhe und desodorierende Sprays, müsse als Wissenschaftler aber alle seine Reaktionen bezwingen. Andernfalls würden ja auch die Insektenforscher nur noch Schmetterlinge und Marienkäfer studieren, über Läuse und Kakerlaken hingegen wüßte man nichts. In der Furcht, ich könnte ihm entweichen, hielt er mich am Ärmel fest und schubste mich sogar vor die bedeutenderen Schaustücke an seinen Wänden. »Ich will nicht klagen«, meinte er, »aber ich habe mir kein leichtes Leben ausgesucht.« Ein Mann, der, mit Fotoapparaten und Objektiven behängt, ein Stativ mit sich schleppend, öffentliche Toiletten betritt, der Reihe nach in jede einzelne Kabine schaut, als könne er sich nicht entschließen, ein solcher Mann muß einfach den Argwohn der Klofrauen erregen, zumal er sich seines Ballasts nicht entledigen will und alles mit hinter die Tür nimmt. Nicht einmal ein reiches Trinkgeld kann ihn vor Unannehmlichkeiten bewahren. Insbesondere die Verwendung von Blitzlicht scheint auf die Hüterinnen der Klosettmoral, über die sich Tarantogas Vetter sehr abfällig äußerte, zu wirken wie das rote Tuch auf den Stier. Bei offenen Türen kann er nicht arbeiten, denn dadurch werden sie noch reizbarer. Sonderbarerweise wird er auch von der Kundschaft dieser Stätten sehr schief angesehen, und zuweilen ist es bei Blicken nicht geblieben. Dabei müssen sich doch gerade unter diesen Leuten die Autoren befinden, und es wäre nur recht und billig, wenn seine Aufmerksamkeit sie wenigstens ein bißchen verbindlich stimmte.

In automatisierten Anlagen gäbe es solche Probleme nicht, aber er müsse überall sein, sonst ergäbe das Material keinen statistisch gewichtigen, repräsentativen Querschnitt. Leider müsse er sich auf solche kleinen Tests beschränken, der Weltbestand an Klosetts gehe über die menschliche Kraft. Ich weiß nicht mehr, wie viele es gibt, aber er hatte auch das berechnet. Er wußte, womit man schreibt, wenn man nichts zur Hand hat, und wie manche Autoren, vom Schaffenseifer getrieben, ihre Aphorismen oder gar Zeichnungen ganz oben unter der Decke anbringen, obwohl an dem Porzellan nicht einmal ein Schimpanse hinaufklimmen kann. Aus Höflichkeit, um das Gespräch aufrechtzuerhalten, äußerte ich die Vermutung, sie trügen möglicherweise zusammenklappbare Leitern bei sich. Diese Ignoranz brachte ihn sehr in Harnisch, schließlich entkam ich, von ihm verfolgt bis auf die Treppe, wo er immer noch auf mich einredete.

Wütend über diesen Reinfall, bei dem ich über die Schweiz gar nichts erfahren hatte, kehrte ich zurück in mein Hotel, wo sich zeigte, daß mir einige der deftigsten Beispiele, die er rezitiert hatte, so fest im Kopf saßen, daß sie sich um so hartnäckiger aufdrängten, je mehr ich sie zu vergessen suchte. Irgendwo mag dieser ganze Vetter ja auch recht haben, immerhin hängt über seinem Schreibtisch groß der Spruch: »Homo sum et nil humani a me alienum puto.«

Ich entschied mich endgültig für die Schweiz. Seit langem trug ich ihr Bild im Herzen. Man steht am Morgen auf, geht in Pantoffeln zum Fenster, draußen breiten sich die Almen, lilafarbene Kühe tragen auf dem Körper in großen Buchstaben die Aufschrift MILKA, man lauscht dem Läuten ihrer Glöckchen und schreitet zum Speisesaal, wo in dünnem Porzellan bereits die Schweizer Schokolade dampft und leidenschaftlich der Schweizer Käse glänzt. Echter Emmentaler schwitzt nämlich immer ein bißchen, zumal in den Löchern. Man setzt sich nieder, knusprig knirschen die Toasts, der Honig duftet nach Alpenkräutern, und die behagliche Stille wird feierlich gemessen vom Ticken der Schweizer Uhren. Man schlägt die druckfrische »Neue Zürcher Zeitung« auf, die Titelseite vermeldet zwar Kriege, Bomben, die Zahl der Opfer, aber so weit weg, als sähe man sie durch ein umgedrehtes Fernglas. Mag sein, daß es irgendwo Unglück gibt, aber nicht hier, wo Ruhe und Ordnung herrschen, hier im Herzen des terroristischen Tiefs. Sehen Sie selbst, auf allen Seiten unterhalten sich die Kantone im gedämpften Bankendialekt, man legt die Zeitung beiseite, denn wozu soll man sie lesen, da doch alles läuft wie eine Schweizer Uhr? Ohne Eile steht man auf, kleidet sich, ein altes Liedchen trällernd, an und wandert einsam in die Berge. Welch eine Wohltat!

So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt. In Zürich stieg ich in einem Hotel unweit vom Flughafen ab und begann die Suche nach einem stillen Alpenwinkel, wo ich den Sommer verbringen konnte. Mit zunehmender Ungeduld durchblätterte ich die Prospekte, hier stieß mich die Verheißung zahlreicher Diskotheken ab, dort die von Seilbahnen, die in Portionen ganze Menschenmassen auf die Gletscher hieven, aber ich mag keine Massen und hatte folglich eine schwere Aufgabe: weder wollte ich Berge ohne Komfort noch Komfort ohne Berge.

