Pia und Leon – ein rotes Metallherz am Brückengeländer symbolisiert ihre Liebe. Alles ungetrübt? Leider nicht, denn Pia kommt plötzlich auf die verrückte Idee, an einem Castingwettbewerb teilzunehmen. Pia, die Fußballerin, auf dem Catwalk? Leon ist eifersüchtig – und geht selbst zum Casting! Unerkannt wirbelt er die Glitzerwelt der Mode auf und gehört schnell zu den besten fünf Models, neben Pia. Doch während der Konkurrenzkampf immer härter wird, sind Pias Gedanken abgelenkt: Sie erfährt, warum ihre Mutter, die als Model vor einer Traumkarriere stand, wirklich starb …
Am 12. Juli um 13.30 Uhr bleibt die Zeit für Pia stehen. Sie steht mitten im Nieselregen auf der Brücke und schmiegt sich an ihren Freund Leon, der den Arm um sie gelegt hat und sie zärtlich ansieht.
»Na, dann los!«, sagt er, fasst Pia an der Hand und dreht sich zum Brückengeländer um. Sie beugen sich darüber, strecken die Arme weit nach vorne und öffnen die Hände. Gleichzeitig trudeln zwei kleine Schlüssel in den Fluss hinunter. Nur für einen kurzen Moment sind sie noch auf der Wasseroberfläche zu sehen, bis sie in den Wellen verschwinden, tiefer und tiefer bis zum Grund.
Dort werden sie bis in alle Ewigkeit liegen bleiben, und niemand wird das goldene Schloss mit den roten Herzen vom Brückengeländer entfernen können. Genauso wenig kann jemand die Liebe zwischen ihnen zerstören, niemand, nicht einmal Leons Mutter. »Leon und Pia forever« steht in winzigen Buchstaben auf dem Schloss.
Pia ist glücklich. Sie hofft sehr, dass auch Leon diesen Augenblick genießt, auch wenn es ihre Idee war und er sich anfangs gar nicht damit anfreunden konnte.
Es ist ein Moment für die Ewigkeit, der plötzlich durch ein wütendes Gehupe unterbrochen wird. Erschrocken drehen Pia und Leon sich um.
Pia starrt entsetzt auf das wohlbekannte Auto und die Frau am Steuer und seufzt leise.
»Meine Mutter!«, sagt Leon genervt. »War ja klar, dass sie ausgerechnet jetzt hier auftaucht.«
Ein Fenster wird heruntergekurbelt, und dann ertönt eine Stimme, die so wütend klingt wie die Autohupe. »Was machst du hier, Pia? Ich dachte, du kommst mit Cleo direkt von der Schule zur Fashion Show. Wo ist Cleo überhaupt? Ist Französisch ausgefallen?«
Pia schüttelt den Kopf. Sie hasst diesen Regen aus Fragen, der immerzu aus dem Mund von Leons Mutter strömt. Dabei ist sie an den Antworten gar nicht interessiert. Und obwohl Pia das inzwischen weiß, macht sie jedes Mal brav den Mund auf, um sich hinterher umso mehr zu ärgern.
So auch jetzt. »Cleo kommt direkt von der Schule. Ich … ich …« Unter den fragenden Blicken von Frau Bergmann gerät Pia ins Stottern.
»Du hast doch nicht etwa geschwänzt?« Aus ihrem Mund klingt es, als wäre es ein Schwerverbrechen, für das man mit mindestens zehn Jahren Gefängnis bestraft wird.
Pia senkt entsprechend schuldbewusst ihren rot angelaufenen Kopf und schweigt.
»Also doch! Ich fass es nicht! Und ausgerechnet Französisch! Sprachen sind heutzutage das A und O, wenn man weiterkommen will. Was macht ihr hier überhaupt? Leon! Kannst du auch mal was sagen?«
»Wir hatten was … Wichtiges vor.«
Leons Mutters schaut mit ungläubigem Blick auf die Hunderte von Schlössern, die Liebespaare aus der ganzen Stadt an das Brückengeländer gekettet haben zum Zeichen ihrer unauflöslichen Liebe. »Sag jetzt bitte nicht, ihr habt auch so ein albernes Schloss angebracht! Du bist ein solcher Kindskopf, Leon. Als ob das die Liebe haltbarer machen würde.« Ihre Stimme trieft vor Spott.
