Wenn Thomas Bernhard sich öffentlich äußert, drängt sich der Eindruck auf, er verhalte sich wie die Hauptpersonen in seinen Romanen und Theaterstücken: Da wird die Welt zum Katastrophenroman und zum sinnlosen Schauspiel, in dem Bornierte und Böswillige, Nichtwisser und Nichtkönner agieren, die es in gerechtem Zorn und kunstvoller Übertreibung anzuklagen und zu verurteilen gilt. Deshalb konnte es nicht ausbleiben, daß Bernhards Interventionen ständig von Skandalen begleitet wurden.
Thomas Bernhard, geboren 1931, starb 1989 im oberösterreichischen Gmunden. Zuletzt sind im suhrkamp taschenbuch von ihm erschienen: Meine Preise (st 4186), Aus Opposition gegen mich selbst (st 4211) und Goethe schtirbt (st 4278).
Thomas Bernhard
Der Wahrheit auf der Spur
Reden, Leserbriefe,
Interviews, Feuilletons
Herausgegeben von
Wolfram Bayer,
Raimund Fellinger und
Martin Huber
Suhrkamp
Umschlagfoto: IMAGNO/Barbara Pflaum
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2011
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eISBN 978-3-518-77870-8
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Verehrte Versammlung,
es heißt, wir ehren die Dichter nur, wenn sie tot sind, wenn der Gruftdeckel oder der nasse Erdhaufen die endgültige Trennung zwischen ihm und uns herbeigeführt hat, wenn der Schöpfer lyrischer Gedichte in Not und Elend erstickt ist, wenn er, wie es so schön und peinlich in den Nachrufen minderwertiger Geister heißt, seinen Geist aufgegeben hat. Dann findet sich schon, so es Gott will, ein verstaatlichtes Büro, das im Adreßbuch zu blättern beginnt, und das Werk der Nachwelt nimmt seinen Lauf. Es gibt Kränze und »Kränzchen«, und es entwickelt sich ein amüsantes Geschäft zwischen Weinlokal und Ministerium, solange, bis entweder der Akt des Dichters wieder verschwindet, oder man sich zur Herausgabe seines Werkes entschlossen hat. Es gibt Feiern und Pomp, man entdeckt das Pensum des Toten, zerrt es ans Licht – man »veranstaltet« den Dichter –, meist nur, um sich selbst die Langeweile zu vertreiben, für die man schließlich bezahlt wird. Und ist es nicht so (bei uns!), daß nicht der Dichter geehrt wird, sondern der Herr vom Kulturamt, der die Begrüßung vornimmt, der Herr Gedichte-Verwalter, der Schauspieler, der Rezitator? So mancher Hölderlin oder Georg Trakl würde sich im Grabe umdrehen über soviel gemachte, aufgepfropfte Kultur, über soviel Kunstmarktgerede, von dem nichts herauskommt als Schamlosigkeit!
Es geht darum, an Jean-Arthur Rimbaud zu erinnern. Gott sei Dank, daß er ein Franzose war! Glauben wir also an die Kraft und die Herrlichkeit des dichterischen Wortes, glauben wir an das fortdauernde Leben des Geistes, an die Unverwüstlichkeit der Bilder (der Totenbilder und der Visionen), wie sie auftauchen zwischen den Blättern von ein paar großen Männern aus den Elementen, wie sie ein Jahrhundert nur ein- oder zweimal hervorbringt. Täuschen wir uns nicht, das Gewaltige, Erregende, Aufwühlende und Beruhigende, das Bleibende, wächst nicht wie der Sauerampfer auf der Sommerwiese! So ein bedeutender Vers, dem der Mensch den Blick in die Tiefe verdankt, kommt nicht alle Tage zustande, nicht jedes Jahr. Es müssen immer etliche Tausend Bücher herausgestampft werden, ehe die Maschine einmal einen solch elementaren Ruck macht, und uns ein, wenn auch nur ein bedeutendes Werk der Weltliteratur liefert. Die immer so an der großen Glocke hängen und tönen bis in die versoffenen Bierstuben, die Zeitschriftendichter und die Exportartikler der Literatur, die es auch zuweilen zum Nobelpreis bringen, sind zumeist nur auffrisiertes Gewäsch und Modefabrikation. In der Literatur kommt es nur auf das Ursprüngliche an, eben auf das Elementare, auf Leute wie Jean Arthur Rimbaud.
Der Dichter Frankreichs war ein wirkliches Element, seine Verse waren aus Fleisch und Blut. Hundert Jahre sind nichts für diesen Meister des Wortes, den unübersetzbaren Rimbaud. Er riß das Leben an sich, unkonventionell, mit der Wurzel, packte es zugleich voll Ehrfurcht und Todessüchtigkeit. Seine Dichtung ist abgeschlossen, mit dreiundzwanzig Jahren klappte er sein Buch zu, sein »Trunkenes Schiff«, seine »Erleuchtungen«, seine »Saison in der Hölle«. Nie mehr rührte er die Feder an, um zu dichten, der Ekel vor der Literatur hatte ihn erfaßt. Aber er war fertig, es war genug. »Absurde! Ridicule! Dégoûtant!« – so wehrte Rimbaud ab, wenn man von seinen Versen mit Bewunderung sprach, und versuchte, ihn der Literatur in Frankreich zurückzugewinnen.
Rimbaud wurde am 20. Oktober 1854 in Charleville geboren. Sein Vater war Offizier, die Mutter eine Frau wie jede andere, bedacht auf das Wohl des Knaben, aber in dem Augenblick mißtrauisch und zurückgezogen, als es in ihm zu gären beginnt, als er mit neun Jahren seine ersten Verse heimbringt von der Schule, seine ersten »Essays«, seine Visionen, seine ersten Dichtungen, die zu den besten Frankreichs zählen. Im Juli 1870 bekommt er einen ersten Preis für die meisterhaften lateinischen Verse, in die er »Sancho Pansas Ansprache an seinen Esel« umgearbeitet hatte. Noch während des Studiums schreibt er für ein Ardennenblatt und greift Napoleon und Bismarck mit gleicher Heftigkeit an. Um die Armut der Menschen zu sehen und zu leiden, wandert er zu Fuß nach Paris, taucht unter in der Menscheneinöde und der Menschenfurcht, und er wirft sich den Gequälten und Nichtshabenden zwischen den einzelnen Boulevards an die Brust. In dieser Zeit sollen seine Haare so lang gewesen sein wie eine Pferdemähne, ein Vorübergehender bot ihm vier Sous an für den Friseur, die er, der »Dichter aus Charleville«, in Tabak anlegt. Dann ist er Zeuge der Revolution in der Babylon-Kaserne, in dem dichten Gemisch der Rassen und Klassen, und feurig ruft er es aus: »Arbeiter will ich sein! Kämpfer!« – Nach achttägigem Kampf erstürmen die Regierungstruppen die Hauptstadt, die gefangenen Revolutionäre, seine Freunde und Genossen, verbluten. Er selbst, der die erste große Erschütterung seines Lebens hinter sich hat, kann wie durch ein Wunder entweichen. Aber in Charleville war er nicht mehr zuhause.