Ich war aus dem untersten Stockwerk in das höchstgelegene vertrieben worden – zum einen von dem technisch hochgerüsteten Hotelorchester, zum zweiten von der Küchenventilation, die den gewißlich falschen, aber dennoch bestürzenden Eindruck erweckte, das Fett in den Bratpfannen sei seit Jahren nicht gewechselt worden. Oben war es auch nicht besser. Alle paar Minuten schlug der Donner der unweit startenden Jets auf mich ein. In Europa gebraucht man eher den Begriff Düsenflugzeug, aber bei dem Wort Jet spüre ich geradezu, wie mir eine Peitsche um die Ohren pfeift, die ich mir übrigens natürlich verstopft hatte, ohne daß es etwas half: die Vibration der Triebwerke dringt einem ins Mark wie der Bohrer eines Zahnarztes.

Nach zwei Tagen zog ich in das im Zentrum gelegene neue Sheraton, ohne mir einen Kopf darüber zu machen, daß dieses Hotel komplett computergesteuert ist. Ich bekam ein Appartement, das sich ganz amerikanisch »Suite« nannte, einen Reklamekugelschreiber und – statt des Türschlüssels – eine Plastikmarke. Damit ließ sich auch der spirituosengeladene Kühlschrank öffnen. Die Marke war an den Zentralcomputer angeschlossen, und das Fernsehgerät gab auf Wunsch den augenblicklichen Stand der Rechnung an. Das war sogar lustig, wie unablässig die Ziffernmühle lief, in einem Tempo etwa wie die Zeitnahme bei einem Wettrennen. Nur ging es hier nicht um Sekunden, sondern um Schweizer Franken.

Das Sheraton bezog seinen Ruhm aus der Erneuerung alter Traditionen. Beispielsweise schimmerte auf allen Tischen im Restaurant Tafelsilber. Früher war auf den Bestecks eingraviert: »Gestohlen im Bristol«. Im Sheraton trieb man es weniger drastisch – da schlugen die Türen Alarm, wenn einer hinausgehen wollte und Silber in der Tasche trug. Ich kenne das leider aus eigener Erfahrung und mußte mich ausführlich rechtfertigen. Ich hatte meinen Kugelschreiber neben der Tasse liegengelassen und an seiner Stelle den Teelöffel ins Jackett gesteckt. Der parfümierte Lakai ließ sich dadurch nicht beschwichtigen, denn der Löffel glänzte wie frisch aufgewaschen, obgleich ich ein weichgekochtes Ei gegessen hatte. Ja freilich, ich hatte ihn abgeleckt, das mache ich immer, aber ich hatte nicht die Absicht, meine intimen Gewohnheiten einem Schweizer zu beichten, der überzeugt war, englisch zu sprechen. Ich hielt den Fall für erledigt, aber als ich den Monitor wieder einmal aus Spaß nach der Höhe meiner Rechnung fragte, stand darauf auch der Preis eines Silberlöffels – und er stand wie eine Eiche. Ich hatte den Löffel bezahlt, er gehörte mir, aber man hatte ihn mir abgenommen, folglich steckte ich bei der nächsten Gelegenheit einen ebensolchen in die Tasche, und prompt gab es den nächsten Skandal. Das Sheraton, so erklärte man mir, sei kein Selbstbedienungsladen. Der Löffel werde auf die Rechnung gesetzt, bleibe aber Eigentum des Hotels. Dies sei keine Strafe, sondern eine symbolische Geste des Entgegenkommens: Gerichtskosten kämen den Gast teurer. Ich habe ein bißchen das Zeug zum Prozeßhansl, es reizte mich, gegen das Sheraton den Rechtsweg zu beschreiten, aber dann wollte ich mir die Laune nicht verderben, die vorläufig allerdings nur aus der Hoffnung bestand, die Schweiz meiner Träume zu finden.

Neben der Tür zum Badezimmer hatte ich vier Schalter, aber ich bekam sie bis ans Ende meines Aufenthalts nicht in den Griff. Auch am ersten Abend ging ich im Dunkeln zu Bett. Am Kopfkissen steckte eine Karte mit den herzlichen Grüßen der Hoteldirektion nebst einer kleinen Tafel Milka, aber das wußte ich nicht. Erst trieb ich mir die Nadel in den Finger, dann forschte ich geraume Zeit unter der Bettdecke nach der Schokolade. Als ich sie aufgegessen hatte, fiel mir ein, daß ich mir eigentlich noch einmal die Zähne putzen müßte. Nach kurzem inneren Kampf tat ich das auch. Dann drückte ich auf der Suche nach dem Schalter der Nachttischlampe auf etwas anderes, und die Matratze fing an, rhythmisch zu schwingen. Gegen den Lampenschirm schlug ein dicker Nachtfalter. Ich liebe Nachtfalter nicht, schon gar nicht, wenn sie mir im Gesicht sitzen. Ich wollte ihn totschlagen, fand in Reichweite aber nur die dicke Hotelbibel. Sie hatte einen schönen festen Einband, aber mit der Bibel – irgendwie gehört sich das nicht.

Ich machte ziemlich lange Jagd auf den Falter, bis ich schließlich auf den Alpenprospekten ausglitschte, die ich nach der Durchsicht auf den Teppich geworfen hatte. Lauter Blödsinn, man schämt sich, darüber zu schreiben. Aber wenn man genauer hinsieht, hört es auf, so einfach zu sein. Je größer der Komfort ist, um so mehr fällt er lästig, geistig erniedrigt er einen sogar, man fühlt sich nicht gewachsen, seinen Überfluß in Anspruch zu nehmen. Man steht mit einem Teelöffel vor einem Ozean. Aber nun schweigt mir von Löffeln aller Art!

