Kathy Reichs
Brendan Reichs
Jeder Tote
hütet ein Geheimnis
Aus dem Amerikanischen
von Andreas Helweg
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cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2013
© 2013 by Kathy Reichs und Brendan Reichs
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Code« bei
Razorbill, an imprint of Penguin Group, New York
© 2013 für die deutschsprachige Ausgabe cbj, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Andreas Helweg
Redaktion: Ulrike Hauswaldt
Umschlagbild: Totenkopf, Knochen: Shutterstock; Knochen: Geviert Archiv
Umschlagkonzeption: Geviert — Büro für Kommunikationsdesign, München
MG · Herstellung: AW
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-08733-3
V002
www.cbj-verlag.de
Brendan Reichs möchte dieses Buch seiner wundervollen Frau Emily widmen, seiner perfekten Tochter Alice, die gerade erst das Licht der Welt erblickt hat, und seinem Sohn Henry, der einfach eine Wucht ist.
Durch euch bekommt die Sache einen Sinn.
Kathy Reichs möchte dieses Buch ihren lieben irischen und lettischen Familien widmen.
Tá grá agam duit. Es ju -s mı -lu.
PROLOG
97 Tage zuvor
Eine leichte Brise strich über die Dünen von Turtle Beach und bewegte die Luft.
Der Wind trieb den knochenweißen Sand vor sich her und pfiff dann durch den dunklen Wald dahinter.
Schwarz und mondlos spannte sich der Himmel über der Insel. Auch lange nach Sonnenuntergang fühlte sich die Luft an wie ein nasses, warmes Handtuch.
Loggerhead Island erwartete die nächste ruhige Nacht.
Aber etwas war nicht so wie sonst.
Gleich hinter der Baumlinie unterhalb des aufragenden Felsens von Tern Point drängte sich ein Trupp Affen hoch in den Ästen einer Kiefer.
Still.
Sie beobachteten den Waldboden.
Unten auf einer kleinen Wiese hob jemand an den Wurzeln eines riesigen Baums einen Spaten, stieß ihn wieder in den Boden und hob ihn erneut. Frische Erde landete auf einem bereits kniehohen Haufen.
Der Grabende trug trotz der brütenden Hitze einen dicken braunen Mantel. Das wallende Kleidungsstück hüllte die Person vollständig ein und hing bis auf die Spitzen der abgetragenen schwarzen Stiefel.
Schweiß glänzte auf der gerunzelten Stirn.
Die Gestalt hielt inne, lächelte nach oben dem Affenpublikum zu und war froh, die Freude mit jemandem teilen zu können.
Nach Jahren des Wartens und Monaten minutiöser Planung.
Endlich war es so weit.
Bald würde das Spiel beginnen.
Der Grabende setzte geduldig seine Arbeit fort und hob die fruchtbare schwarze Erde aus. Die Grube war bereits einen knappen Meter tief und es fehlte nur noch ein Stück.
So gut wie fertig.
Der Grabende legte eine Pause ein. Reckte sich. Holte Luft und sog die schwere Mischung aus lehmigem Boden, nassem Gras und Geißblatt ein.
Ein Kichern entfloh ihm – schrill wie eine Vogelstimme, hing es Augenblicke lang in der Stille, ehe es mit atonalem Quieken erstarb.
Oben rutschten die Primaten nervös hin und her, denn sie witterten die Gefahr. Zwei junge Männchen kletterten höher in den Schutz der Baumkrone. Die Gruppe blieb jedoch sitzen. Wie gebannt. Und schaute zu.
Der Grabende ließ den Spaten fallen, griff in eine Leinentasche und zog ein kleines Bündel heraus. Küsste es einmal. Legte es ehrerbietig im Loch ab.
Das Spiel hatte begonnen.
»Kommt und findet mich«, flüsterte der Grabende, und dabei schlug sein Herz laut genug, um die Frösche zum Schweigen zu bringen.
Mit tonlosem Summen auf den Lippen füllte der Gräber das Loch und bedeckte die Oberfläche mit trockenem Laub. Er trat zurück. Suchte mit zitterndem Finger einen Knopf an der Armbanduhr. Drückte ihn.
Dong.
Erneut ertönte das kindliche Lachen.
Erledigt. Der Schlüssel ist vergraben.
»Zeit zum Spielen.«
Der Grabende hob Tasche und Spaten auf und verschwand in der Dunkelheit.
