Faustinas
Vollendung
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Nadine Püschel und Max Stadler
Titel der Originalausgabe unter dem Titel
Secrecy
erschien 2013 bei Granta Books, London.
ISBN 978-3-8412-0767-8
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2014
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright © 2013 by Rupert Thomson
Translated from the English language: SECRECY
First published by: Granta Publications, 2013
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Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, Hamburg unter Verwendung eines Gemäldeausschnitts »Lucrezia Panciatichi« von A. Bronzino, akg-images / Rabatti - Domingie
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Inhaltsübersicht
Cover
Impressum
Widmung
EINS
ZWEI
DREI
DANKSAGUNG
Informationen zum Buch
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Für Calvin Mitchell
Auf ewig
»Hund zu Wolf, Licht zu Zwielicht, Leere zu wartender Gegenwart.«
Thomas Pynchon
»Angst ist ein Teil von mir.«
Ryūichi Tamura
Er kam an einem Novembertag. Ein kalter Wind blies, und die Felder waren vom Regen durchtränkt. Man schrieb das Jahr 1701. Von meinen Privatgemächern aus sah ich seine Kutsche knarrend zum Halt kommen, ein dürres, spinnenartiges Ding, schwarz vor dem rauchigen Blau der Pflastersteine. Die Tür öffnete sich eine Handbreit, ging wieder zu. Dann schwang sie weit auf. Beim Aussteigen tastete sich sein Fuß geradezu widerwillig dem Boden entgegen. In diesem Moment wurde mir klar, dass er dem Tode geweiht war. Die Erkenntnis überrumpelte mich, und ich musterte ihn noch eingehender. Eine schmächtige Gestalt in dunklem, bis zum Hals zugeknöpftem Mantel, die zu den triefenden Klostermauern hinaufstarrte. Mein Fenster befand sich im obersten Stockwerk; er bemerkte mich nicht.
Im Monat zuvor hatte ich einen Brief von ihm erhalten. Ihr kennt mich nicht, begann er, aber ich habe Euch etwas von größter Wichtigkeit mitzuteilen. Etwas, das nur persönlich, von Angesicht zu Angesicht, übermittelt werden sollte. Seine Handschrift war so kraus und gedrängt wie eine Dornenhecke, und er hatte mehr Worte gebraucht als eigentlich nötig. Ein Zeichen von Nervosität? Von mangelnder Bildung? Ich konnte es nicht sagen. Ich beobachtete, wie er mit dem Torwächter sprach, der über ihn hinweg einen Blick mit dem Kutscher wechselte. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich Ratlosigkeit ab und auch ein Hauch von Spott. Hatten sie gespürt, was ich spürte? Vielleicht kommt im Leben irgendwann der Augenblick, wo wir nicht mehr die gewohnte Aufmerksamkeit erhalten, wo die Welt uns plötzlich ignoriert, weil sie nicht länger glaubt, dass wir von Bedeutung für sie sind. Mit einem Schaudern wandte ich mich ab.
Ich setzte mich und begann, mich vorzubereiten. Abgesehen von dem Opalring an meiner linken Hand, war der Frisiertisch das einzige Zugeständnis an meine Eitelkeit; große Freude hatte ich allerdings nicht daran. Der Spiegel zeigte mir Falten, Hängebacken, Wülste – die Modellierarbeit so vieler von Gedankenlosigkeit und Enttäuschung geprägter Jahre. Aber wenigstens hatte ich gelebt, obschon inzwischen sechsundfünfzig … Dazu die einfache, sackartige Robe einer Äbtissin – ausgerechnet ich, Marguerite-Louise von Orléans! Wer hätte das gedacht? Gewiss nicht der Tanzlehrer, obwohl er das Kostüm sicherlich unterhaltsam gefunden hätte. Nicht der Koch, nicht der Dichter, auch nicht der Stallbursche. Nein, keiner meiner zahlreichen Liebhaber. Außer vielleicht der Großherzog der Toskana. Bei ihm konnte ich aber nicht behaupten, je einen Liebhaber in ihm gesehen zu haben. Ehegatte, ja. Nicht Liebhaber. Diese Bezeichnung hatten seine halbherzigen Liebesbezeugungen nicht verdient. Ich war mir allerdings sicher, dass er den Beschluss des Königs von Frankreich, mich in ein Kloster abzuschieben, gebilligt hatte. Da ist sie gut aufgehoben, konnte ich ihn sagen hören. Mögen seine Knochen in der Hölle zu Staub gemahlen werden. Amen.
Ich trug Rouge auf meine Wangen auf und zog die stolzen Bogen meiner Augenbrauen nach. Meine Lippen, die nicht mehr so großzügig ausgeprägt waren wie früher, benötigten ebenfalls eine Verschönerung. Gerade da wurde ich von einer Novizin unterbrochen. Als sie sah, was ich tat, errötete sie und wandte den Blick ab.
Sie sagte, ich hätte Besuch.
»Ich weiß«, antwortete ich.
Als sie ihn hereinführte, stand ich am Fenster meines Empfangszimmers. Kahle Wände, harte Stühle. Die Feuerstelle ächzte unter Holzscheiten, die nur mühsam Feuer fingen.
»Zumbo«, begrüßte ich ihn.
Er verbeugte sich. »Ehrwürdige Mutter.«
Seinem Mantel nach zu urteilen, der erkennbar ferner Herkunft und deutlich abgetragen war, hatte ich es mit einem bescheidenen Menschen zu tun oder zumindest mit einem Mann, der sich nicht um Mode scherte. Unter seinem Arm klemmte eine abgegriffene braune Mappe.
»Also, nun ja«, fuhr er fort, »ich war mir nicht sicher, wie ich Euch ansprechen sollte …«
»Ehrwürdige Mutter genügt.«
Er sah mich geradeheraus und mit einer seltsamen Mischung aus Neugierde und Zuneigung an. Die Haut um seine Augen war verquollen, als hätte er längere Zeit nicht geschlafen.
Ich wandte mich an die Novizin. »Du kannst gehen.« Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, trat ich näher an meinen Besucher heran. »Es geht Euch nicht gut, nicht wahr?«
»Darf ich mich setzen?«
Ich führte ihn zu einem Sessel am Feuer.
Im Sommer, berichtete er, war er in Marseille urplötzlich von gewaltigen Kopfschmerzen niedergestreckt worden. Daraufhin hatte man ihn in eine Herberge nahe dem Hafen gebracht. Es hatte nach Fischinnereien gestunken; als er wieder zu sich kam, musste er sich sofort übergeben. Da die Wirtin leuchtend rotes Haar hatte, dachte er in seinem Delirium, sie stünde in Flammen, und bat um Wasser; nicht weil er Durst hatte, sondern um das Feuer zu löschen. Seine Lippen verzogen sich zu einem kurzen, trockenen Lächeln, bevor er weitersprach. Der von der Wirtin gerufene Feldscher hatte ihm mitgeteilt, dass seine Leber versage und er binnen eines Monats sterben werde. Aber dieser Monat war nun schon lange verstrichen. Bei seiner Ankunft in Paris hatte der Leibarzt des Königs die Diagnose jedoch bestätigt.
