Michael Quante

Die Wirklichkeit des Geistes

Studien zu Hegel

Mit einem Vorwort von
Robert Pippin

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbakeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-76960-7

www.suhrkamp.de

5Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, dass ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.

Ludwig Wittgenstein,

Philosophische Untersuchungen, § 129

 

 

 

6Für Ludwig Siep

7Inhalt

Anmerkungen zur Zitierweise und zum Siglenverzeichnis

Vorwort von Robert Pippin

 

1. Einleitung

Teil I
Zwischen Metaphysik und Common Sense

 

2. Zwischen Metaphysik und Common Sense

2.1 Die drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität

2.1.1 §§ 19-25

2.1.2 §§ 26-78

2.2 Die Struktur der Idee: Natur und Geist

2.3 Eine Frage der Methode?

 

3. Spekulative Philosophie als Therapie?

3.1 Der Standpunkt der Philosophie

3.2 Formen therapeutischer und konstruktiver Philosophie

3.2.1 Zwei Formen therapeutischer Philosophie

3.2.1.1 Philosophie als Therapie im engen Sinne

3.2.1.2 Philosophie als Therapie im weiten Sinne

3.2.2 Formen konstruktiver Philosophie

3.2.2.1 Konstruktive Philosophie im pejorativen Sinne

3.2.2.2 Konstruktive Philosophie im engen Sinne

3.2.2.3 Konstruktive Philosophie im weiten Sinne

3.2.2.4 Konstruktive Philosophie im revisionären Sinne

3.3 Spekulative Philosophie als Therapie?

3.3.1 Philosophische Therapie im engen und konstruktive Philosophie im pejorativen Sinne

3.3.2 Philosophische Therapie im weiten und konstruktive Philosophie im engen Sinne

3.3.3 Konstruktive Philosophie im weiten Sinne?

3.3.4 Konstruktive Philosophie im revisionären Sinne?

3.4 Keine Auswege aus Hegels System?

3.4.1 Antike Skepsis und Descartes

83.4.2 Ein Ausweg aus dem System?

 

Teil II
Der Geist und seine Natur

 

4. Kritik der beobachtenden Vernunft

4.1 Der Ort der beobachtenden Vernunft im Gesamtgang der Phänomenologie

4.1.1 Zwei Arten von Schwierigkeiten

4.1.2 Die Grundstruktur der beobachtenden Vernunft

4.2 Beobachtende Psychologie und Hegels Konzeption des Mentalen

4.2.1 Logische Gesetze?

4.2.2 Psychologische Gesetze?

4.2.3 Hegels Konzeption des Mentalen

4.3 Physiognomik und Schädellehre

4.3.1 Variationen über »Innen« und »Außen« – fünf Gegensätze

4.3.2 Die »verkehrten Verhältnisse« der Physiognomik

4.3.3 Schädellehre

4.4 Die Aktualität von Hegels Diskussion der beobachtenden Vernunft

 

5. Die Natur als Setzung und Voraussetzung des Geistes

5.1 Für wen ist die Natur Voraussetzung des Geistes?

5.2 Der Geist als Wahrheit und absolut Erstes der Natur

5.2.1 Verschwundene Natur?

5.2.2 Die Idee als Wahrheit von Natur und Geist

5.2.2.1 »Das Ganze der Wissenschaft ist die Darstellung der Idee« (ENZ § 18)

5.2.2.2 Systeminterne Antworten

 

6. Schichtung oder Setzung?

6.1 Die Merkmale des Schichtenmodells

6.1.1 Die negative Konstrastfolie der gegabelten Welt

6.1.2 Die schichtenontologische Alternative

6.1.3 Die gemeinsamen Merkmale des substanzdualistischen Modells und der Schichtenmodelle

6.2 Die Merkmale des reflexionslogischen Modells

96.2.1 Drei attraktive Züge der hegelschen Alternative

6.2.2 Hegels reflexionslogische Alternative

6.2.3 Drei Fragen

6.3 Unhaltbare Metaphysik?

 

Teil III
Die Objektivität des Geistes

 

7. Selbstbewusstsein und Individuation

7.1 Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit

7.2 Das Ich als zum Dasein gekommener Begriff

7.3 Die logische Bestimmung des an und für sich freien Willens

7.4 Der an und für sich freie Wille in seinem abstrakten Begriffe

 

8. Wille und Personalität

8.1 Der Aufbau der Einleitung in das abstrakte Recht

8.2 Die logische Struktur der Einleitung in das abstrakte Recht

8.2.1 Die Entwicklungsstufe des Willens im abstrakten Recht (§ 34)

8.2.2 Die Momente des freien Willens und ihre rechtsphilosophische Bedeutung

8.2.3 Die begriffliche Entfaltung der abstrakten Persönlichkeit im abstrakten Recht

 

9. Handeln

9.1 Hegels Kritik an der szientistischen Handlungstheorie in der Phänomenologie

9.2 Hegels Handlungstheorie: Das Moralitätskapitel der Grundlinien

9.2.1 Die Struktur der Handlung

9.2.2 Die Struktur der Absicht

9.2.3 Die Struktur des Handelnden

9.2.4 Die essentielle Intersubjektivität des Handelns

9.3 Hegels Handlungstheorie im aktuellen systematischen Kontext

 

1010. Verantwortung

10.1 Eine methodologische Vorbemerkung

10.2 Hegels Analyse unserer Praxis der Zuschreibung von Verantwortung

10.2.1 Hegels generelle Strategie

10.2.2 Drei Arten der Zurechnungsfähigkeit

10.2.3 Hegels Konzeption der Exemption

10.2.4 Hegels Kritik der Entschuldigungsstrategien

10.3 Systematische Anschlussfragen

10.3.1 Kausalität und Verantwortung

10.3.2 Hegels kognitivistischer Askriptivismus

10.3.3 Das Problem der Bewertungsstandards

 

Teil IV
Die Aktualität der hegelschen Philosophie des Geistes

 

11. Die Grammatik der Anerkennung

11.1 Der Begriff des Geistes

11.2 Der Begriff des Selbstbewusstseins

11.3 Der reine Begriff des Anerkennens

11.3.1 Hegels Analyse des Wir

11.3.2 Zwei Arten von Anerkennungsrelationen

 

