Moskau, Anfang der neunziger Jahre. Im Wohnheim des Gorki-Instituts hocken die poetischen Hoffnungen aus der sowjetischen Provinz aufeinander. Das Imperium zerfällt, die Stimmung ist gereizt, der Wodka knapp. Otto von F., Student aus der Westukraine, will im Kaufhaus »Kinderwelt« Geschenke besorgen, findet nicht mehr heraus und gerät in die Gewalt von Geheimdienstbeamten, die in den Katakomben unter dem Kreml ein Rattenheer züchten.

Moscoviada, Andruchowytschs erfolgreichster, in viele Sprachen übersetzter Roman ist von ungebrochener Aktualität. Das neoautoritäre Rußland, der eiferende Nationalismus, die Verklärung der kommunistischen Epoche, der chauvinistische Kitsch, der ideologische Druck − all diese Gespenster werden in einem karnevalesken Spektakel unter panischem Gelächter zum Teufel gejagt.

Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, debütierte als Lyriker, publizierte Essays und schrieb Romane. 2006 wurde er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Sein Werk erscheint im Suhrkamp Verlag. Zuletzt: Engel und Dämonen der Peripherie (2007), Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt (2008) und Perversion (2011).

Juri Andruchowytsch

MOSCOVIADA

Roman

Aus dem Ukrainischen

von Sabine Stöhr

Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel Moskoviada in der Zeitschrift Sučasnistin Kiew.

Der Übersetzung liegt die 2000 bei Lileja in Iwano-Frankiwsk erschienene Ausgabe zugrunde.

© Juri Andruchowytsch 1993

Übersetzerin und Verlag danken Juri Durkot für seine Mitarbeit.

Umschlagfoto: © Andrei Liankevich/Anzenberger

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Lowlypaper. Marion Blomeyer

eISBN 978-3-518-75120-6

www.suhrkamp.de

auf daß sie auch diesmal

bei uns keine beute machen

Hryhori Tschubaj

Du bewohnst ein Zimmer im siebten Stock, die Wände vollgehängt mit Kosaken und Staatsmännern der Westukrainischen Volksrepublik; vor dem Fenster die Dächer Moskaus und freudlose Pappelalleen; den Fernsehturm von Ostankino sieht man nur von den Zimmern auf der anderen Seite – aber du spürst seine Nähe; er strahlt etwas Einschläferndes aus, Viren der Kraftlosigkeit und Apathie, deswegen wachst du morgens einfach nicht auf, wanderst von Traum zu Traum, von Land zu Land. Du schläfst hingebungsvoll, meistens bis elf, also bis der Usbeke hinter der Wand seine betörende orientalische Musik, »bloß zwei Saiten an ’nem Stecken«, voll aufdreht. Leise verwünschst du unsere Geschichte, die Völkerfreundschaft und den Unionsvertrag von 1922, denn eins steht fest: Weiterschlafen ist nicht. Um so weniger, als der Jude hinter der anderen Wand schon von seiner morgendlichen Pirsch durch die Läden zurückgekehrt ist, wo er diesmal, sagen wir, Seidenstrümpfe für seine unzählige alttestamentarische Verwandtschaft aus Birobidschan erstanden hat, für all ihre Glieder. Im Bewußtsein treuer Pflichterfüllung wird er sich jetzt hinsetzen, um neue Gedichte in mittelalterlichem Jiddisch zu verfassen, und er verfaßt sie auch wirklich – ganze sieben vor dem Mittagessen und nachmittags noch mal drei. Alle werden in der Zeitschrift »Sowjetisch heijmland« abgedruckt, lebendiger Beweis für die unablässige Sorge des Staates um die Kultur der kleinen Völkerschaften.

Für dich aber, Hurensohn, ist der Jude hinter der Wand lebendige Mahnung, daß auch du etwas tun solltest – Seidenstrümpfe kaufen, Gedichte schreiben. Statt dessen liegst du im Bett und studierst mal wieder das Porträt des Diktators Petruschewytsch, die orientalische Musik hinter der Wand wird immer eindringlicher und einförmiger, sie fließt dahin wie das Wasser im Aryk − Kamel- und Elefantenkarawanen, Baumwollplantagen, Hanfmafia-Blues.

Und du, der ukrainische Dichter Otto von F., spürst, wie der Zweifel an dir nagt, wie er immer größere Löcher in dich hineinfrißt, bis dich, wenn du eines Tages ganz durchsichtig und löchrig auf den Flur trittst, nicht einmal mehr die Kalmücken grüßen.

Aber du kommst nicht dagegen an – all deine Gedichte sind in den lichten Sphären der Ukraine zurückgeblieben. Die Moskauer Atmosphäre war zu dicht, zu undurchdringlich für ihren Nachtigallenschlag.

Schon seit einer ganzen Weile laufen Gestalten auf dem Flur hin und her, eigentlich sind es Schriftsteller, und zwar aus »jedem Zipfel« der Sowjetunion, sie gleichen jedoch weniger Autoren als literarischen Gestalten, noch dazu aus der graphomanischen Literatur, gebacken nach den langweiligen Rezepten der großen realistischen Tradition.