Am nächsten Morgen rief ich einen Immobilienmakler an und erkundigte mich nach einem komfortablen kleinen Haus in den Bergen, das ich eventuell als Sommerresidenz erwerben wollte. Ich tue zuweilen Dinge, die mich selber überraschen, denn eigentlich hatte ich mich nicht mit der Absicht getragen, in der Schweiz ein Haus zu kaufen. Obwohl – ich weiß es selber nicht recht. Die Stadt wurde täglich nicht nur gefegt, sondern auf Hochglanz poliert, und diese allgemeine Festtäglichkeit erschien mir als Verheißung eines seligen Lebens, gegen das sich in mir etwas sträubte.

Nachdem ich, immer noch unentschlossen, wo ich eine Sommerwohnung mieten sollte, einen ganzen Tag vertrödelt hatte, beschloß ich, unverzüglich erst mal das Sheraton zu verlassen. Dieser Gedanke verschaffte mir große Erleichterung. In einer stillen Gasse fand ich eine Junggesellenwohnung, die mir zusagte. Vom Vermieter erbte ich sogar die Zugeherin. Am Morgen frühstückte ich ein letztes Mal im Hotel, und eben als ich fertig war, trat an meinen Tisch ein großer, weißhaariger Herr von edlem Äußeren und stellte sich als Rechtsanwalt Trürli vor. Er nahm Platz, legte eine mächtige Aktentasche neben sich und bat für ein Weilchen um Gehör. Seinen Worten zufolge wollte mir der bekannte Schweizer Millionär Doktor Wilhelm Küßmich, seit Jahren ein Verehrer meiner Tätigkeit und ein eifriger Leser meiner Schriften, zum Zeichen seines Respekts und seiner Dankbarkeit ein Schloß übereignen! Jawohl, ein Schloß, zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, am See gelegen, freilich nicht in Zürich, sondern in Genf, während der Religionskriege abgebrannt, von Herrn Küßmich aber wiederaufgebaut und modernisiert – der Rechtsanwalt spulte die Geschichte des Bauwerks herunter wie am Schnürchen, offenbar hatte er sie vorher auswendig gelernt. Ich lauschte ihm, immer angenehmer erstaunt, mein im Geiste schon leicht verwelktes ursprüngliches Urteil über die Schweiz nun doch bestätigt zu finden.

Der Anwalt packte ein riesiges Buch mit Ledereinband vor mich hin, ein Album, das das Schloß von allen Seiten zeigte, sogar als Luftaufnahme. Dazu bekam ich sogleich einen zweiten, dünneren Band: das Inventarverzeichnis. Herr Küßmich wollte mein Auge nicht durch den Anblick kahler Wände beleidigen, ich sollte das ehrwürdige Gebäude mit der gesamten beweglichen Habe übernehmen. Das Parterre war nicht möbliert, dafür gab es in allen Obergeschossen ausschließlich Antiquitäten und Kunstwerke unschätzbaren Wertes, dazu eine Rüstkammer und eine Wagenremise, aber er ließ mir gar nicht die Zeit, mich daran zu berauschen, sondern fragte in offiziellem, beinahe barschem Ton, ob ich bereit sei, die Schenkung anzunehmen.

Ich war bereit. Rechtsanwalt Trürli fiel in eine kurze Starre, als spräche er vor dem Vollzug eines so bedeutenden Aktes ein stilles Gebet. Männer wie er schüren in mir immer ein wenig Neid. Ihre Hemden sind auch lange nach Mitternacht noch jungfräulich weiß, ihre Beinkleider knautschen nicht, und niemals fehlt ihnen ein Knopf am Hosenschlitz. Der Anwalt machte mich durch seine Vollkommenheit ein wenig erstarren oder sogar frösteln, aber es war von meinem unbekannten Wohltäter schwerlich zu verlangen, einen Abgesandten zu schicken, der meinem Geschmack besser entsprach. Außerdem durfte nicht übersehen werden, daß wir uns in der Schweiz befanden. Nach würdevoller Einkehr erklärte Rechtsanwalt Trürli, die abschließenden Formalitäten wollten wir später erledigen, für heute genüge es, wenn ich meine Unterschrift auf die Schenkungsurkunde setze. Er zog eine durchsichtige Mappe hervor. Wie zwischen Glasscheiben lag darin die sorgsam ausgefertigte Urkunde, die er vor mir auf dem Tischtuch ausbreitete. Dazu reichte er mir eine Füllfeder, natürlich Schweizer Fabrikat und von Gold, wie die Fassung seiner Brille. Zuletzt lehnte er sich leicht zurück, als wolle er seine Anwesenheit aussetzen, bis ich mich mit dem Inhalt des wichtigen Dokuments bekannt gemacht hatte.