12. Individuum, Gemeinschaft und Staat

12.1 Die Grundstruktur der Gegenwartsdebatte

12.1.1 Der Holismus-Totalitarismus-Vorwurf

12.1.2 Individualismus und Holismus: die methodologisch-ontologische Ebene

12.1.3 Liberalismus und Kommunitarismus: die normative Ebene

12.2 Der Wille als Grundprinzip der hegelschen Sozialphilosophie

12.2.1 Der Wille als Grundprinzip des objektiven Geistes

12.2.2 Abhängigkeitsbeziehungen

12.2.3 Hegels liberaler Kommunitarismus

12.3 Die Vorzüge von Hegels Sozialphilosophie

 

13. Anfechtbare Sittlichkeit

1113.1 Zentrale Merkmale des Pragmatismus

13.2 Verwandtschaften und Hindernisse: Hegel als Pragmatist?

13.2.1 Offensichtliche Verwandtschaften

13.2.2 Problematische Beziehungen

13.2.3 Absurde Verbindungen?

13.3 Die Fragilität des objektiven Geistes

13.3.1 Der Ort des objektiven Geistes im Prozess der Selbstverwirklichung der Idee

13.3.2 Die Fragilität des objektiven Geistes

13.3.3 Begründung der Ethik?

13.4 Die »Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit« als pragmatistische Begründungsstrategie

13.4.1 Hegels Gewissens- und Moralitätskritik

13.4.2 Hegels pragmatistische Einsicht

 

14. Personale Autonomie

14.1 Personale Autonomie in der gegenwärtigen Philosophie

14.1.1 Der erste Schritt zur Naturalisierung

14.1.2 Der zweite Schritt in Richtung Naturalisierung

14.2 Hegels Konzeption personaler Autonomie

14.2.1 Die Drei-Ebenen-Analyse des Willens

14.2.2 Personale Autonomie als Teil der Willensstruktur

14.3 Probleme der hegelschen Konzeption

 

15. Grenzenlose Autonomie? Ein Ausblick

15.1 Natur, Natürlichkeit und Freiheit

15.1.1 Konstitutive und normative Aspekte von Hegels Theorie des subjektiven Geistes

15.1.2 Bioethische Konsequenzen

15.2 Individuelle Selbstbestimmung und soziale Identität

15.2.1 Autonomie als Fundament der biomedizinischen Ethik

15.2.2 Die Bedeutung von Hegels Sozialontologie für die biomedizinische Ethik

15.3 Holismus als Methode der biomedizinischen Ethik

 

Literaturverzeichnis

12Textnachweise

Namenregister

13Zur Zitierweise

Soweit verfügbar, werden Hegels Schriften nach der historisch-kritischen Ausgabe zitiert. In den Quellenangaben ist aber stets auch auf die zwanzigbändige Werkausgabe des Suhrkamp Verlags verwiesen. Da Hegel seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse und die Grundlinien der Philosophie des Rechts durch Paragraphen gegliedert hat, entfällt in diesen Fällen die entsprechende Doppelangabe. Hier wird die jeweilige Stelle durch das Sigel des Werks und die Nummer des Paragraphen angegeben. Hegels Anmerkungen zu den Paragraphen, die im Originaltext durch Einrückung gekennzeichnet sind, werden mit Sigel, Paragraph und »A«, seine handschriftlichen Randnotizen mit »RN« angegeben.

Zum Siglenverzeichnis

(ENZ)Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830)

(GW)Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (Teile dieser kritischen Ausgabe liegen auch in der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlags als Studienausgabe vor), Hamburg 1968 ff.

(HE)Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (erste Auflage Heidelberg 1817)

(MM)Werke. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel als Werkausgabe in 20 Bänden, Frankfurt/M. 1986 ff.

(R)Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1820)

15Vorwort von Robert Pippin

Die zeitgenössische Hegelforschung ist, wie Cäsars Gallien, in drei Teile gegliedert. Da gibt es zunächst die Partei der Pietisten: Den Vertretern dieser Gruppe gilt die Texttreue der Interpretation als wichtigster Maßstab. In der Praxis läuft das auf fortwährende Paraphrase hinaus, denn sie versuchen, das von Hegel Gesagte noch einmal zu sagen, sich dabei auf eine gewisse Art klarer auszudrücken und dennoch so nah wie möglich an den hegelschen Formulierungen zu bleiben. So werden Paraphrasen gebildet, die den Eigenarten der hegelschen Prosa völlig gerecht werden sollen und, so die Hoffnung, durch zahlreiche Neuformulierungen die Dinge klarer machen. Da Hegel ein systematischer Philosoph war und sein System viele Teile hat, besteht ein wichtiges Ziel der Anhänger dieses Ansatzes darin, die genaue Beziehung zwischen den einzelnen Teilen des Systems zu erhellen, wobei »erhellen« bedeutet, dass man zu sagen versucht, was Hegel selbst geantwortet hätte, wenn man ihm verschiedene Fragen bezüglich der genauen Beziehung etwa zwischen der Wissenschaft der Logik und der Realphilosophie gestellt hätte. Das vertrackteste Problem für diejenigen, die diese Frage interessiert, lag schon immer in der schwierigen Beziehung zwischen der Phänomenologie des Geistes von 1807 und dem Rest von Hegels System begründet. Ein anderes wichtiges Ziel besteht darin, die korrekte Geschichte von Hegels Entwicklung zu erzählen, insbesondere während der stürmischen Jenaer Jahre und unmittelbar danach. Die Frage, ob der spätere Hegel »konservativer« und versöhnlicher wurde, ist ein wesentliches Thema dieser Gruppe, und schließlich ist auch die streng philologische Frage nach der Integrität von Hegels Texten, besonders der Vorlesungen, ebenfalls ein zentrales Thema, wobei die Vorlesungen zur Ästhetik ein Gutteil der Aufmerksamkeit verbuchen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben Forscher dieser ersten Gruppe beeindruckende Resultate erzielt, einschließlich einer neuen kritischen Ausgabe von Hegels Werken und einer Vielzahl wichtiger Kommentare und historischer Abhandlungen zu jener Periode. Allerdings wollen Philosophen zum einen auch wissen, warum Hegel meinte, bestimmte Behauptungen treffen zu dürfen, und zum 16anderen wollen sie, und das ist das Wichtigste, wissen, ob Hegels Behauptungen zuzustimmen ist. Wer beispielsweise fragt, warum Hegel davon überzeugt war, dass die Grundstruktur alles dessen, was für uns verständlich ist, eine Seinslogik, eine Wesenslogik und eine Begriffslogik erfordert, und wird ihm darauf entgegnet, dass eine solche Frage nur beantwortet werden könne, indem zum angeblich voraussetzungslosen Anfang der Logik zurückgegangen und die selbsterzeugende begriffliche Struktur des Buchs als Ganzem nachvollzogen wird, dann ist damit nicht viel geklärt. Man möchte keine Wiederholung von Hegels Antwort, sondern eine Einschätzung zu ihr. Das Interesse an dieser Frage hat zur Herausbildung einer zweiten Schule von Interpreten geführt, die – entgegen Hegels wiederholtem Beharren darauf, dass sein System nur als Ganzes angemessen begriffen werden kann – verständlicherweise bei ihm Positionen und Argumente finden möchten, die zu heutigen philosophischen Diskussionen beitragen können. So versuchen Kommentatoren, sich jeweils auf einen isoliert betrachteten Aspekt von Hegels Philosophie zu konzentrieren – einen Aspekt, den sie als philosophisches Argument für sich genommen überzeugend finden. In dieser Gruppe ist die Auseinandersetzung mit seiner politischen und ethischen Philosophie besonders gründlich ausgefallen, sodass sich wertvolle Studien zu seiner Kritik des Liberalismus, seiner Kritik am Kontraktualismus, zu seiner Verteidigung einer Ethik des »my station, my duties« oder zu seiner Geschichte der schönen Künste finden. Die Partisanen in dieser Gruppe wollen insbesondere Hegels Auffassung zurückweisen, nach der zwischen diesen Themen und seinen kontroverseren spekulativen Thesen eine zwingende Abhängigkeit besteht.

