Über die moderne Welt sind viele diagnostische Mythen im Umlauf: Sie sei homogenisiert, individualisiert, und die isolierten Individuen gäben sich hemmungslos dem Konsum hin. Der englische Anthropologe Daniel Miller hat diese Mythen hinterfragt – genauer: Er hat die Bewohner einer Londoner Straße befragt. Und da die Menschen nun einmal nicht gerne über ihr Leben Auskunft geben, hat er mit ihnen über die Dinge in ihren Wohnungen gesprochen: über Simons 15 000 Schallplatten, die für ihn alle emotionalen Schattierungen zum Ausdruck bringen; über den Laptop, auf dem Malcolm Unmengen von Briefen und Photos speichert, um die Erinnerungskultur seiner Aborigines-Vorfahren aufrechtzuerhalten; über die billigen Spielfiguren aus dem Fastfood-Restaurant, mit denen Marina ihren Kindern ihre Liebe zeigt.

Daniel Miller (geboren 1954) hat in den vergangenen Jahren eine Reihe vielbeachteter Studien zum globalen Konsumverhalten vorgelegt. Ob er dabei das Einkaufsverhalten von Hausfrauen im Supermarkt untersucht, die Handynutzung in der Karibik oder die Bedeutung des Weihnachtsfests in nichtchristlichen Gesellschaften – immer geht es ihm darum, allzu bereitwillig reproduzierte Mythen über unsere vermeintlich so materialistische und globalisierte Gegenwart zu widerlegen. Miller lehrt Ethnologie am University College in London.

Daniel Miller

DER TROST DER DINGE

Fünfzehn Porträts
aus dem London von heute

Aus dem Englischen
von Frank Jakubzik

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel The Comfort of Things bei Polity Press (Cambridge).

Sie enthält insgesamt dreißig Porträts, aus denen für die deutsche Ausgabe fünfzehn ausgewählt wurden.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Übersetzung

Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-78650-5

www.suhrkamp.de

INHALT

Vorwort

1 Leere (George)

2 Fülle (Mr. und Mrs. Clarke)

3 Sepiatöne (Jenny)

4 Sternbesäte Quietscheenten (Simon und Jacques)

5 Der Aborigine-Laptop (Malcolm)

6 McDonald’s Happy Meals machen glücklich (Marina und ihre Kinder)

7 Gespenster (Stan)

8 Achtung Hund! (Harry mit Jeff)

9 Tätowierungen (Charlotte)

10 Wiederauferstehung (Anna, Louise und Florian)

11 Durchlässige Dinge (Elia)

12 Heroin (Dave)

13 Was soll’s! (Di)

14 Wrestling (Sharon)

15 Charakterfestigkeit (Charles)

Nachwort: Was lernen wir aus alldem über die Welt von heute?

Zur Durchführung der Studie

Danksagung

Für Rickie, Rachel und David

VORWORT

Die in diesem Buch porträtierten Menschen wohnen in einer gewöhnlichen Straße in einem der südlichen Stadtteile Londons. Zusammen mit Fiona Parrott, die ihre Dissertation an meiner Fakultät vorbereitete, habe ich im Rahmen einer siebzehn Monate währenden Feldstudie insgesamt einhundert Haushalte in dieser Straße besucht. In der Studie ging es – wie in diesem Buch – um die Frage, wie sich die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse eines Menschen in den Dingen widerspiegeln, mit denen er sich innerhalb seiner eigenen vier Wände umgibt, anders gesagt: um die Rolle, die alltägliche Objekte für unser Verhältnis zu uns selbst und unsere Beziehungen zu anderen Menschen spielen. Wir leben in einer Welt voller Gegenstände und werden von Waren und Kaufangeboten regelrecht überschwemmt. Wir werfen uns selber vor, daß wir immer oberflächlicher und materialistischer würden, daß uns Dinge längst wichtiger seien als Menschen. Dieser Pauschalvorwurf ist derart gängig geworden, daß wir seine Stichhaltigkeit nicht mehr anhand der Realität überprüfen. Wer dieses Buch liest, wird allerdings feststellen, daß sehr oft das Gegenteil zutrifft: daß unser Verhältnis zu den Dingen keineswegs oberflächlich ist und daß es sich sogar förderlich auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen auswirkt. Die extremen Pole des Umgangs mit den Dingen und ihre Folgen für das Beziehungsleben begegnen uns gleich eingangs in den mit »Leere« und »Fülle« überschriebenen Kapiteln.

Das London der Gegenwart zeichnet sich durch die beispiellose Diversität seiner Bewohner aus. Allerdings spielt sich deren Leben zu großen Teilen hinter verschlossenen Türen ab, in ihren Wohnungen und Häusern. Es scheint unmöglich, ihre Lebensverhältnisse, Erfahrungen und Überzeugungen kennenzulernen, etwas über die Dinge zu erfahren, die sie traurig oder glücklich machen – wenigstens solange es sich nicht um Fernsehstars, sondern um ganz normale Menschen handelt. Es gibt, so glaubt man, keine Möglichkeit, von Fremden solche Informationen zu erhalten.

Es gibt sie aber doch. Man klopft dazu einfach an die Tür einer Wohnung oder eines Hauses und fordert den Bewohner auf, einem etwas über sich zu erzählen. Wenn man ihm glaubwürdig versichert, weder Staubsauger verkaufen zu wollen noch im Auftrag Jehovas unterwegs zu sein, läßt er einen vielleicht ein. Wir jedenfalls wurden eingelassen. Direkte Fragen nach dem Privatleben haben wir allerdings tunlichst vermieden. Gerade Engländer kann man damit leicht in Verlegenheit bringen. Menschen aus anderen Ländern wiederum bringen manchmal uns in Verlegenheit, indem sie auf eine beiläufige Frage hin ihre ganze Lebensgeschichte referieren. Manchmal hat man dabei den Eindruck, einem eigens für solche Gelegenheiten auswendig gelernten Text zu lauschen, der eher Rechtfertigung oder Selbsttherapie als sachlicher Bericht ist. Sprachliche Mitteilungen sind zuweilen bewußt so gehalten, daß sie mehr verschleiern als enthüllen. Man kann also durchaus wildfremde Menschen nach ihren Lebensverhältnissen fragen, nur sind die Antworten oft weniger aussagekräftig als erhofft.

