Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
Die sieben Erzählungen dieses Bandes, entstanden 1946 und 1947, bilden den Anfang von Lems schriftstellerischer Laufbahn; sie legen Zeugnis ab von Lems Suche nach ›seiner‹ Gattung, nach ›seinen‹ Themen. Die erstmals in deutscher Sprache vorliegenden Texte erzählen von Vernichtungsmaschinen verschiedenster Art, vom Einsatz atomarer Waffen, von tödlich wirkenden Bakterienzerstäubern, von Drogen, die feindliche Agenten zur Preisgabe ihrer Information zwingen. Schon diese frühen, in Zeitschriften erschienenen Erzählungen sind geprägt von dem, was Lems späteres Werk in höchstem Maß auszeichnet: der kunstvollen Verbindung von wissenschaftlicher Kenntnis und erzählerischer Phantasie. Für den Leser von Lems Werk ist dieser Band eine Entdeckung, die ein Stück Lebensgeschichte Lems preisgibt.
Westfalenpost
Irrläufer
Erzählungen
Mit einem Vorwort
von Stanisław Lem
Aus dem Polnischen
von Hanna Rottensteiner
Phantastische Bibliothek
Band 285
Suhrkamp
Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner
Originaltitel:
Orgód Ciemności; Obcy; Exodus; Czlowiek z Hiroshimy; D-Day; Miasto atomowe; Plan Anti-V
Umschlagfoto: Per-Andre Hoffmann
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© by Stanisław Lem 1946/1947
© der deutschsprachigen Übersetzung
Insel Verlag Frankfurt am Main 1989,
für »Der Fremdling« © Insel Verlag Frankfurt am Main 1988
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-74324-9
www.suhrkamp.de
Vorwort
Der Garten der Dunkelheit
Der Fremdling
Exodus
Unser Mann in Hiroshima
D-Day
Atomstadt
Plan Anti-V
Die Erzählungen dieses Bandes entstanden in den Jahren 1946 und 1947; sie sind nicht nur der Anfang meines schriftstellerischen Weges, sie zeigen auch das Umherirren zwischen den Gattungen, das für einen fünfundzwanzigjährigen Autor fast unvermeidlich ist. Denn ein solcher weiß noch nicht und kann es wohl auch nicht wissen, wo seine Schwächen und wo seine Stärken liegen. »Der Garten der Dunkelheit« und »Der Fremdling« entstanden zuerst und zeigen das hohe Ideal, das hier Pate stand: im Fall der ersten Erzählung wird es unmittelbar durch das Motto von Rilke erklärt. Ich liebte Rilke damals, und vierzig Jahre haben an meiner Bewunderung für diesen Dichter nichts geändert. Bis heute besitze ich seine Gedichtbände, herausgegeben 1942 in Leipzig, also im Trommelfeuer des Krieges.
Eine weitere Erzählung entstand unter der Einwirkung des Schocks der Lektüre von John Herseys »Hiroshima«. An diesen Text wird sich heute wohl kaum noch jemand erinnern. Die Redaktion des New Yorker entschloß sich seinerzeit, das gesamte für die nächste Ausgabe vorbereitete Material wegzuwerfen, als Hersey mit jener berühmten und erschreckenden Reportage aus Japan zurückkam. Sie zeigte, wie sich im Schicksal Einzelner, die die atomare Vernichtung überlebt hatten, diese Tragödie wie in den Scherben eines Spiegels widerspiegelte, denn auf andere Art und Weise kann der Mensch jenseits der Grenzen individuellen Erlebens zur Bedeutung der Worte »in einigen wenigen Augenblicken wurde eine ganze Stadt getötet« nicht vordringen.
Heute hätte ich nicht den Mut, eine Erzählung nach Motiven eines so entsetzlichen Kataklysmus zu schreiben; eher erstarrten mir die Hände. Doch dem Anfänger dünkt es in seiner noch ungebrochenen Naivität, er sei vom Schicksal auserwählt und könne auch zum Sänger einer Katastrophe werden, die mit nichts zuvor Gewesenem vergleichbar ist.
Die Motive der Entstehung literarischer Werke liegen gewöhnlich im dunkeln und sind nicht unbedingt edel und erhaben. Einige Erzählungen habe ich als armer Student der Medizin geschrieben, dem der Krieg Vaterstadt und Heim genommen hatte und der aus Lemberg hinaus einige hundert Kilometer westwärts getrieben wurde. Nur der Zwang zum Broterwerb trug zur Entstehung dieser jugendlichen Versuche bei. Es ist keine vorzügliche Literatur, nicht moralisch geprägt: es handelt sich um Spionagegeschichten mit leicht phantastischem Hintergrund (wie »Plan Anti-V«). Ich versuchte mich an solchen Texten, ohne die leiseste Ahnung zu haben, daß einer der narrativen Pfade versanden und aus einem anderen auf für mich unerklärliche Weise eine über vierzig Jahre währende schriftstellerische Laufbahn entstehen würde.