Diese Zugangsweise ist nachvollziehbar, besonders innerhalb der anglophonen Philosophie. Der letzte deutsche Philosoph, dem in den großen amerikanischen und britischen Instituten anhaltendes Interesse gilt, ist Kant. Die Probleme der »Übersetzung«, mittels derer Hegels Denken in eine erkennbar zeitgenössische Form gebracht werden kann, haben sich als recht schwierig erwiesen; dies hat zu diesem weniger ambitionierten, fragmentarischen Zugang geführt, der jedoch mit offenkundigen Problemen verbunden ist. Zu viel »Rekonstruktion« von Hegels Position in zeitgenössischer Terminologie, eine zu voreilige Zurückweisung seiner spekulativen Philosophie, und schon ist der Bezug zum historischen Hegel ver17loren und damit zugleich die Chance, etwas von ihm zu lernen, das auf dem Feld der zeitgenössischen Optionen nicht verfügbar ist. Die Gefahr der »textfreien« Interpretation zieht am Horizont auf.

Nun muss man sich diese ersten beiden Ansätze nicht so vorstellen, als schlössen sie einander notwendigerweise aus. In typisch hegelscher Manier möchte man hoffen, dass Dualismen aufgehoben werden können und eine Interpretation möglich ist, die zwar über die komplizierten Details der hegelschen Argumentation ernsthaft informiert, zugleich aber von den Anforderungen an philosophische Klarheit, Analyse und Bewertung ebenso ernsthaft inspiriert ist. Außerdem sollte es möglich sein, ohne Anachronismus Fragen an Hegel heranzutragen, die zeitgenössischen philosophischen Themen entstammen, also nicht zu ermitteln, wie der historische Hegel Stellung beziehen würde (jene mythische Figur würde die zeitgenössische Problemstellung ohnehin nicht als berechtigt anerkennen), sondern was ein idealisierter Hegel unter Voraussetzung der Ansichten, die der historische Hegel tatsächlich vertrat, in einem solchen anderen, neuen Kontext sagen sollte.

Anhänger dieses dritten Ansatzes akzeptieren die strikten Vorgaben der Texttreue und gründlicher Forschung (einschließlich der Bekanntschaft mit Hegels Gesprächspartnern, dem Kontext seiner Zeit, der Entwicklungsgeschichte, der Probleme mit textlichen Variationen usw.), und sie nehmen die Aufgabe an, Hegel im Lichte seiner eigenen systematischen Ambitionen zu interpretieren. Gleichzeitig argumentieren sie dennoch dafür, dass in Hegels Werk vieles von aktuellem philosophischem Wert ist, das trotz der Akzeptanz solcher Verpflichtungen anzusprechen und zu beurteilen ist. Es hat in den letzten rund sechzig Jahren eine Reihe beeindruckender Beispiele für diesen Ansatz gegeben. Keines jener Beispiele aber übertrifft die Klarheit, Tiefe, akademische Sorgfalt und die philosophisch beeindruckenden Ergebnisse der Arbeiten, die Michael Quante in den letzten beiden Jahrzehnten vorgelegt hat.

Quante ist ein weitläufig publizierender Moral- und politischer Philosoph, der zudem beachtliche Verdienste als Marxforscher hat; doch ist sein 1993 veröffentlichtes, einflussreiches und viel diskutiertes Buch Hegels Begriff der Handlung (dessen englische Übersetzung seit 2004 vorliegt) seine bisher wichtigste Arbeit über Hegel. Dieses Buch ist ein ideales Beispiel für den Ansatz, der oben als derjenige der dritten Gruppe von Hegelforschern genannt wurde. 18Quante ist sich der Bedeutung von Hegels ambitioniertesten philosophischen Anliegen völlig bewusst, und seine Arbeit stellt ein Vorbild sorgfältiger Forschung dar. Er hat sich sensibel gezeigt für das Bedürfnis, Hegel auf eine Weise zu interpretieren, die für die zentralen Fragen der Disziplin, die heute als »Handlungstheorie« bekannt ist, anschlussfähig ist; ebenso sensibel ist er für die Art und Weise, in der Hegels Ansatz sich nicht einfach in einige Dimensionen jener neueren Kontroverse einfügte und gar als Kritik daran gelten konnte. Das Interesse daran, was in der anglophonen Philosophie als Hegels »Philosophy of Mind« gilt, hat ebenso zugenommen wie das Interesse an seinen Positionen hinsichtlich der Freiheit, des Willens, der Natur und des Status von Normativität sowie der logischen Struktur des Handelns – Quantes Buch ist dabei ein in hohem Maße anerkannter und wichtiger Teil dieser neuen Diskussion geworden.

Die Kapitel dieses Bandes führen sein Interesse an Hegels Konzeptionen von Geistigkeit und Handeln fort, weiten es aber dahingehend aus, dass sie einige der beeindruckendsten und schwierigsten Thesen Hegels umfassen (das Wesen spekulativer Philosophie, das Natur-Geist-Verhältnis, Hegels Begriff der Freiheit, seine Konzeptionen des Willens sowie der Verantwortung und Individualität), und sie bringen die Resultate der Auseinandersetzung mit Hegel für einige der wichtigsten Probleme der Ethik und der Politischen Philosophie zur Geltung.