Ich studierte die Klauseln der Schenkung. Unter anderem sollte ich mich verpflichten, sechs Monate lang die im Rittersaal aufbewahrten 28 Kisten unberührt zu lassen. Ich hob den Blick fragend zum Anwalt, der mir, als könne er Gedanken lesen, erklärte, in diesen – selbstverständlich unverschlossenen – Kisten befänden sich einmalige Objekte, Gemälde alter Meister, ihre Übergabe an einen Ausländer, mochte er auch so prominent sein wie ich, werde daher ein gewisses Abwarten erfordern. Darüber hinaus durfte ich in den nächsten zwei Jahren das Schloß weder im Ganzen noch zu Teilen veräußern oder dritten Personen auf andere Art zugänglich machen. Ich sah in diesen Klauseln nichts Verdächtiges. Ließ mein Argwohn übrigens nicht erkennen, daß mich die Großzügigkeit erdrückte, die mich mit Ketten schwerfälligen Juristendeutschs wie auf einer Zugbrücke in die Säle eines Schlosses beförderte?

Ich schwitzte leicht, als ich unterschrieb. Rechtsanwalt Trürli machte eine knappe, gebieterische Handbewegung, und zwei Hotelangestellte eilten herbei, um die Echtheit meiner Unterschrift mit der ihren zu bestätigen. Sie hatten sich bisher diskret hinter Palmen verborgen gehalten. Trürli mußte sie schon vorher dort postiert haben – er hatte wirklich Sorge getragen, der Szene einen würdigen Rahmen zu geben. Als wir wieder allein waren, bat er mich, einen Zusatz auf der Rückseite der Urkunde gesondert abzuzeichnen. Dadurch sollten vom Schenker bevollmächtigte Personen die Erlaubnis erhalten, periodisch nachzuprüfen, ob ich mich an die Paragraphen 8, 9 und 11 halte, also nicht in den Kisten mit dem wertvollen Inhalt krame. Bei dem Gedanken, daß Fremde nach Belieben im Schloß herumstöbern sollten, wurde mir kalt, aber der Anwalt erklärte diesen Punkt als eine reine Formsache. Die Urkunde, so fügte er hinzu, sei damit rechtskräftig, und ich könne das gesamte Objekt einschließlich des dazugehörigen Parks jederzeit in Besitz nehmen. Er wollte schon aufstehen, als mir glücklicherweise noch die Frage einfiel, wann ich meinem Wohltäter denn meinen persönlichen Dank abstatten dürfe. Herr Küßmich sei momentan sehr beschäftigt, er stehe an der Spitze eines Konzerns für Lebensmittelkonzentrate, an deren Spitze wiederum LALAC stehe, das berühmte Präparat, das den Kindern auf allen Kontinenten zur Gesundheit diene. Der Termin einer Begegnung müsse gesondert vereinbart werden.

Der Anwalt drückte mir die Hand, die alte Standuhr hinter uns schlug elf, und während ich, nunmehr Herr eines Schlosses in der Schweiz, zusah, wie Trürli über die Teppiche schritt, wie die Glastafeln des Ausgangs vor ihm zur Seite glitten und ein Chauffeur, die Dienstmütze unterm linken Arm, den Schlag eines schwarzen Mercedes aufriß, gelangte ich zu der Überzeugung, daß mir so etwas eigentlich schon lange zugestanden hatte.

Das Schloß erwies sich leider als unbewohnbar. Im letzten Winter waren die Rohre der Zentralheizung geplatzt. Aber einem geschenkten Gaul ... Ich gab meine Alpenreise auf und machte mich an die Renovierung. Der Innenarchitekt wollte mich zu seinem Projekt überreden, die Säle im Parterre als Theater für Zauberopern einzurichten, und als ich mich widersetzte, gab er sich auf sehr boshafte Weise geschlagen, indem er sämtliche Entscheidungen mir überließ, selbst die über die Fliesen der Bäder (die alten waren geborsten) und den Stil der Türklinken (die alten waren abhanden gekommen).

Ich hatte in das Gemäuer bereits einiges investiert, als die Zeitungen auf ihren Titelseiten sensationelle Nachrichten über LALAC brachten. Es war offenbar geworden, woraus dieses Präparat in Wirklichkeit produziert wurde. Ein rasch gegründetes internationales Komitee geschädigter Mütter machte Küßmich den Prozeß und verklagte ihn auf eine Entschädigung von 98 Millionen Schweizer Franken. Die zugrunde gerichtete Gesundheit der Kinder, die körperlichen und seelischen Qualen der Eltern, die Forderungen nach Schmerzensgeld – die Presse ließ sich auch nicht das Geringste entgehen. Als ich vorfuhr, um die Instandsetzungsarbeiten zu inspizieren, mußte ich mir den Weg durch Mahnwachen bahnen, deren Transparente Schmähungen enthielten: Nicht genug, daß sich einer an der Vergiftung von Kindern einen Palast verdient habe, so wage er diesen sogar jetzt noch zu verschönern, da ihm die Gerichtstermine im Nacken säßen! Zweimal konnte ich mit Erfolg klarstellen, daß ich nicht Küßmich war und mit Kleinkindern nichts zu tun hatte, beim dritten Mal aber kam ich an eine ältere Dame von der Heilsarmee, die konnte nicht hören, was ich sagte, weil sie lauthals sang und die Trommel schlug, und so entriß sie ihrer Nachbarin ein Schild mit der Forderung nach einem gerechten Richter und hieb es mir übers Haupt. Das brachte mir zu Bewußtsein, in welche verkorkste Lage mich Küßmich geritten hatte.