Außer diesen Erzählungen blieb nur »Der Marsmensch«, ein kleiner Roman, den ich während des Krieges allein zu meiner Erbauung schrieb, vielleicht, um den Krieg, das heißt den rings um mich herrschenden Völkermord im Generalgouvernement, für einige Stunden zu vergessen. An dieses primum iuvenilium erinnere ich mich deshalb, weil mir jetzt, im April 1988, diese von unbekannten Anhängern meiner Werke, illegal, »im Untergrund«, gedruckte Broschüre gezeigt wurde, die mich vor vollendete Tatsachen stellt. Ich erinnere mich an dieses Büchlein, weil ich es mit genau den gleichen Gefühlen las wie die Handvoll Erzählungen, denen diese Worte gelten. Ich las diese Dinge wie etwas völlig Fremdes, gänzlich Vergessenes, zum Teil überrascht von dieser Fremdheit, zum Teil verwundert, daß manche Handlungsfäden und Leitmotive, die in meinem gesamten Erzählen vielfach wiederkehren, schon in diesem bloßen Vorwort zu meiner Literatur und damit auch zu meinem Leben wie kleine, noch unentwickelte Keime erscheinen. Ich erwähne dies, weil sich in der Begegnung des siebenundsechzigjährigen Autors mit dem vierundzwanzigjährigen Studenten – in der vom Willen unabhängigen Wahl bestimmter Themen und Probleme – Grenzen zeigen, die zu überschreiten mir nicht gewährt war.
Ich weiß nicht, ob jeder Schriftsteller seine schöpferische Bestimmung schon von Anfang an in sich trägt, in der Jugend verschlossen, wie die Nuß in der Schale, die sich, wird sie eingepflanzt, zu einem großen Baum entwickeln kann und doch stets ein Nußbaum bleiben muß. Ich weiß nicht, wie das bei anderen ist. In meinem Fall zumindest war es so, und das ist der Grund oder die Rechtfertigung, warum ich es wage, meine ersten schriftstellerischen Versuche der Druckmaschine des Verlags auszuliefern. Die Stimme war noch nicht ausgebildet, der Stil unsicher, das Schreiben ungelenk, aber etwas in diesen Erzählungen scheint darauf hinzuweisen, daß man das Schreiben lernt, wie das Kind das Gehen: das, was sein wird oder was sich vollziehen kann, ist gleichsam mit dem ganzen Inventar potentieller Fertigkeiten von oben gegeben, im Guten wie im Schlechten, im Kitschigen, Billigen und im irgendwie Wertvollen, und deshalb kann mit dem lateinischen Dichter gesagt werden: »Hoc erat in votis.« In diesem Satz sehe ich die eigentliche Rechtfertigung für dieses! Buch. Mag sein, daß ich einer sentimentalen Illusion anhänge, wenn das einzige, um das ich den Autor der Irrläufer beneiden kann, seine Jugend ist.
Wien, im April 1988
Stanisław Lem
Ich habe keine Geliebte, kein Haus,
keine Stelle, auf der ich lebe.
Alle Dinge, an die ich mich gebe,
werden reich und geben mich aus.
Rainer Maria Rilke, »Der Dichter«
Die letzten Septembertage waren blau, doch mit einem grünen Schattenstreifen, gleichsam in eine Glaskugel eingeschmolzen, die die Sonne klein erscheinen ließ. Die dunklen Nächte zogen lange vor Sonnenaufgang in silbernem Schimmer daher und verteilten ihn bis in die kleinsten Winkel des Parks. Die Georginen schlummerten noch in ihren Beeten. Die Luft brach das Licht in immer dunklere Tönungen; die Bäume, eingetaucht in rotes und braunes Gold, richteten sich höher auf als bisher, ohne dem Lauf der Zeit trotzen zu können. Unsichtbare Insekten zeichneten lange Silberfäden in die Luft. Raupen nagten fieberhaft an den letzten grünen Trieben. Blätter flatterten auf den Zweigen wie zerfetzte Segel. Sie rissen sich los und wurden vom Wind verweht: große verschreckte Falter, die auf breiten Flügeln voll geheimnisvoller Augen schwebten, in Wirbeln getrübter Luft durch die dunklen Alleen rasten und zu Boden stürzten. Kein Gras war zu sehen, nur ein eiliges Geräusch war zu hören, ein leises Rascheln, eine kaum wahrnehmbare Bewegung in den Laubhäufchen, die mit zarten Zeichnungen geädert waren. Aus der schwülen Dunkelheit krabbelten grauglänzende Käfer, die mechanisch die Beine bewegten und alles, was verdorrt, vergilbt und abgestorben war, sammelten, die sich im Untergrund der wachsenden Teppiche verbargen, verirrt in den Korridoren ihrer eiligen Wanderung, die die Blätter in eine unbelebte Erschütterung versetzte. Dann tauchte die Sonne in immer dichtere Luftmassen ein, funkelnd, wie hinter einer dicken Eisschicht, bis sie im Violett erstarrte. Die Dämmerung ist ein ganz besonderer Augenblick, in dem sich die zwischenmenschliche Welt zu spalten beginnt. Die bisher zusammengehörenden Gegenstände und deren Schatten trennen sich, einzeln verfolgt von jedem Augenpaar. Der Horizont, der der Perspektive entschlüpft, die ihn in einem unsichtbaren Gefüge umklammert, verschwindet, und die nahe Umgebung wird frei, vervielfältigt sich und verwandelt und verändert das einheitliche Panorama des Tages in einen Reigen sich durchdringender Bilder. Die Dunkelheit ist nicht die einzige Urheberin dieser Verwandlung: sie treibt nur Keile in die Ritzen der starren Architektur, verteilt die Blicke mit einem Pinsel Sepia, verschiebt die Kulissen so lange, bis der Himmel sich in einzelne Kuppeln spaltet, die so zum Menschen gehören wie das Schneckengehäuse zur Gartenschnecke.