Wir haben daher einen anderen Weg eingeschlagen. Wir haben nicht nur die Bewohner der Häuser und Wohnungen in der – wie wir sie hier nennen wollen – »Stuart Street« befragt, sondern auch die Häuser und Wohnungen selbst. Wir befragten die Wandgemälde, die Kleidung, in der uns der Bewohner entgegentrat, den Stuhl und das Sofa, auf denen wir Platz zu nehmen gebeten wurden, das Badezimmer, in das wir zum Pinkeln gingen, die Photographien von Bekannten und Verwandten auf der Kommode, den Nippes auf dem Kaminsims. Auf den ersten Blick ein absurdes Unterfangen. Wie kann man denn Gegenstände befragen, die, wie jedes Kind weiß, stumm sind?

Oder gibt es doch eine Möglichkeit, sie zum Sprechen zu bringen? Was der Bewohner einer Wohnung oder eines Hauses über sich selbst, sein Leben und seine Beziehungen denkt, erfahren wir aus seinen Antworten auf unsere Fragen. Zugleich aber spiegeln sich seine Ansichten und Erfahrungen in der Einrichtung der Zimmer wider, im Wandschmuck und den Teppichen, den Möbeln, die er ausgesucht und angeschafft, in den Kleidern, die er am Morgen angezogen hat. Das eine oder andere Stück hat er womöglich nur geschenkt bekommen oder geerbt – aber er hat es immerhin nicht weggeworfen, sondern in seine minimalistisch karge Wohnung oder sein bis unters Dach vollgestopftes Haus aufgenommen. Jedenfalls befinden sich die meisten Gegenstände nicht zufällig hier, sondern weil sie in irgendeiner Beziehung zum Bewohner des Haushalts stehen. Wenn es uns gelingt, diese Gegenstände zum Sprechen zu bringen, geben sie ein zweites, nicht weniger authentisches Statement ab. Auch dieses Statement ist natürlich konstruiert, aber nicht nach den Regeln der Sprache.

Ich halte mich übrigens nicht für Sherlock Holmes oder Hercule Poirot, ich will auch nicht wie das Team von »CSI« nach Indizien schnüffeln, um Geheimnisse aufzudecken. Während Detektive und Forensiker in der Regel nach unabsichtlich hinterlassenen Spuren suchen, ging es mir um das, womit jemand ganz bewußt, und nicht selten mit der Leidenschaft eines Künstlers, seiner Persönlichkeit Ausdruck verleiht. Jede Wohnung ist ein mal mehr, mal weniger gewolltes Selbstporträt ihres Besitzers. Fünfzehn solcher Selbstporträts versuche ich in diesem Buch so getreu wie irgend möglich nachzuzeichnen.

Und es sind wahrhaft eindrucksvolle Bilder! Unsere einzige Ausgangshypothese lautete, daß wir nicht wußten, was uns in der Stuart Street erwarten würde. Sie erwies sich als vollkommen richtig. Wir ahnten nicht, daß wir eines Morgens einem Mann begegnen würden, der für den Tod Dutzender Unschuldiger verantwortlich war. Daß wir das bezauberndste Weihnachtsfest seit Fanny und Alexander erleben würden. Oder daß wir jemanden treffen würden, der mit Hilfe seiner CD-Sammlung vom Heroin losgekommen war. Vor unserer Studie wußte ich weder, daß bei Ebay ein schwungvoller Handel mit altem Fisher-Price-Spielzeug stattfindet, noch, daß es gute Gründe geben kann, die Happy Meals von McDonald’s in den Himmel zu loben. Auch hätte ich nicht gedacht, daß ein Laptop der Fortführung der Gebräuche australischer Ureinwohner dienlich sein, daß man sein Gedächtnis mit Hilfe von Tätowierungen steuern oder die Hauptstadt von Estland für einen entfernteren Vorort Londons halten kann. Man mußte wohl nicht unbedingt damit rechnen, in einer durchschnittlichen Londoner Straße auf einen manischen Exhibitionisten oder fanatische Anhänger des Feng Shui zu stoßen, aber wir hatten auch keine Vorstellung davon, mit welcher Zärtlichkeit man sich um einen Hund kümmern und aus welch zutiefst persönlichen Gründen man die unterschiedlichsten Dinge sammeln kann. Ich hatte weder erwartet, daß es Soziologielehrer gibt, die sich als Wrestler etwas dazuverdienen, noch daß einer unserer über einhundert Gesprächspartner meine Begeisterung für John Peel teilen oder daß ich soviel Neues über Pudding lernen würde. Ohne mir wirklich vorstellen zu können, wie und in welchem Ausmaß, erwartete ich lediglich eines, nämlich auf die Kümmernisse des Lebens und den Trost der Dinge zu treffen.

Dieses Buch handelt von Menschen, die in London leben. Keiner von ihnen verdient es, als Vertreter einer Gruppe oder Klasse behandelt und in eine Schublade gesteckt zu werden. London ist beispiellos. Nie zuvor konnten so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft einander auf derart engem Raum begegnen – oder aus dem Weg gehen. Früher wurde sorgfältig zwischen Londonern und Zugezogenen unterschieden, man sprach von Multikulturalität und Minderheiten. Diese Phase hat die Stadt inzwischen hinter sich gelassen. Auch damals schon kam der Londoner von nebenan womöglich aus Griechenland oder den Vereinigten Staaten, heute trifft man immer mehr Osteuropäer in der Stadt – doch die Nachbarn können auch aus Südkorea, Brasilien oder Südafrika kommen, Iren, Pakistanis oder Israelis sein. Wir sollten uns allmählich daran gewöhnen, daß der typische Londoner Haushalt ebensogut aus einer Norwegerin und ihrem algerischen Ehemann bestehen kann. Was heißt also typisch? Wir sollten solche Kategorisierungen hinter uns lassen.