In diesem Moment hasst Pia sie aus ganzem Herzen.
»Was willst du hier, Mutter?«
Leon ist wütend, aber Pia spürt in seiner Stimme auch, wie peinlich es ihm ist. Denn eigentlich denkt er genau wie seine Mutter. Nur Pia zuliebe hat er mitgemacht.
»Ich bin auf dem Weg zur angesagtesten Fashion Show der Woche und habe extra Karten für deine kleine Freundin besorgt, schon vergessen?« Leons Mutter verdreht die Augen. »Und nun sieh sie dir an! Klatschnass, und mit Sicherheit hat sie nicht mal ein T-Shirt zum Wechseln dabei.« Frau Bergmann schüttelt sich angewidert. »Nun steig schon ein, Pia. Du fährst jetzt mit mir, damit du wenigstens einmal in deinem Leben pünktlich irgendwo ankommst.«
»Du bist ungerecht, Mutter. Es ist noch Zeit genug. Sie wird nicht zu spät kommen. Ich bringe Pia hin.«
Pia schaut ihn dankbar an. Sie bringt wie immer kein Wort heraus, wenn Leons Mutter in diesem Ton mit ihr redet.
»Klar doch, mit dem Mofa, oder was? Damit auch noch die Hose nass wird? Na los, Pia, steig ein. Sonst kommen wir alle noch zu spät.«
»Lass dich nicht von ihr ärgern. Sie meint es nicht so. Wir sehen uns heute Nachmittag!«, flüstert Leon Pia zu und streichelt ihr liebevoll über das Haar.
Pia seufzt. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr auf die Fashion Show gefahren. Aber das würde den Ärger mit Leons Mutter wohl nur noch verschlimmern. Während Frau Bergmann ein weiteres Mal ungeduldig auf ihre Hupe drückt, legt Pia die Arme um Leons Hals und gibt ihm einen zärtlichen Kuss. Dann öffnet sie schnell die hintere Autotür und setzt sich auf die Rückbank.
Kaum hat sie Platz genommen, als Leons Mutter schon Gas gibt. Pia sieht im Rückspiegel ihre zusammengekniffenen Lippen. Warum nur musste sie ausgerechnet in diesem Moment über die Brücke fahren? Es gibt tausend andere Wege, die zu den Hackeschen Höfen führen, wo die Show stattfindet. Aber nein, als hätte ein böser Geist sie geleitet, nimmt Leons Mutter den einzigen Weg, den sie nicht hätte nehmen dürfen.
Leons Mutter ist auch die Mutter ihrer besten Freundin Cleo und arbeitet als Journalistin für eine große Modezeitschrift. Sie hat für Cleo und Pia die Eintrittskarten für einige Shows auf der Berliner Fashion Week besorgt, was sie aber offenbar schon jetzt bedauert.
»Ich weiß gar nicht, warum ich mir das antue!«, murmelt Frau Bergmann vor sich hin, während sie mit quietschenden Reifen durch die Stadt braust. Laut sagt sie: »Ich hoffe, dass Cleo nicht auch schwänzt!« Sie wirft Pia einen forschenden Blick im Rückspiegel zu.
»Cleo schwänzt nie!«, sagt Pia, und das ist fast die ganze Wahrheit, denn die Bauchschmerzen, die Cleo häufig überfallen, wenn Sport auf dem Stundenplan steht, sind meistens erfunden. Aber die Lehrer würden nie vermuten, dass Cleo sie vortäuscht, denn erstens sieht Cleo superbrav aus und zweitens ist ihr Vater Lehrer an der Schule.
»Das will ich ihr auch geraten haben. Und du, sieh dich vor, Fräulein. Wenn ich höre, dass Cleo auch nur einmal den Unterricht schwänzt, dann warst du die längste Zeit ihre Freundin. Und Leon kannst du dann auch vergessen. Dafür werde ich sorgen!«
Pia schweigt.
»Haben wir uns verstanden?« Wenn Blicke töten könnten, läge Pia jetzt durchbohrt auf dem Rücksitz.
»Cleo schwänzt nie, und ich eigentlich auch nicht. Es war eine Ausnahme heute«, sagt sie und hofft, dass Frau Bergmann nicht spürt, wie wütend sie inzwischen ist.