Rimbaud war Märtyrer und »Sozialer«, aber niemals Politiker. Er hatte nichts mit der Politik, der Kunstbefremdung, zu tun und gemein. Er war nichts weniger als ein Mensch, und als solcher rührte ihn die Vergewaltigung des Geistes auf. In Charleville setzte er sich hin und schrieb die feurigen Gedichte »Das trunkene Schiff« – obwohl er das Meer noch nicht kannte –, schrieb »Paris bevölkert sich wieder«, die Orgie, die Anklage gegen das Geschwulst des Hasses, das Gedicht des Pariser Menschenlasters, alles in ihm war Empörung, und wenn er den Fluß entlangging, »brauchte er Stunden, um sich innerlich zu beruhigen«. Er war siebzehn Jahre alt, als er das wunderbare Versgebilde »Die Armen in der Kirche« niederschrieb, mit »klopfendem Herzen, ganz bei den schmutzigen Kindern, die immer auf die hölzernen Engel schauen und dahinter den Gott vermuten ...« Rimbaud war Kommunist, ja, aber nicht der, der auf den Champs-Elysées die Paläste anzünden wollte, sondern ein Kommunist des Geistes, ein Kommunist seiner Lyrik und seiner bildhaften Prosa.
Als er Verlaine, dem einzigen lebenden Dichter Frankreichs, den er verehrte, seine Verse schickt, antwortet ihm dieser mit dem klassisch gewordenen Satz: »Venez, chère grande âme!« – Und wie erstaunt ist der »Dichter von Paris«, der in den rauchgeschwängerten Salons wie ein Gott aus und ein ging, als er, anstatt einen »würdigen« Mann, den siebzehnjährigen zerlumpten Jean vor der Wohnungstür findet. Dieser hatte die »Sensation«, das große brennende Gedicht, hinter sich. Ja, das waren Zeiten!
Mit Verlaine begann für Rimbaud eine neue Epoche, es war eine tief freundschaftliche und zutiefst menschliche, und sie waren mitsammen nach England gereist, um London kennenzulernen, die stinkige Luft des größten Hafens der Welt, Mittelengland mit seinen schwarzen Fabriken, waren nach Brüssel gekommen, um sich – auf Zeit! – zu trennen. Verlaine mußte »heim« zu seiner Familie, die er, ohne »Rücksicht«, wie es heißt, eines Morgens verlassen hatte. Wie verschieden waren die beiden Landstreicher, denen es gegönnt war, ohne Paß durch Europa zu streifen, ohne alles, der Flüchtige, immer ausbrechende Rimbaud, vorwärts getrieben von der monumentalen neuen Wirklichkeit, die »es zu verdauen gab in der Prosa«, und der weiche, ihm ganz verfallene Verlaine, der dem Katholizismus, der Rettung, zustrebte, der ihm die tiefen Dichtungen verdankt, die geheiligten Lieder des ruhenden Menschen, die der geschlagene Mann im Gefängnis niederschreibt, nachdem er den jungen Bruder aus Charleville im Streit angeschossen und schwer verletzt hatte. Verlaine war für Rimbaud der große Dichter, aber weich und süchtig, Rimbaud dagegen hatte sich in Verlaine zum »alleinigen Lebensreichtum außer Jesus Christus« geformt. Man darf es nicht falsch verstehen: Verlaine liebte die poetische Kraft seines »Bruders« und das wunderbar klare Gesicht Arthurs, nicht mehr.
Das Leben der Dichter gehört nicht auf die Straße geschleppt, aber Rimbauds Leben ist so gewaltig, so groß, so abgründig und doch so religiös, wie das Leben eines Heiligen. Er steht vor uns wie seine Dichtung: abscheulich, wahrhaft, schön und von Gott!
Er war in Deutschland Hauslehrer bei einem Stuttgarter Doktor Wagner, streifte durch Belgien und nach Holland. Er ließ sich für die Kolonialtruppen anwerben und erreichte nach siebenwöchiger Überfahrt Java. Aber es war ihm mit dem Militärdienst genauso wenig ernst wie einstmals mit dem Gedanken, »Missionar zu werden, um die Welt zu sehen«. Als er in Niederländisch-Indien an Land ging, schien es, als hätte er sein Ziel erreicht: unerreichbar der abscheulichen Zivilisation zu sein! Er machte sich davon, ging nach Batavia, lebte vom Handgeld, schlug sich durch die neue Landschaft, lebte mit Tieren und Halbidioten zusammen, betrat 1876 ein englisches Schiff, um heimzukehren. Er war für eine Zeit müde geworden. Als man an der Insel Helena vorbeikam, verlangte er, daß man anhalte. Da man seinem Wunsche nicht nachkam, sprang er einfach ins Meer, um hinüberzuschwimmen. Mit knapper Not konnte er, der unbedingt Napoleons Lager habe sehen wollen, wieder an Bord gebracht werden. Genau am 31. Dezember war er wieder in Charleville.
Er war zeitlebens ein Abenteurer, und die Hälfte seines Daseins war er unterwegs. Er hatte sich längst von der Literatur abgewandt, und er schrieb nicht mehr:
»Im Straßenschotter hatt ich meine Schuh zerschnitten,
acht Tage lang. In Charleroi macht ich halt.
Im ›Grünen Cabaret‹ begehrt ich Butterschnitten
und Schinken, der beinah zur Hälfte kalt.