Und das betrifft nicht nur die Frage der Herkunft. Auch die Geschlechtszugehörigkeit und die sexuelle Orientierung können heute nicht mehr als eindeutig prägende Persönlichkeitsmerkmale gelten. Homosexuelle mögen inzwischen eine anerkannte Minderheit sein, aber deshalb sind sie einander noch längst nicht gleich oder auch nur ähnlich. Wir hatten nicht den Eindruck, daß die Schwulen und Lesben, denen wir im Rahmen der Studie begegnet sind, außer ihrer sexuellen Präferenz besonders viel miteinander gemein hatten. Ebenso verhält es sich mit der Klassenzugehörigkeit: Der Mann am Tresen, der wie das Inbild des maskulinen Arbeiters aussah, schien nichts mit dem Akupunkteur gemein zu haben, mit dem wir uns in der Eckkneipe unterhielten – bis sich herausstellte, daß der Akupunkteur im Arbeiterviertel Romford aufgewachsen war, während sich der vermeintliche Arbeiter als jobbender Student entpuppte. Schubladen erzeugen Vorurteile. Doch heute ziehen Senioren durch die Nachtclubs, während man auf gutbürgerlichen Partys Cockney hört. Ist sie nun sein Au-pair-Mädchen oder seine Frau?

Allerdings eröffnet London keineswegs allen denselben Freiraum. Für manche bestehen nach wie vor erhebliche Einschränkungen: Der soziale Hintergrund kann die Bildungsaussichten trüben, rassistische Vorurteile die Jobchancen. Auch werden nach wie vor Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert. Dennoch erscheint mir London als ein Ort, an dem die Erwartungen heftiger durcheinandergewirbelt werden als anderswo. Daher habe ich die Verallgemeinerungen und Schubladen, auf die ich bei meiner Arbeit gestoßen bin, zwar hingenommen, sie mir aber nicht zu eigen gemacht. Wir sollten ohnehin überlegen, ob es nicht klüger wäre, Menschen nach ihren Tätigkeiten und Interessen – ob für wissenschaftliche Studien oder Promiklatsch, Gartenpflege oder Musik – zu beurteilen statt nach ihrer Herkunft oder sexuellen Orientierung.

Wir haben die Teilnehmer unserer Studie bewußt unter Umgehung solcher Kategorisierungen ausgewählt. Keiner von ihnen sollte »die Männer«, »die Asiaten« oder »die Arbeiter« repräsentieren. Statt dessen haben wir uns die beispiellosen Gegebenheiten der Metropole London zunutze gemacht, in der man praktisch in jeder Straße auf ein breites Spektrum unterschiedlicher Haushalte trifft, die in gemeinnützig geführten Mietshäusern, luxussanierten Eigentumswohnungen oder Reihenhäusern mit und ohne Garten leben. Zu deren Bewohnern ganz selbstverständlich auch Migranten gehören, die man früher vorwiegend in bestimmten Vierteln antraf. Zudem kennen die meisten Anwohner ihre Nachbarn nicht einmal dem Namen nach, und es gibt wenig Grund, sie über einen Kamm zu scheren. So handelt denn dieses Buch von einer beliebigen, gewöhnlichen Straße, die nicht aufgrund irgendwelcher besonderer Merkmale ausgewählt wurde. Wir wollten uns mit den Menschen auseinandersetzen, die uns über den Weg laufen würden, und sie so nehmen, wie sie sich gaben.

Dazu mußten wir die Bewohner der Straße, für die wir uns entschieden hatten, dazu bringen, uns Einlaß in ihre Häuser und Wohnungen zu gewähren. Das war nicht immer leicht, doch nach etwa siebzehn Monaten und lediglich acht endgültigen Ablehnungen erreichten wir schließlich unser Ziel: einhundert Haushalte als authentischen Ausschnitt aus dem London der Gegenwart. Wie sich zeigte, paßte unsere vorurteilslose Herangehensweise gut zu den Verhältnissen in der Stuart Street: Nur dreiundzwanzig Prozent der Bewohner sind in London geboren, keine Minderheit ist signifikant häufiger vertreten als andere. Die Anwohner stammen von hier oder da, sind alt oder jung, typische oder untypische Vertreter ihres Geschlechts; manche sind einigermaßen wohlhabend, andere einigermaßen arm, die meisten können sich einigermaßen über Wasser halten. Aber das ist das Besondere am London von heute, das dieses Buch verdeutlichen soll: Fünfzehn Porträts zufällig ausgewählter Menschen ergeben ein authentisches Bild der modernen Welt. Keines der Kapitel baut auf ein anderes auf oder setzt dessen Lektüre voraus, das Nebeneinander der Porträts im Buch entspricht dem Nebeneinander der Porträtierten in der Straße. Aus dem, was einem in diesem Haus begegnet, lassen sich keine Rückschlüsse auf das ziehen, was einem ein paar Türen weiter bevorsteht. Die Stuart Street bildet kein »größeres Ganzes«, das allen ihren Bewohnern gemein wäre.