Du kannst ihre Schriftstellerstimmen unterscheiden: jedem von ihnen ist eine − wie die an ihren früheren Wirkungsstätten erstellten Referenzen bezeugen − »eigene, einzigartige und unverwechselbare Stimme gegeben«, diese unverwechselbaren Flurstimmen sprechen miteinander, überkreuzen sich, durchschneiden sich, dringen ineinander ein, sie verkünden, daß das Teewasser kocht, singen »soeinmannsoeinmann«, zitieren Wyssozki (Schwanezki), laden jemanden zum Frühstück ein, teilen mit, daß die Schlampe aus dem Abendkurs (dritter Stock, Zimmer 303) heute in Zimmer 727 übernachtet hat usw.

Eine unauflösliche dialektische Einheit mit den Stimmen bilden die Gerüche – ein Bouquet aus Müllschlucker, Alkoholfahne und Sperma. Pfannen zischen, Eimer und Schlüssel klappern, Türen knallen, denn es ist Samstag, vorlesungsfrei, und keine Sau soll versuchen, mich zu etwas zu zwingen, was ich nicht will. Die können mich alle mal.

Langsam kommst du in der Wirklichkeit an, dir fällt ein, daß es vielleicht kein heißes Wasser gibt, daß die Schlampe aus 303 nicht, wie im Flur fälschlicherweise behauptet, in Zimmer 727, sondern in Zimmer 729 übernachtet hat, daß einer der Tschetschenen (wahrscheinlich aber alle Tschetschenen zusammen) dem Sportorg Jascha im Lift die Fresse poliert hat, daß der russische Dichter Jeschewikin, der am anderen Ende des Flurs wohnt, gestern schon zum fünftenmal im Fernsehen aufgetreten ist, dabei neunmal das Wort »GEISTIGKEIT« gebraucht und sich achtmal mit dem Handrücken den Schweiß von der verkaterten Stirn gewischt hat, daß du mal wieder daheim anrufen könntest, daß am Dienstag die Sitzungsperiode der Werchowna Rada beginnt, daß die ukrainische Übersetzung der »Sonette an Orpheus« die beste ist, die du kennst, daß sich das zweite Jahr deiner Moskauer Biographie dem Ende nähert und du noch immer nicht die Bierbar in der Fonwisin-Straße besucht hast, und während du all diese Dinge denkst, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, und viele andere, bei denen dies noch weniger der Fall ist, schaffst du es, aufzustehen, in Unterhosen gehst du durchs Zimmer, betrachtest die öde Landschaft vor dem Fenster (Pappeln und schwere, dunkle Regenwolken), zwingst dich zu ein paar Kraftübungen – eins, zwei – bis die Muskeln weh tun, als müßtest du damit deine Anwesenheit in Moskau, mehr noch: deine Existenz auf dieser Welt schlechthin rechtfertigen. Eine ziemlich armselige Existenz übrigens, die ER DA DROBEN einfach ignorieren könnte, wären da nicht ein paar geglückte Zeilen in einigen insgesamt mißglückten Gedichten, was natürlich in keiner Weise ausreicht für die große nationale Sache.

Hier also ein paar der erwähnten Gestalten. Ihre Stimmen haben dich heute früh so genervt, daß du jetzt mit ihnen abrechnen solltest, von F. Kannst ruhig ein bißchen Gift verspritzen, Alter.

Bitte sehr. Zwei Frauen, zwei Blüten aus den Tiefen der großrussischen Provinz. Zwei Poetessen oder Poetinnen, nein, Entschuldigung, zwei Poeten, denn in ihren Kreisen ist es jetzt üblich, Zwetajewa-Achmatowa (Gorenko?) zu zitieren und zu betonen, daß das Wort »Poet« kein weibliches Geschlecht hat, weshalb ich alter Perversling mir diese ganzen Weiber mit prächtigen Penissen und Hodensäcken an den entsprechenden Stellen denke.

Aber sei’s drum. Zwei Frauen aus zwei tiefsten und von Moskau gleich weit entfernten Rußlanden. Zwei Amseln-Damseln, eine knapp über vierzig, die andere nahe dran. Eine verheiratet, die andere nicht − welche, habe ich vergessen.

So weit der Prolog. Jetzt zur Handlung. Sie haben unglaubliche Opfer gebracht. Beide haben ihr halbes Leben darauf verwendet, es bis hierher zu schaffen. Nach Moskau, für ganze zwei Jahre! Nach Moskau, wo man sie zweifellos endlich entdecken, sie fördern wird! Nach Moskau, um für immer zu bleiben! Um hier begraben (eingeäschert) zu werden! Nach Moskau, wo es Generäle, Sekretäre, Ausländer, Patrioten, Wunderheiler gibt wie Fliegen auf dem Misthaufen! Und vor allem – massenhaft Bananen!

Dieser Traum kommt mit der Geschlechtsreife. Ein mächtiger, lebenslanger Begleiter.

Um ihn zu verwirklichen, muß man in der verdammten Provinz alle Kreise der Hölle durchschreiten. Intrigieren. Telefonieren. Invitieren. Mit Impotenten pennen.