Ich dehnte unterm Tische mit Behagen
die Füße aus, sah mir die Wände an
mit ihrer simplen Malerei. O nicht zu sagen,
als mir die Magd mit ihrem hohen Busen dann,
mit ihrem frohen Blick, mit ihrem Mund, der lachte,
– die hat vor einem Kuß nicht Angst! – auf buntem Teller
Butterbrot und warmen Schinken brachte,
so rosaweiß, von Knoblauchduft durchwürzt,
und dann den Bierschaum, den ein heller
Spätsonnenstrahl umsäumt, ins hohe Glas gestürzt.«
Er genoß nurmehr. Und er ist wieder in Marseille und verkauft Schlüsselringe, kommt nach Ägypten, kehrt wieder nach Frankreich zurück und schifft sich schließlich als Einkäufer von Kaffee und Parfum nach Arabien ein. Im November verläßt er Arabien und gelangt nach Zeila. In der ersten Dezemberhälfte, nach zwanzigtägigem Ritt durch die Wüste Somali, kommt er nach Harrar, einer englischen Kolonie. Hier wird er Generalagent einer englischen Firma mit einem »Gehalt von 330 Franken, Beköstigung, Reisekosten und 2% Provision«. Bevor er jedoch Aden verlassen hatte, schrieb er seiner Mutter um wissenschaftliche Bücher. Die Kunst war über Bord geworfen, er strebte nach anderen geistigen Dingen, gleichviel wichtigen, und er studiert im folgenden Metallurgie, Schiffahrtskunde, Hydraulik, Mineralogie, Maurerarbeit, Zimmermannsarbeit, landwirtschaftliche Maschinen, Sägemühlen, Bergmanns-Glaser-Töpfer-Metallgießerhandwerk, artesische Brunnen – alles will er sich zu eigen machen, er hat Hunger wie nie zuvor, selbst als Generalagent! Die Filiale Harrar des Handelshauses gelangt unter des Dichters Rimbaud Leitung zu großer Blüte. Ihm selbst gehen die Geschäfte immer zu schlecht. In seinen Briefen schreibt er von Geld und Gold, das man suchen müsse. Er wird wieder ungeduldig und will nach Tonking, nach Indien und zum Panamakanal. Und er macht nichts mehr als Geschäfte, vielleicht nur, um sich zu betäuben, er handelt mit Kaffee und Waffen, die er ans Rote Meer schickt, mit Baumwolle und Früchten – er hatte Frankreich die schönsten Jugenddichtungen geschenkt. Und voller Unglück schreibt er: »Ich langweile mich sehr, ich habe nie jemanden gekannt, der sich so langweilte, wie ich.«
1890, als er den Wunsch hatte, sich zu verheiraten, spürte er plötzlich eine Art von Gicht in sich, den Schmerz des Körpers, den dieser sturmgepeitschte Mensch bisher nicht kannte. Fern von Frankreich, unter Sklaven und Negern, in der stinkenden Wüste. Das Ende nahte mit Riesenschritten. Er selber schrieb über seine Krankheit: »Das Klima Harrars ist kalt, und ich zog aus Gewohnheit fast gar nichts an, eine einfache Tuchhose und ein Wollhemd, und so machte ich täglich unsinnige Ritte von 15-40 Kilometern durch die schroffen Berge des Landes. Ich glaube, am Knie muß sich ein giftiges Leiden entwickelt haben, hervorgerufen durch Ermüdung, Hitze und Kälte. Tatsächlich hat es mit einem Hammerschlag unter der Kniescheibe begonnen: ein leichter Schlag, den ich alle Minuten einmal spürte ... Ich ging herum und arbeitete fleißig weiter, mehr als je, denn ich glaubte an eine gewöhnliche Verkühlung ...« Die Untersuchung des englischen Arztes im Hospital in Aden ergab eine weit vorgeschrittene gefährliche Gelenksentzündung. Rimbaud entschloß sich, sich auf einen nach dem Mittelmeer abgehenden Dampfer bringen zu lassen.
In Marseille wird sein Bein amputiert. Die alte Madame Rimbaud ist bei ihm. »Ich bin ein Krüppel«, schreibt er verzweifelt, »was kann ein Krüppel der Welt nützen? Lieber den Tod, nach all dem, was ich schon ertragen habe ...« Das schreibt er nach monatelangen Qualen, die ihn aufs Bett warfen. Er leidet an Krebs. Am 23. Juli ließ er sich, wie es seine Schwester beschreibt, zur Familie nach Roche bringen, die sich dort angesiedelt hatte. Dort hoffte er, endgültig Ruhe und Schlaf zu finden. Es war 1891. Das Getreide war erfroren, als er heimkam, und beim Anblick des für ihn eingerichteten Zimmers rief er aus: »Das ist ja Versailles hier!« – Darauf folgten die furchtbarsten Monate seines Lebens. Im Oktober machen sich die ersten Anzeichen des Todes bemerkbar. Noch einmal möchte er aufbrechen, mit einem Bein, nach Indien, oder wenigstens nach Harrar zu den Negern. Er wird schon auf die Bahn gebracht, in den Zug geschleppt, muß aber auf der nächsten Station wieder heraus. Es war die tiefste Verzweiflung eines Menschen. Im »Hôpital de la Conception« trug er sich unter dem Namen Jean Rimbaud ein. Dann war alles nurmehr Kampf zwischen dem Leben, das er wollte, und dem Tode. Er hat wunderbare Visionen, seine »Illuminations« kehren wieder, seine Erleuchtungen. In der Agonie kehrt der Dichter zurück, plötzlich ist er wieder dort, wo er mit dreiundzwanzig Jahren aufgehört hatte, als er fortlief, wo es ihn anspie aus allen Ecken und Enden, das »Barbarentum der Literatur«, die »Verweichlichung des Intellekts«. Er ist wieder Dichter – auch wenn er nichts mehr schreibt. Er ist wieder da – er war doch nicht fort gewesen, nur in Harrar, in Ägypten, in England, in Java. Es war nur ein Umweg, jetzt sah er die Dichtung aus Charleville deutlich vor sich und es war ihm bewußt: sie ist geschaffen! Sie senkte sich als wunderbarer Trost auf ihn herab. »Am 10. November, nachmittags zwei Uhr, war er tot«, notierte seine Schwester Isabelle. Der über soviel Gottesfürchtigkeit erschütterte Pfarrer gab ihm den Segen. »Ich habe noch nie einen so starken Glauben gesehen«, sagte er. Dank der Hilfe Isabelles wurde Rimbaud nach Charleville gebracht und mit großem Pomp auf dem dortigen Friedhof begraben. Dort liegt er heute noch neben seiner Schwester Vitalie, unter einem schlichten Marmormonument.
Das Werk Rimbauds war immer von jenen bekämpft, die der Wahrheit keine Ehre geben, und trotzdem beginnt es mit dem glückhaften revolutionären durch und durch dichterischen Schulaufsatz des Neunjährigen »Die Sonne war noch warm ...«, den sein Lehrer und Freund Izambard aufbewahrte. Es zählt zum Gewaltigsten und ist das Ursprünglichste, das je in französischer Sprache geschrieben wurde, alle miteingeschlossen, die Großen, Racine, Verlaine, Valéry, Gide und neuerdings Claudel. Seine Dichtung ist nicht nur französisch, sondern europäisch, es ist Welt-Dichtung, es sind Sprüche und Weissagungen, Empfindungen und Delirien von unheimlicher Zauberkraft.
