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ISBN: 978-3-95530-122-4
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Wolfram Hänel
Giftiges Gold
Edel:eBooks
Ein Lied überdauert
alles Geschrei der Welt.
Und eine Geschichte
hält sich länger
als aller Reichtum.
(nach einem irischen Sprichwort aus West Cork)
Inishturk liegt mitten im Atlantik, ziemlich weit draußen vor der Westküste von Irland. „Inish“ heißt „Insel“ und „turk“ heißt „wildes Schwein“, obwohl es schon lange keine Wildschweine mehr gibt auf Inishturk, nur noch ein paar Kühe und ein paar Ziegen und jede Menge Schafe. Und natürlich den alten Esel von meinem Großvater, der immer im Gemüsebeet rumtrampelt und den Salat frisst.
Ein paar Menschen leben auch auf Inishturk, klar, ich zum Beispiel und mein Vater und meine Mutter und meine beiden Brüder Owen und Brendan und noch genau vierundfünfzig andere, und jeder ist irgendwie mit jedem verwandt, nur nicht mit Maureen, die meine Lehrerin ist und vom Festland kommt. Aber im Moment sind Ferien und deshalb ist Maureen nicht da. Macht Urlaub bei ihren Eltern.
Außerdem gibt es auf Inishturk noch vier Fischkutter, eine Kneipe, einen Laden und ein Telefon, das steht bei der alten Mary Catherine auf dem Küchentisch. Natürlich haben weder der Laden noch die Kneipe ein Schild über der Tür, weil sowieso jeder weiß, wo er sein Guinness oder seine Kartoffeln bekommt. Also wäre es völlig idiotisch, extra ein Schild aufzuhängen.
Es gibt übrigens auch keine Autos auf Inishturk. Kein einziges. Kein richtiges jedenfalls. Nur einen alten Landrover ohne Kupplung und ohne Bremsen, aber mit dem kann niemand fahren. Owen hat es zwar mal versucht, ist aber nichts bei rausgekommen, hat nur ziemlichen Ärger mit Vater gegeben.
Aber seit zwei Tagen liegt Owen sowieso mit Grippe im Bett.
Vater hat ein Auto auf dem Festland, einen ziemlich klapprigen Kombi mit einer verbeulten Beifahrertür, damit bringt er manchmal ein paar Hummerkisten von Roonah Quay nach Westport oder besucht Paddy Hopkins, seinen alten Freund. Meine Mutter sagt, der Kombi wäre zum Kotzen, erstens weil er nach altem Fisch stinkt und zweitens weil man zur Beifahrertür nicht rauskommt, sondern immer erst einer von außen aufmachen muss. Und drittens weil mein Vater eindeutig besser Fischkutter fahren kann als Auto.
Mir ist das ziemlich egal. Hauptsache ich darf mit, wenn Vater nach Westport fährt. Da gibt es nämlich einen Laden mit Softeis und für nur zwanzig Pence mehr bekommt man einen Schokoladenriegel oben ins Eis gesteckt, der ist fast schwarz und schmeckt ein bisschen nach Lakritze.
Im Laden auf Inishturk gibt es keine Lakritze und erst recht kein Softeis. Nur Säcke mit Mehl oder Kartoffeln oder Kraftfutter für die Kühe und ein paar Konserven, weiße Bohnen in Tomatensoße und solche Sachen. Und manchmal noch bunte Lutscher. Ist ja aber auch eigentlich gar kein richtiger Laden, nur ein Raum mit Regalen neben der Küche von Helen, die mit Kevin verheiratet und außerdem auch noch die Krankenschwester von Inishturk ist.
Ihre Arzneimittel hat Helen in einem grau gestrichenen Blechschrank mit einem roten Kreuz darauf und einem großen Vorhängeschloss an der Tür. Und der Schrank steht im Anbau der Inselkirche, die eigentlich auch gar keine richtige Kirche ist, sondern eher ein großer Saal mit ein paar Holzbänken an der Wand. Weshalb wir auch „Gemeindesaal“ sagen und nicht „Kirche“. Es gibt natürlich auch keinen Turm, aber dafür ein Jesusbild mit einem blutenden Herzen, und im Anbau steht ein Bett, falls mal jemand eine Krankheit hat, die sehr ansteckend ist.