Christoph verließ die Werkstatt, als die ersten Schatten die Verwandlung der Landschaft einleiteten. Damit die Welt nicht allzusehr zerfloß, von den Nachtwinden auf ihrer Achse vorangetrieben, und um das nächtliche Treiben wenigstens etwas zurückzuhalten, waren Lampen über den Straßen aufgehängt, in deren Lichtkegeln die Gegenstände runder erschienen. Sie warfen Schatten auf den Sand, und die geblendeten Sternengalaxien des Himmels zogen sich in die Leere zurück. Und nur hinter den Grenzen des Wachseins bäumte sich die Dämmerung auf, verwandelte die Bäume der Umgebung und beherrschte die leeren Winkel, um sich auf die erblindeten Laternen zu stürzen. Christoph eilte zum Park, um schnellstens die Zone der feindlichen Einflüsse zu passieren und unter die Bäume zu gelangen. Unbeirrt verfolgte er den richtigen Weg und ging eilends dahin mit leichtem Schritt, der das Gras nicht knickte, nur leise in den Blätterhaufen raschelte und die dichten Zweige auseinanderschob.
Hinter einer Hecke mit gezackten Spitzen befand sich eine kleine freie Fläche mit niedrigem Gras. Es war ein Plätzchen, das nur die Gärtner kannten. Tagsüber zogen sie mit ihren grünen Mützen, mahagonifarben, wie aufrecht gehende Käfer im Garten umher und spießten mit den Stockspitzen die Laub- und Papierfetzen auf, die die Wege verunzierten, und am Abend gingen sie einer nach dem anderen in Richtung des Sträucherdickichts davon. Hinter einem verborgenen Pförtchen, das fast ganz vom Efeu überwuchert war, befand sich ein großer, in die Erde eingelassener Behälter mit kaltem Süßwasser, ein Faß Regenwasser. Daraus schöpften sie mit ihren scheppernden Gießkannen, verließen langsam das Dickicht und sahen sich um, ob jemand sie beobachtete. Vorsichtig verteilten sie das milde Regenwasser auf die Blumen. Christoph hatte diese kleine Enklave entdeckt. Dort fand er sich ein, wenn der letzte Gärtner in seinem fernen Haus verschwunden war und die grünen Gardinen vor den kleinen Fenstern zugezogen hatte.
Christoph blickte sich um, wich einer hell leuchtenden Tafel aus, als wäre sie eine Vogelscheuche, öffnete die Pforte und trat ein. Die Sträucher umgaben in dunklen Gruppen die runde Fläche. In der Mitte stand der Behälter mit dicken glitschigen Wänden aus nie trocken werdendem Holz. Daneben befand sich eine kleine Bank. Er setzte sich, hob den Kopf und konnte den großen Brunnen der Sterne beobachten. Um einen zweiten – noch kälteren und schärferen – gestirnten Himmel zu sehen, genügte es, sich ein wenig über das Faß zu beugen. Das leichteste Zittern der Wasseroberfläche verband sich mit dem Flimmern der Sterne. Auf diesem zweiten Firmament waren die Abgründe einer unverhofften Dunkelheit enthalten, wie schwarze Meteore: schwimmende, verdorrte Blätter. Christoph kannte diese Stelle nur vom Abend her. Deshalb fielen ihm keine Einzelheiten auf, die den Eindruck trüben konnten. Stets sah er nur die schwarze Umrandung, die, wenn er sich setzte, hoch oben die Konturen der irdischen Gegenstände verbarg und den Augen nur den Himmel freiließ. Auch die Bank, auf der er saß, kannte er nur vom Betasten: er erinnerte sich an den Verlauf der groben, rauhen Holzfasern, die von Frost und Regen angegriffen waren. Das spärliche Licht reichte kaum bis zu seinem Kopf und ließ alles, was tiefer lag, in gleichmäßiger Ruhe versinken. Die letzten Septembernächte waren besonders schön. Von den Baumwipfeln flogen manchmal Blätter und durchschnitten den Himmel wie eine Linie ferner Vögel. Die Sterne leuchteten schwach, und wenn ein ungeduldiges Auge sie besonders gut sehen wollte, verschwammen sie zuerst zu einem Silberfleck und verschwanden bald am Rand des Gesichtsfeldes. Denn hier war nichts von Dauer: selbst bekannte Sternbilder, in dem Observatoriumsausschnitt den Muttersternen entfremdet, gewannen eine neue Selbständigkeit und verwandelten sich derart, daß sie unmöglich festzulegen waren.
Das traf sich gut, denn Christoph führten nicht astronomische Beobachtungen hierher. Er trat in den dunklen Innenraum und setzte sich, an den Rand des Fasses gelehnt, das sich kalt auftat und dessen Wände von seidigem Moos bedeckt waren. Der Himmel war von einem Schwarm blasser Funken überzogen, die dunkler waren als die nächtlichen Wolken.
Am letzten Abend im September kam Christoph noch müder an als sonst. Sein Kopf war erfüllt vom Gedröhn der Bleche, den Flammen und dem Geruch verbrannten Eisens. Die Dunkelheit ließ alles verstummen wie die bebenden Saiten eines Konzertflügels unter der leichten Einwirkung eines mit Samt ausgekleideten Schalldämpfers. Aber die Müdigkeit saß ihm in den Knochen, und als er sich auf der Bank niederließ, blickte er mit weniger Neugier als sonst in die Höhe. Dann vernahm er ein Geräusch in der Dunkelheit.