Und dann, nach Jahren voller Niederlagen und Verzweiflung, gelingt es! Wird wahr! Beide reisen fast gleichzeitig an, durchmessen unabhängig voneinander die russischen Weiten. Machen sich ohne den kleinsten Hintergedanken miteinander bekannt, wirklich sehr erfreut, denn sie fühlen sich als Schwestern im Glück. Schon in den ersten Andeutungen werden gemeinsame Neigungen offenbar: Jessenin, nicht Pasternak, Rubzow, nicht Brodsky, jugendliche, eng anliegende Kleider aus Polyester, in den Miedernähten Taschen mit Reißverschluß, am Rücken eine Falte, dazu ein Gürtel als besonderes Accessoire. Noch am selben Tag, im süßen, erregenden Vorgefühl, daß alles sich zum Besten wenden wird, besuchen beide Puschkin, bringen ihm Blumen dar, einfach so, von sich aus. Denn beide lieben Puschkin und halten ihn sogar für den größten aller russischen Dichter und für ihren Lehrer. Puschkin mustert nachdenklich die Spitzen seiner Schuhe. Zu seinen Füßen verprügeln Typen in grauen Uniformen und schwarzen Baretten irgendwelche langhaarigen Kerle, die sich »Demokratische Union« nennen. Empört, wegen Puschkin, fahren die Provinzlerinnen zurück ins Wohnheim, um ihre Zimmer zu beziehen.

Wie sich herausstellt, ist der Kommandant zwar Tschutschmeke, genauer, Daghestani, aber zum Glück noch recht jung: gut gebaut, breite Schultern, die Brust zweifellos dicht behaart, vierunddreißig Jahre alt, er zwinkert beiden zu, ohne daß die jeweils andere es merkt; schöne Zähne, braune Augen, Ramasanow Murtasa oder vielleicht auch umgekehrt – Murtasajew Ramasan.

Ramasan (Murtasa?) bietet ihnen Zimmer im siebten Stock an. Sie haben freie Auswahl. Es gibt Zimmer mit Blick auf den Schnapsladen und andere mit Blick auf das Gemüsegeschäft. Mit neuem Parkettfußboden. Mit zerbrochenem Fenster. Direkt neben der Toilette. Jedes hat seine Vorzüge.

Aber da ist eine Variante, bei der beide sofort zugreifen. Ein sogenannter »Stiefel«, zwei benachbarte Zimmer, vom Rest der Welt durch einen gemeinsamen kleinen Vorraum abgetrennt. Perfekt! Sie ziehen ein und laden sich gleich gegenseitig zum Tee ein. Reden bis tief in die Nacht über Puschkin, Jelzin, rezitieren eigene Verse, tauschen Lob aus, dann Gedichtbände, die in regionalen Verlagen auf zusammengespartem Papier erschienen sind. Und nicht der kleinste lesbische Hintergedanke.

Womit wir beim Kulminationspunkt angelangt wären.

Und die Auflösung? Langsam dämmert den beiden, daß sie eine fürchterliche Dummheit begangen haben. Der »Stiefel« wird zur Falle. Eine Falle für dumme Kühe, die sich diesen Schlamassel, Gott weiß warum, selbst eingebrockt haben. Ihr größtes Problem ist, daß Gruppensex für sie nicht in Frage kommt. Deshalb wird kein General verführt, nicht einmal der Daghestani. Sie belauern sich gegenseitig, leben, ihre Wut zähneknirschend unterdrückend, ihr Nonnenleben, und die frühere einzigartige Verbundenheit verwandelt sich immer offensichtlicher in bodenlosen, schwarzen Haß.

Von Freitag auf Samstag habe ich geträumt, ich würde mit dem König der Ukraine Olelko II. (Dolgoruki-Rurikowytsch) zu Abend speisen. Wir sitzen in einer barocken Loggia aus hellblauem Stein am prachtvoll gedeckten Tisch, von Zeit zu Zeit erscheinen würdige und gesetzte Diener, meist Inder oder Chinesen, einen vergoldeten Dreizack am Frackrevers, und wechseln unauffällig Schüsseln und Teller, Gerichte, Messer, Gabeln, Zangen zum Öffnen der Krebspanzer, Pinzetten zum Herauspulen der Schnecken, Skalpelle zum Zerlegen der Frösche, und genauso unauffällig, ohne übermäßig laut zu klappern, verschwinden sie wieder. Von der Loggia eröffnet sich ein atemberaubender Blick: Die Sonne versinkt in den Wassern des klaren Sees zu unseren Füßen, zum letzten Mal leuchten die unberührten Gipfel der Alpen, vielleicht sogar der Pyrenäen, im Glanz ihrer untergehenden Strahlen. Der König und ich trinken raffinierte Weine, Cognacs, Liköre und Schnäpse und schwatzen über dies und das.

»Eure Königliche Hoheit«, spreche ich ihn voller Ehrfurcht an, »Herr und Herrscher über die Rus’-Ukraine, Großfürst von Kiew und Tschernihiw, König von Galizien und Wolhynien, Gebieter von Pskow, Peremysl und Kosjatyn, Herzog von Dniprodserschynsk, Perwomajsk und Illitschiwsk, Großkhan der Krim und von Ismajil, Baron von Berdytschiw, der beiden Bukowinen und Bessarabien sowie Oberhaupt von Nowa Askanija und Kachowka, Archisenior des Wilden Feldes und des Schwarzen Waldes, Hetman und Beschützer der Don-, Berdjansk- und Krywyj-Rih-Kosaken, Rastloser Hirte der Huzulen und Bojken, Patron des gesamten ukrainischen Volkes inklusive Tataren, Mongolen und Kleinchocholen, Speckfressern, Moldawiern und Molwaniern, die leibhaftig sind in diesem unserem Lande, Herr und Hirte der Großen und Kleinen Sloboschanschtschyna sowie des Inneren und Äußeren Tmutorakan, Sproß eines ruhmreichen tausendjährigen Geschlechts, mit einem Wort, unser stolzer und würdiger Monarch, Euer Gnaden, möchtet Ihr nicht vielleicht auf ewig ins goldene Buch der ökumenischen Welterinnerung eingehen?«