»Das will ich hoffen! Und alles wegen so einem blöden Schloss. Glaubst du wirklich, es verlängert eine Beziehung? Ein kluger Mann hat mal gesagt: ›Liebe ist kein Solo. Liebe ist ein Duett. Schwindet sie bei einem, verstummt das Lied.‹ Soll heißen: Wenn die Luft raus ist, nutzt auch ein Schloss nichts. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung. Und Leon sollte es auch besser wissen. Schließlich hat er erst gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich.«
Pia zuckt zusammen. Davon weiß sie nichts, auch wenn sie nicht angenommen hat, dass sie seine erste Freundin ist. Leon ist schließlich schon neunzehn. Aber vielleicht hat Frau Bergmann sich das auch nur ausgedacht, um sie zu verletzen.
Pia spürt, dass Frau Bergmann sie nicht mag und wahrscheinlich nie mögen wird, wenn nicht ein Wunder geschieht. Aber an Wunder glaubt Pia nicht. Vielleicht hätte sie eine Chance gehabt, wenn sie bei ihrer ersten Begegnung in der großen Villa am Rande der Stadt auf High Heels ins Wohnzimmer stolziert wäre.
Frau Bergmann sieht immer so stylisch aus, als wäre sie geradewegs aus ihrem Modejournal gefallen, trägt nur Schuhe mit hohem Absatz und beurteilt auch andere Frauen nach der Höhe ihrer Absätze.
Aber das hat Pia erst nach und nach gelernt, und da war es schon zu spät. Vor sechs Monaten jedenfalls stand sie da in ihren ausgefransten Jeans und dem engen, knallroten T-Shirt, das so gar nicht zu ihren roten Haaren passte. Pia sucht sich ihre Kleidung nach Bauchgefühl aus und nicht danach, ob etwas zusammenpasst. Und an dem Tag war ihr nach Knallrot zumute gewesen. Was die anderen darüber denken, ist Pia immer egal gewesen. Bis zu diesem Tag. Sie spürte die Blicke von Cleos Mutter wie Nadelstiche auf ihrer Haut.
»Das ist Pia, meine allerbeste Freundin!«, hatte Cleo sie vorgestellt.
»Hmhmm!«, machte Cleos Mutter, musterte sie von oben bis unten und schaute wieder auf ihre Zeitschrift. »Du solltest dieses T-Shirt in die Altkleidersammlung geben. Es beißt sich mit deinen roten Haaren«, sagte sie über die Schulter geworfen. Seitdem ignorierte sie Pia, so gut es ging, und hoffte wohl jeden Tag, dass Cleo die Freundschaft zu Pia beendete.
Bislang vergebens.
Niemals hätte Frau Bergmann freiwillig Karten für Pia für die Fashion Week besorgt, wenn Cleo sich das nicht zum Geburtstag gewünscht hätte. Und niemals wäre Pia freiwillig mit Frau Bergmann irgendwo hingegangen, wenn es nicht Cleos Wunsch gewesen wäre. Cleo möchte, dass sich alle gut verstehen, und sie leidet mehr noch als Pia darunter, dass ihre Mutter ihre beste Freundin nicht ausstehen kann.
Darum hatte Pia sich vorgenommen, gerade heute einen besonders guten Eindruck zu machen. Sie wollte pünktlich sein, gut aussehen, nichts tun, was Frau Bergmann kritisieren könnte. Vielleicht schaffte sie es ja doch, Frau Bergmanns Meinung über sich zu ändern.
Na, das war gründlich schiefgegangen.
»Bitte sei morgen aus-nahms-weise einmal pünktlich! Und zieh dir was Anständiges an, und damit meine ich, keine gebleichten Jeans mit Löchern«, hatte Frau Bergmann ihr gestern Abend noch hinterhergerufen.
Pia hat extra ihre neuen Jeans angezogen und wollte wirklich pünktlich sein, obwohl das nicht ihre beste Eigenschaft ist. Fast jeden Morgen gibt es deswegen Ärger in der Schule, was Pia aber nicht sonderlich interessiert. Geht die Welt davon unter, wenn sie zehn Minuten zu spät kommt? Für Frau Bergmann bestimmt. Pia spürt ihre Blicke erneut auf ihrer Haut.
