KOSMOS
Umschlaggestaltung Henry’s Lodge, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von ©trevillionimages
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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-14848-8
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Dieses Buch ist ein Roman. Auch wenn einige der Charaktere, Umgebungen, Orte, Ereignisse und Traditionen Vorbilder in der Realität haben, so bleiben sie dennoch fiktiv.
Zu großen Teilen in der Fränkischen Schweiz entstanden, durfte ich auf die Unterstützung vieler Fachleute unterschiedlichster Gebiete zurückgreifen. Besonders folgende Menschen haben mir mit Geschichten, Wanderungen, Informationen, Krautwürsten, Selbstgebrautem und -gebranntem, dem richtigen Schreibtischstuhl, passendem Tagesablauf, Lesestoff und ihrer Geduld weitergeholfen, ich danke:
Doris, Henk, Doro, Frau Lutter vom Gasthaus Mühlhäuser in Wannbach, Herrn Bauer vom Hofladen Böck, Herrn Dittrich vom Angushof Dittrich, »Peter und dem Wolf« vom Cateringunternehmen Hübschmann und der Buchhandlung Fränkische Schweiz, Klemmreisen (in Erinnerung an Josef Klemm), Katrin Kroll und Iris Schubert.
Für dich, Sanna, mein Ahörnchen.
Auf dich, Paps.
The autumn leaves of red and gold
The sun-burned hands I used to hold
Since you went away the days grow long
And soon I’ll hear old winter’s song
Nat King Cole: »Autumn Leaves«
So verdammt dunkel ist es hier, dass ich nicht einmal meine eigenen Füße erkennen kann. Dafür funktionieren meine Ohren umso besser: Äste knacken, ein Käuzchen schreit, irgendwoher scharrt und knurrt es. Und meine Schuhsohlen machen viel zu viel Lärm, während ich den kleinen Weg durch den Wald entlangstolpere.
Wo zum Henker steckt Piet? Eben war er noch da, er lässt mich doch sonst nicht allein! Nein, nicht mein Piet. Piet, den ich kaum mehr Paps nenne, seitdem wir beide so gut wie erwachsen sind. Piet, der mir Gutenachtgeschichten erzählte und das Auf-Bäume-Klettern beigebracht hat. Piet, der wild mit mir durch die Küche tanzte, weil ich doch noch den blöden Dreisatz kapiert habe. Oder neulich, als mich die Dramatisch- Gestalten-AG und unsere Lehrerin Frau Karst einstimmig zur Autorin für die Abitur-Theater-Produktion wählten.
Das ist … Moment mal … wie lange her?
Irgendetwas stimmt nicht. Ein Hund heult, Hühner gackern, eine Kuh schreit, wie ist das möglich, mitten im Wald? Vor mir erstreckt sich eine von Piets und meinen Joggingstrecken: einer der vielen Wanderwege, der mit dem gelben Strich an den Baumstämmen. Er führt an den Felsenkellern und der Wolfshöhle vorbei hinauf zum Rabenstein mit seiner Aussichtsplattform. Jeden Moment muss die Gabelung mit der Roten Marter auftauchen, einem Steinpfahl zum Gedenken an eine junge Erntehelferin, die vor Urzeiten hier ermordet wurde.
»Piet?« Langsam wird es mir unheimlich. »Piet, hörst du mich?« Der Wind stürzt durch die Blätter, wenn es so weitergeht, sind morgen alle Bäume kahl. Nur, warum sehe ich dann keinen Mond und keine Sterne?
Der Himmel ist rauchgrau, verschluckt das Licht, als würde ihn ein schwelendes Feuer einnebeln. Ich muss husten, es riecht seltsam. Nach Gummi und … Benzin?
Meine Zähne klappern. Was, wenn der Typ hier herumschleicht, der Brutus auf dem Gewissen hat? Jemand, der Hunde vergiftet, hört nicht einfach damit auf, oder? Was, wenn er sich als Nächstes an einem Menschen probieren will? »Piet? Bitte, sag was!« Mein Herz stolpert gegen meine Rippen und hetzt mir das Blut durch die Ohren, mir ist heiß und kalt, irgendetwas verbirgt sich dort vorne, etwas, das ich nicht sehen will. Doch meine Füße laufen wie ferngesteuert weiter.
»Piet?« Nur ein räudiges Krächzen, ich räuspere mich. Und dann bin ich am Rand des Waldes, die Bäume schließen sich hinter mir wie eine Wand. Neben mir fallen die Felsen hinab ins Färsbachtal, vor mir breitet sich die Umgehungsstraße aus, kommt mir entgegen wie ein Laufband im Fitnessstudio, immer schneller, der Asphalt sommerheiß, brandheiß, die Luft darüber, flirrend, trocknet meine Lungen aus. Ich kann nirgendwohin, nicht ausweichen, nur rennen muss ich, rennen und rennen.
Der Bus liegt auf der Seite, Menschen klopfen von innen gegen die Scheiben, der ganze Rauch, der leere Fahrersitz.
»Paps? Nein!! Papa!!!«
Ich schreckte hoch, setzte mich auf, würgte Rotz und Tränen. Die Bettfedern quietschten, ich zitterte noch immer, das Bild vor meinen Augen betoniert. Obwohl ich nicht einmal dabei gewesen war.