»Ich wusste, dass Ihr krank seid«, sagte ich. »Die Art, wie Ihr aus der Kutsche gestiegen seid …«
Zumbo rieb sich mit der flachen Hand die Seite seines Kopfes.
»Euer Brief hat meine Neugierde geweckt«, fuhr ich fort. »Was Ihr ja sicher auch beabsichtigt habt, nicht wahr? Ihr verrietet gerade genug, um eine Audienz zu erwirken.«
Im Schornstein heulte der Wind; vom Kamin zog Rauch ins Zimmer. »Ich gestehe, dass ich noch nie von Euch gehört hatte. Ich musste Erkundigungen einholen.«
Er warf mir einen beunruhigten Blick zu. »Und was habt Ihr in Erfahrung gebracht?«
»Es gibt einige Unstimmigkeiten bezüglich Eures Namens.«
»Mein Geburtsname ist Zummo«, antwortete er, »und ich bin den größten Teil meines Lebens auch Zummo genannt worden. Das ›b‹ fügte ich erst hinzu, als ich mit den Franzosen zu handeln begann. Das machte es ihnen leichter.« Seine Erklärung schien mir verdächtig, aber ich ließ sie durchgehen.
»Ihr stellt Dinge her«, sagte ich. »Aus Wachs.«
»Ja.«
»Manche sehen in Euch einen vollendeten Künstler, andere einen Hexer. Ihr seid geheimnisumwoben. Besessen. Umstritten.«
Zumbo nickte mit gesenktem Blick.
»Zuerst glaubte ich, Euer Besuch sei eine Idee meines Mannes«, sagte ich, »und als ich hörte, dass Ihr einst für ihn gearbeitet hattet und er sogar Euer Patron war … nun, Ihr könnt es Euch denken.«
»Warum habt Ihr dann zugestimmt, mich zu empfangen?«
»Ach, aus Neugierde, und aus Langeweile. Außerdem würde nicht einmal ein so einfältiger Mann wie der Großherzog darauf kommen, einen Künstler für ihn vorsprechen zu lassen.«
Zumbo lächelte in sich hinein.
»Wie auch immer«, sagte ich, plötzlich ungeduldig geworden, »wie lautet nun diese Mitteilung, die so wichtig sein soll?«
Sein Kopf hob sich langsam, sein ganzes Gesicht spannte sich, sodass sich die Knochen unter seiner Haut abzeichneten. »Es geht um Eure Tochter.«
»Anna Maria? Was für eine Enttäuschung, dieses Mädchen. Eine Vogelscheuche geradezu. Kein Wunder, bei diesem Vater …«
»Nicht sie. Die andere.«
Obwohl ich reglos dasaß, glaubte ich rückwärts gewirbelt zu werden. Die Mauern der Gegenwart stürzten in sich zusammen, und die Vergangenheit brach über mich herein wie ein reißender, unaufhaltsamer, mit Trümmern angefüllter Fluss. »Wie könnt Ihr davon wissen? Niemand weiß davon.«
Er gab keine Antwort.
Noch immer um Fassung ringend, erhob ich mich von meinem Stuhl und trat ans Fenster. Draußen peitschte der Regen heran, brutalen Bleistiftstrichen gleich, als wäre die öde Landschaft östlich von Paris ein Fehler, der durchgestrichen werden musste.
»Erzählt«, sagte ich endlich in erzwungen gleichgültigem Ton. »Ich habe ohnehin nichts Besseres zu tun.«
»Gut«, sagte er.
Es hätte einer der aufregendsten Augenblicke meines Lebens sein sollen. Da stand ich nun und blickte von einem Berghang zum ersten Mal auf Florenz hinab. Am späten Nachmittag des achtzehnten April im Jahr 1691. Unter einem Band von Wolken brach flimmernd eine feurig orangefarbene Sonne hervor, wie etwas, das neu zur Welt kommt. Es blieb weniger als eine Stunde bis zum Einbruch der Nacht. Ich betrachtete die eng zusammengedrängten Gebäude unter mir, die aus dem Dunst über dem Fluss ragenden Türme mit ihren kantigen Zinnen. In meiner Tasche raschelte Papier, eine Einladung Cosimos des Dritten, des Großherzogs der Toskana. Und dennoch – dennoch was?
Nicht einmal der Tanz der Vögel über den Dächern konnte mich davon abhalten, einen verstohlenen Blick über die Schulter zu werfen. Natürlich war da nichts. Nur das stille Gras, die ernsten, dichten Kiefern und das blassblaue, unendlich weite Himmelsgewölbe.
Über fünfzehn Jahre waren vergangen, doch ich konnte nicht vergessen, was hinter mir lag, was mir auf Schritt und Tritt folgte. Ich hatte immer befürchtet, dass ich eines Tages – wie es manchmal in Träumen vorkommt – feststellen müsste, nicht länger laufen oder mich auch nur bewegen zu können. Als steckte ich bis zur Hüfte in Sand. Dann gäbe es kein Entrinnen, und alles wäre verloren.
Als ich 1675 meine Heimat Syrakus verließ, hingen die Gerüchte wie eine Meute hungriger Hunde an meinen Fersen. Obwohl ich erst neunzehn war, wusste ich, dass es kein Zurück geben würde. Ich durchquerte Katanien und folgte der Küste. Der Ätna mit seinen fruchtbaren Hängen, seinen üppigen Früchten und Blumen thronte Zerstörung verheißend im Westen. Von Messina aus segelte ich westwärts. Es war Ende Juli. Eine stickige Nacht mit einem faden rötlichen Mond und wie von Rost und Kupfer umrahmten Wolken. Obwohl sich kein Lüftchen regte, wütete die See, als kämpfe sie um ihre Freiheit. Mehrmals glaubte ich, das Schiff würde sinken. Das wäre mein Ende gewesen, und so mancher hätte sich bei der Nachricht von meinem Tod die Hände gerieben. Vor Freude! Porco dio.