»Des möcht ich wahrlich«, antwortet Olelko II., »sag an, gebaut auf welche Thaten?«

»Gebaut auf Thaten«, antworte ich, »dank deren ein König schon immer ewigen ehrbaren Ruhm erlangte.«

»Soll sein gebaut auf Krieg?« fragt Olelko, hebt seine tausendjährigen Brauen und legt die edle Stirn in Falten.

»Gebaut auf Krieg kann das ein jeder, mein Herr, sogar ein Präsident.«

»Darob gebaut auf Gesetze, gerechte, allweise Anordnungen, Chartas, Privilegien«, rät Olelko.

»Geschenkt, Euer Gnaden, dafür sind Spinner und Parlamentarier da«, locke ich ihn weiter.

»Denn wohl gebaut auf Eheweiber und Sklavinnen von skandalöser Zahl, auf mächtige Saufereien, Raufereien, prächtige Prügeleien, üppige und ruppige Völlereien und was mehr ist an zwielichtigen Nichtigkeiten?«

»Auch das ist nicht neu, Großer Fürst, den Sowjetbonzen könnt Ihr das Wasser ohnehin nicht reichen«, fordere ich ihn heraus.

»Dann tu mir endlich kund, gebaut auf welche Thaten?« Halb bittet Olelko II., halb befiehlt er.

Ein malayischer Diener räumt die letzten Teller ab, die Schüssel mit den nicht aufgegessenen lebenden, fiepsenden Austern, die leeren Malvasier-, Imiglikos- und Kellergeister-Flaschen. Ein äthiopischer Diener bringt Kerzen in schweren Bronzekandelabern und ein schwarzes Ebenholzkästchen, gefüllt mit den erlesensten Zigarren. Es dämmert. Von den Alpenhöhen wehen Wohlgerüche. Unterhalb der Loggia plätschert ein Brunnen, vielleicht auch ein Bächlein. Ein Mohrenpärchen führt einen alten, blinden Banduraspieler herein. Der König und ich zünden uns Zigarren an, der Banduraspieler setzt sich auf den Steinsitz neben das Relief mit dem tanzenden Satyr und stimmt sanft die Saiten. Am Himmel leuchten die ersten Sterne.

»Sag schon, liederlicher Kerl, was du beabsichtigst mir zu raten?!« erhitzt sich der König, ihn ärgert mein vielsagendes Zigarreschmauchen.

»Seid, Euer All-Einigkeit, nachsichtig und geduldig«, sage ich darauf. »Tuet nichts zuleide auch dem unwürdigsten Wurm. Besuchet sonntags den Gottesdienst, aber vergesset auch nicht eure täglichen Gebete. Lasset die Armen teilhaben an Eurem Vermögen, schenket den Witwen und Waisen ein Lächeln, erschlaget keine herrenlosen Hundchen. Denkt an das Große und Schöne, zum Beispiel an meine Poesie. Lest meine Poesie, eßt meinen Leib, trinkt mein Blut. Gebt mir ein Stipendium, gern in D-Mark, und schickt mich auf eine Reise rund um die Welt. Nach einem halben Jahr präsentiere ich Euch, Helleuchtender, eine Lobeshymne, die Euch über alle anderen Monarchen erheben wird. Ein halbes Jahr später wird das ukrainische Volk Eure Rückkehr fordern, und nach erfolgreich durchgeführtem Referendum zieht Ihr in einem weißen Cadillac in Kiew ein. Denn wahr ist’s, ich sage euch: gebt mir ein Stipendium!«

Der blinde Bandurist spielt, was das Zeug hält. Das Wasser unten, zwischen den immergrünen Myrthengewächsen, erzählt murmelnd und lockend von der weiten Welt. Die Sterne am Himmel werden größer, kommen näher, schon kann man die Städte auf ihrer Oberfläche erkennen, märchenhafte, von Alexander Grin erfundene Mancenillier-Wälder, wunderbare Paläste, Säulen, Türme. Ihr Licht leuchtet so verführerisch, daß man sich kopfüber aus der Loggia stürzen möchte, um, wie der Dichter sagt, wenigstens ein kleines bißchen zu sterben.

»Denn nichts auf dieser Welt ist so eitel, sinnlos und lächerlich wie gute Poesie, gleichzeitig aber ist nichts auf der Welt so notwendig, bedeutsam und unabdingbar wie sie, Euer Allukrainischheit. Studieret die Geschichte der großen Völker, und Ihr werdet Euch davon überzeugen, daß es sich um die Geschichte ihrer Poesie handelt. Studieret auch die Geschichte der kleinen Völker. Die schon morgen verschwunden sein werden. Studieret und saget mir: braucht der König den Dichter oder der Dichter den König? Was ist ein König ohne Dichter? Die Könige existieren von Gottes Gnaden doch nur, um die gottbegnadeten Dichter zu erhalten!«

In der Dämmerung rascheln die Platanen, die Kerzen flackern, Klosterglocken läuten, Mädchen ziehen singend vorüber. Unbekannte Abendvögel, vielleicht auch Fledermäuse, umflattern die Loggia. Von den fernen Gipfeln strömen süße erregende Düfte.