Man darf Rimbaud nicht zerreden, man muß ihn lesen, wirken lassen muß man ihn als Ganzes wie einen Traum von der Erde, man muß seine Welt betreten, wie er sie betrat, mit schmutzigen Schuhen und mit hungrigem Magen, einmal auf der Straße nach Mézières, dann in Paris, in der Ausweglosigkeit. Man muß, wie Rimbaud selbst, in seine Kirchen hineinschauen, sein Werk nicht betrachten, sondern mitleben und mitleiden, einfach anschauen, wie ein Mädchen irgendein Ding anschaut, das ihm in den Weg flattert.
»Morgens um vier im Sommer, dauert / der Liebe Schlaf noch. / Aus den Gebüschen dampfen / Düfte des Festes der Nacht ...« So etwas wird selten gesagt und gar nicht gedichtet. Das ist ganzer, erschütternder, einsamer, weltcharakterlicher Rimbaud. Oder »Ophelia«, die zwei Gedichte, die alle Welt in sich eingeschlossen haben und mit ihr Gott. Da ist all das zu finden, was den Heutigen mangelt: Schönheit und Ehrfurcht im wahrsten Sinne, und da ist Verlassenheit und in ihr der ewige und einzige Gott, der große Vater, auch wenn sie ihn noch so aus Rimbauds Versen vertreiben wollen. Um gläubig zu sein, muß man nicht Hostien verschlucken, muß man nicht alle Jahre zweimal beichten. Es genügt, wenn der Mensch ins Antlitz der Welt schaut, tief hinein in seine Mitte – wie Rimbaud. Man soll niemals über die Kirche spotten, aber man darf die schlechten Priester als schlecht bezeichnen und die niederträchtigen Nonnen als niederträchtig. Man muß aber auch den Glanz und die Güte Gottes preisen, wie es Rimbaud getan hat vom Anfang bis zum Ende, mit elementarer Gewalt. Denn was sein Werk so groß macht, das ist seine geschlossene Unförmigkeit. Rimbaud war einfach der erste, der wie Rimbaud schrieb. Er und keiner damals wußte, »daß es nichts ist, aber daß Er ist, und daß Er immer ist«.
Er ist »Shakespeare enfant« – und nicht nur, weil Victor Hugo es gesagt hat. Unvergänglich ist sein »Bateau ivre«, der phantastische Traum. Wo hatte er die Ästhetik hingeworfen? Doch auf den großen, sich gegenseitig auffressenden Abfallhaufen der Literatur, der zu allen Zeiten seinen üblen Parfumgestank verbreitet: Ihm war das Unwirkliche, Gläserne eines späten Rilke fern. Er war keusch und tierhaft zugleich, und die schönsten, empfindsamsten Reflexionen stammen von ihm. Er schrieb nicht auf Büttenpapier, sondern auf stinkende Käsepakete – aber gerade das war nur noch Poesie. Die »Saison in der Hölle« war das einzige Werk, das er selber zu Lebzeiten herausbrachte. Verlaine besorgte nach Rimbauds Tod eine Gesamtausgabe.
Die Dichtung sei ihm nicht mehr gewesen wie ein »Befreiungsversuch«, ein »Ventil für die drängend überschüssige Vitalität«, sagte später Stefan Zweig von ihm. In solche Ströme aber kann man keine bloße Vitalität entladen, Rimbaud nicht, denn sie war ihm keine Zuflucht, die Dichtung, sondern ureigene Heimat. »Religion zwang ihn nie in die Knie«, schrieb derselbe Stefan Zweig (der Rimbaud tief verehrte!). Und doch war seine Literatur eine einzige, freilich weltweite, geschichtlich freie, ungebundene, unverfeinerte, im Schmutz und in den zerrissenen Schuhen triumphierende Religion. Und diese seine Religion brachte ihn auch zu Fall, sie zwang ihn ja in die Knie! – An seiner »Höllensaison« hing sein ganzes Leben, an seinen »Erleuchtungen« hing sein Herzschlag. – Der Reichtum in Harrar nützte nichts, das ganze Geld nützte nichts, alles, alles nützte nichts, nieder sinkt er, scheinbar klein wird er letztlich, und nieder kniet er sich in Delirien und fleht um die letzte Erleuchtung: um den ewigen Vater!
Nur wer um den ewigen Vater fleht, hat Aussicht, bestehen zu bleiben, kann sagen, wie Rimbaud gesagt hat: Ich bin immer!
Josef Weinheber: Sämtliche Werke: 1., 2., 3. und 4. Band. Herausgegeben von Josef Nadler und Hedwig Weinheber. Salzburg 1954, Otto Müller Verlag. Bisher 2900 S., Dünndruck, je Band dm 17.50, als Einzelband dm 18.20.
Josef Nadler und Hedwig Weinheber, die Witwe des Dichters, haben das Werk des Lyrikers Josef Weinheber gesammelt. Es sollen fünf Bände daraus werden, vier sind bereits erschienen, enthaltend die ersten Gedichte, die Gedichte und die Romane und die kleine Prosa. Der erste Band enthält die Frucht aus den Jahren 1913 bis 1931, darunter die Sammlungen »Ich und Du«, »Der dunkle Weg«, »Einer, der mittrank«, »Amores«, »Der einsame Mensch«, »Anna Fröhlich«, »Von beiden Ufern« und »Boot in der Bucht«. Eine schier unerschöpfliche Fülle der Themen und der Leidenschaften wird hier offenbar.
Der zweite Band umfaßt das Hauptwerk des Lyrikers, die bekannten Gedichtbücher »Adel und Untergang«, »O Mensch, gib acht«, »Zwischen Göttern und Dämonen«, »Kammermusik«, »Wien wörtlich« und »Hier ist das Wort«. Der Gipfelpunkt der Sprache ist erreicht. Manche loben das letzte Buch »Hier ist das Wort« als das reinste. Im Worte ja, doch die Dichtung hauchte den »Göttern und Dämonen« den stärksten Atem ein. In diesem Buch liegt Weinhebers Leben und Weinhebers Tod. Nichts schafft mehr Gemüt und Österreichertum und Deutschtum zugleich als dieses Werk. Die Sprache ist nicht kultiviert, aber prächtig angepackt. Dieser dritte Band ist die Essenz eines »verruchten tiefen, sich endlich erschöpfenden Lebens«. Weinheber hat es geschafft, hier im dritten Band ist es vollkommen klar. Und darum sei über den Menschen, über die brennende hilfesuchende Glut, Verzeihen gebreitet, denn jeder hat notwendig, einen Teil wenigstens vergessen zu bekommen.