Ein oder zwei Jahre verbrachte ich in Palermo, dann bestieg ich ein weiteres Schiff und reiste in Richtung Nordosten, nach Neapel. Ich hatte nichts verbrochen, wessen man mich beschuldigte, doch in jeder gut erzählten Lüge versteckt sich eine gewisse Wahrheit, eine Wahrheit, die wie der Geruch von Rauch oder rohem Knoblauch an dir haften bleibt. Die Menschen sind immer bereit, das Schlechteste zu glauben. Aus Angst, entdeckt oder verraten worden zu sein, wechselte ich oft mitten in der Nacht meine Unterkunft, und in jenen heimtückischen, verstohlenen Stunden vor dem Morgengrauen ergriff mich eine solche Verbitterung, dass ich mein eigenes Spiegelbild kaum erkannte. Bei anderen Gelegenheiten lachte ich meinem Schicksal ins Gesicht. Sollten sie doch die Tatsachen verdrehen, meinen Ruf vernichten. Sollten sie doch im Schmutz wühlen. Ich würde mir einen Weg bahnen, etwas Einzigartiges und Ruhmvolles erreichen, jenseits von allem, was sie sich vorstellen konnten. Ich würde mich auf niemanden verlassen, und niemand sich auf mich. Ich war heimatlos, aber ich hatte meine Arbeit, von der ich glaubte, dass sie mich retten würde. Nichtsdestotrotz war ich immer auf der Hut, wie ein Soldat im Krieg, und trug Tag und Nacht ein Messer bei mir, obwohl es in den meisten Städten verboten war. Gelegentlich brütete ich über der Vergangenheit und legte dabei vorsichtig den Finger in die Wunde. Ständig wachsam, selten ruhend – in diesem Gemütszustand verschlug es mich schließlich nach Florenz.
Noch einmal blickte ich auf die Stadt hinunter. Zwischen den Plätzen und Wohnhäusern ragte die rostrote Kuppel von Santa Maria del Fiore auf, wie die umgedrehte Hälfte eines Granatapfels auf einer gedeckten Tafel. Die dicke Schale schien ausgehöhlt, die schimmernden Kerne längst entnommen. Weder Geschrei noch Geschäftigkeit waren zu hören, aber das hätte mich vielleicht nicht überraschen dürfen. Ich dachte an das Land, durch das ich gereist war, an die unbewohnten, dachlosen Bauernhäuser, an die überwucherten Straßen und Pfade, an die ungeernteten Oliven, die wie aufgeblähte Pupillen von den Zweigen starrten.
Ein Geisterland.
Auf dem Berg über Florenz fiel ich auf die Knie. Nicht vor Ehrfurcht und Staunen, sondern um die Welt zu betrachten, die ich bald betreten würde, und mich innerlich darauf vorzubereiten.
Als ich das Südtor durchschritt, schlug eine Glocke beharrlich und verloren zur Nacht. Der Torwächter meinte, ich hätte Glück. Eine Minute später, und ich hätte außerhalb der Mauern übernachten müssen. Er wirkte enttäuscht; vielleicht hatte ich ihn einer der heimlichen Freuden seiner Arbeit beraubt. Einem Wachmann zeigte ich meine Papiere. Er gähnte und winkte mich durch. Ich fand mich auf der Via Romana wieder. Gebäude mit hohen, grauen und gelben Fassaden voller vergitterter Fenster drängten von beiden Seiten heran. Ihre Traufen standen so weit vor, dass sie sich über mir beinahe berührten. Dazwischen das schmale dunkle Band des Himmels. Ich hörte, wie sich das Tor krachend schloss und eine Frau fluchte. Ausgesperrt wahrscheinlich. Dem Torwächter würde das gefallen.
Ich erreichte den Ponte Vecchio, dessen Juweliergeschäfte für die Nacht geschlossen waren. Auf halber Strecke blieb ich stehen und lehnte mich gegen das Brückengeländer. Die vom Fluss herziehende Brise roch nach Entengries und nassem Schlamm. Nach sechzehn Jahren voller vorsichtiger Ankünfte und überhasteter Abreisen war all meine Vorfreude aufgebraucht, waren alle Verheißungen übergangen oder gebrochen. Ich erinnerte mich an einen Nachmittag während meines letzten Aufenthaltes in Rom, den ich mit einer jungen Witwe verbracht hatte. Ihre Lider pulsierten und flatterten, als sie unter mir lag, ihr Hals glänzte vor Schweiß. So erinnerte sie mich an Madernos gewagte, herrliche Skulptur der heiligen Cäcilie. Bleib bei mir, wisperte die Frau. Wir passen so gut zusammen … Doch jetzt betrat ich wieder Neuland; alles lag vor mir, alles war unbekannt.
Einige Minuten später ragte die ungeheuerliche, blanke Mauer des Bargello vor mir auf. Der Anblick mehrerer runder Gegenstände auf den Zinnen ließ mich innehalten. In der Düsternis konnte ich schemenhaft gefletschte Zähne und Haarbüschel ausmachen. Ein kahlköpfiger Mann trat aus einem Eingang und sah, worauf ich starrte.
»Sodomiten«, erklärte er.
Genau wo ich jetzt stand, sei erst gestern eine Krähe mit einem Augapfel im Schnabel gelandet. Mit einem Schulterzucken wandte er sich wieder seinem mageren Angebot an Obst und Kräutern zu.
Ich fragte ihn, ob er das Gasthaus Zur Muschel kenne. Er antwortete, ich sei schon zu weit gegangen und müsse zurück zur Via del Corno, hinter dem Palazzo Vecchio.
Ein schwacher Regen fiel, und so eilte ich durch die feuchten, befremdlich schweigsamen Gassen.
Das Gasthaus war mir von Borucher, dem Mittelsmann des Großherzogs, empfohlen worden. Dort angekommen, gelangte ich durch einen Bogengang in einen engen Hof. Schmutzige graue Wände ragten zu dem schwarzen Loch des Himmels weit über mir hinauf. Wahrscheinlich drang hier nicht einmal im Sommer Sonnenlicht herein. War ich hier richtig? Es wirkte nicht sehr einladend.
Als ich gerade an die Tür klopfen wollte, erschien ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren.
»Ist dies das Gasthaus Zur Muschel?«, fragte ich.
Ihre blasse, viereckige Stirn ließ mich an ein unbeschriebenes Blatt Papier denken. Sie hatte Pflanzen und Strohhalme in ihr langes, stumpfes Haar geflochten. Ihre Schuhe waren so groß wie Ruderboote.
»Das ist der Hintereingang«, sagte sie. »Außerdem sind wir ausgebucht.«
»Ich habe ein Zimmer reserviert.«
»Wer seid Ihr?«
»Mein Name lautet Zummo.«
Sie führte mich durch einen unbeleuchteten, nach Essig riechenden Gang.
»Meine Mutter wird sich um Euch kümmern«, rief sie über die Schulter.
Sie sprach zwar wie eine kleine Dame, aber sie bewegte sich schwerfällig und plump. Wie eine von unsichtbaren Fäden gesteuerte Marionette hob sich bei jedem Schritt ihr ganzer Körper der Decke entgegen und fiel danach wieder in sich zusammen. Vielleicht hatte sie einen Klumpfuß oder unterschiedlich lange Beine.
Wir passierten einen weiteren Durchgang und betraten einen zweiten Hof. Eine Frau mittleren Alters in einem orangefarbenen Schal beugte sich über ein zappelndes Perlhuhn. Mit einer plötzlichen, brutalen Drehbewegung brach sie ihm das Genick. Dann richtete sie sich auf und wandte sich uns zu. Der tote Vogel baumelte schlaff in ihrer Faust, wie eine vertrocknende Blume.
»Ihr seid der Bildhauer«, sagte sie.