Der König trinkt eisgekühlten Champagner aus einem langstieligen Freimaurerkelch und spricht – langsam, weise, nachdrücklich:

»Weißt du, was Schwanz auf spanisch heißt?«

»Was denn, Euer Gnaden?« frage ich aufs äußerste gespannt.

»Pinga!« ruft der König und klatscht in die Hände.

Zwei schlaksige Senegalesen packen mich an Schultern und Armen und schleudern mich über die Brüstung in die Tiefe. Während ich fliege, fällt mir plötzlich ein, daß sein eigentlicher Nachname »von Anjou« lautet. Das immergrüne Gebüsch zerkratzt mir das Gesicht, und ich höre, wie der grauhaarige blinde Banduraspieler schmerzvoll aufstöhnt und zu weinen beginnt.

Während du am Boden deine Kraftübungen herunterreißt, dich windest und ausspuckst, denkst du voll unbezähmbaren Selbsthasses über diesen Traum nach. Pure Prostitution! Dreist, zynisch, unverzeihlich: »Gebt mir ein Stipendium, Euer Souveränität, gebt mir ein Sti…« Welch niederträchtiges und armseliges Lakaientum, welch seelische Korruptheit!

Schließlich ist das mit den Muskeln erledigt. Zeit, den notwendigen Duschkram zusammenzusuchen und mit dem Lift triumphal in die Unterwelt des Wohnheims abzufahren, wo die blaue Putzbrigade (Sascha, Serjoscha, Arutjun) ihr Kabuff hat, weniger um zu arbeiten, als um sich zu »erholen«. Aber das tut hier nun wirklich nichts zur Sache.

Im Flur winkst du von weitem einem Unbekannten zu (vielmehr Bekannten, aber nicht Identifizierten, denn er befindet sich am anderen Ende des Flurs, mindestens zweihundert Meter entfernt), der Unbekannte antwortet mit dem gleichen Winken, auch er hat dich wohl kaum erkannt, und deine Stimmung hebt sich. Auch auf den Lift mußt du fast gar nicht warten, nicht mehr als fünf Minuten. Beim Hinunterfahren studierst du, was da vor langer Zeit oder erst kürzlich an Wände und Decke geschrieben, gemalt, gekratzt worden ist – dazu das Blut des Sportorg Jascha, dem die Tschetschenen hier gestern die Fresse poliert haben, weil er »echt großen Arsch« hat oder so ähnlich.

Der Lift gibt der Wohnheimbevölkerung immer wieder Gelegenheit, ein originelles Ding zu drehen. Daß die Tschetschenen hier ihre Feinde fertigmachen, ist kein Geheimnis, auch nicht für die Bullen vom Revier. Daß drei Rückfalltäter – einer davon Student der Poesie, ein zweiter der Theologie – im Lift eine begabte, angehende Dramatikerin aus Nowokusnezk hergenommen haben, wissen auch alle, außer den Bullen vom Revier. Aber was sich der jakutische Schriftsteller Wasja Motschalkin geleistet hat, ist ein wohlgehütetes Geheimnis. Vollgesoffen bestieg Wasja Motschalkin, der Gründer der jakutischen Sowjetliteratur, Student im 8. Semester und Rentier-Ehrenhirt, im Erdgeschoß den Lift. Nachdem er den Knopf der gewünschten Etage gedrückt hatte (die Etage war Wasja Motschalkin, um ehrlich zu sein, schnurz, denn er war überall willkommen und wurde wie ein Bruder geliebt), hob es ihn, bildlich gesprochen, in die Lüfte. Unter der Einwirkung unvermeidlicher kinetischer Veränderungen konnte er sich allerdings nicht nur nicht auf den Beinen halten, sondern schlug lang hin, oder − wie es der Dichter Jeschewikin ausdrücken würde − kackte ab.

Das geschah um neun Uhr abends, und um neun Uhr morgens befand sich Wasja immer noch im selben Lift, denn nach dem Abkacken um neun Uhr abends war er in einen friedlichen Schlummer gefallen und fuhr die ganze lange Nacht auf und ab. Zwar hatte um halb eins der um keinen Deut nüchternere weißrussische Novellist Jermolajtschyk den Versuch unternommen, seinen Freund aus dem Lift zu ziehen und irgendwo normal und menschlich abzulegen, aber der Versuch endete damit, daß Wasja Jermolajtschyk den Kragen vollkotzte, so daß der seine guten Absichten in den Wind schrieb und sich zu Alka mit der amputierten rechten Brust trollte, um bei ihr die Nacht zu verbringen. Erst am nächsten Morgen, gegen halb zehn, gelang es, Wasja Motschalkin wachzurütteln. Das geschah im Erdgeschoß, wo er am Vorabend seine märchenhafte Reise in der Vertikalen begonnen hatte. Er erwachte aus einem schweren Rentierhirtentraum, kroch aus dem Lift und zog los, um auch den neuen Tag in der Fonwisin-Bierbar zu beginnen.

