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ISBN: 978-3-935265-13-3
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5. Auflage 2012
„Guckt mal, dahinten geht Rolf“, rief Phillip und zeigte auf einen Jungen auf der anderen Straßenseite.
„Jaja“, antwortete Ina ohne aufzusehen.
„Na und?“, sagte Max. „Ist das auch schon was Besonderes?“
„Wieso, wer ist denn das?“, fragte ich.
Ich war noch neu in dieser Stadt. Vor zwei Wochen war ich mit meinen Eltern aus einem kleinen Dorf hierher gezogen, weil mein Vater eine neue Arbeitsstelle gefunden hatte. Ina wohnte in demselben Haus wie wir. Eigentlich hieß sie Marina, aber so nannte sie hier niemand.
Durch sie hatte ich Phillip und Max kennen gelernt. Wir trafen uns jeden Nachmittag vor dem Stadtkino und vertrieben uns dort die Zeit.
An diesem Tag saßen wir auf den Bänken vor den Filmplakaten und tauschten Sammelkarten aus.
„Ach, Rolf ist nur so ’n Spinner aus unserer Klasse“, antwortete Phillip.
„Der hat sie nicht mehr alle“, ergänzte Max und Ina meinte: „Der stinkt sogar manchmal.“
„Wieso denn?“, wollte ich wissen.
„Na, weil der sie nicht mehr alle hat!“, wiederholte Max.
„Den wirst du schon noch kennen lernen“, hakte Phillip ein, „wenn du erst zu uns in die Schule kommst.“
In einer Woche war Schulanfang und ich würde zusammen mit Phillip, Max und Ina in die siebte Klasse gehen.
„Haben wir kein anderes Thema?“, murrte Ina und mischte die Karten neu.
„Soll ich ihn fragen, ob er mitspielen möchte?“, schlug ich vor.
Max fauchte mich an: „Spinnst du?“
„Mit dem spielt hier niemand“, sagte Phillip. „Der ist für jeden tabu.“
„Warum denn?“
„Mann, musst du so viel fragen?“, rief Max ärgerlich. „Also gut, pass auf, ich erklär’s dir: Mit solchen Typen redet man nicht, o.k.? Am besten, du beachtest Rolf gar nicht, denn wenn du hier in der Stadt gute Freunde haben willst, dann halte dich besser von ihm fern!“
„Ach, so ist das“, antwortete ich verwundert.
„Genau so“, sagte Max. „Und jetzt spiel endlich weiter!“
Ich sah in meine Karten und hatte Rolf bald vergessen.
Einige Tage später war Schulbeginn und mit gemischten Gefühlen stand ich vor meiner neuen Schule. Sie war viel größer als meine Dorfschule und wirkte kalt und grau. Ich vermisste die bunten Fensterbilder und die Wandgemälde, die Bäume und Sträucher auf dem Schulhof und die Basketballkörbe.
Dafür blickte ich hier auf blasse Fenster und große Türen, auf Wandschmierereien und einen kahlen Pausenhof, auf dem nur eine einzige Linde stand.
Die Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken. Ich hielt Ausschau nach Phillip, Max und Ina, doch sie waren nicht zu entdecken. Stattdessen strömten unbekannte Gesichter an mir vorbei in die Schule. Ich fühlte mich sehr allein und hatte Angst vor dem, was nun auf mich zukommen würde: diese neue Schule, in der ich mich schnellstens zurechtfinden musste, fremde Mitschüler, von denen ich nur Phillip, Max und Ina kannte, und natürlich auch eine Menge Lehrer, an die ich mich schon bald gewöhnen musste.
Mit einem komischen Gefühl in der Magengrube ging ich durch die endlosen, kalten Gänge der Schule und suchte meine Klasse.
Gerade kam ich am Hausmeister-Häuschen vorbei, als ein Mann in einem blauen Arbeitsanzug aus der Tür kam. Ich fragte ihn nach dem Weg zu meiner Klasse: 7a.
Er sah mich freundlich an, legte seine Hand auf meine Schulter und führte mich zu einem Klassenraum.
„So, da sind wir: 7a“, sagte er knapp, öffnete mir die Tür und schob mich hinein.
Die anderen Schüler waren bereits da. Auch die Lehrerin stand schon vorn am Pult. Sie kam auf mich zu und streckte mir ihre Hand entgegen.
„Du bist bestimmt Sebastian“, begrüßte sie mich. „Ich bin Frau Oberle, deine Klassenlehrerin.“
„Guten Tag“, sagte ich leise, während ich ihr die Hand gab. Sie lächelte mir erneut zu und sah sich dann in der Klasse um.
„Wo haben wir denn noch einen Platz für dich? Hm, mal sehen. – Tja, Sebastian, es scheint, als ob alle Plätze besetzt seien, bis auf den neben Rolf. Wir werden dich also dorthin setzen.“
Was? Das war wie ein Schlag ins Gesicht! Ausgerechnet neben den sollte ich mich setzen; neben den Spinner, der stank und sie nicht mehr alle hatte?
Aber es half nichts. Frau Oberle führte mich an den Platz und Rolf rutschte zur Seite.
Ich setzte mich.
Einige Schüler flüsterten sich gegenseitig etwas zu und zeigten mit dem Finger in meine Richtung.
So, das war’s, dachte ich. Jetzt bist du abgestempelt. Nun will dich bestimmt niemand mehr kennen lernen!
Rolf streckte mir die Hand hin, lächelte und sagte: „Hallo.“
„Lass mich in Ruhe!“, gab ich zornig zurück. „Red mich bloß nicht wieder an, hörst du?“
Rolf erschrak und drehte sich enttäuscht um. Mir war das egal. Was musste er auch so blöd sein!
Die ersten beiden Stunden kamen mir wie Tage vor. Ich musste mich vorstellen, meine Hobbys und meine Lieblingsfächer aufsagen und alles über meine frühere Schule erzählen.
Warum noch die Mühe, dachte ich. Es interessiert sich jetzt doch niemand mehr für mich.
In der ersten Pause lief ich gleich zu Phillip, Max und Ina. Sie standen in der hinteren Ecke des Schulhofs und alberten herum.
„Na, da hast du ja voll den Joker gezogen, was?“, spottete Phillip lachend, als er mich kommen sah.
„Wie gefällt dir denn dein neuer Ehrenplatz neben Rolf?“
„Hör bloß auf“, antwortete ich. „Das Ganze ist schlimm genug.“
„Stell dich nicht so an!“, sagte Max. „Dieses eine Jahr wirst du es wohl aushalten können.“
„Was?“, rief ich verärgert. „Ich soll das ganze Jahr neben dem sitzen bleiben? Ich dachte, ihr könntet mir da helfen.“
„Wie denn?“, fragte Ina. „Nee, da ist nichts zu machen!“
Nach dem Klingelzeichen ging ich enttäuscht in die Klasse zurück und setzte mich wieder auf meinen Platz. Rolf sah mich ganz traurig an.
Geschieht dir recht, dachte ich und streckte ihm die Zunge heraus.