Insgesamt steht dieser Band darum für das Beste in der zeitgenössischen Hegelforschung, und alle Kapitel verdeutlichen insbesondere, dass Quantes Hegel es verdient, eine bedeutende Rolle zu spielen, wenn es um das wichtigste gegenwärtige Problem der Philosophie geht: das Wesen und die Bedeutung menschlicher Freiheit. [1]

Robert Pippin

University of Chicago

191. Einleitung

Die Debatten in der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie der letzten Jahrzehnte waren maßgeblich geprägt vom Gegensatz von Individualismus (Liberalismus) und Kommunitarismus. Der Individualismus ist die dominierende politische und Sozialphilosophie der Neuzeit. Seine Kernthese besagt, dass dem einzelnen menschlichen Individuum als rationalem Subjekt in ontologischer und evaluativer Hinsicht das Primat zuerkannt werden muss. Der Wert sozialer Institutionen leitet sich dieser Konzeption zufolge von den ethisch akzeptablen Ansprüchen rationaler Subjekte ab. Ein über die Erfüllung dieser individuellen Interessen und Bedürfnisse hinausgehender Wert wird sozialen Gebilden im Individualismus genauso wenig zuerkannt wie eine nicht auf menschliche Individuen beziehungsweise auf deren Handlungen reduzierbare Existenz. Die Vertreter des Kommunitarismus haben in den letzten drei Jahrzehnten versucht, eine Gegenposition zum Individualismus zu entwickeln. Ausgehend von der zunehmenden Entfremdung zwischen »atomisierten« und nur noch nach ihrem privaten Wohl strebenden Individuen und sozialen beziehungsweise politischen Gebilden betont der Kommunitarismus die ontologische Eigenständigkeit sozialer Institutionen und spricht diesen auch einen eigenen ethischen Wert zu. Anders als im Individualismus sind soziale Gebilde also weder bloße Instrumente individueller Interessenerfüllung noch ontologisch auf menschliche Individuen beziehungsweise deren Handeln reduzierbar – die Positionen reichen dabei von relativ schwachen Nichtreduzierbarkeitsannahmen bis hin zu starken Thesen des evaluativen Vorrangs sozialer Gebilde (zum Beispiel Familie, Glaubensgemeinschaften oder Staat) vor menschlichen Individuen.

Mit dieser Frontstellung und den darin entwickelten Alternativen steht die gegenwärtige Philosophie vor den gleichen Fragen und Problemen, die auch Hegel in seiner praktischen Philosophie vor mehr als zweihundert Jahren lösen wollte. Zentrales Ziel seiner gesamten praktischen Philosophie ist es, die Entfremdung der Individuen von ihrer Religion, ihren ethischen Traditionen und ihrer sozialen Realität mit philosophischen Mitteln zu begreifen und 20durch eine geeignete Theorie sozialer Institutionen zu beheben. Sein philosophisches System ist insgesamt darauf angelegt, die alltägliche und die philosophische Skepsis gegenüber der Begründbarkeit von Wissensansprüchen im theoretischen wie im praktischen Bereich zu überwinden. Dazu ist es, und dies ist Hegels grundlegende Annahme, notwendig, die Dualismen zu überwinden, die sich in der Moderne sowohl im sozialen Leben als auch in der Philosophie zu Gegensätzen verfestigt haben. Für die soziale und politische Philosophie bedeutet dies, die Vernünftigkeit der bestehenden oder sich entwickelnden sozialen Institutionen mit philosophischen Mitteln einsichtig zu machen. Außerdem erfordert es, die unaufhebbare Spannung zwischen individuellen Interessen und sittlicher Gemeinschaft philosophisch zu analysieren sowie die sich daraus ergebenden normativen Spannungen und Konflikte zu begreifen und aufzulösen.

Für Hegels Denken im Bereich der praktischen Philosophie ist also eine Fragestellung charakteristisch, durch die sich auch die politische und Sozialphilosophie der Gegenwart charakterisieren lässt. Außerdem sind auch philosophiehistorisch zentrale Autoren der liberalistischen beziehungsweise individualistischen Tradition (zum Beispiel Hobbes, Locke oder Kant) für Hegel, genauso wie für die gegenwärtige Diskussion, Orientierungspunkte. Gleiches gilt für Aristoteles, der in der praktischen Philosophie sowohl für viele Kommunitaristen der Gegenwart (zum Beispiel Alasdair MacIntyre) als auch schon für Hegel ein entscheidendes Vorbild gewesen ist. Ohne Zweifel kann man als Ziel von Hegels praktischer Philosophie formulieren, eine aristotelische Konzeption der Ethik für moderne gesellschaftliche Bedingungen zu entwickeln. Etwas plakativ formuliert, stellt Hegels reife praktische Philosophie, die er in den Grundlinien der Philosophie des Rechts entfaltet hat, den Versuch dar, Aristoteles mit Kant und Rousseau zu vermitteln, das heißt, die aristotelische These vom Menschen als zoon politikon zu verbinden mit den Autonomiekonzeptionen der Moderne.

Darüber hinaus lässt ein kurzer Blick auf den historischen Hintergrund, vor dem Hegel seine Rechtsphilosophie über dreißig Jahre lang entwickelt hat, weitere Parallelen zur gegenwärtigen Lage sichtbar werden. Die Aufklärung bringt neben der wachsenden Bedeutung der Naturwissenschaften auch einen Säkularisierungsschub mit sich. Der damit einsetzende Konflikt moderner Wirk21lichkeitserklärung auf der einen und religiösem Weltverständnis auf der anderen Seite hält bis heute an. Zugleich beginnt sich die kapitalistische Marktwirtschaft zu entwickeln und beweist ihre ökonomische Leistungsstärke gegenüber alternativen Produktionsformen. Im Zuge dieser Entwicklung verschieben sich die politischen Gewichte und verändern sich die von der Warentauschgesellschaft direkt betroffenen Lebensbereiche. Schließlich zeitigen diese Prozesse Auswirkungen auf die Struktur und die Legitimation politischer Herrschaft. Für die Zeitgenossen war die Französische Revolution mit ihren unumkehrbaren Errungenschaften und in ihrem Scheitern eine zentrale historische und politische Erfahrung, die Hegel im Rahmen seiner praktischen Philosophie zu begreifen und philosophisch auszuwerten versucht hat.