Der leere Fahrersitz, die leere Frontscheibe, das Schreien, das Blut, es musste Blut gegeben haben, richtig? – All das fantasierte mein Kopf zu Panorama-Aufnahmen zusammen, denen ich nicht entkam. Ich riss die Augen weit auf: Das Fenster meines Zimmers stand offen, die Vorhänge, tagsüber ekelhaft sonnengelb, wirkten im Mondlicht fahl. Draußen muhte die alte Kuh, der Opa hier ihr Gnadenbrot gab. Nachts wanderte sie gerne in der Nähe unseres Hauses herum.
Einatmen, ausatmen. Den Kopf leeren. Ich horchte ins stille Haus hinein. Nichts. Kein Türquietschen, kein besorgter Ruf meiner Mutter, nicht einmal laute Musik aus dem Wohnzimmer. Vermutlich war sie noch immer unterwegs.
Manchmal kam sie erst morgens früh nach Hause, kurz bevor ich aufstand. Als würde ich das nicht mitbekommen. Als wären die Rollen vertauscht.
Ich ließ den Kopf zwischen die Knie sinken. Fast ein Jahr war der Unfall meines Vaters jetzt her. Das Busunglück, das es sogar auf die Titelseite unserer kleinen Zeitung geschafft hatte – dreißig verletzt, einer tot: der Busfahrer, mein Vater. Derjenige, dem hinterher alle die Schuld gegeben hatten. Einige hatten sogar gemunkelt, er sei betrunken gewesen. Aber das war ausgemachter Quatsch. Piet trank nicht. Nicht mein sportlicher, jeden Tag trainierender Triathlon-Paps!
Zu all der Wut und den Tränen kam auch noch ein schlechtes Gewissen. Schon eine Weile hatte ich nicht mehr von ihm geträumt. Sicher ein paar Wochen. Dabei jährte sich bald sein Todestag. Anfangs war ich jede Nacht aus Albträumen hochgeschreckt. Die Tage hatte ich damit verbracht, jedem, der es hören wollte, und den viel Zahlreicheren, die es nicht hören wollten, zu erklären, dass irgendwas an diesem »Unfall« nicht stimmte.
Doch unser Arzt, Marc Karst, hatte Herzinfarkt diagnostiziert und fertig.
Ich fischte mein Tablet vom Nachttisch und loggte mich ein. An Schlaf war eh nicht zu denken. Mal sehen, was die anderen so veranstaltet hatten. Sicher irgendein spontanes Gelage, immerhin ging übermorgen die Schule wieder los. Wie man etwas Herbstferien nennen durfte, das eigentlich nur zwei freie Tage und ein Wochenende dauerte, überstieg mein Verständnis …
Tatsächlich. Meine beste und einzige Freundin Sanna hatte Fotos gepostet. Sah aus, als wäre sie an der Burgruine auf der anderen Seite des Berges. Oder doch am Druidenhain? Die Aufnahmen waren verwackelt und dunkel, das Einzige, was ich dank des Lagerfeuers erkennen konnte, waren ein paar Schatten mit Flaschen in der Hand. Aber bei so was war Verlass auf Sanna, sie hatte namentlich markiert, wer dabei gewesen war: Bens Entourage – Rosalie, Karen und Alex, der nirgends fehlte, wo es umsonst etwas zu trinken gab. Und dann war da natürlich noch der selbst ernannte König unserer Schule: Ben Greifenhohe, Sannas Ab-und-an-Freund – immer dann nämlich, wenn er nichts Besseres am Start hatte.
Die Greifenhohes waren so etwas wie alter Landadel und exakt so verhielt sich ihr Sohn. Es gab nur zwei Regeln: Ben widersprach man nicht. Und: Ben versuchte man alles recht zu machen. Selbst wenn das – wie in Sannas Fall – bedeutete, alle drei Wochen mit ihm auf einer Party zu knutschen, aber am nächsten Tag nicht mit dem Arsch angeschaut zu werden.
Sanna sah das anders. Ihr Mantra lautete: »Er kommt immer wieder zu mir zurück und das ist schließlich die Hauptsache.« Kein Tag, an dem ich meiner schlauen, netten und wirklich hübschen Freundin nicht einen anderen Typen wünschte. Aber ich schien keinen besonders guten Draht zum Liebesgott zu haben …
Das Tablet schaltete sich aus, königsblaue Flecken tanzten vor meinen Augen, verwandelten sich in ölige Schlieren und versickerten im Dunkel. Keine Bilder – gut. Vorsichtig ließ ich mich auf die Matratze sinken, rollte mich ein, die Decke bis zum Kinn gezogen. Wenn es mir gelang, eine Weile nichts zu denken, konnte ich mich vielleicht selbst überlisten und gefahrlos wieder einschlafen …
Als ich am nächsten Morgen gähnend in die Küche schlurfte, wirbelte meine Mutter wie aufgezogen herum.
»Du bist wach, genau rechtzeitig, willst du Eukalyptushonig oder Ahornsirup zu deinem Porridge?«
Ich blinzelte sie überrascht an. »Ähh, egal?«
»Gut, dann stell ich einfach beides auf den Tisch.«
Ihre Augen glitzerten verdächtig. Als stünde sie unter Strom, als hätte sie heute Nacht noch weniger geschlafen als ich. Gasthof Mühlbacher, der Mamas Kindergartenfreundin Daggi gehörte, machte spätestens um ein Uhr zu. Ich schluckte hart – was hatte sie den Rest der Nacht getan? – und versuchte, den Gedanken daran sofort wieder zu verscheuchen.