»So ist es.«
»Ich habe Euch vor einer Woche erwartet.«
»Ich bin von Sienna zu Fuß gegangen. Es dauerte länger, als gedacht.«
Sie musterte mich, als müsse sie meine Worte sorgfältig entschlüsseln. Ihr straff nach hinten gebundenes, aschfarbenes Haar baumelte wie ein Seil zwischen ihren Schulterblättern. Einer ihrer oberen Schneidezähne fehlte.
»Euer Gepäck ist angekommen«, erklärte sie. »Ein Berg von Sachen. Ich habe es auf Euer Zimmer bringen lassen.«
Ich dankte ihr.
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Die zusätzlichen Nächte kosten extra.«
»Selbstverständlich.«
»Ich bin übrigens Signora de la Mar.«
»Das ist spanisch, nicht wahr?«
»Mein Mann war Spanier, möge Gott sich seiner wertlosen Seele erbarmen.« Sie bekreuzigte sich beiläufig und reichte dem Mädchen das Perlhuhn. »Bring das in die Küche.«
Als die Kleine verschwunden war, wandte sie sich wieder mir zu. »Sie heißt Fiore. Ich hoffe, sie stört Euch nicht.«
»Ist sie Eure Tochter?«
»Ja.«
Sie führte mich auf mein Zimmer im fünften Stock. Dunkle Balken bildeten die Decke. Die Wände waren in einem schummrigen Rosarot gestrichen. Es gab einen Schreibtisch, einen Kamin und ein Bett mit schwarzem Metallrahmen. Mein Gepäck war in einen Alkoven hinter einem braunen Samtvorhang gestapelt worden.
»Der Abzug funktioniert«, sagte sie, »aber Feuerholz ist teuer.«
In dieser Nacht schlief ich unruhig. Meine Brust war wie zugeschnürt, und in meinem Kopf herrschte Chaos; tausende Gedankenfetzen verknoteten sich willkürlich und in rasender Abfolge. In den frühen Morgenstunden verließ ich das Bett und zog die Vorhänge aus Wachstuch auf. Türme und Kuppeln, und dahinter, dunkler als der Himmel, der Bergkamm, auf dem ich wenige Stunden zuvor gestanden hatte.
Während ich mich auf das Fensterbrett stützte, erinnerte ich mich an einen Traum. Darin war ich im Dunkeln eine steile Treppe hinaufgestiegen. Auf dem Absatz angekommen, stolperte ich auf eine Tür zu, die sich öffnete, als ich herantrat. Im Innern saß ein Mann auf dem Boden, gegen die Wand gelehnt. Ich wusste, dass ich den Großherzog vor mir hatte, auch wenn ihm die für die Medici-Familie typischen vollen Lippen und vorstehenden Augen fehlten. Eigentlich ähnelte er mit seinen roten Wangen und dem blonden Haar eher meinem Bruder Jacopo – Jacopo, die Quelle all meines Elends und Ungemachs. Der Großherzog erkannte mich, wirkte jedoch geistesabwesend. Er blickte auf seine zur Faust geballte rechte Hand. Ich vermutete, er habe eine Fliege darin gefangen, und erwartete, ein leises, wütendes Brummen zu vernehmen. Ich hörte nichts.
Später führte er mich hinaus in den Garten. Obwohl es Nacht war, glühte der Himmel in einem bleichen Licht. Ungezwungen liefen wir nebeneinander her. Weder er noch ich verspürten den Drang zu sprechen. Es war, als kannten wir uns schon ein Leben lang.
Am Ende des Pfades sprach er zum ersten Mal. Ihm sei berichtet worden, sagte er leise, dass ich ihn verraten hätte. Ob das stimme? Ich trat an ein Steingeländer und bemühte mich, unbeschwert und unschuldig zu wirken. Vor mir befand sich ein mehrere hundert Fuß tiefer Abhang; ich blickte in schwindelerregende Leere. Von Panik ergriffen, fragte ich ihn, was er in der Hand halte. Seine Zähne fletschten sich zu einem kalten Lächeln. Ich war in eine sorgfältig ausgelegte Falle getappt, und doch beantwortete er weder meine Frage, noch öffnete er die rätselhafte Faust.
Ich wandte mich vom Fenster ab. Als ich zurück ins Bett stieg, begann irgendwo in der Nähe ein Mann zu sprechen. Seine Stimme war zu einem Knurren gesenkt, und obwohl ich seine Worte nicht genau verstehen konnte, hörte ich so etwas wie Trotz und Reue heraus. Als ich der Signora am Morgen davon berichtete, meinte sie, das klinge ganz nach ihrem Mann, der allerdings vor langer Zeit gestorben sei, in dem Jahr, als der Strauß aus dem großherzoglichen Gehege entflohen war. Eine Menschenmenge sei dem Tier über den Ponte Vecchio gefolgt und habe seine abgehackten Bewegungen nachgeahmt. Bei der Erinnerung daran lächelte sie und schüttelte den Kopf, und damit war es zu spät für meine Beileidsbekundungen. Recht überlegt, fuhr sie fort, sei es wohl Ambrose Cuif gewesen, den ich gehört hatte. Ein Franzose, der über mir im obersten Stockwerk wohne und unter Schlaflosigkeit leide. Aber dessen Stimme sei eigentlich hell und piepsig, fast wie die eines Mädchens. Vielleicht hatte ich doch nur geträumt.
»Vielleicht«, antwortete ich.
Eines Morgens während der ersten Woche wurde ich von einem Klopfen an meiner Tür geweckt. Auf meine Frage, wer es sei, erhielt ich keine Antwort. Ich öffnete die Tür und blickte hinaus. Die Treppe war leer; aus der Taverne weit unten drangen Stimmen herauf. Auf dem Boden, nur wenige Zoll vor mir, lag ein langes, papierähnliches Ding, durchscheinend wie ein Streifen abgewetzter grauer Seide. Bei näherer Betrachtung stellte es sich als die abgeworfene Haut einer Schlange heraus. Irgendetwas sagte mir, dass die Tochter der Wirtin dafür verantwortlich war. Als ich sie kurz darauf in der Diele traf, bedankte ich mich für das Geschenk. Sie errötete und rannte aus dem Zimmer, wobei sie mit ihrer Hüfte gegen ein kleines Tischchen stieß. Eine Vase wackelte, fiel aber nicht um.
Die Signora sah von ihren Rechnungsbüchern auf. »Sie scheint Euch ins Herz geschlossen zu haben.«
Am Nachmittag fragte ich Fiore, ob sie Lust habe, mich in der Stadt herumzuführen. Sie biss sich auf die Unterlippe, drehte sich um und ging zum Fenster. Draußen fiel ein stecknadelfeiner Sprühregen. Sie wüsste einige Orte, meinte sie schließlich, die sie mir vielleicht zeigen könne.