Ineinandergreifend haben diese Prozesse schon zu Hegels Lebzeiten auf der sozialen Ebene zu einer Atomisierung der Lebensformen, zur Notwendigkeit säkularer Begründungsformen für politische Herrschaft sowie dazu geführt, dass die Vorstellung individueller Autonomie zur zentralen normativen Leitidee wurde. Alle diese Prozesse halten, sowohl in ihrer Grundtendenz als auch in ihrer internen Spannung und mit ihren vielfältigen sozialen Brüchen, bis heute an. [1] Daher ist es kein Wunder, dass Hegels praktische Philosophie, in der er diese Erfahrungen verarbeitet und den Versuch unternommen hat, für die komplexe Situation in der modernen Gesellschaft eine philosophisch angemessene Struktur zu entwickeln, immer noch aktuell ist.

Das primäre Anliegen dieses Buches besteht darin, Hegels Philosophie des Geistes für zentrale Fragen der Gegenwart fruchtbar zu machen. Dazu wird in den einzelnen Kapiteln anhand einer zumeist detaillierten und in intensiver Auseinandersetzung mit den hegelschen Texten durchgeführten Interpretation der Versuch unternommen, Hegels systematische Konzeption mit philosophischen Positionen der Gegenwart in einen Dialog zu bringen. Für den Mainstream der heutigen Philosophie stellt Hegels Denken aufgrund seines dezidierten Antiszientismus (der keine Ablehnung der Naturwissenschaften als solche impliziert) sowie aufgrund seiner ebenso konsequenten Zurückweisung des philosophischen Skeptizismus (die eine Kritik an der Subjektivitätstheorie von Descartes 22und dualistischen Konzeptionen in der Philosophie des Geistes einschließt) entweder eine abseitige und hermetische Festung oder aber eine philosophische Provokation dar. Die Studien zu zentralen Aspekten von Hegels Philosophie des Geistes, die in diesem Buch versammelt sind, zielen darauf ab, diese attraktiven Züge seines Denkens herauszuarbeiten.

Die Attraktivität liegt in meinen Augen in der sachlichen Nähe der hegelschen Philosophie zum Pragmatismus, die sich an drei Merkmalen seiner Konzeption festmachen lässt: erstens der Weigerung Hegels, philosophische Fragen und Methoden nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Theorien zu entwerfen, zweitens an einer sozialexternalistischen Konzeption des Geistes, die das Wesen mentaler Episoden in sozialen Praxen der Anerkennung von Autonomie und der Zuschreibung von Verantwortung verortet; und drittens an der spezifischen Form des hegelschen Antiskeptizismus, der philosophische Begründung nicht auf einzelne, letztbegründete Prinzipien stützt, sondern durch die Kohärenz des Gesamtsystems zu sichern versucht. Dies erlaubt es Hegel, wie wir noch sehen werden, unsere diversen diskursiven Praxen und epistemischen Projekte in ihrer Pluralität und internen Grammatik ernst zu nehmen, anstatt sie auf ein von außen vorgegebenes Prinzip reduzieren zu müssen.

Mir ist klar, dass diese Art, Hegel zu interpretieren, zwar für manche Leser prima facie attraktiv sein mag, zugleich aber mit zwei Schwierigkeiten zu kämpfen hat: Zum einen beruht eine solche Deutung zum Teil darauf, Spannungen und Zweideutigkeiten in Hegels Philosophie, die auch zu anderen Deutungen berechtigten Anlass geben, in eine Richtung hin aufzulösen. Dies bedeutet, dass die hier vorgelegte Interpretation nicht beanspruchen kann, die einzig richtige zu sein, auch wenn sie für sich in Anspruch nimmt, eine plausible und systematisch viel versprechende Deutung zu sein. Zum anderen sind Hegels Werke sperrig und geben ihre philosophischen Einsichten nur demjenigen preis, der bereit ist, sich auf sie im Detail einzulassen. Gerade weil einige der hier vorgeschlagenen Interpretationen von den Standardlesarten abweichen, müssen sie meines Erachtens in besonderem Maße durch eine textnahe und detaillierte Deutung abgesichert werden. Diese zum Teil mühsame Annäherung an und Auseinandersetzung mit Hegels Texten wird in den folgenden Kapiteln durchgeführt werden. Ich 23möchte aber an dieser Stelle dennoch einleitend versuchen, die aus meiner Sicht attraktiven und aktuellen Züge der hegelschen Philosophie des Geistes vorab kurz zu skizzieren.

(a) Hegels philosophisches System geht von der metaphysischen Prämisse aus, dass sich die Vernünftigkeit der Wirklichkeit nur begreifen lässt als interner Selbstdifferenzierungs- und Selbstbestimmungsprozess der einen Substanz, die in diesem Prozess ihren Subjektcharakter realisiert und erkennt. Deshalb zeichnet sich das hegelsche Denken erstens durch einen umfassenden Holismus aus, da die Bedeutung aller Kategorien (und damit aller Phänomene) durch ihre Stellung in diesem Prozess festgelegt wird. Zweitens akzeptiert Hegel die Trennung von Denken und zu erkennendem Gegenstand (oder von Schema und Inhalt) in keiner ihrer Varianten. Daher ist seine Methode durch einen Kohärentismus gekennzeichnet, weil die Wahrheit in der Passung aller Kategorien und Phänomene in diesem einen Prozess besteht. Mit diesen beiden genannten methodologischen Aspekten sind drei inhaltliche Punkte eng verwoben: So ist Hegels Philosophie erstens radikal monistisch; in ontologischer Hinsicht gibt es nur eine Substanz (das Absolute oder die Idee), und in methodologischer Hinsicht gibt es mit der absoluten Subjektivität nur ein Prinzip (der Selbsterkenntnis und -realisierung). Zweitens vertritt er einen durchgängigen Rationalismus, der von der prinzipiellen Erkennbarkeit und Vernünftigkeit der Wirklichkeit ausgeht, wobei man dies nicht im Sinne einer mentalistischen Ontologie missverstehen darf, sondern als Ontologie propositionaler Strukturen auffassen muss, die aber nicht statisch gedacht, sondern – im Anschluss an die Subjektivitätsphilosophie von Kant und Fichte – als Prozess und zum Teil als soziale Praxen konzipiert sind. Beides wird drittens in eine essentialistisch-teleologische Ontologie eingefügt. Hegel bestreitet nicht die Existenz zum Beispiel von raumzeitlichen Einzeldingen, Ereignissen oder Phänomenen, beansprucht aber für die philosophische Erkenntnis, die Vernünftigkeit dieser Realitäten und damit ihre Wirklichkeit auszuweisen. Dazu sind zwei Schritte notwendig: Auf der einen Ebene muss gefragt werden, ob eine einzelne Entität ihrem Artbegriff entspricht, das heißt eine »wahre« Manifestation ihres spezifischen Begriffs ist (zum Beispiel ein Tier, ein Staat oder ein Kunstwerk zu sein). Auf der zweiten Ebene muss dann die jeweilige Essenz in den Entwicklungsprozess der absoluten Substanz 24eingefügt sowie als notwendiger und zugleich durch seinen spezifischen Ort bestimmter und beschränkter Begriff ausgewiesen werden. Damit können endliche Dinge, weil ihr Wesen in beschränkten Begriffen besteht, ihr Ziel vollkommen erreichen und zugleich gerade darin ihre Unvollkommenheit (oder Endlichkeit) erweisen. Wenn Hegel also in seiner philosophischen Ontologie von wirklicheren oder höheren Entitäten spricht, dann will er damit nicht die Existenz der niederen bestreiten, sondern zum Ausdruck bringen, dass sie gemäß der philosophischen Messlatte auf einer niedrigeren Stufe stehen. Der philosophische Standard besteht bei Hegel darin, dass eine Entität als Moment des Absoluten begriffen wird, das seine Struktur der Subjektivität entwickelt. Das Ziel dieses Selbstbestimmungs- und Selbsthervorbringungsprozesses ist die Erzeugung von Momenten und Teilen, in denen die Grundstruktur der Subjektivität sich manifestiert und zugleich repräsentiert wird.