Einmal hat der alte Paddy O’Toole da geschlafen, als er nämlich zu viel getrunken hatte und sich nicht nach Hause traute. Und als Pegeen, seine Frau, am nächsten Morgen Paddys Schuhe im Kuhstall fand und sonst gar nichts, dachte sie, die Kuh hätte den armen Paddy einfach mit Hemd und Hose aufgefressen. Wie die Schuhe in den Kuhstall gekommen sind, weiß keiner, aber jedenfalls haben sie Paddy dann laut schnarchend im Krankenzimmer gefunden!
Owen muss nicht ins Krankenzimmer, obwohl er Grippe hat. Helen hat gesagt, Grippe sei zwar ansteckend, aber noch lange kein Grund fürs Krankenzimmer. Schade eigentlich, denn sonst hätte ich vielleicht für ein paar Tage in Owens Zimmer ziehen dürfen, mit dem kleinen Dachfenster, durch das man genau auf den Hafen blicken kann. Stattdessen muss ich mich weiter mit Brendan herumärgern, der erst sechs ist und alles durcheinander bringt und nie aufräumt und nachts im Schlaf immer irgendwelchen Blödsinn erzählt.
Aber wenigstens klettert er nicht aufs Dach dabei, sondern setzt sich nur hin. Und einmal hat er sich ans Fenster gestellt, aber als ich gesagt habe: „Da ist nichts, leg dich wieder hin“, hat er sich wieder hingelegt. Überhaupt ist er eigentlich ganz nett, für einen kleinen Bruder jedenfalls, und dumm ist er auch nicht. Ist neulich auf den einzigen Baum der Insel geklettert, bis ganz nach oben, und hat ganz still da gesessen und die Arme ausgestreckt, bis sich ein kleiner Vogel draufgesetzt hat. Weil er dachte, Brendans Arm wäre ein Ast.
Trotzdem mag ich Owen lieber, aber das ist ja auch klar, Owen ist nämlich schon sechzehn und kann ein Stück Treibholz mit der flachen Hand durchschlagen, sogar wenn das Holz so dick ist wie sein eigener Arm. Aber letzte Woche hat er die ganze Küche voll gekotzt, weil er nämlich bei John Joe wieder heimlich Zigarren geraucht hat, das war gar nicht schön und eine ziemliche Schweinerei.
John Joe wohnt ganz am Ende der Insel, wo eigentlich keiner mehr wohnt und wo nur noch Klippen sind und kreischende Möwen und wo die Gischt hoch aufspritzt, wenn die Wellen gegen die Felsen anrennen. Früher war John Joe ziemlich berühmt, weil er der Einzige war, der Steinmauern bauen konnte, die hundert Jahre lang hielten. Deshalb hat er auch fast alle Häuser auf Inishturk gebaut und in New York war er auch schon mal. Aber das ist lange her und er redet nicht gerne darüber, sondern sagt nur: „Völlig verrückt da. Und die Leute: alle plemplem.“ Und dass er froh wäre, wieder auf Inishturk zu sein und nie wieder weggehen würde.
Ich bin auch froh auf Inishturk zu sein. Jedenfalls gibt es hier keine Räuber und keine Einbrecher und auch keine Polizei, und deshalb braucht auch keiner die Haustür abzuschließen. Und passieren kann einem auch nichts, höchstens dass man von der Klippe fällt, aber das tut keiner, nur manchmal ein paar Schafe. Im Winter, wenn Sturm ist und der Regen so prasselt, dass es wehtut auf der Haut und man kaum noch die Hand vor Augen sieht.
Ich glaube, wenn es nicht so viel regnen würde, wäre Inishturk wahrscheinlich der beste Platz auf der ganzen Welt. Weil jeder jeden kennt und weil alle helfen, wenn einer ein Problem hat. Und weil alle genug zu essen haben und es eigentlich auch gar keine Probleme gibt, außer dass Großvaters Esel immer im Salat herumtrampelt. Er kann nämlich den Riegel vom Gatter mit den Zähnen aufschieben! Deshalb habe ich gestern auch einen Strick drumgebunden, da hat der Esel ganz schön blöd geguckt.