Ich habe die Kapitel dieses Buches »Porträts« genannt, weil ich, auch wenn das in der Anthropologie aus der Mode gekommen zu sein scheint, auf eine ganzheitliche Darstellung abziele. Meiner Ansicht nach ergeben die Beziehungen, die ein Mensch zu Personen und Dingen unterhält, in der Regel ein übergeordnetes Muster, das ich als seine »Ästhetik« bezeichne. Das soll nicht heißen, daß es etwas mit Kunst zu tun hätte, es soll auch nicht hochtrabend klingen. Der Begriff soll lediglich den Blick schärfen für die Bemühung um Harmonie, Ordnung und Ausgewogenheit, die sich bei vielen der von uns besuchten Londoner zeigte – und für die Dissonanzen, Widersprüche und ironischen Volten bei den anderen. In Anthropologieseminaren hat man mir beigebracht, bei der Untersuchung fremder Gesellschaften und Kulturen stets nach einer solchen »höheren Ordnung« zu suchen. Im Fall unserer Londoner Straße erschien es uns sinnvoll, jeden Haushalt als so etwas wie eine Gesellschaft zu betrachten. Daher habe ich jedes Porträt so ausgeführt, wie es dem Wesen des Porträtierten meines Erachtens am nächsten kam: komisch oder traurig, kubistisch oder impressionistisch, nüchtern oder überschwenglich. Man kann und soll dieses Buch lesen, wie man durch eine Gemäldeausstellung schlendert. Man sollte auf die Details achten, dann jede Komposition als Ganzes betrachten und schließlich darüber nachdenken, wie sie sich in den Rahmen der Ausstellung fügt. Dabei bin ich weder Hogarth noch Goya; ich will weder satirische noch parodistische Effekte erzielen und auch keine Schreckensbilder malen. Ich betrachte das dargebotene Material als Wissenschaftler und versuche, Erkenntnisse daraus zu ziehen.

Deshalb ist das Nachwort in dem mir vertrauteren wissenschaftlichen Stil gehalten. Ich versuche darin, aus den Einblikken in unser heutiges Leben, die die Porträts gewähren, so etwas wie ein Gesamtbild zu entwerfen. Zunächst erläutere ich, inwiefern sich unsere Auswahl Londoner Haushalte anderen Kriterien verdankt, als sie in der sozialwissenschaftlichen Forschung üblich sind. Diese Haushalte bilden zusammen weder eine Gesellschaft noch eine Kultur, weder eine Anwohner- noch eine sonstige Gemeinschaft. Dennoch sind sie keineswegs Belege für die angeblich aus der Abwesenheit von Gesellschaft entstehende haltlose individualistische Fragmentierung. Daher untersuche ich anschließend das, was diesen Menschen offenbar das Wichtigste ist: die Möglichkeit, Beziehungen einzugehen. Ich untersuche das Wesen dieser Beziehungen, die auf einem Wechselspiel von Personen und Dingen beruhen. Anhand von Beispielen aus den Porträts zeige ich, daß jeder Mensch seine eigene Ästhetik hervorbringt; die sich im Spektrum seiner diversen Beziehungen abzeichnet. Meine Schlußfolgerung lautet, daß uns eine anthropologische Betrachtung mehr Einblick in die Lebensverhältnisse einzelner gewähren kann als die üblichen psychologischen Verfahren. Allerdings nur, wenn man eine Straße in London einer ähnlichen Feldstudie unterzieht, wie man sie bislang etwa an einem Landstrich in Neuguinea durchzuführen gewohnt war, indem man sie also als ein Konglomerat unterschiedlicher Gesellschaften betrachtet, die jede für sich als Entwurf einer kosmologischen Ordnung beurteilt zu werden verdienen. So, wie wir bisher komplexe Gesellschaften untersucht haben, können wir auch komplexe Mikrokosmen untersuchen. Voraussetzung dafür ist, daß wir ihre Authentizität respektieren und sie nicht von vornherein als Abfallprodukte von Oberflächlichkeit und Individualismus abtun.

Die Anthropologie beschäftigt sich mit den Einzelheiten des täglichen Lebens und versucht dabei den Menschen als Ganzes zu verstehen. Dieses Buch versucht, diesem Ziel gerecht zu werden, indem es die Frage nach der Beschaffenheit des modernen Lebens mit einer von Respekt und Staunen geleiteten ethnographischen Annäherung an die Welt der kleinen Dinge und intimen Beziehungen verknüpft, die unser Leben ausmachen.

An dieser Stelle sind Sie eingeladen, sich den Porträts selbst zuzuwenden. Jedes verfolgt zwei Absichten: zu untersuchen, inwieweit man anhand ihrer Habseligkeiten etwas über Menschen erfahren kann, und deutlich zu machen, welche Vielfalt und Kreativität den Einwohnern Londons heute eignet. Falls Sie zunächst mehr über die Durchführung der Studie, die Auswahl der Teilnehmer oder ethische Fragen wie deren Anonymisierung erfahren wollen, lesen Sie bitte zunächst die entsprechenden Anmerkungen am Ende des Bandes.

1

LEERE

(George)

Georges Wohnung irritierte uns von Anfang an. Das lag nicht an dem, was sich in ihr befand, sondern daran, daß sich, abgesehen von ein paar Möbeln und Teppichen, nichts in ihr befand. Eine gewisse Kargheit ist an sich nicht unbedingt verwirrend. Manche richten sich eben minimalistisch ein, anderswo fällt die ganze Aufmerksamkeit einer schlichten Topfpflanze oder einem einzigen Wandbild zu. Doch irgend etwas gibt es immer zu sehen: eine Porzellanfigur, Urlaubsgrüße, ein Photo von Freunden oder Verwandten oder auch nur eine alte Eintrittskarte. Ich konnte mich jedenfalls nicht erinnern, je zuvor in einer Wohnung gewesen zu sein, die nicht den geringsten Schmuck enthielt. Eine derartige Leere hat etwas Gewaltsames. Nichts erwidert den suchenden Blick, nichts weckt Aufmerksamkeit oder Interesse. Man empfindet einen Mangel an Form, Respekt und Integrität. Man bekommt kein Gefühl für sein Gegenüber und das, was es womöglich von einem erwartet. Ich gab mir alle Mühe, George zuzuhören, doch die ihn umgebende uferlose Leere lenkte mich ab. Ich begann mir einzureden, wir müßten bloß in eines der übrigen Zimmer gehen, ins Schlafzimmer oder ins Bad, und würden dort mehr vorfinden als dieses frostige Nichts. Doch als wir später Gelegenheit hatten, einen Blick in die anderen Zimmer zu werfen, erwiesen sie sich als ebenso leer.