In der Annahme, ein Gärtner nähere sich, einen Stock in der knorrigen Hand, bereit, jeden Eindringling gebührend zu begrüßen, zögerte er. Aber die Pforte knarrte nur leicht, als habe ein leichter Wind sie bewegt, und in der Umrahmung aus dunklen Blättern zeigten sich die Umrisse eines Mädchens. Christoph saß da und hielt den Atem an: eine Fremde, die fast blind dahergeschwebt kam, doch so sicher, wie in einer ihr bekannten Umgebung, sie stieß mit den Händen an den Faßrand, umrundete das Faß, und nachdem sie sich angelehnt hatte, wollte sie sich setzen, als ihre Hand Christophs Arm berührte. Eine Zeitlang herrschte Schweigen, nur die Sterne glänzten grünblau. Schließlich vernahm er ihren immer heftiger werdenden Atem.
»Entschuldigung, ist hier jemand?«
»Ja«, erwiderte Christoph und rührte sich noch immer nicht von der Stelle.
»Ich bin gekommen, ich bin gekommen ...«
»Sie wollten meine Sterne sehen?« half ihr Christoph. »Bitte, setzen Sie sich. Wenn Sie es wollen, gehe ich, aber ich würde lieber hierbleiben, ich habe die Tiefe der Milchstraße noch nie so deutlich gesehen.«
Das Mädchen mußte sich bewegt haben, denn ihre Stimme kam nun von der Seite – offenbar lehnte sie am Rand des Behälters.
»Sie betrachten Ihre Sterne?« sagte sie betont. »Und ich glaubte, das sei mein Platz – nur meiner, und niemand sonst wisse davon.«
»Der Gärtner weiß davon«, rief ihr Christoph streng in Erinnerung, und aus der Dunkelheit drang ein kurzes, gedämpftes Lachen.
»Vermutlich weiß er es ... aber ich bin sicher, er hat nichts dagegen, daß ich hierherkomme. Ich weiß jedoch nicht, ob ...«
»Ach, Sie haben dieses kleine Geheimnis legalisiert? Mag sein, daß der Gärtner zornig über mich wäre, aber ich bekenne mich nicht schuldig. Ich beschmutze das Faß nicht, ich zertrample den Rasen nicht ... ich sitze nur ruhig da und warte.«
Ihn beschlich das unerklärliche Gefühl, daß das Mädchen lächelte. Ihr Kopf zeichnete sich vor dem Hintergrund des Himmels ab – man konnte ihn dank des Umstands sehen, daß er das Sternengewölbe verdeckte.
»Und worauf warten Sie?« fragte sie. Ihre Stimme war so wohlklingend, daß Christoph wiederum so lächelte, wie man nur ungesehen in die Dunkelheit hinein lächeln kann.
»Ich erzähle es Ihnen gern. Aber, setzen Sie sich bitte – auf der Bank ist Platz genug, und das Faß ist feucht und mit Schimmel bedeckt.«
»Das ist kein Schimmel, sondern Moos, sehr weich und trocken«, erwiderte sie, »doch es bläst ein leichtes Lüftchen, das mit einem fernen Duft gesättigt ist.« Der Schatten wanderte vor seinen Augen, und die Bank bewegte sich.
»Sind Sie da?« fragte er und senkte unwillkürlich die Stimme.
»Man soll die Sterne im Faß oder am Himmel nicht trüben ... machen Sie es sich bequem, ich rücke beiseite.« Er fühlte jetzt, daß sie ganz nahe war.
»Wollten Sie mir etwas sagen?«
»Ja, weil Sie mich gefragt haben, worauf ich warte. Ich fand dieses Bänklein und dieses Loch zum Himmel ohne fremde Hilfe, deswegen brauche ich es jetzt. Ich komme jeden Abend hierher und ... entschuldigen Sie, aber es scheint, daß es ein Observatorium ist, und doch haben wir uns nie getroffen.«
»Gewöhnlich komme ich später her, denn mein Vater mag es nicht, daß ...« Sie brach ab. »Aber das tut nichts zur Sache. Fahren Sie bitte fort.«
»Ich komme also hierher, lege den Kopf an den Rand des Fasses, nur so – und warte auf die Gedichte.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Ach, Sie sind ein Dichter? Darf man Ihnen glauben?«
»Dürfen Sie, doch gebe ich zu, daß ich bislang vergeblich gewartet habe. Ich bin offenbar ein guter Dichter ... denn ein schlechter würde Reimgeklingel wie am Fließband produzieren. Und ich warte, daß mir ein Licht aufgeht, die größte Arbeit aber besteht darin, den Einfall einzufangen und einzubringen. Die Gedichte haben Angst vor den Wörtern und verbergen sich in einer Dunkelheit, die man gewöhnlich nicht erreichen kann.«
»Das behaupten Sie.«
»Nein, so ist es wirklich. Die Gedichte sind da, mein Fräulein, sie sind da, man muß sie nur finden. Ein gutes Gedicht ist leicht zu erkennen: daran, daß es sich nicht völlig in Wörtern versteckt. Es setzt sich aus zwei Teilen zusammen: dem, der sich einfangen läßt, und dem, der frei bleibt. Denn ein nur aus Wörtern zusammengeschustertes Gedicht ist ganz und gar künstlich, völlig unzugänglich ... aber ich will Ihnen keinen Vortrag über meine Poetik halten.« Er schwieg und verfolgte mit den Augen die Sterne wie die Räderchen eines Uhrwerks.