Ich telefonierte mit dem Rechtsanwalt, um seine Meinung zu hören, aber er riet mir nur, den Journalisten aus dem Wege zu gehen. »Sie tun am besten«, so sprach Herr Trürli, »wenn Sie für einige Zeit in die Alpen fahren.« Ich folgte dieser Anregung, denn deswegen war ich ja ohnehin in die Schweiz gekommen. Im stillen dachte ich, was ich – meiner Gewohnheit gemäß, stets die reine Wahrheit zu sagen – hier freimütig bekenne: Es würde schon alles ruhig werden, wenn Küßmich erst einmal im Knast säße. Ferner glaubte ich – Esel, der ich bin –, er sehe, da er so manches auf dem Gewissen habe, in dem Schenkungsakt eine Sühne. Ohne die vertrödelte Zeit im Sheraton hätte ich ungestörte Tage in einem Gebirgswinkel verbracht, andererseits aber weder die Bekanntschaft des Professors Gnuss noch die des Instituts für Geschichtsmaschinen gemacht und mich somit nicht zur Entia mit ihrer unwahrscheinlichen Ethosphäre aufgemacht. So ist das im Leben, aus Dummheiten gehen große Dinge hervor, wenngleich der umgekehrte Vorgang häufiger ist.

Ich verbrachte den Sommer zu gleichen Teilen in den Bergen und in Genf, immerhin mußte die Renovierung beaufsichtigt werden, und auch Trürli hatte dies und das mit mir zu besprechen. In der Stadt hatte ich eine Garçonniere, zum Schloß ging ich kaum, und auch im Gerichtssaal, wo gegen Küßmich verhandelt wurde, mochte ich mich nicht zeigen. Mütter, Staatsanwälte und Reporter sorgten dafür, daß von sensationellen Nachrichten über die Rechtswidrigkeit des Konzerns der Blätterwald rauschte. Unerwartete Effekte brachte das Ringen zwischen Geld und Gesetz immerhin. Die Sachverständigen der Anklage führten in ihren Expertisen den Beweis, wie verderblich LALAC auf den kindlichen Organismus gewirkt habe, während die vom Konzern berufenen Experten mit gleicher wissenschaftlicher Akribie die heilbringenden Folgen des Produktes priesen. Die öffentliche Meinung aber stand auf seiten der Kinder und der Mütter.

Einmal saß ich, gerade aus Genf zurückgekehrt, in meinem Chalet beim Frühstück, als Trürli mich mit einem lakonischen Telegramm in die Stadt zurückrief. Ich fuhr mit der Bahn. Die Schweizer haben ihr Land dermaßen durchtunnelt, daß man es durchkreuzen und durchqueren kann, ohne einmal ein Gebirge zu sehen. Im Coupé fand ich einen älteren Herrn vor, der an schwarzem Bande einen altmodischen goldenen Zwikker trug und – meine »Sterntagebücher« las. Auf den Knien hielt er einen dicken Wälzer, schlug ab und an darin nach und machte in meinem Buch sorgfältig Randnotizen. Als er den Speisewagen aufsuchte, nahm ich mir die »Tagebücher« vor, die er aufgeschlagen liegengelassen hatte. Die Ränder waren von oben bis unten scheckig von Zahlen und Paragraphen. Ich wurde neugierig, und als er wiederkam, nannte ich meinen Namen und fragte nach dem Sinn dieser Notizen. Er war von ausgesuchter Höflichkeit und beglückwünschte mich erst einmal aufrichtig zu meinen Taten und Entdeckungen.

Roger Gnuss – dies sein Name – war Professor für kosmisches Recht, und zwar im Bereich der Politik. Neben seinem Lehrstuhl betreute er im Auftrage des Sekretariats der Vereinten Nationen das Institut für Geschichtsmaschinen, eine Filiale des MfAA, des Ministeriums nicht für Auswärtige, sondern für Außerirdische Angelegenheiten. Ich hatte nicht einmal geahnt, daß so was schon existierte. Der Professor strahlte mich mit seinen von den Brillengläsern verkleinerten, gletscherblauen Äuglein gutmütig an und erklärte mir, daß dieses neue MfAA nur in Ansätzen bestehe und eine im Aufbau begriffene Einrichtung sei. Auf Initiative einflußreicher Staaten habe man administrativen Urschleim geschaffen, aus dem erst nach geraumer Zeit ein Ministerium werde, wenn nämlich die Kontakte mit kosmischen Zivilisationen nicht mehr dem Augenblick entspringen und es zur Aufnahme offizieller Beziehungen kommt, sofern Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter ihre Akkreditierung erhalten haben. Bisher habe die Nutzung bewohnter Planeten der UNO unterstanden, aber die kosmische Dimension fordere von der Diplomatie völlig neue Methoden und Lösungen.

Völlig neu war das alles auch mir. Am meisten wunderte mich, daß die Schweizer Presse ein so wichtiges Thema mit Schweigen deckte. So verwunderlich sei das gar nicht, klärte der Professor mich auf: Vorerst treibe man hauptsächlich diplomatisches Phantomtraining, das Geld komme aus der Kasse der Vereinten Nationen, die Kantonalregierung habe sich bei der Ansiedlung dieses Ministeriums in Genf ausdrücklich ausbedungen, daß ihr keine finanziellen Belastungen entstehen. Was aber die Wirtschaft der Schweiz nicht belaste, sei für die Presse nicht relevant. »Übrigens ist unsere Arbeit nicht öffentlich. Sie ist nicht geheim, weder im Sinne des Völkerrechts noch des schweizerischen Straf- und Zivilrechts, hier geht es ja nicht um die Staatsraison, sondern um den gesunden Menschenverstand. Die Währungssituation verschlechtert sich auch ohne Nachrichten von anderen Planeten, der Schweizer Franken ist zwar noch gut bei Luft, aber hin und wieder kommt er doch schon mal ins Keuchen. Deshalb wollen wir ihn schonen. Bei gewöhnlichen Bankgeschäften hält man sich an eine Vorausplanung von sehr wenigen Jahren, die entscheidende Maßeinheit ist das Haushaltjahr. Wir im Institut für Geschichtsmaschinen rechnen in Gemeinschaft mit dem MfAA mit einem Minimalvorlauf von einem Jahrhundert! Das sind die sogenannten Säkulare, und in diesen Einheiten bewegt sich die gesamte ministerielle Dienstordnung für auswärtige Geschichte.«

Ich begriff kein Wort, hatte aber den Mut, meine komplette Verwirrung einzugestehen.