Der dritte Band bringt die drei Romane Weinhebers »Das Waisenhaus«, »Gold außer Kurs« und »Nachwuchs«. Nie war der Dichter ein Mann, der wirklich handfeste Prosa schreiben konnte. Diese drei Bücher sind durchdrungen von einer großen Liebe zur Armut, wie sie seit Jahrhunderten dort, zwischen Ottakring und Heiligenstadt, ihr unscheinbares, tödliches Dasein fristet. Selbstbiographie und Sehnsucht sind diese »Romane«, schöne für den Wiener, der in ihnen zu Hause ist, aber sicherlich fremd dem, der diese Stadt nicht kennt. Schon in St. Pölten würde sie niemand verstehen. Dazu kommt, daß sie sprachlich nicht durchhalten und es vor allem an der notwendigen Komposition mangelt.
Der vierte Band sammelt kleine Prosa, Reden, Aufsätze, Kritik und eine Anzahl Gedichte, die zu Lebzeiten des Dichters in keine Buchausgabe Aufnahme gefunden haben. Weinheber hat über die Sprache viel zu sagen gewußt. Immer wieder taten sich ihm neue Fundgruben auf, neue »Landschaften des gültigen deutschen Wortes«. In den Skizzen und Beschreibungen seiner Heimat ist ein seliger Hauch Österreichertum spürbar, so in »Wien, das Herz«, einer seiner schönsten Eingebungen. Stadt, Vorstadt und das niederösterreichische Weinland werden im wahrsten Sinne des Wortes liebend heraufbeschwört. In den unbekannten Gedichten, von überallher gesammelt, ist der Bogen vom Volkslied und dem einfachen Bänklgesang bis zu Hymne und Ode gespannt. Hier ist der Blick in die Werkstatt des Sprachgewaltigen tief erschütternd und beglückend zugleich. Neben Gelegenheitsversen stehen die Zeugen einer reinen schlackenlosen Dichtung. In den Kritiken findet sich die Stelle, die von Hans Leifhelm, dem frühverstorbenen echten Talent, sagt: »Das ist die große Kunst. Denn nur dort, wo der Mensch sichtbar wird, eben dieser Einzelne, Schwergeprüfte, der die Stimme für alle ist, nur dort geschieht von des Geistes Gnaden die Verzauberung.«
Die Gesamtausgabe scheint sich im kommenden Frühjahr zu vollenden. Die Dünndruckausgabe macht Freude, wenn man auch den Herausgebern wünschen möchte, nicht allzuviel kleinliche Sorgfalt walten zu lassen. Die vielen Anmerkungen, ob in Bleistift geschrieben oder in Tinte, abends oder morgens, sind zwecklos. Dennoch, hier wurde eine aufrechte Arbeit geleistet. Das ungeheuere Wagnis, jetzt, neun Jahre nach dem Tode Weinhebers, dessen Werk in seiner Gesamtheit zu bringen, ist geglückt und darf hoch anerkannt werden. Mit besonderer Spannung und – ruhig offensichtlicher – Freude kann man den letzten Band (Briefe) erwarten.
Die Zeichnung ist dort am stärksten, wo sie impulsiv heraustritt aus dem Geschehen, aus dem sterbenden Tag, der Gasse, dem Fischmarkt, aus der Landschaft, aus der ans Wunderbare grenzenden Welt des Künstlers. So ist es bei Anton Steinhart, der jährlich von Salzburg aus zu den Orangen und Palmen reist, das Meer entlang, durch gelbe Küstenstreifen, immer nah der Sonne, die nirgendwo so rot und sinngebend aus den Ufern steigt wie zwischen Murano und Ischia. Steinharts Rohrfederzeichnungen sind keine Erzählungen, sie sind wie die Gedichte Rimbauds, brennend und geheimniserregend, furchtbar manchmal in ihrer Schönheit, unerbittlich in der Kraft der Gesichter, die in den Zeitlauf gebannt sind. Das Leben ist sündhaft, die Kunst ist Sünde. Die ekstatische Härte des Striches in den Tuschporträts ist auch in den Landschaften unvermindert. Über hundert Blätter aus Sardinien, beiläufig und wohlgeordnet in der Galerie Welz verstreut, atmen die Frische des Augenblicks. Cagliari aus Finsternis und Schwüle, das Meer, der Garten von Alghero, schwarze rollende Morgensonnen, Tagewerker am Anfang und Ende der Welt, Hügelrücken und Karsthänge schaffen ein schweres und reifes, von der ständig und nie alternden Sonne Italiens überflutetes Reise- und Tagebuch. Nach den Blättern aus Ponza vom Vorjahr ein neues, noch reiferes Werk – ein Stück Weisheit.
Im selben Hause in der Siegmund-Haffner-Gasse: Alfred Wickenburg und Wilhelm Thöny, Gründer der Grazer Sezession, ein Komponist der kräftigen Farben mit stark konstruktivem Zug. Mehr als fünfzig Gemälde aus der langen Schaffensperiode legen das Zeugnis des Künstlers ab. Die Anordnung der Bilder ermöglicht es, Wickenburgs vier Jahrzehnte der Malerei, das sind vier in sich geschlossene Landstriche seiner eigenen Position, zu durchschreiten. Die Wandlung vollzog sich klar in der Form. Es sind, so scheint es, vier Gemälde, um die sich die Ausstellung gruppiert: »Porträt einer Tänzerin«, »Die überraschte Schläferin« mit den saugenden Farben Chagalls, »Artisten« und das »Märchen«. Das sind die Stützen einer Künstlerschaft, die Wickenburg eigen ist und die heute souverän auf irgendeinem Gipfel der österreichischen Malerei (neben Boeckl, Thöny und Kolig) stünde, hätte sie die Abstraktion, die »Vergeistigung« als ihre einzige Sicherung erkannt und aufgenommen.
An der Salzach, im Künstlerhaus, schloß eine dritte Ausstellung gerade die Pforten. Rudolf Hradil, jung und vielgereist, zeigte Gemälde und Zeichnungen. Das, was so selten geworden ist, ist ihm zu eigen: Persönlichkeit! Kunst ist keine Formation. Hradil, bei Fernand Léger im Handwerk geschult, hat es geschafft. Was heute zu sehen ist, hat auch Charakter. Seine Gemälde sind Dokumente der Zeit und daher gültig. Nicht nur von heute auf morgen. Dunkle Visionen, strenge Gesänge eines Gläubigen, Philosophie der Farben. Auch ihm gibt der Süden einen Impuls, »Venedig« und »Rom« sind die Themen, Kraftwerke und die Ecken der Besoffenen. Die Zeichnungen sind nicht minder prägnante »Ergebnisse«. Endlich einer, der nicht nach den ersten fünf Bildern »keimfrei« und gealtert ist.