Paps war nicht einmal ein Jahr tot. Sie würde doch nicht … nein, sicher hatte sie nur etwas Ablenkung nötig, auch für sie konnte es nicht einfach sein, dass sich sein Todestag bald jährte.
Mama und ich sprachen nicht darüber. Anvertraut hatten wir uns nie viel, ich war ein echtes Papakind gewesen. Und dann, als wir ihn plötzlich verloren, hatten wir irgendwie verpasst, den Mund aufzumachen. Mit Opa Toni und Oma Erika redete Mama auch nicht, jedenfalls nicht über wichtige Dinge. Ich vermutete, die beiden waren noch immer sauer, dass Mama damals einfach so gegangen ist. Und dass sie, als sie dann zurückkam, es nicht wirklich freiwillig tat, sondern weil es nicht anders ging. Piets komplizierter Beinbruch hatte seine Sportkarriere beendet, das Einzige, was er sonst noch vorzuweisen hatte, war ein Busführerschein. Mamas Skulpturen wollte niemand kaufen und dann war da noch ich – gerade mal acht Jahre alt und immer hungrig.
Ich ließ mich auf meinen Platz fallen, gegenüber blieb der Stuhl leer. Immer dann, wenn sich ein argloser Besucher darauf häuslich einrichtete, wurde ich so wütend, dass ich an meinem Geisteszustand zweifelte. Aber viele Leute kamen zum Glück nicht bei uns vorbei. Nicht mehr. Oma und Opa sahen wir zum Essen im Haupthaus. Und wenn Bio-Micha hier einfiel, Mamas ehemaliger Schulfreund, dann setzte er sich immer auf den vierten Stuhl.
Ich schüttete kalte Milch in den Teller und löffelte die süße Pampe in mich hinein. Hunger hatte ich keinen, aber noch weniger Lust, darüber zu reden, warum. Außer unserem Pusten und Schlucken und dem Blubbern vom Herd unterbrach nichts die Stille. Ungemütlich rutschte ich hin und her und aß schneller.
Ein paar vollgehäufte Löffel später war ich endlich frei und rannte aus dem Hinterausgang in Richtung Wald. Früher hatte ich ganze Tage bei uns im Wohnzimmer auf dem Sofa gesessen und gelesen. Seit Piets Tod war ich ständig draußen unterwegs. Als wäre ich ihm dadurch irgendwie näher. Oder zumindest meiner Erinnerung an ihn.
Den Hang hinauf führte mein Weg an den »drei Schwestern« vorbei, jenen mächtigen Zwetschgenbäumen, die unser erst letztes Jahr geweißeltes kleines Häuschen perfekt vom Fachwerk-Hof meiner Großeltern abschirmten. Niemand sah, wie lange bei mir das Licht brannte oder ob ich mich durch die Hintertür stahl. Mein Urgroßvater hatte sie gepflanzt. Was wohl der Grund war, warum sie noch immer nicht abgeholzt waren, obwohl sie kaum mehr Früchte trugen. Das kleine Beet, das Piet und ich vorletztes Jahr am Rand zum Wald angelegt hatten, war inzwischen verschwunden.
Ein paar Vögel, die keine Lust auf Italienreisen hatten, zwitscherten. Der Nebel hing im Tal, hier oben schien die Sonne. Doch zwischen die Bäume des Mischwaldes reichte sie nicht. Als gäbe es dort eine unsichtbare Grenze. Oder mein Kopf spielte mir einen Streich und überlagerte die Realität mit den nächtlichen Traumbildern. Als ich bei dem Holzkruzifix auf den laubbedeckten Waldweg trat, wurde es mit einem Mal deutlich kälter. Ich schauderte.
Jetzt bloß nicht abergläubisch werden. Eigentlich mochte ich den Wald schon immer lieber als Strand und Meer oder schneebedeckte Gipfel. Und sehr viel lieber als die immer gleichen Grundstücke mit Obstbäumen, die sich rund um unseren Hof erstreckten – oder besser um den Hof meiner Großeltern. Selbst nach zehn Jahren fühlte es sich nicht an, als wäre er unserer. Oder meiner. Oder ein Zuhause.
Hinter mir standen hangauf, hangab Bäume in geraden Reihen – Kirschen, Birnen, Äpfel, Zwetschgen, Marillen, Quitten – bis hinunter ins Tal, wo die Färsbach vor der Umgehungsstraße entlangplätscherte wie eine natürliche Grenze: Achtung, Sie betreten jetzt die Zivilisation!
Ich folgte dem Pfad mit dem blauen Kringel. Seit ich nicht mehr joggte, war das meine Lieblings-Spaziergangsstrecke. Steil wie es sich für einen Wallfahrtsweg gehört, wandte sich der Pfad etliche Höhenmeter hinauf zu der nur noch an Feiertagen benutzten Kapelle. Auf halbem Weg, an der Kreuzung, ragte die Rote Marter auf. Angeblich hatten der Erntehelferin Maria hier Wegelagerer aufgelauert und sie mit ihrer eigenen Sichel … uh, nur nicht daran denken.