(b) Die Subjektivität als das Grundprinzip des hegelschen Systems insgesamt durchläuft eine Entwicklung, deren Hauptstufen selbst durch bestimmtere Prinzipien gebildet werden, die ihrerseits als »regionale« Grundprinzipien der einzelnen Systemteile fungieren. Ein solches regionales Prinzip ist das Resultat einer kategorialen Entwicklung, die auf den vorhergehenden Stufen des Systems stattgefunden hat. Zugleich lässt sich Hegel zufolge ein bestimmter Gegenstandsbereich durch die Explikation und Entfaltung des für ihn einschlägigen Grundprinzips philosophisch angemessen begreifen.

Das Grundprinzip von Hegels praktischer Philosophie ist der »freie Wille«, der sich am Ende des Systemteils »Subjectiver Geist« als »Einheit des theoretischen und praktischen Geistes« (ENZ § 481) ergeben hat. Diese Herkunft bedeutet vor allem, dass der Wille bei Hegel als eine inhaltlich weiterbestimmte Form des Denkens und damit auch als eine Form des Erkennens verstanden wird. Wie Hegel in seinen eigenen Randnotizen zu § 4 der Grundlinien anmerkt, sind das Theoretische und Praktische »überhaupt nicht 2 Vermögen« (R § 4 RN), sondern der Wille besteht aus propositionalen Einstellungen, die Hegel »praktische Vorstellung [en]« nennt. Für Hegels praktische Philosophie ist dies in doppelter Hinsicht entscheidend. Zum einen ist damit gesagt, dass die Grundstruktur der sozialen Realität vernünftiger Natur ist, weil sie die Manifestation eines vernünftigen Willens ist. Zum anderen kann Hegel auf die25ser Grundlage in der praktischen Philosophie eine kognitivistische Position vertreten: Äußerungen, in denen ethische Ansprüche zum Ausdruck gebracht werden, sind propositional verfasste Willensäußerungen und deshalb begründbar beziehungsweise wahr. Unter einem »Recht« versteht Hegel solche berechtigten Ansprüche im Allgemeinen, weshalb seine Rechtsphilosophie auch die gesamte praktische Philosophie umfasst und nicht auf die Philosophie des Rechts im engeren Sinne beschränkt ist.

Hegels These, dass der freie Wille das Grundprinzip der praktischen Philosophie ist, wird von ihm dadurch betont, dass er die Einleitung der Grundlinien dazu nutzt, seine Konzeption des Willens zu entfalten. Prägnant formuliert heißt es dort:

 

Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frey ist, so daß die Freyheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freyheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweyte Natur, ist (R § 4).

Neben der expliziten Aussage, dass der freie Wille das Grundprinzip (der »Boden«) des Rechts ist, finden wir hier zwei für Hegels praktische Philosophie fundamentale Aussagen. So ist erstens davon die Rede, dass die »Freyheit« als »Substanz und Bestimmung« des Willens angesehen werden muss; und zweitens charakterisiert Hegel das »Rechtssystem« als das »Reich der verwirklichten Freyheit«.

Mit der ersten Aussage stellt Hegel die These auf, dass »Freyheit« analytisch zum Begriff des Willens hinzugehört und daher »seinen Begriff oder Substantialität, seine Schwere so ausmacht wie die Schwere die Substantialität des Körpers« (R § 7). Frei zu sein ist die Essenz des Willens, sein spezifischer Begriff und damit auch dasjenige, was ihm seine Eigenständigkeit als regionales Grundprinzip verleiht, wodurch es seine ontologische Funktion erfüllen kann. Zugleich ist Freiheit als essentielles Merkmal auch die »Bestimmung« (R § 4) des Willens, die er zu realisieren hat. Durch diese normative Konnotation kann der Begriff des Willens in Hegels Augen als Bewertungskriterium für existierende soziale Gebilde, ethische Ansprüche, Handlungen oder Normen herangezogen werden.