Bleibt am Ende unseres Rundganges nur noch ein Abstecher in die Residenz, wo der »Kunstverein« Applikationen Veronika Malatas zeigt. Das ist wirklich erfreulich, spazieren zu gehen zwischen den Bildern und Stoffresten, Tüll und Seide, Samt und Bauernleinen. Die Urgroßmütter haben das auch schon für ihre Totenkleider verwendet. Aber wie neu und erfrischend ist oft das Alte! Und dann noch die Phantasie, die so schöne moderne Gebilde wie den »Jonas« und seine Geschichte hat entstehen lassen. Nicht hohe Kunst ist, was Veronika Malata da an die Wände gezaubert hat. Sie stickte und nähte fünfzehn Jahre lang und weiß heute gar nicht, daß es Seligkeit ist, die herauskam. Seligkeit aus bunten Stoffen und einem heiteren Gemüt.
Salzburg, im Juli
Oskar Kokoschka zeigt im weißen Saal der Residenz seine neuesten Werke. Es gibt darin keine neue Entdeckung. Im Mittelpunkt steht das Bildnis Pablo Casals', des großen pyrenäischen Künstlers. Hier ist die Farbe zur Philosophie und die Philosophie zur Frage des Menschen geworden. Casals ist ein Kämpfer dieser unserer Erde, seine Waffe ist das Cello, seine Macht ist die Musik. In ihr ist keine Rückkehr, nur noch Existenz. Casals: das bedeutet, unbeirrbar bleiben und unabänderlich. Das heißt: die Schöpfung lieben in der Bitternis. Das alles sagt dieses kräftige Bild. Daneben hängt das monumentale Triptychon »Thermopylae«, geschaffen für die Hamburger Universität, darstellend den Kampf der Griechen gegen die Perser im Engpaß der Thermopylen. Kokoschka ist weniger ein Meister der großen Fläche als sein Landsmann Boeckl. Daher erscheint der Zyklus auch nicht ganz bewältigt. Wilde Farben des menschlichen Chaos: die fiktive Vernichtung aller Kultur. Wenn es auch seine Weltanschauung darstellt, so hat Kokoschka in dieser Darstellung doch nicht die Weisheit der letzten Zeichnungen etwa Picassos erreicht. Er hat sie vom Papier auf die Leinwand zu übertragen versucht. Es sind die Schauer der modernen Hölle, die die drei überdimensionalen Gemälde durchflackern, grün, rot und gelb. Am packendsten ist das mittlere Teilstück mit dem Seher Megistias, der den Untergang der Griechen vorausgesagt hat. Dieses Triptychon besteht aus drei großen Versuchen. Vielleicht steht die Vollendung noch auf dem Programm des bedeutenden Künstlers? – Das ist der erste Eindruck – die vollkommenen »Ansichten« von London und Linz mit hineingenommen – einer ohne Zweifel hoch interessanten Ausstellung, die auf die mehr oder weniger bedeutungslosen Skizzen zum Bühnenbild der heurigen »Zauberflöte« in der Felsenreitschule völlig und bereitwilligst hätte verzichten können.
Im Bastionsgarten stehen die Plastiken von Giacomo Manzù, der vom Vorjahr bekannte und vielgerühmte »Kardinal« und die »Tänzerin«. Im Pavillon neue Skulpturen. Alle tragen Würde. Gotische Strenge hebt die Bildnisse fort aus der »Wirklichkeit«. Das Reifste: die Bronzereliefs der Kreuzigung und Grablegung Christi. Alles ganz ohne Pathos, schlicht und groß. In der zurückgelassenen Traurigkeit liegt die Schönheit der »Frauenbüste«. Sicher ist eines: der Schustersohn aus Bergamo ist neben Marino Marini und Giacometti der größte lebende Bildhauer Italiens.
Wir warten. Wir warten noch immer darauf, daß das Salzburger Landestheater endlich einmal ein Theaterstück herausbringt, das in den Kulturspalten diskutabel ist. Seit zwei Jahren warten wir auf das entsprechende Stück und auf die entsprechende Inszenierung, und das Unbehagen wird mit jedem Theatersemester größer. Bald wird auch der letzte Hoffnungsschimmer geschwunden sein und die Bretter rechts der Salzach, die Bretter dieses einzigartigen österreichischen Kammertheaters, werden nur noch ein Rummelplatz des Dilettantismus sein.
Eine Operette jagt die andere, eine Geschmacklosigkeit übertrifft die andere. Ja, bei allem Verständnis, was ist denn Theater? Besteht es denn nur noch aus billigem, ausgeleiertem Amüsement? Wenn ja, dann soll man es morgen schon zusperren! Aber, so fragt man sich deutlich, kann es sich eine Stadt wie Salzburg, die jeden Sommer zu einem europäischen Musik- und Theaterzentrum ersten Ranges wird, leisten, ein landessubventioniertes Haus zu besitzen, das die restlichen zehn Monate auf das Niveau einer Bauernbühne herabsinkt? Hält man denn die Einwohner dieser, wenn auch nicht immer kulturfreundlichen, so doch durchaus nicht kulturfeindlichen Stadt, wirklich für so dumm, daß man sich ihnen Jahr und Tag nichts als sauer gewordene Schlagobersmärchen vorzusetzen getraut? Anscheinend ist man sich in der Schwarzstraße vor allem darüber nicht im klaren, daß es auch heute lebendiges Theater gibt, daß seit Hebbel und Ludwig Thoma wiederum eine Anzahl bemerkenswerter Stücke für die Bühne – und auch für diese Bühne, und sogar von österreichischen Autoren! – geschrieben worden sind. Wir erkennen die Nöte der Autoren, wir verstehen die Rücksichtnahme auf jedes Landabonnement; nicht verstehen können wir, weshalb seit Bernanos' großartiger »Begnadeter Angst« (vor drei Jahren), den zwar mißglückten, aber immerhin mutigen Versuchen mit Felix Braun und Georg Rendl kein Stück mehr auf diese Bühne gebracht werden konnte, das, wenn schon nicht restlos, so doch einigermaßen befriedigen konnte. Ganz zu schweigen von den Klassikern, mit denen man den hiesigen Mittelschülern zum Preise von drei Schilling wirklich gründlich den Magen verdirbt. Dieses Haus krankt an chronischer Phantasielosigkeit und an einem unnachahmlichen Mißmut. Angst oder Bequemlichkeit, ist hier die Frage! (Man vergleiche nur den Spielplan mit dem der anderen Landeshauptstädte!) Es ist, als fehlte – von oben herunter – jede Art von »Bewußtsein«, ganz zu schweigen von der Begeisterung. Und, wir meinen das wohl- und nicht übelwollend, die Bühne, auch wenn sie verländlicht ist, ist nun einmal keine Versicherungsanstalt. Jeder weiß hierzulande: die guten Schauspieler, deren es einige gibt, gehen spazieren, während die schlechten – schlechter als schlecht – Operette singen; und das Theater ist an vielen Abenden leer. Nichts gegen Operetten, aber Dinge, wie sie in der jetzt pausenlos laufenden »Lockeren Odette« (einem Machwerk übelster Sorte) vorgehen, sollten denn doch nicht passieren. Als letzte Medizin sei empfohlen: ein Lexikon der Theaterliteratur, darin Namen stehen wie Williams, Faulkner, Eliot, Miller, Andres und alle die österreichischen Dichter, deren Werke jenseits der Grenzen wesentlich wurden. – Man suche Auseinandersetzung! Es ist nicht wahr, daß sich Salzburg nur aus dem Bräustübl nährt!