Am nächsten Tag war das Wetter aufgeklart, und wir machten uns unter einem kristallklaren Himmel auf den Weg. Fiore ging mit ihrem schwerfälligen Gang und seltsam geschmücktem Haar voraus. Aber weil sie die Führung übertragen bekommen hatte, bewegte sie sich mit dem Stolz einer Königin, und mehrere Händler verbeugten sich grinsend, als sie vorüberging. Vor der Santissima Annunziata erzählte ich ihr, dass die Kirche bis vor kurzem Wachsfiguren beherbergt hatte. Einige waren in Nischen in den Wänden eingefasst, andere hingen von der Decke. Manchmal riss eines der Seile, woraufhin die Statuen auf die unter ihnen betende Gemeinde stürzten. Menschen, die längst tot waren, hatten andere Menschen erschlagen.
Fiore stemmte die Hände in die Hüften. »Wer zeigt hier wem die Stadt?«
Danach hielt ich den Mund.
Unsere erste Station war der Duomo, oder Santa Maria del Fiore, natürlich nach ihr benannt. Wir erklommen einige steile Stufen zu einem Turm, der den Guazzi-Zwillingen gehörte. Simone und Doffo Guazzi stellten Feuerwerkskörper her. Fiores Enthusiasmus war kindlich und ansteckend. Nachdem wir eine verlassene Walkmühle erkundet hatten, überquerten wir den Fluss, um eine weitere Kirche zu besuchen, die Santa Felicita. In der Mitte des Kirchenschiffs drehte Fiore dem Altar den Rücken zu und deutete auf ein Eisengitter hoch in der Wand über dem Eingang. Der Geheimgang des Großherzogs, den er benutzte, wenn er sich unbeobachtet durch die Stadt bewegen wollte. Sie hatte ihn einmal gesehen, sagte sie, wie er in die Kirche hinabblickte. Zum Abschluss führte sie mich zu einem verzierten, aber schmutzstarrenden Gebäude im Judenghetto. Hier war eine Gräfin von einem ihrer vielen Liebhaber erstochen worden.
Die Dämmerung brach herein. Auf dem Rückweg zum Gasthaus Zur Muschel, im Labyrinth der Gassen rund um das Ghetto, erläuterte Fiore weitere Details des Mordes. Das Messer des Liebhabers hatte sowohl die Kehle der Gräfin als auch ihre Halskette durchtrennt, und wenn man in bestimmten Nächten die Ohren spitzte, konnte man angeblich das Klick-Klick-Klick die Treppe herabkullernder Perlen vernehmen. Ich hörte nur noch mit halbem Ohr hin. Die meisten Läden nahe dem Mercato Vecchio waren mit Ölpapier verhangen oder mit einer Holzklappe verschlossen, aber ich blieb zufällig vor einem Geschäft stehen, das ein Schaufenster aus Glas hatte. Angesichts der vielen ausgestellten Gefäße und Flaschen musste es sich um eine Apotheke handeln, obwohl nirgendwo ein Name oder ein Schild zu sehen waren. Ich trat näher. Als kleiner Junge hatte ich ganze Stunden in Apotheken verbracht. Immer wenn meine Mutter krank wurde, was nach dem Tod meines Vaters immer häufiger geschah, wurde ich geschickt, die Medikamente abzuholen. Während ich wartete, hörte ich den im Laden versammelten Männern zu. Sie redeten über ihre Familien und ihre Arbeit, über Religion und Politik. Schnell begriff ich, dass es keinen besseren Ort gab, um den Puls einer Stadt zu spüren und ihre Geheimnisse zu erfahren.
Ich betrachtete die Auslage, die mit Kräutern gegen Schwangerschaft dekoriert war. Ich erkannte Wermut und Wacholder. Da erschien eine Hand und stellte ein neues Gefäß ins Schaufenster. Ich sah auf und begegnete dem Blick einer jungen Frau. Vielleicht verlieh mir die Glasscheibe zwischen uns Mut, womöglich auch der ungewöhnliche Kontrast ihres schwarzen Haares zu den blassgrünen Augen; jedenfalls blieb ich wie angewurzelt stehen und starrte sie an, bis sie mit der Andeutung eines Lächelns den Blick senkte und sich ins dunkle Innere zurückzog. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich abzuwenden und wie verzaubert durch die feuchte, schattige Schlucht der Gasse zu wandern. Unerklärlicherweise schwebten plötzlich Tausende zarter, durchscheinender Pusteblumensamen durch die Luft, wie flüchtige, halb eingebildete Schneeflocken. Erst als ich die nächste Straßenecke erreichte, erinnerte ich mich an Fiore. Ich blickte über die Schulter und sah sie in ihren schäbigen, schlecht sitzenden Schuhen hinter mir hereilen.
Einige Tage später rief Signora de la Mar durch meine Tür: »Ihr habt Besuch.«
Ich antwortete nicht. Ich arbeitete an einer Zeichnung des Mädchens, das ich gesehen hatte, und wollte nicht gestört werden.
Die Tür öffnete sich. »Er kommt vom Palast.«
Ich sah auf. Das Gesicht der Wirtin war gerötet, und ich dachte mir sofort, dass es nicht an den fünf Stockwerken lag, die sie heraufgestiegen war.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann ihm sagen, dass Ihr beschäftigt seid, wenn Ihr wollt.«
»Vielleicht sehe ich besser nach, worum es geht.«
Ich folgte ihr nach unten in die Diele. Mit dem Rücken zum Fenster stand dort ein Mann in kostbaren, dunklen Gewändern. Er war grobschlächtig gebaut, sein Schnurrbart ergraute schon leicht. Ich schätzte ihn um die sechzig.
»Das Gasthaus Zur Muschel«, sagte er. »Es ist schon einige Jahre her, dass ich hier war.« Seine Stimme war kraftvoll und wohlklingend. Eine Stimme, die es gewohnt war, beachtet zu werden. »Ihr kennt die Geschichte, nehme ich an?« Ich schüttelte den Kopf.
Der Ehemann der Signora, erzählte er, stammte aus Salamanca, das berühmt für seine mit Muscheln gefüllten Pasteten war. Dort gebe es wohl ein mit Muschelschalen verziertes Haus, und der Spanier habe davon geträumt, dieses Haus in Florenz nachzubauen. Doch die Winter waren zu feucht, sodass sich die Muscheln immer wieder lösten. Außerdem seien sie ständig gestohlen worden. So habe er nach und nach seine Kraft und Zielstrebigkeit verloren.
»Und zuletzt starb er ausgerechnet an Muscheln.« Er strich über seinen Schnurrbart. »Ihr seid Sizilianer, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wann wart Ihr das letzte Mal dort?«
»Vor sechzehn Jahren.«
»Verspürt Ihr kein Heimweh?«
»Es fehlt mir, ja …« Warum machten mich seine freundlichen Erkundigungen so nervös? Vermutlich war er einfach nur höflich. »Und Ihr, mein Herr? Woher stammt Ihr?«
»Ihr wisst nicht, wer ich bin?«
»Ihr habt es mir noch nicht verraten.«
Obwohl mein Besucher sich nicht rührte, schien er sich in diesem Augenblick zu winden, als würde ihn eine Welle durchlaufen. Er erinnerte mich an etwas, das ich einmal auf dem Markt in Palermo gesehen hatte – eine sich aus dem Korb eines Magiers emporwindende Schlange. Der Eindruck währte nur eine Sekunde. Ich kniff die Augen zusammen.