»Und kämm dich noch mal. Du siehst total verwuselt aus. Na, immerhin hat dein Hut das Schlimmste verhindert. Da hinten in der Seitentasche müssten noch eine Bürste und ein Taschenspiegel sein.«
Pia nimmt ihren Hut ab und fährt sich mit der Hand durch ihre Locken. Dann betrachtet sie sich in dem kleinen Spiegel. So schlimm wie Frau Bergmann tut, findet sie den Anblick nicht. Zwar stehen ihre roten Locken wild um ihren Kopf und auch die Wimperntusche ist etwas zerlaufen, aber sonst ist alles wie immer: Ihre blauen Augen mit den langen schwarzen Wimpern und ihr Gesicht mit den unendlich vielen Sommersprossen, von denen Leon immer sagt, dass er jede einzelne liebt.
Unter den kritischen Blicken von Frau Bergmann kämmt sich Pia ihre Haare und wischt die zerlaufene Wimperntusche ab. »Wie kann man sich nur im Regen auf eine Brücke stellen, wenn man die Chance hat, Frida Weyers Show zu sehen?« Frau Bergmann zeigt sich immer noch schockiert. »Sie bringt Haute Couture, da sollten sich auch die Zuschauer entsprechend stylen. Aber du hast sicher keine Ahnung, was das ist.«
»Maßgeschneiderte Mode aus ganz edlen Stoffen, Abendkleider, anders als Prêt-à-porter«, sagt Pia wie aus der Pistole geschossen.
Für einen kurzen Moment flackert freudige Überraschung in Frau Bergmanns Augen. »Oh, du kennst dich aus? Das hätte ich jetzt nicht erwartet! Warst du schon mal auf einer Fashion Show?«
Pia nickt. »Ja, früher … als Kind … mit meinem Vater und … meiner … Mutter.«
»Na, viel hast du dir da aber nicht abgeschaut. Hast du kein Kleid oder wenigstens einen Rock? Jeans sind keine angemessene Kleidung für die Fashion Week. Wir sitzen bei der zweiten Show heute Nachmittag in der ersten Reihe.«
Pia rutscht verlegen auf der Rückbank hin und her. »Ich habe einen dicken blauen Fleck am Schienbein, vom Fußballspielen am Wochenende.«
Es ist die falsche Antwort. Das wird Pia klar, als sie die Fragezeichen in den Augen von Frau Bergmann sieht. »Fußball?« Aus ihrem Mund klingt das so, als hätte Pia ihr erzählt, sie würde nachts auf der Straße schlafen.
»Ich spiele in der Jugendmannschaft bei Hertha BSC. Bei den Frauen!«, setzt sie noch schnell hinzu, aber das kann sie jetzt auch nicht mehr retten.
»Du spielst Fußball? Ich glaub’s ja nicht!«
Pia seufzt und ärgert sich mal wieder über sich selber. Warum ist ihr nichts Besseres eingefallen? Sie kennt doch inzwischen Frau Bergmanns Meinung über Mädchenhobbys. Entweder sollen Mädchen Ballett tanzen wie Cleo oder Querflöte spielen lernen. Rhythmische Gymnastik oder Kunstturnen sind die einzigen Sportarten, die für Mädchen überhaupt infrage kommen. Pia dagegen hat ihr halbes Leben auf dem Fußballplatz verbracht, seit der Vater sie mit sieben Jahren im Verein angemeldet hat. Und wenn sie nicht gerade Training hatte oder ein Spiel, schaute sie sich im Stadion die Spiele von Hertha BSC an.
»Fußball!«, murmelt Frau Bergmann kopfschüttelnd. »Na, das erklärt einiges. Wenigstens dein Hut kann sich sehen lassen.« Danach schweigt sie für den Rest der Fahrt. Nur ihre Augen, aus denen sie Pia durch den Rückspiegel immer wieder einen bösen Blick zuwirft, sprechen Bände.
Wenn es nicht Leons Mutter wäre, würde Pia an der nächsten Ampel aussteigen. Sie ist es nicht gewohnt, dass man so mit ihr redet. Seit dem Tod ihrer Mutter vor neun Jahren lebt sie mit ihrem Vater alleine. Alle Probleme werden besprochen und dann wird gemeinsam entschieden. Frau Bergmann dagegen behandelt auch Leon und Cleo wie kleine Kinder, die sich für alles vor ihr rechtfertigen müssen.