Auch du, Otto von F., bist jetzt im Erdgeschoß angekommen. Schnell links die Treppe hinunter, vielleicht haben die versifften Duschräume, in denen der Putz von den Wänden bröckelt, ja wirklich noch ein bißchen heißes Wasser für dich übrig.

In der Umkleide ist es dunkel wie immer, und während du nach dem unter Spinnweben verborgenen Schalter tastest, siehst bzw. spürst du, wie sich in einer Ecke dieser »Vordusche« ein Haufen alter Lumpen bewegt. Immer nervöser und energischer, als ob ein paar Dutzend Metroratten, über die neuerdings so viel in der Presse berichtet wird, hier Zuflucht gesucht hätten. Doch die struppige bärtige Fratze, die mit dem Erstrahlen des elektrischen Lichts aus den Lumpen auftaucht, zerstreut deine biologischen Ängste und Zweifel: Iwan Nowakowski, genannt Nowokain, oder auch Wanja Kain, verfolgter und abgefallener (also in Abfall verwandelter) Literat, Verleger, Kulturologe und Penner, übernachtet seit ungefähr fünfzehn Jahren illegal im Wohnheim, zu welchem Zwecke er in Marjina Roschtscha eine kirchliche Ehe mit der im Wohnheim eingeschriebenen, an Epilepsie leidenden Wassilissa einging (achtes Semester, Fakultät der Narren in Christo), aber sehr vieles deutet auf eine Scheinehe hin, denn Nowokain bereitet sich sein Nachtlager meist in den Duschen oder im Trockenraum. Es heißt, Wassilissa habe ihm mit der Tischlampe eins übergezogen. Andere sagen, es sei keine Tisch-, sondern eine Lötlampe gewesen, und die habe sie ihm in den Arsch gerammt. Jedenfalls bewegt er sich in postapoplektischem Gang wie belämmert über die Straße. Dabei brabbelt er vor sich hin, zitiert strophenweise seine eigenen Gedichte und gebiert immer neue verlegerische Projekte.

»He, willste vielleicht Gedichte kaufen?« Er schiebt seine alte Onanisten-Hand unter dem Lumpenhaufen hervor, sie hält ein Exemplar grauer Fotokopien umklammert. »Exzellente Gedichte, Nikolaj Palkin, ein Rubel, 90 Kopeken für den Autor …«

Du betrachtest den speckigen dünnen Umschlag: Reihe »Die Russische Idee«. Gegründet 1991. Nikolaj PALKIN. Es löst den Zopf die Birke. Neue Gedichte. Verlag »Drittes Rom«. Der Umschlag zeigt eine Birke, einen durchgestrichenen Davidstern und einen kraftstrotzenden doppelköpfigen Adler, der aussieht, als würde er gleich abheben und durch sein monströs-unnatürliches Aussehen die gesamte Himmelsfauna aufscheuchen, einschließlich der Engel. Während Wanja unablässig redet, d. h. zitiert und Witze reißt, überfliegst du die erste Strophe:

Im Blute liegt das Land der Russen,

Warum nur gottloses Gelichter

Wird Rußlands Adler angeschossen,

Von Juden, Luden, Arschgesichtern

Und weiter, noch cooler:

Warum nur Baltikum, laß wissen

Du hassest uns so ohne Not?

Solln Letten, Esten sich verpissen!

Sonst fickt euch Rußland einfach tot!

Das Wort »fickt« war von Hand durchgestrichen, darüber das Wort »sticht« geschrieben, auch dieses durchgestrichen und durch »schießt« ersetzt. Schweigend gibst du Nowokain die Gedichte zurück. Und gehst dich waschen, stakst vorsichtig über die kalten, schmutzigen Pfützen auf dem schartigen Boden des Duschraums. Worauf Nowakowski sich wieder unter seine Lumpen verkriecht und schläft – vielleicht auch onaniert.

Was für ein Segen, daß es hier unten, im schmutzigen, von Auswurf, Seifenresten und alten Haarbüscheln versifften Keller, wenigstens warmes Wasser gibt, was für ein geiles Gefühl, ein Gefühl, das vielen Arbeiter-und-Bauern-Schriftstellern völlig fremd ist: sich mit Seife waschen, Zähne putzen! Ach, ewig hierzubleiben! Alles vergessen, sich mit geschlossenen Augen dem Wasser hingeben wie einer Geliebten. Die meisten deiner Gedichte sind dir im warmen Wasser eingefallen. Denn warmes Wasser befähigt dich dazu, groß, gut, genial und gleichzeitig du selbst zu sein. Die können dich alle mal.

Hinter der Wand – in der Frauendusche – permanentes Lachen und Kichern. Als wären sie dort vieltausendmal tausend. Verdammte Lesben, warum müssen sie immer kichern, wenn sie sich waschen? Du verstehst kein Wort von ihrem vogelartigen Gezwitscher; als sprächen Mädchen beim Baden eine fremde, nur ihnen verständliche Sprache. Eine geheimnisvolle Sprache aus matriarchalischer Urzeit. Voll Herablassung und Überheblichkeit dem männlichen Geschlecht gegenüber, seinen viehischen Bedürfnissen und Neigungen. Deshalb können sie es auch nicht ausstehen, wenn ein Vertreter dieses Sklavenhaltergezüchts sie bei ihren sakralen Waschungen beobachtet oder – schlimmer noch – sich zu ihnen gesellen will. Das wird aufs strengste bestraft, wie schnöder Diebstahl okkulten Wissens. Der Susdaler Dichter Kostja Lochow, dein Kommilitone, hat beschrieben, wie rasende Jungfrauen ihm, dem jungen Grünschnabel, siedendes Wasser über den Pimmel gossen, weil er sie beim Planschen in der Dorfbanja beobachtet hatte. Kein schlechtes Gedicht, vielleicht sein bestes. Ein Gedicht der Erinnerung an vergangene Zeiten. Furchtbar weh hat es getan.