Als Großvater noch gelebt hat, hat er Geige gespielt und mein Vater tin whistle, Blechflöte. Sie konnten wunderschöne Musik machen, wenn sie nur wollten. Und wenn sie genug schwarzes Bier getrunken hatten. Samstagabends haben sie manchmal im Gemeindesaal gespielt, Großvater hatte ein rotes Tuch um den Hals und Vater seine schwarzen Lederschuhe an, die er vorher auf Hochglanz poliert hatte. Und alle Leute tanzten und sangen und erzählten sich Geschichten und die Kinder durften bis nach Mitternacht aufbleiben, sogar Siobhán, das Baby von Helen, das sonst immer nur schreit.
Aber wenn Großvater und Vater Musik machten, war Siobhán ganz still. Und gluckste nur ein bisschen vor Freude. „Weil die Musik so schön war, dass ich immer gedacht habe, eines Tages werden sogar die Fische aus dem Wasser springen um mitzutanzen“, hat Mary Catherine gesagt und sich heimlich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln gewischt, als sie an Großvater denken musste. Ich glaube, sie hat ihn sehr gerne gemocht. Vielleicht, weil er ihr großer Bruder war. Aber jetzt ist Großvater tot und Vater hat gesagt, dass er noch ein bisschen Zeit braucht, bevor er wieder Lust hat Musik zu machen.
Dabei fällt mir ein, dass ich Mary Catherine eigentlich mal wieder besuchen könnte. Mary Catherine macht nämlich den besten Kakao auf der Welt! Und heißer Kakao wäre gar nicht schlecht bei dem Mistwetter und vielleicht gibt es ja auch was Neues. Mary hat nämlich auch die Poststelle von Inishturk und einmal in der Woche kommt der Kutter mit der Post vom Festland und bringt Briefe und Ansichtskarten und manchmal sogar ein Paket. Und weil Mary immer alle Ansichtskarten liest und manchmal auch die Briefe, weiß sie natürlich auch immer über alles und das Allerneueste Bescheid.
Ich ziehe mir also meine Regenjacke über und pfeife nach Dog. Dog ist mein Hund, ein echter Hütehund, schwarzweiß gefleckt und der klügste Hund auf der ganzen Insel. Passt auf, dass die Ziegen nicht abhauen und dass Brendans Kater und die anderen Katzen nicht ins Haus kommen. Sollen sie nämlich nicht, sie sollen lieber draußen bleiben und Mäuse fangen.
Dog und ich sind die besten Freunde überhaupt. Und manchmal machen wir den ganzen Tag nichts weiter, als auf der Wiese herumzuliegen und in den Himmel zu gucken. Bis uns ganz schwindlig im Kopf wird und wir nicht mehr wissen, ob sich die Wolken bewegen oder wir selber mit der ganzen Insel oder alles durcheinander.
Manchmal sitzen wir auch einfach nur auf einer Klippe und starren aufs Meer und malen uns aus, was wohl hinter dem Horizont sein könnte. Obwohl wir natürlich ganz genau wissen, dass da erstmal eine ganze Weile gar nichts kommt, nur Wasser, und dann Amerika. Das heißt, ich weiß das, ob Dog es auch weiß, ist nicht ganz sicher. Könnte aber sein.
Ich pfeife noch einmal. Da, jetzt höre ich Dog kläffen, oben am Berg. Aha, die Ziegen sind wieder abgehauen und fressen wilde Brombeeren. Und Großvaters Esel hat den Strick am Gatter durchgekaut und trampelt schon wieder im Salat herum. Klar, dass Dog nicht weiß, worum er sich zuerst kümmern soll! Heute geht aber auch alles schief, denke ich und jage Großvaters Esel aus dem Gemüsebeet. Und dann helfe ich Dog die Ziegen zurückzuholen. Dann können wir uns endlich auf den Weg zu Mary Catherine machen.
Unterwegs gehe ich noch schnell bei Helen vorbei, bloß um zu fragen, ob es vielleicht gerade wieder bunte Lutscher gibt. Gibt es aber nicht. „Gibt keine bunten Lutscher“, sage ich, kaum dass Mary Catherine die Tür aufgemacht hat. „Aber ist ja auch egal. Machst du mir Kakao?“, frage ich und setze mich falsch herum auf Mary Catherines einzigen Küchenstuhl. Und Dog schüttelt sich das Regenwasser aus dem Fell und legt sich unter den Tisch.