Pia seufzt und ist froh, als die Fahrt ein Ende hat und Cleos Mutter hocherfreut einen Parkplatz direkt bei den Hackeschen Höfen findet.
Natürlich sind sie viel zu früh. Von den geladenen Journalisten sind erst eine Handvoll vor Ort. Auch Cleo fehlt noch. Frau Bergmann will die Gelegenheit nutzen, um backstage Fotos und Interviews zu machen. Sie drückt Pia die Eintrittskarten in die Hand.
»Warte hier auf Cleo.«
Gehorsam setzt sich Pia auf die Treppe. Sie ist froh, dass sie einen Moment alleine mit ihren Gedanken sein darf. Seit neun Jahren ist sie nicht mehr auf einer Fashion Show gewesen. Seit neun Jahren hat sie um alles, was mit Mode zu tun hat, einen großen Bogen gemacht, weil sie sich vor den Erinnerungen fürchtet, die nun doch über sie herfallen …
Wie oft hat sie als Kind bei Fashion Weeks in der ersten Reihe neben dem Vater gesessen und ihre Mutter bewundert, wie sie da in wunderschönen Kleidern auf dem Laufsteg mit den anderen Frauen spazieren ging. Sie sah die Blitzlichter der Fotografen und hörte das bewundernde Klatschen der Zuschauer.
Pia war sieben, als die Mutter bei einem Verkehrsunfall starb. In den Wochen danach, als Pia ganz allmählich klar wurde, dass sie nicht mehr zurückkommen würde, verkroch sie sich in den Kleiderschrank der Mutter und kuschelte sich in die Reste ihres Parfums, das immer noch in ihren Kleidern wohnte. Hier konnte sie die Bilder von dem großen Sarg in dem tiefen Loch auf dem Friedhof vergessen und sich vorstellen, dass jemand anderes darin lag. Hier im Dunkel des Schrankes wurde die Mutter wieder lebendig.
Am liebsten wäre Pia nie wieder aus dem Schrank gekrochen. Denn draußen verwandelte sich der schöne Traum in einen nicht enden wollenden Albtraum …
Niemand von ihren Freunden ahnt, dass Pias Mutter Model war, selbst Leon nicht. Auch Cleo weiß nur, dass Pias Mutter tot ist, aber nicht, welche Erinnerungen sie mit ihrer Einladung bei Pia wachrufen würde. Sonst hätte sie Pia wohl nie gefragt, ob sie mitkommen will. Pia hat für einen Moment überlegt, ob sie die Einladung ablehnen sollte, aber dann hätte Cleo eine Erklärung gewollt. Und Pia hat Angst – immer noch –, die Erinnerung an den Tod der Mutter aufzuwecken.
Außer Atem kommt Cleo angelaufen. »Wie war’s auf der Brücke?«, fragt sie und schnappt nach Luft.
Pia lächelt bei dem Gedanken an Leon und ihr Liebesschloss. »Traumhaft romantisch … anfangs jedenfalls.«
»In der Schule hat niemand was bemerkt«, erzählt Cleo. »Ich habe das Klassenbuch im Chemieraum gelassen, sodass Herr Peters in der 6. Stunde nichts eintragen konnte. Bis morgen hat der vergessen, dass du gefehlt hast. Und Französisch sprichst du besser als er. Außerdem mag er dich.«
»Aber deine Mutter nicht! Und die wird es deinem Vater sagen und der wieder …«
»Wieso meine Mutter? Was hat meine Mutter damit zu tun?«
»Na, die kam gerade vorbei, als Leon mich umarmte …« Pia seufzt. »Ihr Gesicht hättest du sehen sollen. Sie war richtig sauer auf mich. Und dann musste ich in ihr Auto einsteigen, obwohl Leon mich fahren wollte.«
Cleo muss lachen. »Arme Pia! Na, das gibt sicher Ärger. Da wärst du besser in der Schule geblieben.«
Pia schüttelt den Kopf. »Um nichts in der Welt! Es war jeden Ärger wert.«
In diesem Moment erscheint Cleos Mutter wieder. »Da bist du ja, Kind. Wollt ihr nicht endlich reinkommen?« Sie führt sie vorbei an den Ordnern, die die Eintrittskarten prüfen, in den abgedunkelten Theaterraum.
»Wo ist der Laufsteg?«, will Cleo wissen.