Mit der zweiten Aussage formuliert Hegel eine These, die ei26nerseits aus seiner allgemeinen Metaphysik folgt, andererseits aber auch ein zentrales Spezifikum seiner praktischen Philosophie zum Ausdruck bringt. Aufgrund seiner internen Struktur gehört der Begriff des Willens zu den philosophisch anspruchsvollsten und wertvollsten, weil in ihm die Überwindung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt, von Denken und Geist gedacht wird als aktives Hervorbringen einer zuvor gedachten und gewollten Wirklichkeit. Im Willen drückt sich Hegel zufolge die aktive Seite der vernünftigen Selbstbestimmung aus, die man dem Absoluten als wesentliches Merkmal zusprechen muss. Auch wenn der Wille damit noch nicht die adäquate Realisierung der Idee (als der perfekten und höchsten Struktur des Absoluten) – die Idee »erscheint« nur im Willen (ENZ § 482) – ist, weil er sich in einer von ihm äußerlich vorgefundenen Welt als objektiver Geist »Wirklichkeit« (ebd.) geben muss, so ist er doch von seiner Begriffsstruktur her eine Form der Idee. Dies bedeutet, dass es zu seinem Begriff gehört, sich aktiv eine ihm gemäße Wirklichkeit zu schaffen. Das Ergebnis dieser Tendenz zur Selbstverwirklichung sind, so Hegels für die praktische Philosophie spezifische These, alle Formen und Bestandteile von Rechtssystemen im weitesten Sinne, das heißt letztlich alle Grundelemente der sozialen Welt. Hegel charakterisiert sie als »zweyte Natur« (R § 4), weil sie sowohl gleichsam natürliche, aus dem Wesen des Willens folgende Bestimmungen sind, als auch nicht durch explizite Entscheidungen der Individuen hervorgebrachte natürliche Vorgaben sein können. Hegel möchte mit dieser Bemerkung die aus seiner Sicht fälschliche Annahme zurückweisen, der zufolge soziale Institutionen auf rationale Entscheidungen individueller Subjekte zurückgeführt werden müssen, um als vernünftig und normativ bindend gelten zu können (so kritisiert er explizit vertragstheoretische Theorien der Legitimation sozialer oder politischer Institutionen; vergleiche zum Beispiel R § 75). In dieser Selbstverwirklichung findet zugleich eine inhaltliche Bestimmung des Willens selbst statt. Dies kann man sich am besten so vorstellen, dass Menschen in ihrem Versuch, soziale Rechtssysteme zu entwickeln, in denen die Freiheit des Willens angemessen manifestiert und repräsentiert ist, Erfahrungen des Erfolgs und des Scheiterns mit den verschiedenen Institutionen machen und diese Erfahrungen mit zum Gehalt des Begriffs eines freien Willens gehören.

Zentral für Hegels praktische Philosophie ist also, dass die Frei27heit des Willens sich in einem Rechtssystem – im Sinne einer umfassenden sozialen Ordnung – verwirklicht. Damit ist der Wille im ontologischen Sinne als »Substanz« jeder sozialen Institution, die ihren Platz in einer »vernünftigen« praktischen Philosophie hat, bestimmt. Zugleich ist die Freiheit als »Bestimmung« dieses Willens der normative Maßstab für die Bewertung der verschiedenen Realisationen und Manifestationen. Was aber versteht Hegel unter »Freiheit«?

Wenn in der Philosophie vom freien Willen die Rede ist, dann fragt man üblicherweise danach, ob die für unser ethisches Selbstverständnis notwendige Freiheit mit dem Determinismus vereinbar ist oder nicht. Im Kontext dieser Auseinandersetzung, in der Kompatibilisten die Verträglichkeit von Freiheit und Determinismus verteidigen, während Inkompatibilisten die Unverträglichkeit beider nachzuweisen versuchen, wird zwischen Handlungs- und Willensfreiheit unterschieden. Erstere ist das Vermögen eines Subjekts, durch Handlungen das zu realisieren, was es will; unter der darüber hinausgehenden Willensfreiheit wird dann ein Vermögen verstanden, wodurch ein Subjekt sich selbst einen bestimmten Willensinhalt geben kann. Diese Form der Freiheit bezeichnet man normalerweise als Entscheidungs-, Wahl- oder Willkürfreiheit – und sie ist es, die auf ihre Vereinbarkeit mit dem Determinismus hin untersucht wird.

Wenn Hegel also vom freien Willen spricht, dann kann man erwarten, dass er seine Erörterung in diesem theoretischen Rahmen vornimmt. Doch diese Erwartung des Lesers wird in doppelter Hinsicht nicht erfüllt. Erstens interessiert Hegel sich überhaupt nicht für das klassische Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus, und zweitens enthält seine Willenstheorie eine scharfe Kritik an der Konzeption der Wahl- oder Willkürfreiheit, ohne dass Hegel dabei einen Freiheitsbegriff verteidigen würde, den man klassischerweise bei Kompatibilisten findet. Es ist daher schwierig, Hegels Theorie des freien Willens in das klassische Raster von Kompatibilismus oder Inkompatibilismus einzuordnen (in den Grundlinien findet sich nur an einer Stelle (R § 15) ein Hinweis auf diese philosophische Debatte). Hegel ignoriert die klassische Fragestellung, weil er zwei Prämissen nicht akzeptiert, die ihr zugrunde liegen. Zum einen hält er Kausalerklärungen für weniger grundlegend als Finalerklärungen, zu denen er auch Erklärungen 28mittels handlungstheoretischer Begriffe zählt. Dies rührt, wie er in seiner Wissenschaft der Logik zu zeigen beansprucht, daher, dass die Kategorie der Kausalität die des Zwecks voraussetzt. Zum anderen akzeptiert Hegel nicht, dass man einen Freiheitsbegriff im Sinne der Wahl- oder Willkürfreiheit benötigt, bei der man die Entscheidung des Handelnden als eine genuine Kausalursache (nach dem Modell der causa efficiens) deutet. Für ihn besteht Freiheit nicht darin, eine Kausalkette selbst in Gang setzen zu können. Wie man an seiner Kritik der Wahl- oder Willkürfreiheit (R §§ 5 u. 6) sehen kann, ist das entscheidende Moment der Freiheit darin zu sehen, dass der Wille seinen vernünftigen Inhalt in der Form von sozialen Institutionen und darin anerkannten Ansprüchen von Subjekten, das heißt als eine normativ strukturierte soziale Welt hervorbringt. Im Modell der Wahlfreiheit wird unterstellt, dass ein freies Subjekt sich einer Menge von zu wählenden Optionen gegenübersieht, aus denen es nach freier Entscheidung auswählen kann. Daran kritisiert Hegel zwei Mängel: Zum einen gebe es, wenn alle Inhalte auf der Seite der zu wählenden Optionen stehen, für die Entscheidung selbst keine verbindlichen Inhalte mehr, sodass auf diese Weise ein gefährlicher Formalismus und Subjektivismus zum Fundament der Ethik werde. Zum anderen werden bestehende Inhalte (wie zum Beispiel in einer Gesellschaft akzeptierte Normen, Regeln oder Ansprüche) in ihrem Geltungsanspruch entwertet, weil sie erst durch die Entscheidung des Subjekts ihre normative Verbindlichkeit erhalten können (sonst ist das Subjekt ihnen gegenüber nicht frei). Die Zustimmung, die Hegel dem Determinismus zuteilwerden lässt (R § 15), betrifft genau diesen Punkt, dass von ihm gegen die formale Freiheit willkürlicher Entscheidung die vorgegebenen Inhalte als determinierende Bedingungen ins Feld geführt werden. Die spezifische Wendung, die Hegel diesem Argument gibt, zeigt jedoch, dass er hier nicht an kausale Bestimmungen denkt, sondern an vernünftige Rahmenbedingungen in Form von normativen Regeln, die in der sozialen Welt etabliert sind. Ein Subjekt, so kann man Hegels Gedankengang verstehen, entscheidet sich stets im Rahmen einer immer schon vernünftig und normativ strukturierten Welt, im sozialen Raum der Gründe und berechtigten Ansprüche; es verhält sich zu vorgegebenen Sitten, Erwartungen und sozialen Institutionen, die nicht als Beschränkungen seiner Freiheit zu begreifen sind, sondern als notwendiger Kontext für 29die Entfaltung individueller Autonomie. Da Hegel in seiner Theorie des objektiven Geistes zu zeigen versucht, dass die soziale Welt nach der Struktur eines freien und sich selbst autonom den Inhalt gebenden Willens begriffen werden kann (und muss), bezieht sich ein einzelnes Subjekt, wenn es sich zu den normativen Ansprüchen verhält, mit denen es in seiner Gesellschaft konfrontiert wird, nicht auf eine wesensfremde Realität. Vielmehr ist das Soziale ein nach der Struktur des Willens organisierter Raum autonomer, selbstgegebener Regeln und Gründe, in denen einzelne Subjekte ihre individuelle Freiheit dadurch realisieren können, dass berechtigte Ansprüche von Subjekten anerkannt werden.