Piet hatte dazu seine eigene Interpretation: Er glaubte an einen hinterhältiger Mord und dass die junge Frau von jemandem schwanger gewesen war, der ihr Verhältnis geheim halten wollte. »Mara«, hatte er gesagt und mich angelächelt, als er mir das erste Mal von Maria erzählte, »Menschen machen komische Dinge aus Liebe. Und noch viel komischere aus Feigheit und Angst.«
An der Abzweigung zögerte ich. Rechts ging es weiter zum Friedhain. Der Platz, an dem all diejenigen ihre letzte Ruhe fanden, die es gerne biologisch hatten oder nicht daran glaubten, dass sie jemand regelmäßig besuchen wollte, wie Piet immer gegrinst hatte. Nun lag er selbst dort.
Der Weg geradeaus führte zum Rabenstein mit seiner steilen Aussichtsplattform, über die Frau Karst, meine Dramatisch- Gestalten-Lehrerin, letztes Jahr spaziert war, als könnte sie fliegen. Seitdem saß sie im Rollstuhl und sprach kein Wort mehr. Mein Vater hatte sie in seinen letzten Wochen trotzdem immer wieder besucht.
Ich schüttelte mich. Wenn all die Touristen diese Geschichte kennen würden, ob sie dann noch immer derart motiviert dort hinaufkeuchen würden, um … hinunterzugucken?
Das Prinzip hatte ich nie begriffen. Raufkraxeln, um ins Tal zu starren? Tolle Belohnung, wirklich! Aber nun gut, wer bei uns Urlaub machte, musste gerne Kilometer durch die freie Natur jagen, ob zu Fuß oder in einem Kanu. Was anderes gab es nicht. Vom Frühling (Kirschblüte, wie wunderbar) bis zu den letzten schönen Herbsttagen (was für eine Farbenvielfalt!) wurden wir überrannt von staunenden Städtern, die mit den Wanderweg-Infos aus dem Tourismusbüro vor der Nase durch die Gegend rasten. Derart konzentriert, dass sie weder die kleine Turmruine westwärts bemerkten noch die gut getarnten Eingänge der Bergkeller und der Wolfshöhle. Letztere war nicht mehr ausgeschildert, seit sich dort, ebenfalls letztes Jahr, unser angetütterter Reporter Eddie echt dumm zu Tode gestürzt hatte. Direkt auf einen der größten Stalagmiten …
Rennende Schritte rissen mich aus den Gedanken. Äste knackten, irgendetwas oder -jemand kam direkt auf mich zu, und das in einem Affenzahn. Wildschweine? Die gerieten um diese Zeit in den Brunftmodus und waren echt gefährlich. So ein ausgewachsener, wild gewordener Eber hätte mit mir leichtes Spiel. Eilig lief ich auf den nächsten Baum mit tief hängenden Ästen zu. Zur Not würde ich mich hochschwingen und abwarten. Doch da brach weiter oben eine dunkle Gestalt durch das Gebüsch – eine zweibeinige Gestalt. Ich erstarrte. Was tun? Verstecken oder sich mutig in den Weg stellen und sagen: »Hey, die Joggingroute geht da vorne lang, schon mal was von schützenswerten Waldpflanzen gehört?«?
Wohl kaum. Ich zog mich in den Schatten zurück. Vielleicht konnte ich unbemerkt bleiben. Plötzlich wurde es still. Ich spähte vorsichtig um den Baumstamm. Völlig bewegungslos stand er auf der kleinen Lichtung und lauschte. Dass es ein »Er« war, da war ich mir sicher, auch wenn sein Gesicht im Schatten der Kapuze lag. Die Klamotten waren verwaschen, aber prima in Schuss, und selbst auf die Entfernung waren breite, aber nicht zu breite Schultern zu erkennen. In Alarmbereitschaft wirkte er und durchtrainiert, nicht aufgepumpt wie Ben Greifenhohe.
Nein, der Typ war ungefähr in meinem Alter und eher Leichtathletiker als Fitnessstudiofuzzi oder vielleicht auch Kampfsportler? Dunkle Locken fielen ihm ins Gesicht, als er sich plötzlich argwöhnisch umblickte. Mit gerunzelter Stirn scannte er die Umgebung. Ich zog den Kopf ein. Drehte ich jetzt durch oder hatten seine Augen tatsächlich geglüht?
»Komm raus, ich hab dich gehört!«
Hatte der Fledermausohren? Ich hatte keinen Mucks von mir gegeben! Mist! Was tun? Aus meinem Versteck treten, freundlich winken und so was sagen wie: »Hallo, ich dachte ich versteck mich mal, nur für den Fall, dass du ein wilder Eber oder Mörder bist«? Was würde er von mir denken?
Und warum interessierte mich das überhaupt? Sicher war der mit seinen Eltern hier zum Urlaub und würde spätestens heute Nachmittag auf Nimmerwiedersehen verduften. Außerdem: Mir doch egal, was so ein Stadtfuzzi von mir dachte.
»Okay, dann komm ich eben nachsehen!« Er klang genervt.
Ich machte einen Schritt vorwärts. Mich wie ein ängstliches Reh erwischen zu lassen wäre peinlicher als alles andere.
»Sieh an, ein Wald-Mädchen, folgst du mir etwa?«
Ich schüttelte den Kopf und blitzte ihn möglichst herablassend an.