Der Eindruck der Leere, der einem jede Orientierung nahm, wurde durch den, der uns gegenübersaß, nur noch verstärkt. Die extreme Kahlheit der Räume wäre weniger verstörend gewesen, wenn ihr Bewohner sie mit Leben erfüllt hätte. Seine Erzählungen, Interessen und Erfahrungen hätten den Raum sozusagen möblieren, den nackten Wänden so etwas wie Behaglichkeit verleihen können. Doch von dem Moment an, in dem George das Wort ergriff, war klar, daß es einen solchen Ausgleich nicht geben würde, weil George genau so war wie seine Wohnung. Man spürte es an der Art, wie er auf unsere Fragen und Bemerkungen reagierte. Wenn man jemanden etwas fragt, erwartet man, daß er die Frage sozusagen an sich selbst weitergibt, einen Augenblick lang innehält und in seinem Kopf nach einer Antwort sucht. Bei George fand dieser Prozeß, den wir aufgrund seiner Selbstverständlichkeit gewöhnlich kaum wahrnehmen, nicht statt. Statt dessen klopfte er jede Frage auf ihre Form hin ab, in der festen Überzeugung, es müsse sich um eine jener schematischen Erkundigungen handeln, die Vertreter irgendwelcher Behörden anstellen – die einzigen Menschen, mit denen er sonst in Kontakt kam. Sie erwarten präzise, nüchterne, maßgeschneiderte Antworten und wollen ihre Zeit nicht mit irrelevanten Einzelheiten vergeuden. Sie wollen Antworten, die in die Kästchen ihrer Formulare passen.

Also denkt George zunächst einmal über die in der Frage verborgene Absicht nach. Als wäre der Fragende ein Fallensteller, versucht er die Art des Tiers, auf das er aus ist, aus der Form der Falle zu erraten – um sich dann in dieses Tier zu verwandeln, damit er eine befriedigende Antwort geben kann. Er antwortet niemals spontan, immer überlegt. Und bei uns fällt es ihm besonders schwer, weil unsere Fragen nicht dem entsprechen, was er gewohnt ist und erwartet. Es sind nicht die gezielten Fragen von Behördenvertretern, aber auch nicht die unverbindlichen Belanglosigkeiten über das Wetter oder das Fernsehprogramm, mit denen man hierzulande üblicherweise Konversation macht, um einem peinlichen Schweigen zu wehren. Nach einiger Zeit des Grübelns weicht sein angespannter Gesichtsausdruck dann jedoch oft einem zufriedenen Lächeln, und man begreift, daß er entschieden hat, welcher Kategorie die Frage angehört und wie sie zu beantworten ist.

In seiner Stimme liegt etwas Mechanisches, Unpersönliches, das einem die Materialität von Geräuschen bewußtmacht. Stets formuliert er vollständige Sätze. Wenn er von sich spricht, klingt es meist so, als ob er über jemand anderen reden würde. Hier zwei Beispiele, erstens: »Ich besitze kein Auto. Wenn ich ein Auto hätte, könnte es von Vandalen beschädigt werden. Das ist gewissermaßen die Ursache dafür, daß ich kein Auto habe. Ich will nicht, wenn ich aus dem Haus gehe, feststellen müssen, daß etwas beschädigt wurde. Das würde mir ganz und gar nicht gefallen.« Und zweitens sein Kommentar zu der einzigen Zeichnung, die wir schließlich doch noch in seiner Wohnung auftreiben konnten: »Nein, ich bin nie dagewesen. Das Bild zeigt die Scilly-Inseln im Atlantik vor Cornwall. Es stammt aus einem Weltatlas. Die Geographie der Erde hat mich schon immer interessiert. Das ist mein bester Atlas, mein bestes Buch über Geographie. Sie müssen es sich nicht ansehen, aber Erdkunde war in der Schule mein Lieblingsfach. Ich habe mir dieses Buch oft angesehen. Wenn wir Erdkunde hatten, habe ich oft in diesem Buch gelesen.«

Wenn er seine Ausführungen beendet hat, fragt er: »Sind Sie mit der Antwort zufrieden?« Dann wieder beginnt er seine Entgegnung mit den Worten: »Darf ich etwas dazu sagen?« Manchmal denkt er eine Weile nach und sagt dann lediglich: »Ich glaube, die Antwort darauf lautet: Nein« oder: »Ich denke, ich sollte diese Frage mit Ja beantworten«. Er achtet sehr darauf, daß seine Antworten vollständig sind, daß er nichts durcheinanderbringt und die Angelegenheit nicht durch unnötige Informationen verkompliziert.

Die Sorgfalt, mit der er spricht, spiegelt sich in seiner Erscheinung wider. Es ist die eines fünfundsiebzigjährigen Mannes, für den das Ankleiden eine unumgängliche Pflichtübung ist. Die gebügelten schwarzen Hosen, das fleckenlose Polohemd, die zu den Pantoffeln passenden gestreiften Socken. Man sieht geradezu vor sich, wie er sich mit großer Sorgfalt ankleidet, bedächtig Knopf für Knopf des Hemds zumacht und schließlich die Krawatte bindet, eventuell mehrmals, bis der Knoten sitzt. George ist ein Mann, der den zweiten Socken mit derselben unerbittlichen Konzentration, Bedachtsamkeit und Präzision anzieht wie den ersten.