»Vor Ihnen, Herr Tischy« (so sprach er meinen Namen aus), »vor Ihnen habe ich nichts zu verbergen.« Zunächst erklärte er mir den Sinn der Randbemerkungen in den »Sterntagebüchern«: Aus rein berufsmäßigem Reflex habe er die Paragraphen notiert, gegen die ich in Unkenntnis des kosmischen und interplanetarischen Rechts sowie der Milchstraßenverkehrsordnung verstoßen hatte. Als der Professor mein Gesicht immer länger werden sah, setzte er hinzu, solche Fehltritte seien bei Erstentdeckern an der Tagesordnung. Hatte Kolumbus nicht Amerika für Indien gehalten? Und das Verhältnis der Spanier zu den Azteken? Die Sternenstaaten, mit denen wir zu tun haben, böten jedoch keinen Raum für koloniale Expansion, da sie uns im allgemeinen überlegen seien.

Auf der ganzen Fahrt bis nach Genf legte mir der Professor die Grundzüge seiner Wissenschaft dar, und ich lauschte wie ein Schulbub. »Das juristische Gesetz ist im Kosmos wichtiger als die Gesetze der Physik. Freilich, in letzter Instanz entscheidet über die Erscheinungen des Seins die Physik, aber in der Praxis sieht das anders aus. Nehmen wir nur einmal das Rätsel des Silentium Universi. Warum ist so viele Jahrzehnte lang vergebens nach Signalen anderer Zivilisationen geforscht worden? Unbefugterweise haben sich der Untersuchung solcher Zivilisationen als erste die Naturwissenschaftler bemächtigt – so sicher, wie zwei mal zwei vier ist, haben Astronomen, Physiker, Mathematiker und Biologen berechnet, daß es die anderen geben muß, daß sie über Energiequellen und technische Möglichkeiten verfügen müssen, daß aber, da weder etwas zu sehen noch zu hören ist, niemand existiert! Ja, wie denn, man hatte doch eben erst bewiesen, daß jemand da sein muß! Statt sich mit Fachleuten für politisches und ökonomisches Recht zu beraten, hielten sie es für ausgemacht, daß eine Zivilisation um so sicherer untergeht, je höher sie emporklimmt. Im Larven- und Puppenstadium, das von langer Dauer sei, fehle es an Mitteln, um Signale auszusenden, dann aber, wenn die Mittel vorhanden seien, gebe es die Zivilisation nicht mehr oder nicht mehr lange. Über diese logische Folgerung waren die Leute selber erschrocken und das breite Publikum auch. Alles lief darauf hinaus, daß wir mutterseelenallein im Kosmos seien, ja mehr noch, daß es bald auch uns nicht mehr geben werde! Freilich, Ijon Tischy wird gelebt haben und tätig gewesen sein, aber ›nec Hercules contra plures‹, ihm blieb die offizielle Anerkennung versagt. Der Grund? Herrschte denn Mangel an verschrobenen Spinnern und an Beutelschneidern, die von fliegenden Untertassen faselten, von wohltätigen Urastronauten, die auf die Erde gekommen seien, um den Ägyptern unter dem Vorwand, die Pharaonen zu bestatten, Pyramiden hingesetzt haben? Die Welt der Wissenschaft mußte sich gegen solchen Schwindel abhärten und ist im Effekt wohl ganz und gar immun geworden.« Beschwichtigend legte der Professor seine rosig gepflegte Schweizerhand auf mein Knie. »Wissen Sie überhaupt, Herr Tischy, wo in der Genfer Stadtbibliothek Ihre Werke stehen? In der Abteilung für Science Fiction! Da können Sie mal sehen, mein Lieber! Bitte nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Sie wußten wohl gar nicht davon?«

»Ich lese meine Bücher nicht, daher brauche ich sie nicht in Bibliotheken zu suchen.«

»Jeder große Neuerer und Entdecker hat geradezu die Pflicht, verkannt zu werden«, sagte Gnuss sentenziös. »Übrigens hatten wir – ich meine das MfAA – überaus wichtige Gründe, solche Mißverständnisse nicht zu korrigieren. In gewisser Weise haben wir damit auch Ihnen Schonung angedeihen lassen ...«

»Wie soll ich das verstehen?« fragte ich überrascht.

»Sie werden es zu gegebener Zeit erfahren. Da mich das Schicksal Ihnen über den Weg geführt hat, möge es seinen Lauf nehmen.« Er gab mir seine Visitenkarte, nachdem er seine gedeckte Privatnummer auf die Rückseite geschrieben hatte.