»Reden tut ihr hier nicht viel, was?« Er fuhr sich durch die Haare und schnaubte auf. »Verrückt«, grummelte er. »Verrücktes, beschissenes Kaff!«
Sauer stemmte ich die Hände in die Hüften – ja, auch ich hatte Hundsgrub verflucht, als wir hierhergezogen waren. Dieses Nest mit dem passenden Namen, in dem es hundertfach mehr Obstbäume als Einwohner (nämlich genau dreiundzwanzig) gab. Aber was bildete sich dieser Schnösel ein? Wohnte vermutlich auf der anderen Seite des Waldes in Oberstallen in einer neu gebauten Ferienwohnung und rümpfte die Nase, nur weil er aus Stuttgart kam oder aus München, aus Berlin oder … egal, woher auch immer. Pah!!!
Bevor ich allerdings irgendetwas Passendes, Ätzendes und besonders Schlagfertiges entgegnen konnte, war er schon weitergerannt, ohne sich noch einmal umzudrehen. Geschmeidig wie eine Katze, brachial wie ein Berserker: einfach drauflos. Er stolperte über eine Wurzel, knallte hart mit der Schulter gegen einen Baum. Ich zuckte zusammen, das musste wehgetan haben. Doch er knurrte nur und erhöhte das Tempo. Wie jemand, der vor etwas davonrannte. Oder jemand, der am Ende seiner Runde derart fertig sein wollte, dass er umfiel, ohne denken zu müssen.
Letzteres konnte ich gut verstehen.
Der darauf folgende Abend dürfte wohl als die mit Abstand ungemütlichste Veranstaltung des gesamten Jahrhunderts in mein eigenes, persönliches Rekordbuch eingehen. Dabei hatte es davon schon einige gegeben.
Nachmittags hatten Mama und ich meinen Großeltern geholfen, die letzten Quitten und etliche Birnen ab- und aufzuklauben.
Das Einzige, wofür sich Mama überhaupt noch zu interessieren schien, seit sie ihre Kunst an den Nagel gehängt hatte, waren Obstsorten und deren Veredelung. Also exakt das, wovor sie davongerannt war, als sie etwa in meinem Alter war. Und genau das, was ich hinter mir lassen würde, sobald ich das Abitur in der Tasche hatte. Doch das ahnte niemand in meiner Familie. Wie auch, sie alle waren mit Wichtigerem beschäftigt. Oma rasselte ununterbrochen ellenlange Listen der anstehenden Arbeiten herunter (frei nach dem Motto: Vergesst bloß nicht, dass ihr ruhig was tun könnt, wenn ihr schon keine Miete zahlt): die ersten Kürbisse und Zuckerrüben ernten (eine absolute Scheißarbeit!), Folienhäuser winterfest machen, Buchenholz für Opas Räucherkamin spanen, Kraut und Gemüse einlegen. Ach, und sie hatte bei der Jägervereinigung angerufen, damit die am oberen Feld Verstänkerungsmaßnahmen gegen die Wildschweine anbrächten. Und ich durfte helfen.
Herzlichen Glückwunsch – selbst Michas Kuhstall duftete gegen die Buttersäurepfeiler wie ein Veilchenstrauß.
Und dann, als wir uns endlich am Abendbrottisch niedergelassen hatten, bereit, die Krautwürste zu verschlingen, die Opa frisch aus der Räucherkammer spendierte, platzte die Bombe. Dank mir, der wie immer unfassbar diplomatischen Mara. »Was machen wir eigentlich morgen?«, hatte ich wissen wollen.
»Morgen?« Opa sezierte seine Wurst, als sei sie ein Lebewesen mit Gräten, und blickte fragend. »Gibt’s was zu feiern?«
Mama schnappte nach Luft, Oma verpasste ihm unter dem Tisch einen ihrer berühmten »Halt die Goschn, Toni!«-Tritte. Ich sah ihn zusammenzucken. Am liebsten hätte ich nach seiner Hand gefasst. Zumindest hatte er es wirklich nicht auf dem Schirm. Die beiden anderen dagegen schienen sich abgesprochen zu haben, das Thema ebenso totzuschweigen wie Paps selbst. Und das machte mich eiskalt und stinkewütend.
Langsam legte ich Messer und Gabel hin, schob meinen Stuhl zurück und stand auf. »Keine Ahnung, ob ihr an dem Tag etwas zu feiern habt, wer weiß …« Böse blickte ich Mama an – wo verdammt noch mal war sie heute Nacht gewesen? »Aber für mich ist morgen der Todestag meines Vaters.« Schon im Gehen drehte ich mich beiläufig um. »Ach und übrigens, was die Verstänkerungsgeschichte angeht: Danke, ich verzichte. Macht ihr das doch. Passt eh viel besser.«
»Mara!«, meine Mutter klang, als hätte sie geübt, wütende Geräusche zu machen, aber darüber vergessen, dass sie auch das entsprechende Gesicht dazu aufsetzen sollte. Sie sah müde aus. Dafür bemühte sich Oma, mich mit ihrem Medusenblick niederzuzwingen. Aber nicht mit mir, ich hatte genug Zeit gehabt, mich daran zu gewöhnen.
Opa Toni schob sich geräuschlos in Richtung Hintertür. »Ähm, ich müsste dann mal … nicht dass die Maische …« Damit verdrückte er sich in seine Brennerei: sein Hafen, sein Rückzugsort, seine Ausrede für alles, was er nicht persönlich miterleben wollte. Hier stellte er seit Jahren den prämierten »Opa Tonis Wildkirschbrand« und anderes Hochprozentiges her. Weder Oma noch Mama beachteten ihn. Ich war echt neidisch. Vielleicht sollte ich Schnapsbrennen lernen …
»Setz dich wieder hin«, befahl Oma, doch ich schüttelte den Kopf. »Nein danke. Ihr macht euer Ding und ich mach meines. Und ich glaube, ich will euch bei meinem nicht dabeihaben. Gute Nacht!«
Der Abgang hatte sich gut angefühlt. Ich hatte die Tür bedächtig geschlossen und ahnte, das war schlimmer, als hätte ich sie zugeknallt. Das Hochgefühl war jedoch relativ schnell verpufft. Spätestens als meine Mutter leise an meine Tür klopfte und ich mir die Ohren zuhalten musste, damit ich sie nicht reinließ.