»Mögen Sie Märchen?«
Die Bank bebte.
»Ich mag sie sehr gern – aber nicht die schrecklichen.«
»Schreckliche – das sind keine Märchen. Soll ich Ihnen ein echtes Märchen erzählen?«
In der Stille, die folgte, betrachtete er die Dunkelheit, in der er ihren Kopf erfühlte, und er spürte die zitternde Luft, die von ihrem Körper erwärmt wurde. Der Saum ihres Kleides berührte seinen Arm. Die Augen wieder dem Himmel zugewandt, begann er:
»Der Titel dieses Märchens lautet: Der Astronaut:
Es war in uralten Zeiten, als die Trauer blühte wie ein kleines Pflänzchen, das noch seltener war als ein vierblättriges Kleeblatt. In jenen seltsamen fernen Zeiten war die Erde weit kleiner, aber auch alle Planeten waren kleiner – man kann sich das vorstellen, wenn man im Garten alte Kürbisse mit vertrockneter grober Schale sieht. Natürlich waren auch die Menschen kleiner – so klein, daß sie auf der Erde ungestört wohnen und leben konnten. Die Zeit legte sich vor die Augen wie ein japanischer Garten, voller Wasserläufe, Brücken und Zwergbäumchen, wo man sich den schönsten Pfad aussuchen konnte.
Der Himmel unterschied sich ganz wesentlich von dem heutigen. Er war von hellroter Farbe und wirkte wie aus Rubin geschnitten, aber das war nicht das Sonderbarste. Jetzt scheint er uns eine große Kuppel zu sein, die sich jenseits menschlicher Blicke an die Erde lehnt. Damals jedoch war er genauso bucklig wie die Erde, an manchen Stellen konnte man ihn sogar betasten, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte – an anderen Stellen erstreckte er sich hoch hinauf, ähnlich einem Klumpen einer schweren, durchsichtigen Materie. Denn er bestand aus vielen Stockwerken – immer ferneren und bizarreren, und die einzelnen Dinge und Planeten glänzten zwischen seinen Schichten immer weiter und höher, immer kleiner und roter, bis in der tiefsten Tiefe alles zu einer Tönung verschmolz, die man sich vorstellen kann, wenn man am Nachmittag durch eine Flasche mit Himbeersaft blickt. Nur tausendfach blendender.«
»Unbedingt am Nachmittag?« fragte sie ganz leise. Sie wollte sich noch immer nicht geschlagen geben.
»Ja, nur dann, weil dann die Sonne sehr tief steht«, erklärte er. »In jener Zeit, von der ich sprach, lebte im Land der Algonnen ein Mann, den man Astronaut nannte. Das heißt Sternreisender«, fügte er hinzu und schämte sich, denn er fühlte, daß dies nicht nötig gewesen wäre. Er fuhr also schnell fort.
»Die Menschen in jener Zeit glichen den heutigen. Sie liebten es, gut zu essen und zu trinken, und wenn sie auch auf zwei Beinen gingen, fiel es kaum jemandem ein, zum Himmel aufzublicken. Nur dieser Astronaut ging nachts auf das flache Dach seines Hauses und sah in die Höhe. Er wollte Welten sehen, die, in Größe und Entfernung unterschiedlich, voneinander durch einzelne Rotschichten getrennt waren, die in der Dämmerung nicht erloschen, sondern kirschrot glänzten wie rotglühendes Eisen. Aber er strengte seine Augen vergebens an: am Tag erblindeten sie vom Glanz, und des Nachts trennten ihn die dicken Schichten des Himmels von jenen Geschöpfen.
In einer Nacht, dunkler als die anderen, als der Himmel rot glühte, zeigte sich im Osten etwas Helles. Bei Annäherung der hellen Stelle bemerkte der Astronaut, daß es eine Wolke war. Hinter ihr stand ein Engel. Aus seinen Schultern waren Flügel gewachsen, das Gewand fiel ihm in langen Falten über die Brust. Er war ungemein schön.
›Astronaut‹, sagte der Engel, ›deine Stunde ist gekommen. Die Leute meinen, daß alles nur hier und jetzt ist, und daß das, was sie nicht mit dem Auge wiederauferstehen lassen, nicht vorhanden ist. Du jedoch dachtest anders. Deswegen brachte ich dir dieses Ding, und es ist sonderbar: Sieh, Astronaut.‹ Er enthüllte den Saum seines Gewandes und zeigte ihm eine Kugel aus Kristall.