»Das Silentium Universi hat seinen Ursprung in Finanzierungslimits«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. »Unser reicher Staat gibt 0,3 Prozent seiner Einnahmen den Armen. Warum sollte es außerhalb der Erde anderes sein? Die Ansicht, der Kosmos sei ein jungfräuliches, nicht von Gesetzen geregeltes Vakuum gewesen, in das erst die Menschheit Einflußsphären, Haushaltentwürfe, Schutzzölle sowie Propaganda und Diplomatie hineingebracht habe, ist nicht mehr wert als die eines Kindes, das glaubt, bis zu dem Zeitpunkt, da es sein erstes Häufchen gemacht hat, habe das keiner vor ihm gekonnt. Das Dilemma löste sich erst, nachdem wir es von den Naturwissenschaftlern übernommen hatten. Das sind wahrhaftig kleine Kinder, Herr Tischy. Sie glauben, wer auf der laufenden Rechnung an die zwanzig Sonnen, eine ausgeglichene Energiebilanz und an die 1049 Erg astrofinanzielle Reserve habe, gehe damit verschwenderisch um wie ein Irrer, er vermittle Informationen, gebe Signale, schicke Produktionslizenzen ins Leere, liefere völlig gratis, was sage ich, mit reinem Verlust technologisches, soziologisches und weiß der Teufel was für Know-how, einfach so, aus lauter Güte des Herzens oder des Organs, das bei ihm das Herz vertritt. Das gehört ins Reich der Märchen, lieber Herr Tischy. Wie oft sind Sie, wenn ich fragen darf, auf den von Ihnen entdeckten Planeten mit Reichtum überhäuft worden?«

Ich dachte einen Augenblick nach, denn das war für mich ein völlig neuer Aspekt.

»Kein einziges Mal«, sagte ich schließlich, »aber ich habe auch nie um etwas gebeten, Herr Professor.«

»Sehen Sie! Man muß bitten, um etwas zu kriegen, aber auch dann kann man nie wissen. Die interstellaren Beziehungen unterliegen keinen physikalischen, sondern politischen Konstanten! Der Physik ist alles unterworfen, aber haben Sie schon mal einen irdischen Politiker gehört, der sich über unsere Gravitationskonstante beschwert hätte? Welche physikalischen Gesetze hindern denn die Reichen, ihr Vermögen mit den Unvermögenden zu teilen? Und wie konnten die Herren Astrophysiker in ihren logischen Schlußfolgerungen solch elementare Dinge außer acht lassen? Aber wir sind gleich da. Besuchen Sie mich im Institut für Geschichtsmaschinen. Meine Telefonnummer haben Sie, rufen Sie an, dann verabreden wir uns!«

Der Zug ratterte tatsächlich schon über Weichen, und der Bahnhof tauchte auf. Der Professor steckte die »Sterntagebücher« in die Tasche, griff nach seiner Pelerine und meinte lächelnd: »Politische Beziehungen entwickeln sich im Kosmos seit Jahrmilliarden, aber sie sind auch mit dem größten Teleskop nicht zu erkennen. Denken Sie mal darüber nach, wenn Sie Zeit haben. Für jetzt aber auf Wiedersehen, lieber Herr Tischy! Es war mir eine Ehre ...«

Immer noch stark beeindruckt von dieser Begegnung hielt ich vor dem Bahnhofsgebäude Ausschau nach dem schwarzen Mercedes, in dem Trürli saß. Ich fand ihn, stieg ein und bot dem Rechtsanwalt die Hand. Er sah mich an, als wisse er nicht, was da aus meinem Jackenärmel hervorlugte, reichte mir aber dann doch die Fingerspitzen. Obgleich den Chauffeur eine Glasscheibe von uns trennte und er uns nicht hören konnte, dämpfte Trürli die Stimme, als er sagte:

»Herr Küßmich hat seine Aussagen gemacht ...«

»Ein Geständnis abgelegt? Prima«, entfuhr es mir. Ich fand das auch sogleich peinlich, denn immerhin sprach ich mit dem Anwalt des Beklagten.

»Für Sie nicht«, gab Trürli kalt zurück.

»Wie bitte?«

»Er hat gestanden, daß die Schenkung abgekartet war.«

»Was heißt abgekartet? Ich verstehe nicht.«

»Wir besprechen das besser in meinem Büro.«

Er erstaunte mich immer mehr mit seinem kühlen Benehmen, wir sprachen nicht miteinander, bis er in seinem Anwaltsbüro die Katze aus dem Sack ließ.

»Herr Tichy«, sagte Trürli, als er an seinem Schreibtisch saß, »durch die Aussagen von Doktor Küßmich ist eine völlig neue Lage entstanden.«

>»Das ist Ihre Meinung? So hat er wohl die Unwahrheit gesagt? Verleumdet hat er mich?«

Er verzog das Gesicht, als habe er etwas Unflätiges gehört.

»Sie befinden sich hier bei einem Anwalt und nicht im Gerichtssaal. Verleumdung, ich bitte Sie! Herr Tichy, Sie wollen also behaupten, Herr Doktor Küßmich habe Ihnen mir nichts dir nichts, allein um Ihrer schönen Augen willen, ein Objekt im Werte von 83 Millionen Schweizer Franken geschenkt?«

»Über den Wert ist nicht gesprochen worden«, stieß ich hervor, »und ... und Sie sind doch damit zu mir gekommen!«

»Ich habe nur getan, was mir mein Vollmachtgeber aufgetragen hatte«, sagte Trürli. Seine Augen waren blau wie die des Professors, aber um ein Vielfaches weniger sympathisch.