Man hat hier vor Jahren der Oper, für welche größtes Interesse besteht, aus unbegreiflichen Gründen das Genick gebrochen; jetzt tat man es auch mit dem Schauspiel. Vor zwei Jahren wurde ein interessantes Stück der neueren Literatur angekündigt. Wir warten noch immer darauf ...
Ungehindert davon spielt das Schauspielseminar der Akademie Mozarteum, das Rudolf E. Leisner mit viel Geschick und Verantwortung leitet, seit Jahren schon die interessantesten Avantgardisten. Die betrogenen Salzburger ziehen ins Studio Sankt Peter. Erinnern wir uns der ausgezeichneten Inszenierung von Graham Greenes »Der letzte Raum« und Christopher Frys »Ein Phönix zuviel« sowie der gelungenen Aufführung des Fodor-Stückes »Gericht bei Nacht« aus dem letzten Jahr. Mit Thornton Wilders »Die kleine Stadt« eröffnete das Studio seine heurige Spielzeit.
Was ihr jungen Schriftsteller braucht, ist nichts als das Leben selbst, nichts als die Schönheit und Verkommenheit der Erde; das ist der Acker meines Vaters und die unerhörte Ausdauer meiner Mutter, das ist der Kampf eurer Seele, in den euch der eigene Hunger und die eigne Verkommenheit hinein treiben muß, das ist der Durst nach Ruhm, der einen Verlaine und Baudelaire auf den »elysischen Feldern« quälte. Was ihr haben müßt, das sind nicht Krankenversicherungen und Stipendien, Preise und Förderungsprämien; es ist die Heimatlosigkeit eurer Seele und die Heimatlosigkeit eueres Fleisches, die tägliche Trostlosigkeit, die tägliche Verlassenheit, der tägliche Frost, die tägliche Umkehr, ein nur tägliches Brot, das einst so herrliche und erbärmliche Kreaturen wie Wolfe, Dylan Thomas und Whitman hervorgebracht hat, Städte, Landschaften, Errungenschaften also gegen den Staub, die Botschaft eines gequälten, unverbesserlichen Daseins, das sich von Stunde zu Stunde auffrißt für die Erschaffung neuer, gewaltiger Poesien. Was ihr braucht, ist überall, wo einer aufsteht und abstirbt, wo der Regen den Stein wäscht und wo die Sonne zur Qual wird.
Wo aber seid ihr, die sich so gern als die Dichter unseres Volkes verhätscheln lassen, die als die künftigen Gesammelten Werke über den platzenden Asphalt gehen? Wo seid ihr? Was treibt ihr mit der Zeit, die nur einmal für euch, nur einmal für uns alle da ist, und die auf der Zunge zergeht, ehe ihr sie geschmeckt habt?
Ich sehe euch nicht dort, wo das heftige streitbare Leben ist, sondern als saubere Kartothek-Aufseher verbitterter Offizials, als Handlanger gut honorierter Räte der Naturschutzbehörde oder eines ländlichen oder städtischen Kulturreferats. Ihr hockt im Kaffeehaus, ohne Träne und ohne Humor, euch selbst und die Umwelt hassend, weit weg vom Leben, von den Wäldern, von den Bergen, von der Nachbarschaft, weit weg von aller Poesie ... Ihr habt euren Charakter verkauft und eine unbändige Furcht vor der Not, Furcht vor euren Gedanken, Furcht vor eurer Bösartigkeit, Furcht vor Acker und Tenne, Krampen und Schaufel, Furcht vor der Wahrheit, vor der eigenen Minderwertigkeit und vor der eigenen Größe. Ihr kapituliert vor der Kleinheit, vor dem Doktortitel und vor der Partei, heute auf dem städtischen Magistrat, morgen in der Kulturredaktion eurer Landeszeitung; eure Bücklinge sind unbeschreiblich; vor jedem Haderlumpen, der »Einfluß« hat, macht ihr den Kratzfuß. Und so habt ihr sie geschaffen, die große Zeit der Lyrikkonzerne und Prosatruste, die auch die Zeit der Versicherungen und Pragmatisationen ist. Was aber kann man von pragmatisierten Dichtern erwarten? Von euch pragmatisierten Lyrikern, die mit den Blättern P. und L. in eine Aktiengesellschaft eingegangen sind und die ein Abkommen mit der Industrie in der Tasche haben, das ihnen alle Preise zwischen den Akademien garantiert?
Die Bücher, die ihr schreibt, sind langweilig, sie sind aus Papier, eure Sprache ist erlogen (ihr seid nicht mehr fähig, zu reden, wie es eurer Herkunft entspricht), sie brüskiert die Sprache Hölderlins, Whitmans, Brechts; eure Bücher sind aus Allerheiligenkranzpapier, und eure Verse schmecken nach dem Schreibtischholz. Es ist, als hättet ihr gar nichts erlebt, als lebtet ihr nur aus den Büchern der alten Vetter, als stopftet ihr euch zum Frühstück Mittagessen und Nachtmahl mit den schwindsüchtigen Rilkes und seiner bleichen Verwandtschaft den Magen voll, als wären eure Großväter nicht Bierbrauer, Selcher, Getreidehändler, Krieger, Marktfahrer, Zigeuner – und wahre Dichter gewesen.
Eure Prosa hat weder Frühling noch Sommer, nicht Herbst und nicht Winter, sie ist weder schwarz noch rot; sie rinnt wie eine ungesalzene Haferschleimsuppe in den Magen. Aber weil ihr nicht lebt wie die Bierbrauer, Selcher, Marktfahrer und Zigeuner, weil ihr Angst habt vor dem Krückstock der Zeit und vor der eigenen Verzweiflung, darum habt ihr nichts mehr zu sagen.