›Durch diese Kugel wirst du in den Himmel schauen können, und der Himmel wird dich nicht blenden. Du wirst andere Welten sehen, von denen es sehr viele gibt. Aber du darfst niemandem auch nur ein Wörtlein erzählen. Das, was du erblickst, wird dich nicht verwirren: du hast schon die Probe vieler Nächte bestanden. Was aber für den Astronauten gut ist, ist nicht gut für die anderen. Deshalb zögere ich, denn es ist kein Anliegen des Menschen: wissen und schweigen. Würdest du aber davon reden, und sei es nur flüsternd, und sei es nur in deinem letzten Stündlein, werden sich fürchterliche Dinge ereignen. Der Himmel wird sich von der Erde lösen, die Menschen werden über einen großen Raum verstreut, und die Zukunft wird dunkler als der Tod. Ich erkenne, dich verlangt es nach dieser Kugel, Astronaut, doch wäge gut ab und überlege: Kannst du sie von mir übernehmen?‹
›Gib mir die Kugel‹, sagte der Astronaut, ›gib sie mir, und ich werde mir die Zunge ausreißen und stumm sein.‹
›Das darfst du nicht tun‹, erwiderte der Engel, ›denn das ist keine Sache der Gewalt oder der Kraft, sondern eine der Entbehrung und der Einsamkeit.‹
›Gib mir die Kugel!‹
›Sag es ein drittes Mal.‹
›Gib mir die Kugel!‹
Der Engel verschwand plötzlich, der Himmel begann zu atmen, immer tiefer und tiefer, rot und leuchtend. Der Astronaut stand auf dem flachen Dach seines Hauses und hielt eine schwere Kristallkugel in Händen.
Am selben Tag noch verließ er seine Heimatstadt, um sich auf eine weite Wanderung zu begeben. Er ging und ging – nirgends war er längere Zeit zu Gast, denn er fürchtete, Wohlwollen und Freundschaft würden ihm das Geheimnis entlocken. Nur am Morgen, wenn er sich auf einen längeren Weg machte und die Wipfel der Bäume im Licht erstrahlten, blieb er stehen und hob seine Kugel, die er in der Reisetasche trug, ans Auge. Er erblickte dann Welten um Welten und alles, was darin sich regte – und auch solche, für die es in unserer Sprache noch gar keine Worte gibt. Er ging weiter. Als er den Rand der großen Wüste erreichte, ließ er sich in einer Lehmhütte nieder. Dort verbrachte er mehrere Jahre und lebte einsam in dem Glauben, sogar den Klang der menschlichen Stimme vergessen zu haben. Eines Abends ging er mit einem Krug zu einem kleinen Brunnen, der in der Nähe eines Felsens sprudelte, um Wasser zu holen – und als er bei der Quelle ankam, sah er auf dem Felsen eine Frau sitzen, die mit vorgehaltener Hand in den Glanz der Sonne blickte, riesengroß und tiefrot rollte sie in die Nacht hinein.
›Was machst du hier, Frau?‹ fragte er, und ihm wurde angst.
›Ich wandere durch die Wüste und suche‹, erwiderte sie. ›Denn es hat sich herumgesprochen, daß es jemanden gibt, der eine Kugel aus Kristall besitzt und sie niemandem zeigt. Den will ich sehen.‹
›Und wenn er sie dir nicht zeigt?‹
›Ich weiß es nicht. Ich will ihm nur von meinen Tagen erzählen, die leer und groß sind wie ein Totenhaus, von Nächten, in denen ich umherirre, ohne Schlaf zu finden, und von Gedanken, die mich unaufhörlich befallen, weil sie nirgends eine Heimstatt finden.‹
Dann spürte der Astronaut, daß ihn etwas am Arm berührte. Er ging schleunigst in seine Lehmhütte und holte die Kristallkugel.
›Sieh‹, sagte er, ›sieh, sieh!‹ Vor Ergriffenheit konnte er kaum sprechen.
Kaum tauchten die Augen der Frau in das Glas ein, erlosch die Kugel und wurde blind. Hundertfacher Donner ertönte. Der Himmel bauschte sich auf, wie ein vom Wind geblähtes Segel, und verschwand, zerrissen. Einen immerwährenden Augenblick lang konnte man die Schöpfung erblicken, so daß beide, Mann und Frau, die Hände falteten und aufs Angesicht in den Sand fielen.
Dann zeigte sich der Engel, mit einem Block schwarzen Eises in Händen, und schleuderte ihn von oben auf die Erde herab. Der Block spaltete sich, umschloß die Erdkugel wie eine Schale und überdeckte sie mit einem kugelförmigen Gewölbe. Am Tag konnte sich nur die Sonne hindurchkämpfen, die Nacht wurde schwarz, und nur durch die Ritzen flimmerten die Lichter – das letzte Anzeichen des Vorhandenseins anderer Welten.
Die Erde blähte sich gewaltig auf und wuchs, die Trauer trat ins Menschenherz und die Zukunft wurde so dunkel, daß niemand mehr wissen konnte, ob er glücklich sein werde. Und die beiden standen beim Brunnen, und es war Nacht.
›Das verkündete Wort ist Fleisch geworden!‹ rief schließlich der Astronaut. ›Weh mir, daß ich das Wort des Engels mißachtet habe.‹
Und er begab sich in die Wüste.
Die Frau erschrak fürchterlich und folgte ihm. Als sie ihn fand, saß er in sternenloser Nacht und bedeckte das Gesicht mit dem Saum seines Gewandes.
Da rief sie: ›Astronaut!‹
Und zum zweiten Mal rief sie: ›Astronaut!‹
Er schwieg.
Und als sie zum dritten Mal rief, wandte er sich um.
›Astronaut‹, sagte die Frau, ›ich sehe, daß du mir zuliebe etwas Schreckliches getan hast. Komm näher, ich zeige dir etwas Seltsames.‹
Als er näher kam, ergriff sie seine Hand und sagte: ›Sieh mir in die Augen.‹
Er blickte ihr in die Augen und flüsterte erstaunt: ›Ich sehe den Schatten des Glanzes, den ich in der Kristallkugel gesehen habe.‹
›Und ich sehe ihn auch‹, antwortete die Frau.