Ich fühlte mich im Recht und alleine und mies und traurig. Auch noch am nächsten Morgen, wenn auch nicht mehr ganz in dieser Reihenfolge …
Wenigstens hatte Sanna sich entschlossen, sich doch nicht neben Ben zu setzen, wie sie es vorgehabt hatte, und mich in der vorletzten Reihe alleine zurückzulassen. Unsere Sitzordnung hatte schließlich Tradition. Als ich in die zweite Klasse der Grundschule kam, hatte den Platz neben mir niemand gewollt und ich kein Wort verstanden. Sanna war die Einzige, die Mitleid zeigte: Sie hatte sich zu mir in die Bank gequetscht und für mich übersetzt. Zum Beispiel, dass das »Host mi?« unseres Lehrers am Ende seiner Sätze so viel heißen sollte wie »Verstanden?«, »Schmarrn« so viel wie »Falsche Antwort, versuch es doch noch mal« und die »Neigschmeggda« war ich – die Zugezogene. Ohne Sanna hätte ich keine drei Wochen überlebt. Nicht nur wegen der Sprache. Sanna war eben Sanna – mein Sonnenscheinchen. Und auch wenn sie nach dem Tod meines Vaters keine Lösung parat hatte, sie nahm mich mit, wohin sie auch immer ging, half mir, mich abzulenken. Für alle anderen war ich nur interessant, weil ich »die Tochter vom Unglücksfahrer« war, und wenn ich mich weigerte, darüber zu reden, stellte sich schnell heraus, dass wir ansonsten keinerlei gemeinsame Gesprächsthemen hatten. Ich war und blieb das Alien. Mit oder ohne Tragödie.
»Ich hoffe, Sie haben sich während der Herbstferien erholt, denn ab jetzt heißt es: keine Gnade«, eröffnete unser Klassenlehrer Herr Schirach den Unterricht. Und wies mit großer Geste an die Tafel, auf der in seiner gestochen scharfen Schrift Liberter homines id, quod volunt, credunt stand.
Liberter – irgendwas mit freiwillig? Homines – die Menschen. Typisch Schirach, verlor keine Zeit, uns vorzuführen. Einen nach dem anderen würde er nach vorne zitieren und uns mit arrogantem Lächeln dabei zusehen, wie wir beim Übersetzen versagten.
Ich verdrehte die Augen und beugte mich zu Sanna. »Als ob der wüsste, was Gnade bedeutet.« Dazu hatte sich unser Klassenlehrer (und Hobbyjäger – wenn das nicht schon genug sagte!) die ganz falschen Fächer rausgesucht: Chemie und Latein. Dass ausgerechnet er seit letztem Jahr auch Dramatisch Gestalten gab, war ein schlechter Witz, Theaterspielen sollte schließlich Spaß machen, richtig? Schirach aber, den ich nur ein einziges Mal lachen gehört hatte – vor zwei Jahren auf dem Sommerfest –, war in den letzten Monaten nur noch abweisender und grimmiger geworden.
Vermutlich hatte er den kürzesten Strohhalm gezogen, als im Lehrerzimmer geknobelt wurde, wer Frau Karst nach ihrem Unfall ersetzen musste. Eigentlich war sie dieses Jahr auch als unsere Klassenlehrerin vorgesehen gewesen. Das war, bevor wir erfuhren, dass sie einen Sprung vom Felsen hingelegt hatte und er uns auch dieses Jahr erhalten blieb …
»Hmm-m.« Sanna war abgelenkt. Mal wieder. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Ben, zwei Reihen vor uns. Einen Arm lässig auf der Stuhllehne hinter seiner Tischnachbarin Rosalie geparkt, spielte er mit einer ihrer Locken. Ich seufzte. Bei Ben verwandelte sich Sannas Hirn in Mus und schaltete auf Standby. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Der verdiente sie doch gar nicht. Jetzt drehte er sich um und zwinkerte ihr zu, eine Hand noch immer in den Haaren von Rosalie, die ihm entgegenschmolz. Sanna lächelte zurück, als machte ihr das nichts aus. Ich dagegen würde ihm am liebsten eine Faust mitten ins Gesicht wummern.
Wie immer legte ich all meinen Abscheu in den Blick, wie immer übersah Ben mich und drehte sich gerade rechtzeitig um, als die Tür zu unserem Klassenzimmer aufschwang.