»Verzeiht mir«, sagte er. »Ich bin der Privatsekretär des Großherzogs. Mein Name ist Apollonio Bassetti.« Die Silben rollten wie kleine Bissen einer weichen Frucht über seine Zunge. »Seine Hoheit hat nach Euch verlangt.«
Ich musterte Bassetti sorgfältig. Er schien sich für den Staub in den Zimmerecken zu interessieren.
»Bislang«, fügte er hinzu, »habt Ihr es versäumt, vorstellig zu werden.«
Ich wusste genau, dass man mich im Palast erwartete. Doch aus unerfindlichen Gründen hatte ich den Moment hinausgezögert. Lieber schlief ich bis weit in den Tag hinein und wanderte in Begleitung von Fiore oder auch allein durch die Stadt. Abends trank ich in der Taverne den örtlichen Wein, angeblich ein roter, obwohl er meine Lippen schwärzte, als hätte man mir aus einem Tintenfass eingegossen. So war ich mit Männern ins Gespräch gekommen, die aus purer Not auf sonderbaren Wegen ihr Geld verdienten. Einer hausierte mit Salben und rang gelegentlich mit Bären. Er hieß Quilichini. Ein anderer, ein Kerl namens Belbo, führte auf einem Feld hinter dem Osttor Hinrichtungen durch. Ein dritter sammelte Tierkadaver und brachte sie auf den Totenacker Sardigna.
»Ich habe mich eingelebt«, sagte ich.
»Ihr habt Euch eingelebt …«
Ich glaubte nicht, dass Bassetti sarkastisch oder herablassend sein wollte. Er hatte meine Worte in der Hoffnung wiederholt, sie zu verstehen.
»Ja«, sagte ich.
»Seine Hoheit wird Euch morgen Mittag empfangen.« Er ging an mir vorbei hinaus. An der Türschwelle drehte er sich schwungvoll um und vergrub die Hände in den Falten seiner Robe. »Das hätte ich beinahe vergessen.« Er holte ein kleines Glasgefäß hervor, das mit einem Korken verschlossen war, und hielt es ins Licht, als sei es ein Juwel. »Etwas, um Euch in Florenz willkommen zu heißen. Eine lokale Spezialität.«
Ich bedankte mich.
In dem Gläschen befand sich eine runde Wurzel oder Knolle, die von schlammiger Farbe war und die Größe einer Aprikose hatte. Während ich die Phiole betrachtete, nahm ich zu meiner Rechten eine Bewegung wahr. Am fernen Ende des Korridors kam ein Mann die Treppe herunter, lautlos, obwohl er von riesiger Statur war. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, ging er an mir vorüber. Ich konnte sein Gesicht nicht deutlich erkennen, aber es wirkte hager, und sein Mund glich einer frischen Schnittwunde in dem kurzen Moment des Schocks, bevor das Blut spritzt. Bassetti folgte ihm in die wartende Kutsche, und sie verschwanden.
»Ist das ein Trüffel?« Die Signora war unbemerkt näher getreten.
Ich zog den Korken ab. Es roch beißend, wie Medizin; der Geruch erinnerte mich an Gas.
Wenn mich Menschen, die meine Werke über die Pest kannten, zum ersten Mal trafen, wurden sie oft auf dem falschen Fuß erwischt. Der Blick des Großherzogs am folgenden Tag verriet, dass auch er keine Ausnahme war. Vermutlich hatte er einen morbiden, düsteren Gesellen erwartet, vielleicht sogar gezeichnet von Spuren körperlichen Verfalls, einem violetten Hautausschlag oder glänzenden Furunkeln. Stattdessen stand ein schlicht, aber tadellos gekleideter Mann mit einem Lächeln auf den Lippen vor ihm. Warum sollte ich auch nicht lächeln? Er hatte mich in seine Stadt eingeladen und würde fortan für meine finanzielle Absicherung sorgen. Ungeachtet meiner ersten Eindrücke von Florenz verspürte ich eine absurde Heiterkeit, ja eine Art frechen Übermut. Wie eine schattenliebende Pflanze blühte ich an finsteren Orten umso mehr auf.
Natürlich saß er beim Essen. Er aß fast immer. Er war nicht nur für seine außerordentliche Frömmigkeit bekannt – es wurde gemunkelt, dass seine Knie vom stundenlangen Beten rau wie Leder waren –, sondern auch für seinen unersättlichen Appetit. Als ich näher trat, suchte ich jedoch vergeblich nach Fleisch auf der Tafel. Es gab auch keinen Fisch. Ausschließlich Gemüse häufte sich in verschwenderischem Überfluss.
Der Großherzog beäugte mich. »Habt Ihr Hunger?«
Ich sagte, ich hätte bereits gegessen.
»Auch wenn dem nicht so wäre«, sagte er mürrisch, »bezweifle ich, dass Ihr Geschmack daran fändet. Eine Pythagoras-Diät, falls es Euch interessiert. Mein Arzt, Redi, ist ein Tyrann.«
Er berichtete mir von einem Traum aus der vergangenen Nacht. Darin hatte er in den Cascine westlich der Stadt gejagt. Bei dem anschließenden Bankett waren geröstetes Wildbret, Ferkel und Enten serviert worden. Dazu Kaldaunen, eine seiner Leibspeisen. Beim Erzählen lief ihm das Wasser im Mund zusammen; er musste ihn mit einer Serviette abtupfen.
»Selbst im Schlaf werde ich gefoltert.« Er schüttelte den Kopf. »Seit dreizehn Jahren esse ich Gemüse. Dreizehn Jahre!« Er seufzte. »Wie wäre es mit Wein?«
Dazu sagte ich nicht nein.
»Signor Zummo«, sagte er, als ich mich ihm gegenübergesetzt hatte. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf diesen Augenblick gefreut habe.«
Aus den Palastgärten fiel grünes Licht herein, durch das sein Gesicht ähnlich schwammig und blass wirkte wie die Champignons neben ihm, die er nicht angerührt hatte.
»Euer Werk ist faszinierend«, fuhr er fort. »Ihr habt einen Blick auf die Dinge, der sich nicht sonderlich von dem meinen unterscheidet.« Er richtete seine Knollenaugen auf das Fenster. Eine Brise zerrte an den Myrtesträuchern; in der Ferne glitzerte ein Brunnen. »Als hättet Ihr Euch einen Weg in mein Innerstes gebahnt. In meine Gedanken, meine Sorgen, meine Ängste.« Er nahm sich eine Artischocke und zupfte jedes einzelne Blatt so ungeduldig ab, als wollte er gleich zum Herzen vordringen. »Seid Ihr sicher, dass Ihr mir nicht Gesellschaft leisten wollt?«
Der Höflichkeit halber nahm ich die Einladung doch an. Ich beugte mich über den Tisch und starrte auf einen Teller voller spröder schwarzer Fäden. Sie erinnerten mich zuerst an Lametta und dann, noch verstörender, an Schamhaar.