Man ist versucht, George als jemanden zu klassifizieren, der schwer von Begriff oder zurückgeblieben ist oder wie immer der korrekte medizinische Terminus auch lauten mag. Tatsächlich scheint die Wendung »schwer von Begriff« genau zu seinem Verhalten zu passen. Doch während wir ihm geduldig zuhören, gewinne ich allmählich den Eindruck, daß sie nicht zutrifft. Je mehr uns George erzählt, desto stärker drängt sich ein anderer Eindruck auf: Er leidet keineswegs an einer angeborenen Schwerfälligkeit oder Begriffsstutzigkeit, vielmehr wurde er erst durch das, was er erlebt oder besser: nicht erlebt hat, zu dem, als den wir ihn kennenlernen. Es ist etwas anderes, das ihm fehlt. Ihn in eine Schublade zu stecken hieße, Ursache und Wirkung zu verwechseln.

Auch wenn seine eigene fast vollkommen leer ist, weiß George durchaus, wie eine komplett eingerichtete Wohnung aussieht. Bei seiner Großmutter hingen »richtige« Bilder an den Wänden, die, so glaubt er, sogar einiges wert waren. Sein Vater besaß Bilder von Vögeln – »einheimische Arten, keine fremdländischen Vögel«. Er erinnert sich, daß ihm das Haus seiner Großmutter riesig vorkam. Er hatte keine Geschwister. Es scheint, daß er von Anfang an unter der Herrschaft einer unentrinnbaren Autorität stand. Alle späteren Autoritäten waren dann Kopien dieses Urbilds, der allumfassenden Macht seiner Eltern. Offenbar haben sie ihn bei wirklich jeder Gelegenheit daran gehindert, etwas zu tun, etwas zu verändern oder etwas aus sich zu machen. Und George hat nicht die Kraft aufgebracht, sich ihnen zu widersetzen.

Bei Ausbruch des Krieges sollte er wie andere Kinder aufs Land verschickt werden. Seine Mutter wollte das mit allen Mitteln verhindern. Als sie scheiterte und man ihn ihr wegnahm, wurde er derart krank, daß die Behörden nachgaben, ihn wieder nach London schickten und er die Kriegsjahre über bei ihr bleiben konnte. Später nahmen ihn seine Eltern von der Schule, obwohl er alle Prüfungen bestanden hatte und einen höheren Abschluß hätte machen können. Sie erlaubten ihm nicht, seine Ausbildung fortzusetzen. Mit sechzehn fing er an zu arbeiten. Zwei Jahre später bestand er einen Aufnahmetest bei der Marine, doch sein Vater verbot ihm, dorthin zu gehen, und schickte ihn statt dessen zum Heer. Daß er all diese Prüfungen bestand, ist wohl kaum ein Hinweis auf mangelnde Auffassungsgabe oder geringe Intelligenz.

George schildert diese Ereignisse ohne spürbare Verärgerung in langsamen, nüchternen Monologen. Dennoch ist ihm offenbar bewußt, daß sein Leben von Ungerechtigkeiten und Einschränkungen geprägt war, für die die Verbote der Eltern nur ein Beispiel sind. Als Soldat nahm er nicht an Auslandseinsätzen teil, was ihm zufolge ebenfalls auf seine Eltern zurückging: »Ich bin nie aus Großbritannien hinausgekommen. Das ist auch so etwas. Meine Eltern sagten immer: ›Wir wollen nicht, daß du die Britischen Inseln verläßt!‹« Mit einundzwanzig schaffte er es im Rahmen der Abschlußfahrt seiner Abendschulklasse doch noch nach Schweden, aber das scheint das einzige Aufbegehren gegen seine Eltern geblieben zu sein. Er fuhr nie wieder ins Ausland. Einmal sagt er: »Mein Vater war noch strenger als meine Mutter.«

Natürlich hat die Schule als ein Ort, an dem es anders zuging als zu Hause, auf George großen Eindruck gemacht. Noch heute teilt er seine Welt vorwiegend anhand der Unterrichtsfächer ein. Er erinnert sich gut an die Schulzeit, an die kurzen Hosen und die Gottesdienste. Offenbar sind Teile der Autorität seiner Eltern auf die Lehrer übergegangen, wie später auf den Arbeitgeber und schließlich auf staatliche Behörden und ihre Vertreter. Nach dem Krieg arbeitete er als Buchhalter in einem großen Unternehmen. Er blieb dort, bis er mit fünfundfünfzig gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt wurde. Er hätte wenigstens noch fünf Jahre weiterarbeiten wollen. Er sah sich nach einer anderen Stelle um und sprach regelmäßig beim Arbeitsamt vor, aber es sollte seine letzte Anstellung bleiben. Seit einundzwanzig Jahren lebt er nun unfreiwillig im Ruhestand. An die jahrzehntelange Tätigkeit erinnert er sich kaum noch. Man kann ihn sich mühelos in einem Schwarzweißbild aus einer Wochenschau vorstellen, das endlose Reihen gleich aussehender Männer an gleich aussehenden Tischen über gleich aussehende Hauptbücher gebeugt zeigt. In George glaubt man dem letzten dieser Buchhalter gegenüberzustehen.