TEIL 1
Cache
KAPITEL 1
Die Spule schnarrte und mir wurde fast die Rute aus der Hand gerissen.
»Brrr!« Ich krallte die Finger um den Griff. »Ich habe einen dran!«
»Ruhig bleiben!« Bens dunkelbraune Augen strahlten Bedächtigkeit aus. »Wenn du nicht aufpasst, reißt die Leine.«
Tern Point. Loggerhead Island. Ben Blue und ich hockten auf einem breiten Steinsims sieben Meter über dem Atlantischen Ozean. Wir waren schon eine Stunde hier und bislang hatte keiner angebissen.
Bis jetzt.
»Wassollichtun?« Ich angelte zum ersten Mal mit Spinnerblatt und hatte keine Ahnung, wie ich vorzugehen hatte. Erst einmal wischte ich mir die verschwitzte Hand am grauen Poloshirt ab.
»Beide Hände an die Rute!« Am liebsten hätte Ben übernommen, das spürte ich genau, aber er riss sich zusammen. »Gib dem Fisch ein bisschen Leine, dann ziehst du ihn langsam ran und gibst ihm wieder Leine. Aber pass gut auf. Diese Angel ist nicht fürs Sportangeln gebaut.«
Mit seinen Anweisungen im Ohr, versuchte ich, meinen Fang müde zu machen. Schließlich schlängelte sich unter uns ein silberner Streifen durch die Brandung.
Ben pfiff und strich sich das schulterlange schwarze Haar hinter das Ohr. »Das ist ein großer Bursche. Netter Fang.«
»Danke. Soll ich ihn rausholen?« Meine Arme brannten von dem langen Tauziehen. »Dieses Ungetüm gibt nicht so leicht auf.«
Ben übernahm und seine Muskeln spannten sich unter seinem schwarzen T-Shirt und den abgeschnittenen Khakis. Von allen Virals war er mit Abstand der Kräftigste. Und mit Abstand der Naturverbundenste. Ben verbrachte fast seine gesamte Freizeit draußen und seine tief gebräunte kupferfarbene Haut war der beste Beweis dafür.
Die Familie Blue behauptet, von den Sewee-Indianern abzustammen, einer Gruppe amerikanischer Ureinwohner aus dieser Gegend, die vor drei Jahrhunderten verschwunden ist. Für diese Abstammung gibt es allerdings keinen Beweis. Aber das sollte man Ben lieber nicht unter die Nase reiben.
Bens kleines Boot Sewee war unser wichtigstes Transportmittel. Mit dem alten fünf Meter langen Boston Whaler hatte er außerdem das Dutzend Düneninseln vor Charleston erkundet und dabei die besten Stellen zum Angeln entdeckt. Zum Beispiel diese.
Augenblicke später wand sich ein glänzender Gefangener wild am Ende meiner Leine. Ben kurbelte ihn auf Augenhöhe herauf.
Mein Fang war silbrig, einen guten halben Meter lang und mit kleinen beweglichen Schuppen bedeckt. Aus dem Maul rann eine dünne Blutspur.
»Eine Königsmakrele.« Ben entfernte den Haken und hob den Fisch an einer Kieme hoch. »Zwanzig Pfund, ganz nette Größe. Gut, dass er sich nicht losgerissen hat.«
Vergeblich schnappte der gefangene Fisch nach Sauerstoff. Unsere Blicke trafen sich.
Plötzlich war mir der Spaß vergangen.
»Wirf ihn wieder rein.«
»Was?« Ben runzelte die Stirn. »Warum? Diese Art kann man gut essen. Oder wir verkaufen ihn auf dem Fischmarkt in Folly Beach.«
Die Kiefer der Makrele gingen auf und zu, doch mit weniger Kraft. Eine Blase bildete sich vor dem Maul. Und platzte.
»Wirf ihn zurück«, wiederholte ich entschlossen. »Das Fischgesicht soll noch ein bisschen vom Leben haben.«
Ben sah mich finster an, wusste jedoch, dass es keinen Sinn hatte zu streiten. Im Verlauf des vergangenen Jahres hatten die Jungen sich mit meiner Sturheit abgefunden, und auch mit der Tatsache, dass ich bei den meisten Streiten nicht als Verlierer vom Platz ging. Nicht, sobald ich die Beine in den Boden stemmte. Genau wie meine Tante Tempe.