»Eine gute Wahl«, sagte der Großherzog. »Gebratener Seetang.«
Während der Seetang unter leisem Klirren auf mein Gedeck gelöffelt wurde, sagte er mir, dass er nichts über meine Herkunft wisse.
Ich wurde in Syrakus geboren, erklärte ich, im Südosten Siziliens. Die Stadt war seit Jahrhunderten ein militärischer Stützpunkt und ein wichtiger Handelsposten, aber auch ein wunderschöner Ort mit warmem, trockenem Klima, an dem man von drei Seiten auf das Meer blicken konnte. Mein Vater hatte Schiffe für die Gargallo-Familie gebaut. Leider starb er, als ich sechs Jahre alt war. Als der Jüngere von zwei Söhnen war ich in der Jesuitenschule unterrichtet worden, aber meine Leidenschaft für die Wachsbildnerei hatte mich von einer kirchlichen Laufbahn abgehalten.
Der Großherzog unterbrach mich. »Wenn die Stadt so idyllisch ist, wie Ihr sie schildert, warum seid Ihr dann fortgegangen?«
Diese Frage war mir im Lauf der Jahre oft gestellt worden, und ich entschied mich jedes Mal für die Lüge, die unter den Umständen die glaubhafteste war.
»Ich brauchte Inspiration«, sagte ich.
In Syrakus, einer kleinen Stadt – eigentlich einer Festung –, wohnten fast ausschließlich Soldaten und Geistliche. Bis auf ein paar Gemälde von Caravaggio, meinem ersten wirklichen Vorbild, gab es kaum Kunstwerke zu sehen. Besonders für einen Künstler konnte das Leben dort erstickend sein. Ganz im Gegensatz zu Neapel. Dort, das wusste ich, würde ich wieder atmen können. Und in dieser aufregenden, chaotischen Stadt begann sich meine Vision herauszukristallisieren. Die Kunst, die ich dort antraf, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Die religiösen Werke von Luca Giordano natürlich, aber auch Mattia Pretis Fresken und die Pestbilder von Jean Baron. Außerdem hatte ich Stunden vor Gargiulos Meisterwerk »Piazza Mercatello« verbracht.
»Ich hoffe, Ihr habt eine Kostprobe Eurer Arbeit dabei«, sagte der Großherzog.
Ich winkte einem Diener, der ein großes, quaderförmiges Paket aus dem Nebenzimmer holte. Ein Werk, das ich in Neapel fertiggestellt hatte. Die Augen des Großherzogs sprangen noch weiter hervor, als ich die Verschnürung löste. Die Umhüllung fiel herab. Er stieß einen Seufzer aus. In dem hölzernen Kasten befanden sich Wachspuppen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Der Verwesungsgrad wurde durch meine Wahl der Pigmente verdeutlicht. Eine halbnackte Frau lag ausgestreckt im Vordergrund. Ihr Fleisch war gelblich gefärbt; ihr Tod lag offensichtlich nicht lange zurück. Daneben lag ein schon längere Zeit totes Baby mit dunkel-erdbraunem Gesicht und Körper. Die Puppen lagen in einer Grotte, die mit porösem Gestein und zerborstenen Säulen aus Wachs gefüllt war. Die Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit wurde von strategisch positionierten Ratten noch gesteigert. Einige drängten sich auf den Leichen, andere zogen eifrig an ihren Gedärmen. Über der Szene thronte eine kunstvoll geflügelte, muskulöse Männerfigur mit einer Sense. Der Großherzog beugte sich nach vorn, bis er fast mit der Nase an den Kasten stieß. Es sah aus, als wollte er in diese verrottende Welt eintauchen und sich an der Fäulnis weiden.
»Vorzüglich«, murmelte er.
Ich zeigte ihm das Loch im Deckel des Kastens, durch das ein geisterhaftes Licht auf die Szene fiel. Dann verwies ich auf die Landschaft im Hintergrund, die ich in so intensiven, fahlen Farben gemalt hatte, dass der Betrachter das Gefühl haben musste, selbst unter den Opfern der Pest in der Grotte zu liegen und einen letzten flüchtigen Blick auf das Land der Lebenden gewährt zu bekommen – auf den strahlenden, kurzen Moment, der das Leben auf Erden war. Der Großherzog fragte nach dem Titel des Werkes.
»›Triumph der Zeit‹«, antwortete ich.
Mit einem Nicken lehnte er sich zurück. Man hörte ja so manches, sagte er, doch meine Werke leibhaftig vor sich zu haben, sei eine Offenbarung.
Wenig später kam Bassetti und präsentierte mir den offiziellen Vertragsentwurf über eine Patronage. Er wirkte so selbstzufrieden und gesättigt, als hätte er gerade die Art von Mahl zu sich genommen, von der sein Arbeitgeber nur träumte. Ich studierte das Dokument. Der Großherzog bot mir ein Gehalt von fünfundzwanzig Scudi im Monat. So reichlich hatte man mich noch nie entlohnt.
Bevor ich aufbrach, erwähnte der Großherzog einige Nebengebäude am westlichen Rand des Palastgartens, die man auf meinen Wunsch in Werkstätten umbauen könne. Früher seien es Stallungen gewesen, erklärte er mit erstickter Stimme. Dann stieg ihm die Röte ins Gesicht, und er fügte mit abgewandtem Blick hinzu, dass er keine Freude mehr daran habe, Pferde zu halten.
Ich erwachte abrupt. Meine Kehle war wie ausgetrocknet. Durch die Zimmerdecke drangen dumpfe Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte. Bumm-bumm-bumm … bumm. Und wieder: Bumm-bumm-bumm … bumm.
Am Abend hatten Signora de la Mar und Fiore beschlossen, meinen Erfolg beim Großherzog mit einem Mahl aus dem Trüffel von Bassetti zu feiern. Die Signora hatte ein Risotto vorgeschlagen. Doch als ich in den Trüffel schnitt, schien er lebendig zu werden. Das krümelige dunkle Innere war von Dutzenden wuselnden weißen Würmern durchsetzt. Ich fuhr zurück und hätte beinahe Fiore umgestoßen.
»Was für ein Jammer«, sagte die Signora. Sie meinte, der Trüffel müsse zu lange in der Erde gewesen sein.
Da erinnerte ich mich, wie Bassetti das Glas gegen das Licht gehalten hatte, als berge es einen Edelstein. »Könnte er es gewusst haben?«
»Ich wüsste nicht, woher.«
»Also war es keine Absicht.«
Die Signora sah mich seltsam an. Auf einen solchen Gedanken wäre sie nie gekommen.