Mary Catherine stellt einen Topf Milch auf die heiße Ofenplatte. Und sagt: „Wir kriegen Gäste.“ Sagt es so, als wäre es gar nichts Besonderes und als würden wir jeden Tag Gäste kriegen auf Inishturk.
„Nun red schon weiter“, drängele ich, „wer ist es?“
„Rate mal“, sagt Mary Catherine.
„Ich weiß nicht“, sage ich, „Seamus vielleicht!“, rufe ich dann, denn Seamus war schon lange nicht mehr da und es wird Zeit, dass er sich endlich mal wieder blicken lässt, das meinen alle auf Inishturk, vor allem Maureen, die nämlich immer noch ein bisschen verliebt ist in Seamus.
Seamus ist Mary Catherines Sohn und vor ungefähr einem Jahr ist er nach Deutschland gegangen um Geld zu verdienen. Jetzt hat er in irgendeiner Stadt eine Kneipe. Eine irische Kneipe. Wo er jeden Abend Musik macht und nur irisches Bier verkauft und irische Kartoffelchips dazu. Einmal hat er eine Postkarte geschickt, auf der stand: „Schickt mir alte Fotos und Bilder und allen Kram, den ihr nicht mehr braucht. Ich kann alles gebrauchen.“ Und „alles“ war dick unterstrichen.
Da haben wir ihm alte Fotos und Bilder geschickt und das rostige Nummernschild vom Landrover und Owen hat noch ein Stück blau gestrichenes Holz dazugelegt und ich ein paar besonders schöne Muscheln vom Strand und eine Krebsschere. Ein richtig großes Paket ist es geworden und Seamus hat auch gleich geantwortet.
„Danke“, hat er geschrieben, „die Leute hier sind begeistert und finden meine Kneipe ‚sehr‘ irisch. Und trinken jeden Abend so viel Bier, dass ich bestimmt bald nach Hause kommen kann und dann bringe ich für jeden von euch was mit.“ Ein paar Fotos hatte er auch dazugelegt, da konnte man ihn in seiner Kneipe sehen und das Nummernschild vom Landrover hing in einem Bilderrahmen an der Wand und auf der Theke lagen meine Muscheln.
„Ich sag’s doch“, hat John Joe gesagt, als er den Brief gelesen hat, „wie in New York: alle plemplem.“ Aber ich möchte natürlich wissen, was Seamus mir wohl mitbringt aus Deutschland, und deshalb hoffe ich, dass es Seamus ist, der zu Besuch kommt.
„Falsch“, sagt Mary Catherine und stellt einen Becher dampfenden Kakao vor mich. „Völlig falsch.“
„Dann weiß ich nicht“, sage ich.
„Fremde“, erklärt Mary Catherine und tut sehr geheimnisvoll. „Touristen. Leute, die hier Urlaub machen wollen.“
„Touristen?“, frage ich verblüfft, denn es ist noch nie ein Tourist auf Inishturk gewesen. Nur mal Paddy Hopkins aus Westport, mit seinem Segelboot, und Paddy Hopkins ist natürlich kein richtiger Tourist, weil er sowieso alle Leute auf der Insel kennt und mit Vater zusammen auf der Schule war. Und einmal war ein Professor von der Universität da. Der hat Steine gesammelt und Fotos gemacht. Aber nur zwei Tage lang, dann hatte er Schnupfen und musste wieder nach Hause.
„Touristen“, sagt Mary Catherine noch mal, „zwei Männer. Mr. McArthur und Mr. Gibbs. Aus Dublin. Sie werden in Seamus’ Zimmer wohnen und zahlen eine Menge Geld dafür.“
„Und was wollen sie hier machen?“, frage ich.
„Was man eben so macht als Tourist“, antwortet Mary Catherine, „ein bisschen wandern vielleicht. Oder angeln, oben im See.“
„Aha“, sage ich und wundere mich. „Und wann kommen sie?“
„Dein Vater bringt sie morgen mit dem Boot rüber.“
„Waaas?! Morgen schon?“, rufe ich und verschütte vor Aufregung fast meinen Kakao. „Das muss ich sofort den anderen erzählen.“
„Das wissen schon alle“, sagt Mary Catherine lachend und zeigt ihre Zahnlücken, „nur du mal wieder nicht!“
Es stimmt schon, manchmal kriege ich wirklich nicht alles mit, weil ich nämlich auch gar nicht hinhöre, wenn mir jemand was erzählt, sondern viel lieber von irgendwelchen Abenteuern träume. Aber jetzt rufe ich: „Owen weiß auch nichts davon, weil er nämlich im Bett liegt und Grippe hat!“
„Ich weiß“, antwortet Mary Catherine, aber da bin ich schon aus der Tür und weg. Und Dog fröhlich kläffend hinterher.