Und im Osten brach der Morgen an.«
Stille brach herein. Die Luft war schwer von der Feuchtigkeit, die sich auf Christophs Gesicht legte. Eine Zeitlang schwieg er und betrachtete nachdenklich den Himmel, bis er endlich sagte:
»Es wird immer kühler. Ich sehe zwar nichts, aber es kommt mir vor, als seien Sie zu leicht angezogen.«
Sie antwortete nicht.
»Wollen wir spazierengehen?« schlug er vor.
Schweigen.
»Warum antworten Sie nicht? Habe ich Sie etwa zum Einschlafen gebracht? Wenn das so wäre, war es das letzte Märchen, das ich je erzählt habe.«
»Nein, nein«, antwortete sie rasch, »ich bin nicht eingeschlafen ... ich bin nicht eingeschlafen ... ich war ganz einfach noch in diesem Märchen.« Die Bank bebte, ein Schatten zog über die Sterne.
»Sie haben recht, es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Aber bitte, begleiten Sie mich nicht.«
»Seien Sie unbesorgt, ich hatte nicht die Absicht. So ist es bedeutend besser, nicht wahr?« Er erhob sich von der Bank und streifte die trockenen Blätter von der Kleidung. Jetzt, als ihre Gesichter im Sternenlicht waren, sah er sie – hell und ruhig in Höhe der eigenen Augen.
»Gute Nacht«, sagte sie, und sonderbar: ihre Hand fand fast sofort die seine.
»Frieren Sie nicht«, sagte er und spürte ihre warmen, schlanken Finger, »es ist gut. Gute Nacht.«
Und ohne sich umzudrehen ging er zur Pforte.
Am nächsten Tag kam Christoph etwas früher als sonst. Vielleicht, weil er noch bei Tageslicht das Gesicht der neuen Bekannten sehen wollte. Doch im Observatorium war niemand. Er setzte sich auf das Bänkchen und bemerkte zum ersten Mal mit Erstaunen, daß es leer war. Weder die beiden Himmel noch das verschlafene Rascheln der trockenen Blätter noch die zwischen den Sträuchern streichenden Winde konnten sein Interesse erregen. Als sich der Himmel schwarz färbte und die Sterne erschienen, lehnte er sich wie früher an den Rand des Fasses und öffnete die Augen, damit sie vom Sternenstrom überflutet würden. Aber obwohl er in dem unendlichen Raum war, entging ihm doch nicht ein leises Rascheln und das Quietschen der Pforte.
»Sind Sie da?« fragte sie und blieb beim Eingang stehen.
»Schon lange. Wo waren Sie so lange?«
»Ich konnte nicht früher kommen.« Sie trat näher. »Guten Abend.« Sie reichte ihm die Hand, deren Näherkommen er an dem schwachen Luftzug spürte.
»Bitte.« Er machte ihr Platz. »Haben Sie letzte Nacht etwas Interessantes geträumt? Vielleicht von meinen bunten Himmeln?«
Sie seufzte.
»Leider träume ich schon seit langem nicht mehr ... Aber Sie haben sicher schöne Träume.«
Er mußte lachen.
»Ja ..., zwischen den Zeilen«, antwortete er und lachte wieder. »Es ist nicht gut, sich allzusehr auf Träume zu verlassen, denn oft führen sie einen in eine ganz falsche Richtung. Was ich Sie fragen wollte ... Sie haben dieses Plätzchen früher entdeckt als ich, ohne daß ich etwas davon wußte, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und was haben Sie gemacht? Haben Sie in die Sterne geguckt?«
»Ja.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Nichts weiter. Ich habe einfach geguckt.«
»Und Sie haben an nichts gedacht?«
»Muß man in einem solchen Augenblick an etwas denken? Nein, ich habe an nichts gedacht. Das war eben das Gute, daß ich an nichts denken mußte. Es war ganz einfach – und die Sterne waren – und sonst war nichts mehr.«
»Ja, das ist eine ganze Menge«, sagte er nachdenklich.
Der Wind wehte, und diesem Augenblick fiel eine Sternschnuppe.
»Haben Sie’s gesehen?« flüsterte sie und griff nach seiner Hand.
»Ja. Und ich habe mir gar nichts gewünscht.«
»Sie ... auch nicht.«
»Nein?«
»Übermorgen geht der Mond auf«, sagte er nach einer Weile. »Die Nächte werden immer heller.«
»Ja, aber am Morgen sammeln sich die Wolken. Es ist schon Oktober.«
»Es gibt hier einen alten Mann, den sehe ich, wenn ich zur Arbeit gehe«, bemerkte Christoph. »Er kommt in den Park, um die Eichhörnchen zu füttern. Er ist klein, trägt einen kurzen Mantel, aus dessen Tasche eine Papiertüte ragt, und schlägt zwei Nüsse aufeinander. Wenn sonst niemand da ist, kommen die Eichhörnchen zu ihm, springen ihm auf den Arm und knabbern die Nüsse. Aber ich kann ihm nie zusehen – am Morgen habe ich es immer sehr eilig.«
Er legte wieder den Kopf auf den Rand des Fasses. Die Sterne flimmerten heftiger als sonst.
»Kennen Sie noch ein Märchen?«
»Ja. Aber heute möchte ich etwas anderes erzählen. Ich erzähle etwas von einem Mädchen – einverstanden?«
Keine Antwort.