Offenbar war ihm aufgefallen, daß wir bei unserer ersten Begegnung nach Gegenständen Ausschau gehalten hatten, über die wir mit ihm sprechen konnten, denn als wir ihn zum zweiten Mal besuchten, hatte er seine Besitztümer sorgfältig durchgesehen und in einer Schublade tatsächlich eine Postkarte aufgestöbert, die ihm eine Frau aus Spanien geschrieben hatte. Es gab auch eine Geschichte dazu. Im Büro hatte man ihn gefragt, »ob ich bereit sei, die Dame am Flughafen abzuholen und zu dem Haus zu bringen, in dem sie während ihres Aufenthalts wohnen würde. Ich kannte sie nicht. Also fragte ich, woran ich die Dame denn am Flughafen erkennen sollte? Man bat mich auch, sie in eine bestimmte Straße in Fulham zu bringen, wo ihre Unterkunft sei. Auch diese Straße kannte ich nicht. An dem betreffenden Tag bat man mich, zum Flughafen zu fahren, mich an den Eingang Nummer 4 zu setzen und dort zu warten, bis ich von der Dame angesprochen würde. Ich konnte sie ja nicht ansprechen. Sie sollte auf mich zukommen und mich ansprechen. Ich saß dort über Stunden. Ich fragte mich schon, ob die ganze Sache vielleicht abgeblasen worden war, als plötzlich eine junge Dame auf mich zukam, mir ihren Namen nannte und mich fragte, ob ich sie nach Fulham bringen würde. Das tat ich dann.«

Offenbar war es George nicht im mindesten gewohnt, Verantwortung zu übernehmen. Ausgerechnet ihn hatte man aus den endlosen Reihen der Buchhalter herausgepickt, ihm persönlich diese Aufgabe übertragen! Seine Erzählung ist auch nach all den Jahren noch von der Anspannung geprägt, die dieses Ansinnen in ihm auslöste. Ansonsten beschränken sich seine Erinnerungen an die Zeit seiner Berufstätigkeit auf den Tod der Eltern, für deren Beerdigungen er ebenfalls die Verantwortung trug. So wie er davon erzählt, hat ihn die Pflicht, die Beerdigungen zu organisieren, mindestens so sehr bedrückt wie die Todesfälle selbst. Das könnte auch ein Zeichen von geistiger Zurückgebliebenheit sein. Mir schien es aber eher die Angst davor zu sein, irgend etwas selbst in die Hand zu nehmen. Aus seinen Erzählungen gewann man den Eindruck, daß seine Eltern an ihm, ihrem einzigen Kind, eine beispiellose Form totaler Herrschaft durchexerziert hatten. Eine Tyrannei, die ihm das Mark aus den Knochen sog, ihm jeden Wunsch nach Selbständigkeit austrieb und ihn für alle Zeiten zur Marionette von Autoritäten machte, ob es nun Lehrer, Arbeitgeber oder Behörden waren. Seine Wohnung war deshalb so leer, fast vollkommen leer, weil George nicht in der Lage war, irgend etwas aus eigenem Antrieb zu verändern.

Weil es in der Nähe seiner Arbeitsstelle lag, war George in ein Wohnheim des YMCA gezogen, in dem er so versorgt wurde, wie er es von zu Hause kannte. Er hätte sich gar nicht vorstellen können, anders zu leben. Als er dreiunddreißig wurde, teilte man ihm mit, daß er ausziehen müsse; schließlich sei dies ein christliches Haus für junge Männer. Der Manager des Heims half ihm, ein anderes Wohnheim zu finden, in dem er fünf Jahre blieb. Dann siedelte er in ein weiteres Wohnheim um und lebte dort, bis er seine jetzige Wohnung bezog. Ein Jahr bevor wir ihn kennenlernten, war dieses letzte Wohnheim geschlossen worden. George glaubte, daß man ihn abermals in ein Wohnheim umsiedeln würde. Man sagte ihm, er müsse einen Platz beantragen. »Ich habe vier verschiedene Formulare ausgefüllt«, erzählt er, »und die Mitarbeiter der Einrichtung haben alles überprüft und korrigiert. Und am Ende stand ich mit leeren Händen da.« Wie so oft liegt eine furchtbare Traurigkeit in Georges Formulierungen; ihm ist sehr wohl bewußt, daß er in solchen Fällen immer als letzter zum Zug kommt. Er mußte zusehen, wie seine Mitbewohner einer nach dem anderen mit dem Auto abgeholt und in neue Heime umgesiedelt wurden. Der letzte fuhr in einem Minicar davon. Niemand hatte daran gedacht, George ihre neuen Adressen zu geben, so daß er keine Möglichkeit hatte, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Schließlich war außer ihm keiner mehr da. Doch auch das schien niemanden zu kümmern. Erst der Hausbetreuerin fiel es auf, als sie vor dem Problem stand, ihn irgendwo unterzubringen, weil sie Urlaub nehmen wollte. Sie teilte ihm dann mit, er werde in die Wohnung gebracht, in der er heute lebt. »Ich wollte nicht alleine leben. Aber all diese Leute, diese Experten, sagten, daß das der einzige geeignete und verfügbare Ort für mich sei. Und deshalb bin ich jetzt hier.«

Am Mittag sollte ihn ein Möbelwagen abholen. Er hatte eine Panne. George wartete. Nachmittags um drei kam schließlich ein anderer Wagen. Seine Sachen wurden eingeladen. Nicht einmal die Betreuerin begleitete ihn in die neue Wohnung, nur die beiden Möbelpacker. Sie fuhren mit ihm hin und schleppten sein Eigentum erst auf den Bürgersteig, dann in die Wohnung. Das Sofa war zu breit für die Treppe. Sie mußten es mit Hilfe einer Leiter durchs Fenster bugsieren. Es ist das erste Sofa, das George je besessen hat. Auch wenn er offenbar keinen Wert auf Wandschmuck und dergleichen legte, brauchte er doch einen Teppich und ein paar Möbel. Das hatte allerdings niemand bedacht. Alle guten Möbel aus dem Heim waren längst an andere gegangen. Am Ende blieben nur ein paar zweitklassige Sachen übrig, aus denen er sich etwas aussuchen durfte – und genau die stehen jetzt in seiner Wohnung. Sie stammen aus der Lounge des Wohnheims. Es gab dort noch ein Sofa, das zu seinem paßte, und er bat darum, beide zu bekommen, aber das wurde abgelehnt.