Von der habt ihr vielleicht schon gehört. Dr. Temperance Brennan, die weltberühmte forensische Anthropologin. Manche nennen sie die Knochenjägerin. Sie ist meine Großtante, eine Tatsache, die ich erst nach dem Unfall meiner Mutter erfahren habe, als ich zu meinem Vater, Kit, gezogen bin.
Sie ist außerdem mein großes Vorbild. Mein Idol. So wie sie möchte ich auch eines Tages sein. Wenn ich mir ein Lebensmotto ausdenken müsste, würde es vermutlich lauten: »Was würde Tempe machen?« Ich möchte unbedingt eine ebenso gute Wissenschaftlerin wie Tempe werden. Und solche Fälle lösen wie sie.
»Okay, okay.« Ben nahm unseren Gefangenen an beiden Enden und sagte zu ihm: »Du kannst dich echt freuen, dass meine Freundin hier so ein weiches Herz hat.«
Er holte aus und schleuderte die Makrele ins Meer zurück. Sie landete im Wasser und verschwand mit einem Flossenschlag außer Sicht.
»Ihn zu fangen«, sagte ich, »war Spaß genug.« Jedenfalls für uns. Der Fisch würde vermutlich nicht zustimmen.
»Wenn du meinst.« Ben begann, unsere Ausrüstung einzupacken. »Gehen wir zu den anderen. Hi hat bestimmt längst aufgegeben.«
Ich machte die Haken an den Ruten fest und suchte den Platz nach Abfällen ab. Es hatte mir Spaß gemacht, ganz allein mit Ben zu angeln. Wir beide unternahmen nicht oft etwas zu zweit, und häufig sagte er nichts, wenn Hi und Shelton dabei waren. Wahrscheinlich, weil bei den beiden sowieso nie jemand ein Wort dazwischenbekam.
Ben war bereits sechzehn und damit der Älteste der Virals. Er hatte sogar schon einen Führerschein. Eigentlich hätte er der Anführer sein sollen, aber er überließ Entscheidungen lieber mir. Was mich überraschte, denn ich war erst vierzehn und damit die Jüngste, das einzige Mädchen und außerdem noch verhältnismäßig neu in Charleston. Trotzdem richtete sich Ben für gewöhnlich nach mir.
Und süß war er zugegebenermaßen auch, obwohl ich in ihm eher eine Art Bruder sah. Ben war faszinierend, konnte mich jedoch auch in den Wahnsinn treiben. Meistens war nicht zu erkennen, was hinter diesen Augen vor sich ging. Manchmal beschlich mich das Gefühl, dass ich ihn von allen am wenigsten verstand.
Nachdem wir unsere Ausrüstung eingepackt hatten, stiegen wir zum Waldrand hinunter. Ich hatte mich kaum in Bewegung gesetzt, als ein verwischtes graues Etwas aus dem Dickicht auf mich zuschoss.
»Coop, bei Fuß!« Ein Sprung in den Unterleib musste jetzt nicht unbedingt sein. Der Wolfshund erinnerte sich an seine Erziehung, bremste ab und ließ sich neben mir nieder.
»Guter Junge.« Ohrenkraulen. »Wo ist deine Familie?«
Ein Rascheln im Laub lieferte die Antwort. Ich drehte mich um und sah Whisper, die neben einer großen Zeder hinter mir stand. Die graue Wölfin musterte mich still und machte Platz für ihren Gefährten, einen Deutschen Schäferhund, den ich Polo getauft hatte. Hinter ihnen beschäftigte sich Coops Bruder mit einem Stock, den er abwechselnd schüttelte und zerkaute.
»Lauf«, sagte ich.
Coop sprang ins Gebüsch und die anderen Hunde und Hundeartigen folgten ihm.
»Mit einem Wolfsrudel abzuhängen, ist einfach verrückt.« Ben stand trotz der milden Temperaturen Schweiß auf der Stirn. »Ob die Mutter deines Köters nun dabei ist oder nicht.«
»Sei kein Baby«, stichelte ich. »Sie sind doch quasi Schoßhündchen.«
»Schoßhündchen beißen dir nicht das Gesicht kaputt. Oder fressen dich.«
»Hey, wir sind auch ein Wolfsrudel, schon vergessen?« Ich fand den Wildwechsel, auf dem wir nach Tern Point gekommen waren, und trabte in den Wald. »Warum sollten wir Angst voreinander haben?«
Ben antwortete nicht. Er hatte sich immer noch nicht so recht mit dieser Tatsache angefreundet. Nicht so wie ich jedenfalls.