Wir gaben das Risotto auf und gingen in eine Taverne am Arno, die für ihren frischen Fisch bekannt war. Ich trank mehr Wein, als ich gewohnt war. Noch schlimmer machte es der teerfarbene Likör aus Artischocken, zu dem mich die Signora überredete. Sie versicherte mir, dass es sich um eine Spezialität der Region handelte.
»Was«, sagte ich, »wie der Trüffel?«
Ich hatte ihn trotzdem probiert. Kein Wunder, dass mir der Kopf wehtat. Das seltsame Stampfen war aber eindeutig aus dem Stockwerk über mir gekommen.
Ich verließ mein Zimmer und stieg die enge Wendeltreppe hinauf. Die Luft schien unbewegt, ungeatmet, als wäre seit Jahren niemand mehr hier oben gewesen. Ich trat auf den Flur. Dort stand mit dem Rücken zu mir eine Gestalt in einem farblosen, enganliegenden Gewand, einer Art Unterwäsche. Sie hatte die schmalen Hüften und Schultern eines kleinen Jungen, aber das Gesicht, das ich im Viertelprofil erblickte, war das eines Mannes. Die Augenwinkel liefen in Falten aus, die blasse Wange war unrasiert. Ich wollte ihn gerade ansprechen, als er die Hände mit den Innenflächen nach vorn streckte und mit flüssig aufeinanderfolgenden Überschlägen in der Dunkelheit verschwand.
Ich rief: »Wer bist du?«
Zur Antwort hörte ich das sanfte Klicken einer sich schließenden Tür.
Vielleicht hätte ich es dabei belassen sollen, aber meine Neugier trieb mich den langen Korridor entlang. Am anderen Ende fand ich die Tür. Ich presste ein Ohr an das Holz und vernahm die bekannten Geräusche. Sie erklangen im selben Rhythmus wie zuvor. Die ersten drei Stampfer lagen nah beieinander. Gefolgt von einer Pause. Dann ein viertes Stampfen, das sich wie ein nachdrücklicher Abschluss, wie ein Schlusspunkt anhörte. Ich drehte den Türknauf, der laut knirschte. Wie die Treppen auch, schien er nicht oft benutzt worden zu sein.
»Nein, nein«, klagte eine Stimme. »Nicht jetzt.«
Es war zu spät. Ich hatte die Tür bereits eine Handbreit geöffnet und spähte durch den Spalt. Der Mann wirbelte in Höhe meines Kopfes vorbei. Bumm! Ich schob die Tür weiter auf und trat auf die Schwelle.
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« Seine Stimme klang dünn, gereizt. Mir wurde klar, dass ich Cuif, dem Schlaflosen, gegenüberstand.
»Tut mir leid«, antwortete ich. »Du hast mich geweckt.«
»Ich trainiere.«
»Aber es ist mitten in der Nacht.«
Cuif zuckte mit den Achseln.
»Bist du ein Akrobat?«, fragte ich.
Seine Brauen hoben sich, seine Mundwinkel sackten nach unten.
»Ich bin ein Hofnarr«, sagte er. »Ein Hofnarr. Zumindest war ich das.«
Barfuß durchquerte er das Zimmer. Das Fenster, durch das er blickte, war von außen mit einem verrosteten Eisengitter verschlossen. Wir waren so weit oben, dass nur der Himmel zu sehen war. Seine Schroffheit war verflogen. Als er weitersprach, klang er nachdenklich, wehmütig.
»Einst«, sagte er, »besaß ich mehr als einhundert Kostüme. Ich benötigte einen ganzen Raum nur für meine Kostüme. Kannst du dir das vorstellen? Aber wir leben in einer Zeit der Entsagung. Für Leute wie mich gibt es keinen Platz. Hofnarren sind albern. Überflüssig.«
»Aber ich bin welchen begegnet«, antwortete ich, »auf dem Marktplatz …«
Cuif schnaubte. »Diese Dummköpfe haben nicht begriffen, dass es vorbei ist. Was ist dein Beruf?«
»Ich bin Bildhauer.«
»Dann bist du vermutlich ebenso überflüssig.« Er schien es zu hoffen.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Warum? Ist deine Arbeit etwa in Mode?« Dem letzten Wort verlieh er einen bissigen Unterton.
»Ich beschäftige mich mit Verderben und Verfall.«
»Ach so, verstehe«, sagte er verbittert. »Du wirst es bestimmt weit bringen.«
Ich sah mich um. Er hatte zwei Zimmer, beide sehr klein, mit dürftig gestrichenen mausgrauen Wänden. Der Raum, in dem wir uns befanden, war leer bis auf eine Bodenmatte und ein Regal am Fenster, auf dem ein halbes Dutzend Bücher aneinanderlehnten wie müde Männer nach einem Trinkgelage.
Ohne jede Vorwarnung sprang der kleine, alterslos wirkende Franzose in die Zimmermitte. »Würdest du gern einen Salto sehen?«
»Unbedingt!«
Er stellte sich vor mich hin, die Füße zusammen und die Hände an die Oberschenkel gelegt, das Gesicht völlig ausdruckslos. Er holte kurz Luft, wobei sich sein magerer Brustkorb weitete. Plötzlich befand sich sein Kopf wenige Zoll vom Boden entfernt, und seine in den Knien gebeugten Beine auf gleicher Höhe mit meinem Gesicht. Überrascht lachte ich auf. Irgendwie gelang es ihm, die Position einen Augenblick lang zu halten. Kopfüber, mitten in der Luft. Nach der Landung tanzte Staub um seine Knöchel. Es sah so aus, als hätte er das Kunststück unter Wasser, auf dem Meeresgrund, vollführt und das Sediment aufgewirbelt. Die Arme seitlich ausgestreckt, grinste er theatralisch. Seine entblößten Zähne waren lang und zerfurcht, wie die eines Esels.
Ich applaudierte, doch sein Grinsen erstarb. »Das habe ich nicht ganz hinbekommen«, murrte er.
»Es war wunderbar.«
Er schüttelte den Kopf und verzog schmerzvoll das Gesicht. »Ich glaube, ich habe mich verletzt.«
Er setzte sich auf den Boden und rieb sich das rechte Knie. Der Himmel vor dem Fenster nahm allmählich Farbe an.
»Ich sollte gehen«, sagte ich.
Er stemmte sich hoch. »Verrate niemandem, dass du hier warst.«
»Meinetwegen.«
Ich durchquerte das Zimmer. An der Tür drehte ich mich noch einmal um. »Du bist Cuif«, sagte ich.
»Korrekt.«
»Ich bin Zummo.«
»Du wohnst hier?«
»Vorübergehend.«
»Du darfst mich wieder besuchen.«
Ich schloss die Tür hinter mir. Durch die Luke am Ende des Flurs fiel zähes, spinnennetzgraues Licht. Auf dem Weg zur Treppe wurde mir bewusst, wie flehend die Bitte hinter den gönnerhaften Worten des Franzosen geklungen hatte.