Wir alle starrten perplex auf die hochgewachsene Gestalt, die dort stand und einen gelangweilten Blick über die Reihen schweifen ließ. Er trug Jeans, Sneakers und Lederjacke über einem schwarzen T-Shirt, das aussah, als wäre es in ihn verliebt. Umschmeichelte ihn an genau den richtigen Stellen. Trotzdem erkannte ich ihn sofort: der Kapuzentyp aus dem Wald. Und jetzt sah ich auch, wie ich denken konnte, dass seine Augen leuchteten: Er hatte Huskyaugen, so hellgrau, als könnte er mit ihnen Metall schneiden. Selbst Schirach blinzelte überrascht, bevor er zu seinem üblichen herablassenden Ton zurückfand. »Und wen haben wir hier?«
Er schloss betont langsam die Tür. »Jonah«, stellte er sich vor, ohne jemanden anzusehen. »Jonah Martin, ich soll mich bei Ihnen melden. Offenbar ist das hier«, jetzt bedachte er uns alle mit einem abschätzigen Blick, »meine Klasse.«
Hier und da begann das Flüstern. Ein Neuer! Noch dazu mitten im Schuljahr! Das hatte es in Ebersmühle seit Urzeiten nicht mehr gegeben. Köpfe reckten sich neugierig, aber er tat, als bemerkte er es nicht. Las stattdessen Schirarchs Zitat und murmelte amüsiert: »Die Menschen glauben gerne, was sie wollen?« Eine Seite seines Mundes zuckte. »Oder aber, was sie sich wünschen, je nachdem, wie man es übersetzt. Interessantes Motto.« Schirachs Augen verengten sich grimmig. So viel zu seinem Plan, uns mit der Übersetzung zu quälen. Ich unterdrückte ein Grinsen. So arrogant der Neue war, mit seiner kleinen Show-Einlage hatte er uns einen großen Gefallen getan. Das schien auch Ben zu finden. Eilig flüsterte er etwas in Rosalies Ohr. Mit hektischen roten Flecken im Gesicht raffte die ihre Sachen zusammen und setzte sich auf den freien Platz einen Tisch weiter neben Alex. Der konnte sein Glück kaum fassen.
Ben winkte großspurig nach vorne. »Du hast Glück, Lateinfreak, neben mir ist gerade ein Stuhl frei geworden.« Ich verzog das Gesicht. Typisch. Als ich aufsah, landete ich in den Augen des Neuen. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er meinen Blick fest, als könnte er meine Gedanken lesen. Dann wanderte seine Aufmerksamkeit zu Sanna und von ihr zu Ben. Eine Augenbraue schoss in die Höhe. Cool. Mehr als cool, direkt frostreif.
»Nett von dir«, lächelte er Ben schmal zu und wandte sich an unsern Klassenlehrer, »aber wenn es mit Ihnen in Ordnung geht, würde ich mir gerne selbst einen Platz aussuchen?«
Schirachs Augen blitzten amüsiert und er nickte. Zum allerersten Mal hatte ich den Eindruck, dass auch unser Klassenlehrer kein großer Fan von Ben war. Jonah schulterte seine Tasche und steuerte auf mich zu. Diese Augen waren wirklich gefährlich. Er warf Sanna ein blitzartiges Lächeln zu, als teilten sie ein Geheimnis, und ließ sich auf den Stuhl hinter mir fallen. Ben runzelte die Stirn. Sanna sah stur nach vorne, wo Schirach nun mit dem Unterricht begann. »Nur, weil wir jetzt wissen, was dieses Zitat bedeutet, seid ihr noch lange nicht aus dem Schneider. Wo das eine herkam, sind noch viele, viele mehr.« Er klopfte auf ein dickes, in Leder gebundenes Buch.
Meine Nackenhaare stellten sich auf. Bohrte sich Jonahs Blick gerade von hinten in meinen Rücken oder verlor ich nun völlig den Verstand? Wenn überhaupt, hatte er sicherlich nur Augen für Sanna. Oder für Rosalie, die genauso hübsch wie hohl war. Oder Karen oder …
Kreide quietschte über die Tafel, ich zuckte zusammen und ließ mich tiefer sinken, als Sanna mir einen Zettel rüberschob: Wow, der ist mal wirklich HOT!
Panisch zerknüllte ich das Papier, bevor ein spezieller Jemand hinter uns die Chance hatte, einen Blick darauf zu werfen, und zuckte mit den Schultern.
Hot? Die unglaublichste Untertreibung seit Langem. Was mich betraf, steckte Mister Husky den Klassenschönling Ben ganz locker in die Tasche. Aber ich hatte ja noch nie zu Bens Gefolgschaft von Bewunderern und Verehrerinnen gehört.
Auch die Nummer vorhin an der Tafel war lässig gewesen. Ganz zu schweigen davon, wie er Ben eins ausgewischt hatte.
Nur, wie hatte Piet immer gesagt: Erste Eindrücke zählen doppelt, sind aber nicht das Einzige. Was so viel bedeutete wie: Abwarten. Richtig? Denn egal wie selbstsicher sich jemand gab, wie gut er aussah, ja selbst wenn er wie von unsichtbaren Dämonen gehetzt durch den Wald rannte: Auf welcher Seite er stand und ob man ihm vertrauen konnte, so etwas musste sich erst herausstellen.
Schon auf den ersten Blick hatte er gewusst, es war exakt wie befürchtet: Er war mitten in eine Horde Dorfkinder geraten, die sich seit Ewigkeiten kannten, deren Hackordnung feststand, die seit Jahren das immer selbe mit denselben taten.
»Eine Chance für uns alle«, hatte sein Vater diesen Umzug genannt. Und da Jonah offiziell von nichts wusste, hatte er den Mund gehalten und sich schlecht gefühlt. Ohne ihn wären sie gar nicht erst hier gelandet. Ohne ihn würden seine Eltern getrennte Wege gehen, und vielleicht wäre das besser so. Wenn also jemand Schuld an seiner Misere trug, dann er selbst.