»Also ich beginne:
Sie war immer allein. Die Leute kamen und gingen, da waren welche, die ihr auf diese Weise helfen wollten, und andere, die ihr Schmerz zufügen wollten. Als sie klein war, wußte sie nicht, ob sie anders war als die anderen. Aber sie konnte sich nie an jemanden binden, so daß sie es sicher gewußt hätte. Denn immer war in ihr etwas versteckt, was das Handeln unterdrückte, den Blick erlöschen und sie zurückschrecken ließ, so daß nichts zu Ende gesagt, nichts verraten wurde.
Das war nicht von Anfang an so. Als sie klein war, verstand sie viele Dinge nicht, aber sie glaubte, daß man sie verstehen könne.
Manchmal ertrug sie das Sitzen nicht – sie mußte weit in den Wald hineingehen, und niemand konnte sie zurückhalten.
Einmal glaubte sie zu verstehen, wonach sie sich sehnte. Vorläufig wußte sie nur, daß es so gut war. Oder genauer gesagt, erträglich. Es kam allzu oft vor, daß man sich etwas anderes wünschte. Etwas Helleres? Etwas Besseres? Sie wußte es noch nicht. Niemand wollte es wissen, niemandem lag etwas daran. Nun? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Mit zunehmendem Alter begann sie noch mehr zu grübeln. Aber ihre Gedanken waren niemals so wie die schwarzen Umrisse im Licht oder die Grenzen des Himmels und der Erde. Sie waren immer verschleiert, undeutlich, vielleicht etwas warm im Ton, aber eben vernebelt. Manchmal ging ihr etwas spielerisch durch den Kopf und wollte nicht aufhören, herumzugehen. Lange auf einem Klavier zu spielen, das sich unter dem Druck der Finger belebt, je stärker und heftiger die Dämmerung einfällt. Spielen am offenen Fenster eines ebenerdigen Hauses. Und das Zimmer war zum Garten hinaus gelegen. Spielen, aber nur für sich selber. Aber ist das zulässig – nur für sich selber zu spielen? Das war nicht so einfach zu entscheiden: daher der erste Konflikt. Als sie noch sehr klein war, wußte sie, daß gut sein eine große, schwierige Kunst ist, die jeder lange und mühsam erlernen muß. Es genügt nicht, gleichgültig zu sein: nicht weh zu tun. Um gut zu sein, muß man Gutes wollen. Als sie vier Jahre alt war, betrat sie einmal die Scheune, in der eine Hündin, von der Geburt erschöpft, ihre Kleinen liegengelassen hatte. Und als sie diese kleinen Klümpchen Leben mit rosigen Näschen sah, die hilflos quietschten, befahl ihr etwas unvermittelt (vielleicht war es ein Stock, ich erinnere mich nicht mehr), so schrecklich in die bebenden Leiber hineinzuschlagen, bis jede Bewegung und jeder Laut aufhörte. Denn jeder Schlag traf auch sie, aber mit einer schrecklich schmerzhaften Wonne und verstärkte die Kraft des nächsten.
Dann fiel ihr ein, daß sie damals nicht gewußt hatte, was gut ist und was schlecht. Und sie ging zum Fluß, wo die Strömung sich teilt, von einem Felsen durchbrochen. Aber sie konnte niemandem erklären, daß es besser sei, auf das Schnellen des schäumenden Wassers zu blicken, als Klavier zu spielen, zu lesen oder sich zu vergnügen. Denn dieses Wasser war immer neu und doch immer dasselbe. Wie sie.
Der Winkel, in den man nicht hineinschauen konnte, wuchs. Er dehnte sich immer weiter aus und umfaßte viele Belange, die nicht ausgesprochen wurden. Jeder davon war wie eine Nadel: stach und glitzerte. Darüber konnte man nicht sprechen, gleichsam deswegen, weil man wußte: Es ist ohnehin vergebens. Sie lebte in ihren Träumen. Als sie das von der Sonne erhitzte Gesicht in das kühle Kissen preßte, fiel sie dorthin, wo man allein sein konnte. Und wenn gerade jemand da war, der ebenfalls ein Teil ihres Traumes war, so war es erlaubt, ihm alles zu sagen. Und dort einzuführen, wo der Westen am rotesten ist. Und wo der Fluß die Stromschnellen überspringt. Und überall.
Um jedoch mit seinen Träumen ins reine zu kommen, muß man zuerst den Tag in Ordnung bringen. Sie sagte sich also, daß man klar und einfach handeln müsse. Weniger fordern und mehr verstehen. Und daß es sich meist lohnt, gut zu sein.«
Er unterbrach sich und schwieg eine lange Weile. Dann fragte er mit müder, ruhiger Stimme:
»Ich weiß nicht, ob sich ein solcher Mensch gefunden hat?«
Der Himmel über ihren Köpfen klärte sich auf. Die Wolken zogen dahin, gerafft in lange Streifen. Die Sterne verschwanden einer nach dem anderen.
»Woher wissen Sie das alles?« fragte sie. »Woher wissen Sie das? Ich weiß nicht woher. Antworten Sie mir?«
Die Bank erzitterte.
»Ich antworte Ihnen morgen. Es ist spät und wird immer kälter. Es kommen Regentage«, bemerkte er gleichgültig.
»Ja, aber die Sterne wird es immer geben. Gute Nacht.«