Frau Bergmann lacht. Sie freut sich über Cleos Interesse. »Hier gibt es keinen. Dies ist eine sogenannte Installation. Auf die vier Bühnen, die du an den Seitenwänden aufgebaut siehst, werden sich gleich die Models in ihren Kleidern stellen.« Sie nimmt Cleos Arm und zieht sie weiter. Pia dagegen bleibt stehen und betrachtet staunend die Märchenwelt, in die sie so plötzlich geraten ist. Leise Glockenmusik weht durch den Raum. Jede Bühne ist in ein anderes Licht getaucht. In der Mitte steht ein riesiges Bett mit einem goldenen, von Blumenranken verzierten Rückenteil.
An einem Ende des Saals, dort, wo eine kleine Treppe in den Backstagebereich führt, stehen die Kleiderstangen, an denen die Kleider der Models hängen. Pia streckt die Hand aus und streichelt über den Stoff. Sie beugt sich vor, steckt ihre Nase in eines der Kleider und atmet tief durch. Aber sie duften nicht wie die Kleider ihrer Mutter, sie riechen einfach nur nach … Stoff.
»Pia, lass das! Was machst du?« Cleo steht plötzlich neben ihr und will sie wegziehen, wird aber selber grob beiseitegeschupst.
»Nicht anfassen!«, schimpft ein Mann im schwarzen Anzug. »Wollt ihr die Kleider ruinieren? Geht weg!«
Während die anwesenden Reporter geschäftig von einer Bühne zur anderen eilen, um sich vor dem Auftritt der Models einen Überblick zu verschaffen, bleiben Pia und Cleo wie verzaubert vor einer Bühne stehen, auf der ein Ankleidezimmer für Prinzessinnen nachgebaut ist. Goldene Sessel mit cremefarbenem Polster, goldumrahmte Spiegel und Kerzenständer aus feinstem Meißner Porzellan.
»Wie in Versailles«, flüstert Pia.
»Wer ist das?«
»Nicht wer, was! Das Schloss von Ludwig XIV. Jedes Mal, wenn ich meine Großmutter in Paris besuche, fahren wir dorthin.«
»Tust du mir einen Gefallen?« Ein junger Mann spricht sie von der Seite an.
»Wer, ich?«, fragt Cleo.
»Nee, deine Freundin mit Hut! Ich muss meine Kamera richten, bevor die Models einmarschieren. Wenn die Lichtverhältnisse nicht stimmen, gibt’s ’ne Katastrophe. Mein Chef feuert mich, wenn ich die Fotos ruiniere. Stell dich mal auf die Bühne.«
»Auf die Bühne? Ist das erlaubt?« Pia schaut sich ängstlich um.
»Wenn du schnell machst, bist du wieder runter, bevor sie was merken. Komm, tu mir den Gefallen!«
Pia klettert ein wenig unsicher auf die Bühne und stellt sich hinter den goldenen Spiegelrahmen.
»Nun wink mir mal zu!«, ruft der junge Mann.
Pia hebt die Hand.
»Nicht so schüchtern! Stell dir vor, du bist ’ne Prinzessin!«
Pia wedelt mit der Hand, so wie die englische Kate das im Fernsehen macht.
»Und nun noch einmal auf dem Sofa.«
Pia beginnt die Sache Spaß zu machen. Sie sitzt auf dem Sofa, streckt und räkelt sich, tut so, als ob sie ihre Nase pudert.
»Gut so! Super!« Der junge Mann ist begeistert, hüpft hin und her, dreht hier und da an seiner Kamera und ist schließlich zufrieden. »Danke! Du warst toll! Nun können die Models kommen.« Er reicht ihr die Hand, um ihr von der Bühne zu helfen. »Aus dir könnte auch ein gutes Model werden.«
Pia lacht verlegen. »Ich bin nicht schön genug. Meine Nase ist viel zu klein.«
Auch der junge Mann lacht. »Hast du mal in den Spiegel geschaut? Du hast ein wunderschönes Gesicht. Du fällst auf mit deinen roten Haaren und deiner Stupsnase und deinen lebendigen Augen. Glaub mir, ich hab schon viele junge Mädchen fotografiert. Du hast etwas Besonderes, und darauf kommt es beim Modeln an, nicht auf die perfekte Nase. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.«
Kaum hat er sich verabschiedet, rauscht Cleos Mutter herbei. »Mein Gott, Pia. Was turnst du auf der Bühne herum? Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Kann man dich nicht einen Moment alleine lassen?«
»Der junge Mann wollte Fotos machen«, erklärt Cleo.