Owen hat schon lange keine Grippe mehr und Mr. McArthur und Mr. Gibbs sind jetzt schon fast eine Woche auf der Insel.
„Touristen sind das jedenfalls nicht, so viel ist sicher“, hat Owen gestern gesagt.
„Was sind sie dann?“, wollte ich wissen.
„Ich weiß noch nicht“, hat Owen geantwortet, „aber ich krieg’s noch raus, verlass dich drauf.“
Vorsichtig balanciere ich das voll beladene Frühstückstablett durch die schmale Küchentür. Schinken und Eier, gegrillte Tomaten und Würstchen für Mr. Gibbs und gebratene Heringe für Mr. McArthur. Mr. McArthur mag keine Würstchen und Mr. Gibbs keine Heringe. Und Mr. Gibbs kriegt erst ein Glas Orangensaft und dann einen Becher heiße Milch zum Frühstück und Mr. McArthur literweise Kaffee. Ohne Milch.
„Die rauben mir den letzten Nerv“, hat Mary Catherine gerade erklärt und sich die Hände an der alten Kittelschürze abgewischt, „warum können sie nicht einfach beide Tee trinken? Ich bin ja schließlich kein Hotel! Bring du ihnen ihre Milch und ihren Saft und ihren Kaffee, ich kümmere mich solange um den Toast.“
Ich darf nämlich helfen. Mache Frühstück mit Mary Catherine und die Betten in Seamus’ Zimmer, und nachher soll ich Mr. McArthur und Mr. Gibbs den Weg durchs Torfmoor zeigen und den Abstieg die steilen Klippen hinunter, gleich hinter John Joes Haus.
„Na, ausgeschlafen?“, fragt Mr. McArthur und zwinkert mir zu. „Klar“, antworte ich, „schon lange“, und setze das Tablett auf der Tischkante ab. Mr. McArthur hilft mir, die heißen Teller herunterzunehmen. Mr. McArthur ist eindeutig der Nettere von beiden, finde ich. Jedenfalls hat er freundliche Augen und außerdem legt sich Dog immer an seine Füße. Was er nicht bei jedem macht. Aber Mr. Gibbs scheint der Chef zu sein. Wenn er was sagt, gibt ihm Mr. McArthur jedenfalls sofort Recht, und wenn Mr. Gibbs etwas braucht, springt Mr. McArthur auf und holt es.
Allerdings sagt Mr. Gibbs nicht besonders viel. Und wenn, dann klingt es wie abgehackt, als würde eine Maschine sprechen. Genauso isst er übrigens auch, wie eine Maschine. Schneidet immer genau gleich große Stücke von seinem Würstchen und steckt sie mit einer einzigen eckigen Bewegung in den Mund. Dann kaut er jeden Bissen mindestens hundertmal, wobei seine Kinnmuskeln arbeiten wie bei einem Kaninchen. „Ich weiß nicht weshalb“, hat Mary Catherine gesagt, „aber ich mag ihn nicht.“ Dog mag ihn auch nicht. Zeigt immer die Zähne, wenn er ihn sieht und knurrt ganz tief unten in der Kehle.
Ich mache mir ein bisschen an der alten Anrichte zu schaffen. Tue so, als würde ich Staub wischen, und poliere mit einem fleckigen Lappen den großen Silberteller, von dem Mary Catherine sagt, dass er bestimmt ’ne Menge wert ist. Auch wenn er einen tiefen Kratzer hat und eigentlich nie richtig glänzen will, egal wie lange man an ihm herumpoliert.