Aber das war jetzt egal. Vergangenheit war Vergangenheit. Und die Gegenwart unerträglich langweilig. Sein Lehrer machte einen auf Badass und kam damit durch. In seiner alten Klasse wäre das eine ganz andere Nummer gewesen … Jonah ließ den Blick über seine neuen Klassenkameraden wandern: ein Witz! Die hätten in seiner letzten Schule nicht einmal 30 Sekunden überstanden. Aber hier war eben alles anders. Also galt es zunächst einmal herauszufinden, wie genau es lief. Der affige Typ in der zweiten Reihe, Ben, schien aus irgendeinem Grund der Obermufti. Alle beobachteten ihn, lachten, wenn er einen mittelmäßigen Witz riss, die Kleine neben ihm hatte auf seinen Befehl hin ihren Platz geräumt. Jonah verzog das Gesicht. Schon auf den ersten Blick war der ihm unsympathisch gewesen. Ihm und dem Wald-Mädchen von gestern, das sich jetzt vor ihm möglichst klein machte. Jonah grinste. Sie hatte ausgesehen, als würde sie dem Angeber am liebsten irgendetwas richtig Ekliges mitten ins Gesicht werfen. Dabei tat sie im Gegensatz zu allen anderen hier alles, um nicht aufzufallen: keine leuchtenden Farben, keine besonders raffinierte Frisur, keine lackierten Nägel. Im Gegenteil, sie schlumpfte neben ihrer gut aussehenden, blonden Freundin in der Bank, als wollte sie übersehen werden. Nicht gerade einfach mit so einem bemerkenswerten Gesicht. Aber offenbar funktionierte es. Die Jungs hier waren echte Trottel.
Als die Pausenklingel schrillte, ließ er sich Zeit. Mister Badass befahl ein paar Zeilen zur Übersetzung, trotz des allgegenwärtigen Gemaules würden morgen alle ihre besten Versuche dabeihaben, so viel war sicher. Miss Ungewöhnlich packte ihren Kram zusammen und zog die Schultern bis an die Ohren, als ihre Sitznachbarin vorstreunerte, um Ben den Wunderbaren zu bequatschen. Der aber ließ Blondie links liegen und kam stattdessen breit grinsend auf ihn zu.
»Kumpel, wie du den Schirach ausgeknockt hast, war erste Sahne!« Er klopfte Jonah auf die Schultern. »Weswegen ich dir auch verzeihe, dass du dich in die Loserecke gesetzt hast. Willkommen.« Jonah nickte. Erst einmal mitspielen und weitersehen. Das Wald-Mädchen warf ihm einen tödlichen Blick zu, wandte sich ab und lief aus dem Zimmer.
»Los, Stranger, ich stell dich meinen Freunden vor!« Ben grinste und lief voraus. Jonah konnte die neidischen Blicke der anderen fast fühlen. Ganz wohl war ihm dabei nicht.
Zugegeben, für ein paar Sekunden hatte ich etwas anderes gehofft. Vielleicht weil ich gesehen hatte, wie er durch den Wald rannte, als ob er vor tausend Dingen davonliefe. Vielleicht, weil ich daraus geschlossen hatte, es würde mehr hinter seiner »Ich bin super«-Fassade stecken. Ja, er war ein Lateinass und sah aus wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Tatsache aber war – wir hatten einen oberflächlichen, blöden Dämlack mehr in der Klasse, herzlichen Glückwunsch. Erst legte er seinen Auftritt hin, dann kuschelte er mit Ben und Konsorten. Während der Pausen und nach der Schule, ja, Ben nahm ihn heute sogar in seinem Cabrio mit.
Der Erbprinz unserer Region musste seit dem Unglück nicht mehr mit dem Bus fahren wie das Fußvolk, nein, er hatte ein Auto bekommen, damit ihm nichts passierte. Während ich mich neben Sanna in die letzte Sitzreihe des Schulbusses quetschte, überholte uns Bens schnittige Kutsche mit quietschenden Reifen. Sanna seufzte ihm sehnsüchtig hinterher und ich biss die Kiefer zusammen. Ich wusste, was jetzt kam, und so gern ich sie hatte, ich konnte es nicht mehr hören.
Manchmal stand ich morgens an der Bushaltestelle, wartete auf sie und dachte: Wenn sie noch ein einziges Mal seinen Namen ausspricht, gepaart mit der Satz »Aber er muss mich doch irgendwie lieben, meinst du nicht, immerhin küsst er mich fast auf jeder Party«, beginne ich zu schreien und höre nicht mehr damit auf! Warum ging sie verloren, sobald er sie ansah?
Und warum zum Teufel traute ich mich einfach nicht, ihr all das um die Ohren zu hauen? Sollten beste Freundinnen nicht genau das füreinander tun: einander ehrlich sagen, was Sache war, wenn etwas ganz schieflief?
Stattdessen machte ich mal wieder an den richtigen Stellen »Hmm-m« und knirschte mit den Zähnen.
Sannas Traum von Aschenputtel und dem Prinzen, da war ich mir völlig sicher, steuerte nicht auf ein Happy End zu. Für Ben würde sie immer Aschenputtel bleiben, und sobald er genug Erbsen mit ihr gezählt hatte, wanderte er weiter.
Blutsschwestern! Für ewig!