So fand sich George im Alter von fünfundsiebzig Jahren zum ersten Mal in seinem Leben in einer eigenen Wohnung wieder, allein und ohne jede Gesellschaft. Noch schlimmer für ihn war, daß er zum ersten Mal in seinem Leben für sich selbst sorgen mußte. Das fällt ihm extrem schwer, wie er sagt: »Ich gehe nicht gerne einkaufen. Ich reiße mich aber zusammen und tue es, weil ich sonst nichts zu essen hätte, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich muß alles selbst machen. Niemand kocht für mich. In dem Fach bin ich am schlechtesten. Aber ob ich es will oder nicht, ich muß damit zurechtkommen, ich muß lernen, wie man kocht.« Daß Kochen sein »schlechtestes Fach« ist, betont George immer wieder.

Es war zehn Tage vor Weihnachten, als ihn die Möbelpacker in seiner neuen Wohnung absetzten. Auch das ist typisch. Im Jahr zuvor hatten zehn Personen in seinem Wohnheim gelebt; zwei waren über die Feiertage weggefahren, die übrigen hatten das Weihnachtsessen gemeinsam eingenommen, in einem festlich geschmückten Raum. Da hatte er wenigstens Gesellschaft gehabt. In diesem Jahr war George an Weihnachten genauso allein wie an jedem anderen Tag des Jahres. Und das ist auch der Grund, warum Georges Wohnung so leer ist. Selbst wenn er den Willen gehabt und es sich zugetraut hätte, sie mit Gegenständen oder Bildern zu dekorieren, selbst wenn er psychisch stark genug gewesen wäre, sich einer solchen Aufgabe zu stellen, und selbst wenn er die ganze verdammte Wohnung bis in die letzte Ecke mit irgendwelchem Krimskrams vollgestopft hätte – sie wäre trotzdem leer geblieben. Ihre äußere entspricht seiner inneren Leere. Das ist der Hauptgrund für das Fehlen jeglicher Dekoration: Sie hätte überhaupt keinen Sinn gehabt.

Immerhin hat George inzwischen so etwas wie einen Lebensrhythmus entwickelt. Etwa dreimal im Monat fährt er in die Innenstadt. Bei ihm klingt es so, als habe er dort geschäftlich zu tun, auch wenn es lediglich darum geht, eine Gebühr zu entrichten. Diese Ausflüge sind die wichtigsten Orientierungspunkte in seinem Leben. Gelegentlich geht er auch zum Friseur. Seine sozialen Kontakte beschränken sich auf seltene Besuche eines Seniorentreffs im Gemeindezentrum. Wie er emotionslos feststellt, sind die meisten Senioren dort weiblich, und alle sind arm, alt und vor allem zutiefst unglücklich. Außerdem besuchte er vor einiger Zeit seine Cousine, die einzige Verwandte, mit der er noch Kontakt hat. Er war schon öfter auf dem kleinen Bauernhof, den sie mit ihrer Familie betreibt, aber das Geschehen oder besser: Nichtgeschehen des letzten Besuchs ist typisch für sein Scheitern im Leben. Vor Jahren hatte ihn die Cousine zu einer Nachbarfarm mitgenommen, wo man ihm die Schweinezucht zeigte. Er hätte dieses ihn tief beeindruckende Erlebnis nur zu gerne wiederholt. Während des gesamten Aufenthalts wartete und hoffte er inständig, daß man ihn wieder zu jener Nachbarfarm brächte. Doch da George nun einmal so ist, wie er ist, brachte er es nicht über sich, seinen Wunsch zu äußern. Was zur Folge hatte, daß man ihm lediglich die Kühe zeigte. Der einigermaßen andächtige Ton, in dem er jetzt noch von den »Schweinedamen« spricht, legt den Gedanken nahe, daß er bei jenem früheren Besuch Zeuge sexueller Aktivitäten wurde, was in seinem Leben nicht allzu häufig vorgekommen sein dürfte.

Seine Unfähigkeit, eigene Interessen durchzusetzen, zeigt sich auch bei seinem Wunsch, Kew Gardens zu besuchen, den botanischen Garten im Südwesten Londons. Zwar war er schon dreimal dort, doch liegt sein letzter Besuch rund dreißig Jahre zurück. Als wir ihn fragen, wo er am liebsten leben würde, fällt ihm nur das Wohnheim des YMCA ein.

Die mit Abstand wichtigsten Ausflüge, zu denen er sich aufraffen kann, führen ihn zu den großen Paraden, vor allem zu »Trooping the Colour«, der Militärparade zu Ehren des Geburtstages der Königin im Juni. Er besucht diese Zeremonie seit fünfundzwanzig Jahren. Allerdings meidet er inzwischen wegen des Lärms, des Gedränges und der hohen Eintrittspreise den offiziellen Termin. So kommt es, daß einer der beiden Probeaufmärsche an den Samstagen vor dem eigentlichen »Trooping the Colour« heute der alles überragende Höhepunkt des Jahres für ihn ist. Natürlich ist er entschiedener Royalist. Man kann sich aber auch vorstellen, daß er einer Ästhetisierung der Politik erläge, wie sie der Nationalsozialismus betrieb. Dessen Anziehungskraft gründete bekanntlich nicht zuletzt darin, daß er dem »kleinen Mann« ein Gefühl von Größe verschaffte, indem er ihn zum Bestandteil gigantomanischer Masseninszenierungen machte. Von den Nürnberger Parteitagen bis zur Rhetorik der politischen Führer war alles darauf angelegt, die »Volksgenossen« in Trance zu versetzen, damit sie sich als Teil eines gewaltigen Bildes fühlten, dessen schiere Größe weit über den einzelnen hinausging.