Aber die Stimmen hinter der Wand verstummen, eine nach der anderen, und mit ihnen vergeht das Rauschen des Wassers. Vielleicht ist das Ritual beendet, die magische Seance abgeschlossen − Zeit, eine andere Sprache zu sprechen. Aber jemand ist noch da, denn du hörst doch, wie aus mindestens einer Dusche Wasser fließt.

Dann setzt der Gesang ein. Eine einsame weibliche Stimme. Ein wunderbares Lied, aber nicht von der Art, wie es Mädchen im Überschwang jugendlicher Gefühle oder frühlingshafter Träume singen. Nein, es ist anders, nicht Lied, sondern einfach unglaubliche Lust an der Stimme, diesem vollkommensten musikalischen Instrument (schön gesagt, von F., aber leider von Lorca). All das – warmes Wasser, Musik, die eigene Größe – versetzt dich in überirdische Verzückung, die Stimme hinter der Wand quält dich süß wie eine philippinische Massage, erreicht auch deine letzte, kleinste Zelle, längst ist es Zeit zu gehen, aber du kannst nicht, kannst nicht! Was für eine Sirene ist das nur? Ja, soll ich mir denn die Ohren mit Seife verstopfen? Du spürst deine Erregung immer deutlicher. Diese aufwühlende, lockende Stimme läßt dich nicht los. Du hast keine Wahl.

Am Lumpenhaufen vorbei, unter dem der vom »Scheißleben« gebeutelte Wanja Kain verstummt ist, schlüpfst du aus der Umkleide, das Wasser läuft in Strömen an dir herab, und das Herz will dir aus dem Munde springen. Du hüllst dich in das große, flauschige, von daheim mitgebrachte Tropenhandtuch. O Lambada, Madonna, Quetzalcoatl, Popocatépetl! Einem anderen würdest du so eine Geschichte gar nicht abnehmen …

Du öffnest so vorsichtig wie möglich die Tür zum Kellerflur (die Stimme dringt sogar bis hierher, fatale Fata Morgana!). Dämmriges Licht, niemand in der Nähe. Rechts um! kommandiert dein persönlicher Feldmarschall im Schädel, vielmehr irgendwo in der Leistengegend. Rechtsum und den Korridor entlang geeilt, nicht mehr als zehn Schritt. Zurück bleiben die Abdrücke deiner nassen Füße. Das Kabuff der Putzbrigade ist verschlossen – klar, Samstag, da hockt nicht mal der billigste Blödel hier rum.

Hinter der nächsten Tür befindet sich die Höhle, in der, von einem Drachen bewacht, die Stimme wohnt. Du trittst entschlossen ein, als ginge es zur Hinrichtung. Nimmst fast nichts mehr wahr, wunderst dich höchstens, daß die Frauendusche innen genauso eingerichtet ist wie die der Männer – als gehörten Frauen zur gleichen biologischen Spezies. Drinnen in der Umkleide zerrst du am Handtuch und kriegst es kaum ab. Denn es hängt an deinem Pfahl fest, verheddert sich am Haken zwischen deinen Beinen, schließlich befreist du dich und steigst über den gestreiften Amazonasurwald, der auf dem Betonboden ausgebreitet liegt.

Sie steht mit dem Rücken zu dir unter der Dusche, das seifige Wasser fließt in duftenden Strömen an ihr herab, ihre Haut ist gold-schokoladen-seidig, die Beine wie junge Tropenbäume. Du trittst, so nah es geht, an sie heran und legst ihr die Hände auf die Schultern. Der Gesang bricht ab.

Statt dessen ein leichter unterdrückter Ausruf, kaum mehr als ein Hauch. Warum hast du aufgehört zu singen, Vögelchen? Wir hätten etwas Überirdisches, Himmlisches, Außergewöhnliches zusammen tun können. Warum hast du aufgehört zu singen? Jetzt muß ich dich fressen.

Du nimmst die herumliegenden Flaschen – Shampoo, flüssige Seife −, übergießt sie und dich aus den farbigen duftenden südländischen Flakons und seifst sie ein, obwohl das fliegende Wasser alles sofort wieder von ihrem Körper spült, aber es macht sie glitschig und blind, und du wühlst deinen Kopf in ihr urschwarzes Haar. Da beugt sie sich, ohne sich auch nur umzusehen, langsam, aber gehorsam nach vorn. Es ist ein Angebot. Oder eine Aufforderung. Die schwarze Orchidee läßt dich ein. Und dein Schädel zerspringt fast von den Blitzen, die in ihm wüten. Warum nur hat sie aufgehört zu singen?