»Von Pia? Na, das wird ’ne Niete sein. Kann eine Pia nicht mal von einem echten Model unterscheiden.«
Pia seufzt leise. Egal, was sie auch macht, sie schafft es immer wieder, vor Cleos Mutter wie eine Idiotin auszusehen. Dabei weiß sie genau, dass es im Grunde gar nicht an ihr liegt. So besonders begeistert ist Cleos Mutter ja nie über die Freundschaft zwischen ihr und Cleo gewesen. Aber erst seit sie sich in Leon verliebt hat, und, schlimmer noch, er ihre Gefühle erwidert, lässt seine Mutter keine Gelegenheit aus, um allen zu zeigen, dass Leon etwas Besseres verdient hat als diese Pia. Leon sieht blendend aus und ist der Liebling seiner Mutter.
»Mach dir nichts draus!«, hat Cleo gesagt. »Es liegt nicht an dir. Meine Mutter hasst jedes Mädchen, das sich in Leon verliebt.«
Es liegt nicht an ihr, und trotzdem tut es jedes Mal weh.
Zum Glück für Pia kommen in diesem Moment die Models in den Raum und verteilen sich auf den vier Bühnen, die passend zu den Kleidern der Models gestaltet sind. Eine Bühne entführt die Zuschauer in das Land der Eiskönigin. Schneebezuckerte Sträucher wachsen auf weißem Boden, glitzernde Eisblumen überall. Dazwischen bewegen sich die Models in ihren weißen Abendkleidern, auf denen die silbernen Pailletten um die Wette mit den Blitzlichtern der Fotografen funkeln. Auf einer anderen Bühne sitzen die Mädchen in ihren schwarz-weißen Kleidern an einem gedeckten Tisch, nippen an ihren Teetassen, plaudern miteinander und schauen verträumt umher.
Auf der dritten Bühne sieht man blau gekleidete Models, auf deren nackten Armen sich die verschnörkelten Muster der Tapete spiegeln. Langsam schreiten sie zwischen Vogelkäfigen aus Holz auf und ab.
Für Pia aber gibt es nur eine Bühne: das Ankleidezimmer für die Prinzessinnen, wo inzwischen die Models in zartcremefarbenen Tüllkleidern mit wunderschönen spitzenverzierten Oberteilen unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen Platz genommen haben. Sie plaudern leise miteinander, pudern ihre Nasen, vergleichen die Tanzkärtchen, wechseln aufgeregt Blicke. Junge Mädchen wenige Momente vor dem Beginn des ersten großen Balls ihres Lebens.
In Pias Kopf vermischen sich die Erinnerungen mit den Models auf der Bühne. Die junge Frau am Spiegel, das Kleid, das sie trägt, ein Traum aus Tüll. Jetzt hebt sie den Arm zum Winken.
Pia lächelt und winkt zurück. »Maman!«, flüstert sie. »Maman!«
»Pia! Alles in Ordnung?« Cleo schaut sie besorgt an. »Du bist ganz blass.«
Als Pia nicht antwortet, schüttelt sie ihren Arm. »Pia, rede mit mir! Was ist los?«
Pia zuckt zusammen. »Alles okay. Ich … ich würde gerne einmal so ein Kleid tragen. Wie viel mag es kosten?«
Die Frage geht an Cleo, aber bevor die antworten kann, mischt sich Frau Bergmann ein. »Mehr als du dir in deinem ganzen Leben leisten kannst. Vergiss es! Das sind Kleider für Gewinner.«
»Oder du musst Model werden, wie der junge Mann dir geraten hat!« Cleo grinst.
»Ha! Pia und Model?« Frau Bergmann lacht so laut und schrill, dass die Leute sich umdrehen.
»Sie will Model werden!«
Pia möchte am liebsten im Boden versinken.