Ich warte darauf, dass Mr. Gibbs und Mr. McArthur endlich irgendwas reden. Ich habe nämlich Owen versprechen müssen, dass ich genau aufpasse und ihm jedes Wort wiedererzähle. „Jedes Wort, hörst du“, hat Owen gesagt, aber Mr. Gibbs und Mr. McArthur reden nicht. Kümmern sich nur um ihr Frühstück, die Köpfe tief über die Teller gebeugt, und sonst gar nichts. Zwischendurch starrt Mr. Gibbs auf die Wand neben der Tür, als gäbe es dort irgendetwas zu sehen. Für alle Fälle gucke ich auch schnell mal hin. Aber da ist wirklich nichts, nur ein heller Fleck auf der Tapete, wo früher das Farbfoto von Bischof McNamara hing. Seamus hat das Bild gemacht, als der Bischof mal auf Inishturk war um den Gemeindesaal zu segnen, und die Menschen und die Tiere gleich noch dazu.
Hat aber nichts genützt, im selben Jahr noch sind Paddy O’Toole und der Bruder von John Joe mit ihrem Ruderboot von der Brandung gegen die Klippen gedrückt worden und ertrunken. Von dem Ruderboot haben sie nur noch ein paar Holzplanken gefunden. Und die Leichen von Paddy und John Joes Bruder sind erst viele Wochen später auf Achill Island angespült worden, weiter oben, im Norden. Wenn Paddy nicht seinen Pullover mit dem O’Toole-Muster angehabt hätte, hätten sie nie rausgekriegt, dass er es war, den die Wellen da auf den Strand von Achill geworfen haben. Reichlich angenagt von den Fischen und so, Vater war da und hat es gesehen.
Zwei Zickzacklinien, die sich dreimal überkreuzen, das ist das Zeichen der O’Tooles, so wie wir eine Art dickes Schiffstau genau gerade runter in unsere Pullover stricken und die Prendergasts nur eine einzige Schlangenlinie, von rechts unten nach links oben. Aber alle Linien bedeuten das Gleiche: Glück beim Fischen und glückliche Heimkehr. Nur Paddy und John Joes Bruder hatten kein Glück.
Seamus hat das Bild vom Bischof trotzdem mit nach Deutschland genommen und in seiner Kneipe aufgehängt. Und John Joe hat gesagt, dass er jetzt endlich wieder Mary Catherine besuchen könne, ohne andauernd auf den „heuchlerischen Pfaffen“ starren zu müssen. John Joe mag nämlich keine Pfaffen. Und erst recht keine Bischöfe. Er sagt, sie machen alles nur noch schlimmer mit ihrem Geschwätz, und wenn man sich nicht selbst hilft, hilft Gott einem bestimmt nicht. Da hat Mary Catherine ihn einfach rausgeschmissen. Und Vater hat gesagt, an irgendetwas müsste man ja schließlich glauben, wenn man den ganzen Tag auf dem Meer ist und nichts sieht als immer nur Wasser. Aber John Joe ist eben auch kein Fischer, sondern baut Steinmauern und Häuser und hat keine Ahnung, wie es ist, wenn man mutterseelenallein in seinem Boot sitzt und die Wellen von vorn und hinten zugleich kommen und Mann und Boot und alles verschlingen wollen. Hat Vater gesagt.
Jetzt wischt Mr. Gibbs mit einem Stück Toastbrot den letzten Rest Eigelb von seinem Teller und legt Messer und Gabel genau parallel zueinander an den Rand. Guckt auf die Uhr, schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. Wieder alles ohne ein einziges Wort zu sagen.
„Bin gleich soweit“, murmelt Mr. McArthur mit vollem Mund und nimmt schnell noch einen Schluck Kaffee. „Okay, dann wollen wir mal“, sagt er dann zu mir und nickt freundlich. Als wollte er sich für Mr. Gibbs’ schlechtes Benehmen entschuldigen.
Ich hole meine Regenjacke und pfeife nach Dog.
„Muss das sein?“, murrt Mr. Gibbs mit zusammengekniffenen Lippen. „Muss sein“, antworte ich einfach und marschiere los. Und Mr. Gibbs bleibt nichts weiter übrig, als mir und Dog zu folgen. Als ich kurz zu Mr. McArthur hinüberblicke, sehe ich gerade noch, wie er übers ganze Gesicht grinst und mir dann heimlich zublinzelt.