Unter den höllenheißen Strömen dieses ewigen Wasserfalls wiegt ihr euch in einem fremdartigen afrikanischen Rhythmus. Du spürst keinen Widerstand, aber auch keine Ermunterung – sie gibt sich hin, wie Sklavinnen es tun, aber du kannst ja gar nicht wissen, wie sich Sklavinnen hingeben, vielleicht tun sie es ja widerwillig oder ermunternd. Dann hörst du, wie ihre Stimme zurückkehrt. Nicht so, wie sie gesungen hat, sondern lebendiger, geheimnisvoller. Vielleicht auch leidenschaftlicher. Es ist ein Flehen, ein Gebet. Und wegen dieser Stimme, ihrem fordernden Beben, gibst du Zurückhaltung und Geduld auf, kannst dich kaum mehr beherrschen, glaubst, es nicht ertragen, nicht aushalten zu können. Die Orchidee vernichtet dich, sie bringt dich zum Schmelzen, saugt dich aus …

Da aber macht sie etwas Geheimnisvolles, eine unmerkliche innere Bewegung, ändert etwas tief in sich drin, sie kennt uralte Geheimnisse, ist ein begabtes Mädchen, hat aufmerksam gelernt; in der Liebe erfahrene Priesterinnen haben sie auf einer geheimen, verbotenen Insel für einen langbeinigen schwarzen Prinzen vorbereitet, Liebe auf Palmblättern − und du hältst aus. Aber die Stimme, die Stimme! Sie bringt dich um, erlaubt dir nicht, die Savanne zu durchschreiten, wie es sich gehört. Sie dringt in dich ein wie Dampf – durch die Haut, deine helle mitteleuropäische Haut. Letzte Rettung: Augen zu, denn auch für die Augen ist das alles zu viel – Sterne und Blitze, Schokolade, heiße Himmelsströme. Hinter den geschlossenen Lidern lebt und pulsiert es weiter. Du erbebst wie ein Vulkan, hörst deine eigene Stimme und verstehst: Das war’s. Warum nur hast du gesungen?

In der Umkleide schlingst du das Handtuch wieder um die Hüften. Leckst dir einen Rest Schokolade von den Lippen. Spähst, schon wieder ziemlich gefaßt, in den Flur hinaus und wunderst dich, wie schnell und kraftvoll die Wirklichkeit zurückgekehrt ist. An der Wand entlang erreichst du nach einigen federnden Sprüngen die männliche Zone des Universums. Du bewegst dich nicht nur aus Vorsicht so. Eher wie ein Jäger, dessen siegreicher Pfeil soeben die goldene Hirschkuh erlegt hat.

Zum zweiten Mal grüßt du Nowokain, der wieder zottig aus seinem Lager kriecht und Gedichte anbietet. Hängst das Handtuch an den Haken. Inzwischen sind in der Dusche ein paar Mongolen aufgetaucht. Sie schnauben wie Pferde, während sie sich den Staub der Großen Steppe von den schwieligen Schultern waschen. Eine ganze Woche sind sie geritten, um ein Schreiben ihres Khans zu überbringen, junge Reiter mit großen Zähnen. Krummbeinige Bogenschützen.

Du seifst dich noch mal ein. Und hörst, wie sie dort, hinter der Wand, wieder zu singen beginnt …

Die Enttäuschung hat sich auf ewig hier eingenistet, in diesen Mauern, die niemals von Gedenktafeln geziert werden. Aber darum geht es nicht. Es ist ein Gebäude, an dem Schicksale zerbrechen. Dabei sind die hiesigen Sujets so bekannt und eintönig wie die Motive eines Mythos, sie scheinen auf einem vorgegebenen Schema mit zwei oder drei Variationen zu basieren. Hier eine davon.

Ein lyrisch veranlagter Siebzehnjähriger, nennen wir ihn Slawa, verfaßt gereimte Verse und trägt sie in ein Heft ein, das er an einem geheimen Ort unter dem Spülkasten der Toilette versteckt. Die Titel seiner Gedichte erinnern an romantische Frauennamen: »Aelita«, »Consuela«, »Angoteya«, »Isidora«, »Lolita«. Dahinter verbirgt sich natürlich immer ein und dieselbe Person, Lusja oder Njusja, eine Klassenkameradin, die von Sublimation noch nicht einmal gehört hat.

Eines Tages schickt der Jüngling Slawa seine Frauennamen-Gedichte, diese seelischen Samenergüsse, heimlich ans Moskauer Literaturinstitut. Zu Frühlingsbeginn, als Pickel und Sommersprossen sprießen, kommt aus Moskau die Antwort. Fast ohnmächtig vor Spannung reißt Slawa den Umschlag auf und erfährt, daß er die praktische Aufnahmeprüfung bestanden hat. Der aus dem Lesebuch bekannte Name von allsowjetischer Bedeutung unter dem Brief macht ihn ganz rammdösig vor Glück.

Im Sommer verläßt er sein verlaustes, verlumptes, vergammeltes Partisansk oder Mückomorsk, Stadt der Chemie, und bricht auf, Moskau zu erobern. Das Foto von Lusja-Njusja trägt er bei sich, an ganz ungewöhnlicher Stelle.

Natürlich wird er aufgenommen. Damit ist aber auch schon Schluß mit Poesie. Was folgt, ist nicht einmal Prosa. Die Gedichte haben ihn verlassen, so wollte es DER, DER SIE DIKTIERT