»Was denn ... Wollen Sie sagen, Sie hätten mir diese Schenkung in bösem Glauben gemacht?«

»Mein Glaube tut nichts zur Sache, er gehört in den Bereich meiner Psyche, und diese kommt juristisch nicht in Betracht. Sie suchen also zu behaupten, von einem Ihnen gänzlich Unbekannten 83 Millionen angenommen zu haben – ohne jegliche Hintergedanken?«

»Was erzählen Sie mir denn da«, setzte ich wütend an, aber er richtete den Finger auf mich wie einen Revolver.

»Erlauben Sie, aber jetzt rede ich! Ein Gericht müßte aus Schulkindern zusammengesetzt sein, wenn es Ihre Aussage für bare Münze nehmen sollte! Jemand, von dem Sie nie etwas gehört haben, soll Ihnen 83 Millionen präsentieren, weil er angeblich voller Genugtuung gelesen hat, was Sie zu schreiben beliebten? Und das Gericht soll das glauben?«

Der Anwalt entnahm einem kostbaren Etui eine Zigarette und zündete sie mit einem zur Schreibtischgarnitur gehörenden goldenen Feuerzeug an.

»Vielleicht erklären Sie mir, worum es geht«, sagte ich, mich äußerlich zur Ruhe zwingend. »Was will Herr Küßmich? Wünscht er sich mich als Zellengenossen?«

»Doktor Küßmich wird von allen falschen Anschuldigungen gereinigt«, sagte Rechtsanwalt Trürli und blies den Rauch gegen mich, wie man es tut, um ein lästiges Insekt zu vertreiben. »Ich fürchte also, Sie werden allein in dieser Zelle sitzen.«

»Moment.« Ich tappte immer noch im dunkeln. »Er hat mir das Schloß geschenkt. Wozu? Will er es jetzt wiederhaben?«

Der Anwalt nickte voller Andacht.

»Warum, zum Teufel, hat er es mir denn erst gegeben? Ich habe ihn nicht darum gebeten, ich kannte es nicht – aaah! Er wollte es vor der Beschlagnahme, vor der Konfiskation retten, nicht wahr?«

Trürli verzog keine Miene, aber mir fiel es wie Schuppen von den Augen.

»Nun«, sagte ich streitlüstern, »noch ist es mein, ich bin der rechtmäßige Eigentümer.«

»Ich glaube nicht, daß Sie Nutzen davon haben«, meinte gleichgültig der Anwalt. »Die Unglaubwürdigkeit der Schenkung macht es zu einem Kinderspiel, sie gerichtlich für null und nichtig zu erklären.«

»Ich verstehe, warum Küßmich diese falschen Aussagen gemacht hat, aber wenn das Gericht ihm Glauben schenkt, wird er dafür blechen müssen ...«

»Ich weiß nicht, was Sie unter dem Ausdruck ›blechen‹ verstehen«, sagte Trürli. »Die Kläger haben den Prozeß seit langem gewollt, das wußte jedermann, der Zeitung las. Doktor Küßmich fühlte sich in einer Zwangslage, da das erste Sachverständigengutachten zugunsten von LALAC ausfiel. Sie, Herr Tichy, haben diese vorübergehende Schwäche, diese von der Sorge um das Wohl der Familie verursachte Depression ausgenutzt. Er handelte gegen meinen Rat, denn ich versicherte ihm, daß die Wahrheit sich durchsetzen und der Prozeß siegreich für uns ausgehen würde. Das wird nun auch so kommen, damit aber entfällt die Belastung des Vermögens durch die Kosten der Kläger. Zur Verhandlung steht allein noch, daß Sie, ein Ausländer, versucht haben, sich an fremdem Unglück zu bereichern.«

»Dann droht ihm also gar nichts? Obwohl er zugibt, daß er sich durch die Schenkung vor den Kosten drücken wollte? Daß er dachte ...«

»Niemand kann dafür bestraft werden, was er gedacht hat.«

»Also auch ich nicht!«

»Sie haben nicht nur gedacht, sondern auch das besagte Dokument unterzeichnet.«

»Aber in gutem Glauben! Mein Leumund ist ohne Tadel! Ich kann das beweisen ...« Ich stockte, denn über das Gesicht des Anwalts zog es wie Alpenglühen.

»Und die Silberlöffel?« donnerte er und sah mich mit unverhohlener Verachtung an.

Hier breche ich den Bericht über jenes Gespräch ab. Der Anwalt, den mir Professor Gnuss empfahl, als ich ihn um Rat fragte, hieß Sputnik Finkelstein. Er war klein, von schwärzlichem Teint und fidel. Als er meine Geschichte bis zu den Silberlöffeln gehört hatte, rieb er sich die Nase und sagte:

»Bitte wundern Sie sich nicht, daß ich mir dauernd mit dem Finger über die Nase fahre, aber wer zwanzig Jahre eine Brille getragen hat, kann sich das nicht gleich abgewöhnen, wenn er Kontaktlinsen trägt. Sie haben mir den Inhalt der Vorstellung erzählt, und ich will Ihnen die Verfasser des Librettos nennen. Küßmich gewinnt den Prozeß, weil er sich mit Nestlé arrangiert hat. Es geht um den Goldkaffee. Davon haben Sie noch nicht gehört? Es ist ein löslicher Kaffeextrakt, der in der Tasse aussieht wie pures Gold.«

»Und der Geschmack?«

»Kaffee wie jeder andere, aber eine Marktlücke – darauf ist noch keiner gekommen! Was ganz Neues! Das pure Gold zu schlürfen! Geben Sie acht? Er hat den anderen das Patent vor der Nase weggeschnappt, daher haben sie ihm eins ausgewischt.«

»Was ist denn also mit LALAC? Ist es schädlich oder nicht?«