Mr. Gibbs hat einen Seesack über der Schulter, aus olivgrünem Segeltuch mit einem doppelt genähten Boden, und oben ragen ein paar Metallstangen heraus. Und Mr. McArthur schleppt einen glänzenden Aluminiumkoffer, der stand bisher immer oben auf dem schmalen Flur vor Seamus’ Zimmer, und ich weiß, dass an der Unterseite ein kleines Schild angeschraubt ist: Barvin Explorations und eine Adresse in Dublin. Owen hat gesagt: „Vielleicht ist Geld drin oder eine zerhackte Leiche.“
Aber gerade, als er versuchen wollte, den Koffer aufzumachen, ist Mary Catherine gekommen und hat ziemlich geschimpft. „Stell sofort den Koffer wieder hin“, hat sie gesagt, „das geht uns überhaupt nichts an, was da drin ist, und ich will es auch gar nicht wissen!“ Stimmt natürlich gar nicht, Mary Catherine ist so neugierig, dass sie bestimmt auch gerne wissen würde, was in dem Koffer ist. Aber man kann ja nicht einfach den Koffer von anderen Leuten aufmachen, da hat sie schon Recht. Und ich glaube auch nicht, dass Geld drin ist. Und auch keine zerhackte Leiche.
Mr. Gibbs und Mr. McArthur stapfen hinter mir und Dog den Berg hinauf. Und dann weiter auf dem alten Karrenweg, der außen um die Nordseite der Insel herumführt. Überall liegt Schafsdreck zwischen den Steinen und ich latsche mit Absicht immer mitten rein in die frischen Köttel, dass es nur so spritzt. Dog jagt ein paar Schafe über den steilen Abhang. Mit weit aus dem Maul hängender Zunge bleibt er dann stehen und guckt zu, wie die Schafe aufgeregt blökend zwischen den Felsen herumspringen. Manchmal glaube ich, dass Dog das Leben einfach einen riesengroßen Spaß macht. Und stimmt ja auch, denke ich, ist ja auch toll! Und renne ein Stück mit Dog um die Wette. Aber Dog gewinnt immer. Ist ja auch klar, er hat ja auch keine Gummistiefel an!
„He, warte!“, ruft Mr. McArthur, „so schnell sind wir nicht!“
„Ich warte oben am See!“, rufe ich zurück und renne weiter, denn wenn der beste Hütehund der Welt neben einem herjagt, dann kann man nicht einfach wie eine lahme Schnecke den Berg hinaufkriechen!
Der See liegt mitten im Moor. Die Leute, die früher, vor der großen Hungersnot, auf Inishturk gewohnt haben, haben aus Steinen und Baumstämmen einen Damm gebaut, damit man am Seeufer entlang bis zum großen Torfgraben kommt. Ich kenne jeden Fleck hier oben, weil wir oft hoch müssen um Torf zum Heizen zu holen. Auch wenn es regnet oder stürmt, so dass man am liebsten gar nicht rausgehen würde. Großvaters Esel hat dann die beiden großen Tragekörbe über dem Rücken und Vater trägt den schmalen Torfspaten und den Beutel mit dem Frühstück.
Man muss genau wissen, wie man den Torf sticht, sonst laufen die Gräben wieder voll Wasser und alles war umsonst. Ich muss immer die Torfstücke in die Tragekörbe packen, dicht an dicht und bis hoch über den Rand hinaus. Und wenn wir dann beide genug gearbeitet haben, holt Vater die große Glasflasche aus dem Beutel, die mit dem alten Socken drüber, damit der Tee schön lange heiß bleibt.
„Besser als jede Thermoskanne“, sagt Vater jedesmal und dann sitzen wir nebeneinander und schlürfen heißen Tee. Mit viel Milch und Zucker, dass er süßlich klebrig über die Zunge rinnt bis hinunter zum Magen, wo er dann warm und schwer hin- und hergluckst. Eine feine Stelle haben wir zum Teetrinken entdeckt, direkt am Seeufer, hinter einem großen Felsbrocken, der den Wind abhält. Wenn man sich ein bisschen nach vorne beugt, sieht man weiter links das Meer, mit der Nachbarinsel Inishbofin, und rechts sieht man auch das Meer und die hohen Klippen von Clare Island und die Küste dahinter.
Ich pfeife nach Dog. Grell hallt der Pfiff über den See und kommt als Echo von den Felsen zurück. „Dog!“, rufe ich, „Dog-og-og-og“, schallt es zurück. Kläffend kommt Dog um die Ecke gefegt und steht da, mit weit aus dem Mund hä„“