»Vergiss es, Pia. Das hier ist eine andere Liga. Viel zu groß für dich. Vielleicht heiratest du ja einen reichen Mann, der dir dann so ein Kleid kaufen kann.«
»Du bist gemein, Mutter.«
»Ich bin nur realistisch, mein Kind. Manche Träume sollte man im Keim ersticken, sonst gibt es nur unnötige Enttäuschungen. Und dass aus Pia ein gutes Model werden kann, das ist ein solcher Traum. Ich kenn mich aus im Modelbusiness.«
Pia ballt die Hände zu Fäusten und beißt die Zähne ganz fest zusammen. Jetzt bloß nicht anfangen zu heulen. Sie stellt sich in eine dunkle Ecke dicht neben die Prinzessinnenbühne und beobachtet von dort aus die Models in ihren wunderschönen Kleidern. Als eine der jungen Frauen ihr ganz nahe kommt, streckt sie die Hand aus, um das Kleid zu berühren …
Auch der Kleiderschrank ihrer Mutter war gefüllt mit solch wunderschönen Kleidern. Wer sie wohl danach getragen hat? Wie gerne hätte Pia sie behalten, aber der Vater hatte seine eigene Art zu trauern, was sie ihm bis heute übel nimmt. Nach dem Tod der Mutter war die Großmutter nach Berlin gekommen, um Pia für einige Wochen mit nach Paris zu nehmen, während der Vater ihr Leben neu organisierte. Das große Haus, das die Mutter mit ihren Modelgagen finanziert hatte, war zu teuer und außerdem gefüllt mit Erinnerungen.
Als Pia zurückkam, erinnerte in der neuen Wohnung nichts mehr an die Mutter. Das Schlimmste aber war, dass der Vater auch den Kleiderschank entsorgt hatte, samt der Kleider, und damit den Ort, an dem ihre Träume von ihrer Mutter wohnten. Ihre Hüte, ihre Schuhe, alles weg. Verschenkt oder verkauft, weil das Geld nach dem Tod der Mutter knapp war. Denn die Mutter hatte das Geld nach Hause gebracht, das die Familie zum Leben brauchte. Und sie hatte in den Jahren vor ihrem Tod sehr gut verdient. Ihr Vater studierte ja noch.
PiaverweigertedasEssen,lagstundenlangaufdemBettundweinte.DieGroßmutterzogfüreinigeMonatebeiihnenein,währendderVaterseinExamenmachte,ummöglichstraschGeldverdienenzukönnen.EswardieGroßmutter,diesietröstete,wennsienachtsnichtschlafenkonnte,diesiemittagsausderSchuleabholte,unddieihr,alssiezurücknachParisflog,versprach,ihrdieHüteunddaseinePaarHighHeelszuschicken,dasnochinParisimehemaligenKinderzimmerderMutterstand.UndsiehieltWort.SobliebenPiavierHüte,einPaarblaueHighHeelsunddieErinnerungenimHerzen…
Wenn Pia an das Gesicht ihrer Mutter denkt, dann sieht sie immer eine Frau mit Hut vor sich. Da war der große Schlapphut, den Pia besonders mag, der kleine blaue mit der Feder, Sommerhüte, Winterhüte, Hüte für jede Gelegenheit und jede Stimmung. Ihre Mutter hat Hüte geliebt. Es gibt auch kaum ein Kinderbild von Pia ohne Hut.
Die vier Hüte aus Paris hat Pia all die Jahre wie einen kostbaren Schatz gehütet und, wenn sie alleine in ihrem Zimmer war, aufgesetzt. Anfangs rutschten sie ihr immer ins Gesicht, inzwischen ist ihr Kopf groß genug.
Sogar in die Schule geht sie nie ohne Hut. Im Unterricht muss sie sie absetzen, nur Herr Peters, der Französischlehrer, erlaubt ihr den Hut. Daraufhin wollten auch die Jungs ihre Caps aufbehalten; aber Herr Peters stellte die Regel auf: Wer in Französisch auf glatt Eins steht, darf einen Hut tragen. Er ist auch der Einzige, mit dem sie über die Mutter sprechen kann, auf Französisch geht das leichter.
»Pia! Wach auf! Wir fahren weiter. Mutter wartet schon.« Cleo rüttelt sie behutsam am Arm. »Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut?«
»Nur ein bisschen schwindelig«, sagt Pia.
Selbst Frau Bergmann fällt auf, wie blass Pia ist. »Du musst mehr trinken, Kind. Mir ist auch ganz schwummerig zumute. Wir werden erst mal was essen und dann – hopp, hopp – zur nächsten Show.«