Im Rahmen von Hegels essentialistisch-teleologischer Ontologie kommt sozialen Institutionen (wie zum Beispiel der Familie oder dem Staat) dabei ein ontologischer Primat zu, weil sie eine höhere Realisationsform des Willens qua Begriff darstellen. Dies liegt daran, dass in solchen sozialen Institutionen individuelle Subjekte, die selbst schon Manifestationen des Willens sind, in sozialen Beziehungen stehen, die ihrerseits noch einmal die Struktur des Willens qua Begriff realisieren. Damit erfüllen soziale Institutionen die von Hegel geforderte Bedingung, dass nicht nur sie selbst, sondern auch die sie konstituierenden Bestandteile Realisierungen des Willensbegriffs, das heißt freie Subjekte, sind. Die Abhängigkeit der Individuen, die ohne soziale Institutionen nicht in der Lage sind, ihre Autonomie zu entfalten und zu behaupten, ist in Hegels Augen genauso Ausdruck für die ontologische Überlegenheit der sozialen Institutionen wie ihre Fähigkeit, die Existenz einzelner Individuen zu überdauern. Insgesamt existieren soziale Institutionen für Hegel zwar nicht unabhängig von freien Subjekten, sondern haben ihre Realität nur innerhalb des normativen Selbstverständnisses ihrer Mitglieder (es gibt bei Hegel kein jenseits der Individuen existierendes denkendes oder wollendes »Mega-Subjekt«). Sie sind jedoch von höherer philosophischer Dignität, da sie angemessenere Manifestationen der Struktur absoluter Subjektivität sind.

Hegels Freiheitsbegriff zeichnet sich insgesamt durch drei Merkmale aus: (i) Das Wesen der Freiheit besteht darin, sich nach vernünftigen Gründen selbst normative Regeln zu geben, die zugleich adäquate Manifestationen der begrifflichen Struktur des Willens sind. (ii) Freiheit ist dabei als Grundstruktur sozialer Phänomene im Allgemeinen zu verstehen und darf nicht auf die Qualität von 30Entscheidungen individueller Subjekte reduziert werden. (iii) Der Dualismus von autonomem Subjekt und sozialer Wirklichkeit ist zugunsten eines alternativen Modells zu überwinden: In diesem wird auf der einen Seite die Ermöglichung einer individuellen Lebensführung als immanentes Ziel sozialer Institutionen ausgewiesen. Auf der anderen Seite wird gezeigt, dass die vernünftige autonome Lebensführung einzelner Subjekte darin besteht, die in einer vernünftigen Gesellschaft zu Recht bestehenden Ansprüche und Normen als Erfüllungen ihres eigenen Wesens als freie Subjekte zu erkennen und anzuerkennen.

Was leistet diese willenstheoretische Fundierung der Sozialphilosophie nun für die Bestimmung des Verhältnisses von sozialen Institutionen und individueller Freiheit in Hegels praktischer Philosophie?

Zuerst einmal erlaubt ihm die zugrunde gelegte Strukturgleichheit von individuellem und allgemeinem Willen, das Verhältnis von individueller Freiheit und sittlicher Gemeinschaft nicht von vornherein als eine Relation der Fremdheit, der instrumentellen Vernunft oder des durchgängigen Misstrauens darstellen zu müssen. Für Hegel gehört es zu den notwendigen Bedingungen funktionierender Gemeinwesen, dass sich die Individuen in der Grundhaltung des Vertrauens und der Loyalität mit ihrer Gemeinschaft (zum Beispiel der Familie oder dem Staat) identifizieren können. Schafft es eine Gesellschaft nicht, diese positive Grundgesinnung hervorzubringen, dann ist dies in Hegels Augen ein Indiz dafür, dass sie ihre philosophische Aufgabe nicht erfüllt, den Individuen ein autonomes und gutes Leben zu ermöglichen. Damit ist es auch zulässig und philosophisch gefordert, die Defizite dieser Gesellschaftsstruktur zu ermitteln und sie gegebenenfalls zu reformieren.

Zweitens ergibt sich aus der ontologischen Interdependenz von autonomen Individuen und sozialen Institutionen, dass die Individuen nicht zugunsten des Staates aufgeopfert werden können (allerdings leitet Hegel aus der ontologischen Priorität und höheren Dignität des Staates ab, dass die Individuen zur Landesverteidigung verpflichtet werden können). Zugleich aber ist es auch nicht möglich, den Staat auf ein Instrument individueller Selbst- und Interessenverwirklichung zu reduzieren, wie dies in Hegels Augen durch vertragstheoretische Legitimationstheorien geschieht. Es ge31hört vielmehr zum Wesen des autonomen Subjekts, seine Freiheit in einem Staat und als aktiver Bürger eines Staates zu realisieren.