Die Zeit, in der ihr den eigenen Hunger rühmtet, die Zeit, in der die jungen Schriftsteller gegen die Präsidenten aufstanden, die Zeit, in welcher ihr Revolution machtet, ist vorbei! Die Zeit ist vorbei, da Hamsun durch New York streunte, in welcher Sillanpää seinen Nobelpreis nicht abholen konnte, weil er, der lebte, zwar sieben Kinder, jedoch keinen Reisegroschen im Mantelsack hatte. Und vorbei ist die Zeit, da ihr eure Verse zur Laute heruntergesungen habt. Aus dem Volk der Dichter und Denker ist ein Volk der Versicherten, ein Volk der Beamten und Parteiangehörigen geworden, eine Gegend der Schwächlinge, eine Landschaft leidenschaftsloser Aktenträger. Aus dem Volk der Schwärmer wurde ein Volk der Agenten!
Gewiß, es geht keiner mehr zugrunde an den Ecken der Erde! Keiner verkommt mehr zum Ruhme der Dichtung. Aber es kennt auch keiner mehr das Gras und die Flüsse! Und wenn ihr weiterhin seelenruhig eure Versicherungsprämien einzahlt, bis zum sechzigsten Jahr, und den Kratzfuß macht vor den Hanswursten des Hausfrauen- und des lyrischen und philosophischen Blattes, wird aus euch kein Lorca und kein Gottfried Benn und kein Charles Péguy und niemals ein Whitman werden. Die Schilling-Zuschüsse, auf die ihr wartet, werden euch vernichten.
Der österreichische Dichter Georg Trakl wäre in diesem Monat 70 Jahre alt geworden. Der »Akademiker« wandte sich an eine Reihe junger österreichischer Lyriker mit der Frage: was bedeutet für mich Georg Trakl? Hier die Antworten:
Für die Weltliteratur wird Trakl niemals die Bedeutung der Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé haben; man kann ihn auch nicht einem Mann wie Lorca (1889 bis 1936) an die Seite stellen; für Österreich jedoch hat er bis heute als einziger Lyriker von Rang etwas zur modernen Poesie beigetragen, wahrscheinlich, weil er, wie wenige, verachten konnte und verachtet wurde – am penetrantesten von den Bürgern und Eselstreibern seiner Vaterstadt Salzburg, die sich auch heute noch nicht geändert haben.
Der Einfluß Trakls auf meine eigene Arbeit war vernichtend. Hätte ich Trakl niemals kennengelernt, wäre ich heute weiter.
Thomas Bernhard wurde am 10. Februar 1931 in Heerlen in Holland geboren. Er ist Salzburger. Immer wieder sucht er die Landschaft seiner Vorfahren, den Flachgau, auf. Die Zeit, die er in Wien verbrachte, betrachtet er als verloren, insofern er gezwungen war, in dieser bewunderungswürdigen Architektur mit ihren Bewohnern zusammenzutreffen. Die Wiener sieht er nicht liebenswürdig, sondern von der Unfähigkeit, sich selbst zu kritisieren, berauscht. Diese Beobachtung trifft auch die jungen und zäh älter werdenden Literaten dieser Stadt, die, Epigonen von Natur aus, in den Kaffeehäusern bei lebendigem Leib vermodern. Keiner Hymne und keines Intellekts fähig, beweihräuchern sie sich gegenseitig an den Extratischen und in den Spalten der schmutzigsten, witzlosesten und unbedeutendsten Zeitungsblätter der Welt. Die einzige deutschsprachige Dichterin von Rang, die er kennt, ist Christine Lavant. Einen lebenden deutschen Dichter der Weltliteratur hat er bis jetzt nicht gefunden. Er ist wütend über das Fehlen auch nur einer einzigen Kritikerpersönlichkeit in Österreich. Er findet Doderer langweilig, alle anderen eingebildet und ebenso wenig wert. Er hat sich damit abgefunden, in einem Land zu leben, das das schönste ist, das er kennt, und unter Kunst- und Literaturbetreibenden, die sechzig bis hundert Jahre zurück sind. Er schreibt, um nicht vor Langeweile und Mißmut zu sterben. Er liest immer wieder dieselben Autoren, Péguy, Hamsun, Wolfe, Dostojewskij und Saint-John Perse, von denen er – auch von Góngora und Yeats – viel gelernt hat.
Seine Arbeit aber verrichtet er mit Energie, mit Zähigkeit und mit Gleichgültigkeit gegenüber seinen Feinden. Er hat bis jetzt vier Bücher veröffentlicht, die ihm ein guter Ausgangspunkt für seine Pläne erscheinen. Im Frühjahr 1960 gibt er Notizen I bei S. Fischer heraus, die er heftweise fortzusetzen gedenkt. Das Mysterium der Karwoche, ein Gedicht, erscheint zum gleichen Zeitpunkt im Otto-Müller-Verlag. Im Herbst 1960 veröffentlicht er Achtundzwanzig Gedichte.
Zu Ihrem merkwürdigen Bericht ist zu sagen, daß ich erstens niemals »tachistische Gedichte« (was ist das?) geschrieben, noch solche in einem Frick-Verlag (den ich nicht kenne) veröffentlicht habe. Meine Bücher habe ich im S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, bei Kiepenheuer & Witsch in Köln und im Otto-Müller-Verlag, Salzburg, »verlegt«. Seit Jahren bin ich durch Vertrag an den S.-Fischer-Verlag, der Ihnen bekannt sein dürfte, gebunden und folglich gar nicht in der Lage, in einem anderen Verlag eine Arbeit herauszubringen. Zweitens habe ich niemals behauptet, daß »das, was sie machen« (damit bin offensichtlich ich in Gemeinschaft mit dem Komponisten Lampersberg gemeint) »nicht bloß modern, sondern schlechthin Gegenwartskunst sei«, sondern ich habe mich zu der »Darbietung« auf dem Tonhof in weiser Nachsicht überhaupt nicht geäußert, geschweige denn eine Pubertätsbehauptung, wie die mir von Ihrem Rezensenten »in den Munde geworfene«, aufgestellt. Auf ausdrückliches Ersuchen der Veranstalter, im Einvernehmen mit dem Verlag und in Unkenntnis der Sachlage habe ich die drei gespielten Kurzszenen für eine, wie ich angenommen habe, hausinterne Veranstaltung auf dem Tonhof völlig honorar- und kostenlos zur Verfügung gestellt; daß die Darbietung auf der »Bühne« mit dem Text nur mehr sehr wenig zu tun gehabt hat, ist nicht Schuld des erst zur Premiere erschienenen verblüfften Autors. Drittens und zum Abschluß, ist mir aufgefallen, daß Sie in Zeile 3 Ihrer »Fortsetzung« des Berichtes nur mehr noch meinen Vornamen »Thomas« gebrauchen, was eine völlig neue Note in die österreichischen Gazetten hineinbringt. Zu liebenswürdig.
St. Veit im Pongau
Thomas Bernhard
= WARUM NUR ZWEI OHRFEIGEN? HERZLICHEN GLUECKWUNSCH DANKE THOMAS BERNHARD +