Es ging um Folgendes: Im letzten Frühjahr hatte ein heimtückischer Supervirus meine Freunde und mich erwischt. Mich. Hiram. Shelton. Ben. Und natürlich meinen Wolfshund Coop.
Der Übeltäter war ein Erreger, den Dr. Marcus Karsten, der frühere Boss meines Vaters, im Loggerhead Island Research Institute entwickelt hatte. Um das große Geld zu verdienen, hatte Karsten rücksichtslos DNA zweier verschiedener Sorten Parvoviren kombiniert und dabei versehentlich einen ganz neuen Stamm erzeugt. Ein richtiges Prachtexemplar.
Unglücklicherweise war dieser böse kleine Keim auf Menschen übertragbar. Wir hatten uns angesteckt, als wir Coop retteten, der von Karsten für seine Experimente entführt worden war.
Zuerst brach die Krankheit aus. Kopfschmerzen. Fieber. Bewusstlosigkeit. Und so weiter.
Darauf folgten die Veränderungen. Wir entwickelten uns. Oder verwickelten uns. Miteinander.
Selbst heute kann ich es noch nicht genau beschreiben. Meine Gedanken biegen und winden sich und melden sich aus neuen Tiefen meines Unterbewusstseins. Meine Sinne schalten in den Hyperantrieb und werden schärfer als menschenmöglich.
Manchmal verliere ich die Kontrolle über mich und unterliege primitiven Instinkten. Fremden Impulsen. Einem tierischen Trieb zu jagen, zu fressen oder zu kämpfen. Bei den anderen ist es genauso. Meistens.
Die Krankheit ging schließlich vorüber, doch die Veränderungen blieben. Unsere Körper waren mutiert. Der winzige virenförmige Eindringling hatte unseren Gencode neu geschrieben und Hunde-DNA in unsere Doppelhelixe gemogelt.
Hatte uns umgemodelt und den Wolf in die Konstruktionspläne unserer Zellen eingeschleust.
Hatte uns zu einem Rudel zusammengeschmiedet.
Jetzt sind wir die Virals. Vom Virus geprägt.
Das Schlimmste an der Sache ist, dass wir nicht einmal wissen, ob wir die Krankheit besiegt haben. Oder ob die Veränderungen endgültig sind. Kann die Wirkung vielleicht stärker werden? Oder nimmt sie im Laufe der Zeit ab? Wir haben keine Ahnung. Da Karsten tot ist, haben wir auch keinen Zugriff mehr auf das Virus.
Aufgegeben haben wir deshalb nicht. Beileibe nicht. Wir haben die Antworten zwar noch nicht, aber wir beabsichtigen, sie zu finden. Wie? Daran arbeiten wir.
Ben und ich folgten dem Pfad zu einer kleinen Lichtung.
Piep! Piep!
Ben warf mir einen wissenden Blick zu. Ich verdrehte nur die Augen. Offensichtlich suchte Hi immer noch.
Piep! Piep! Piep!
Als wir die Wiese betraten, hörte ich aufgeregte Stimmen.
»Wie lange denn noch?« Shelton Devers schob sich die klobige Hornbrille auf die Nase hoch. »Das war schon langweilig, bevor du überhaupt angefangen hast.«
Shelton ist klein und dürr, seine Haut so dunkel wie Schokolade, und seine Gesichtszüge würden auf den Straßen von Kioto nicht auffallen. Schwarzer Vater. Asiatische Mutter. Ihr wisst schon.
Shelton stand mit verschränkten Armen mitten auf der Lichtung und die Langeweile war ihm ins Gesicht geschrieben. Er trug ein gelbes Kapuzen-Shirt mit Retro-Pacman-Aufdruck und eine übergroße Basketballhose, die an seinem mageren Körper schlackerte wie Kleidung auf einem Bügel.
»Reg dich doch nicht gleich so auf!«, gab Hiram Stolowitski zurück. »Haben wir nicht schon einmal einen vergrabenen Schatz gefunden?«
»Der perfekte Grund, damit aufzuhören«, erwiderte Shelton. »Für dieses Leben haben wir unsere Quote erfüllt.«
»Fast.« Hi wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gerät in seiner Hand zu. »Der Geocache sollte exakt hier sein. Irgendwo. Ich muss ihn bloß finden.«
»Bis jetzt hast du nur Kronkorken, eine Zange und eine Cola light gefunden.«
»Ich habe das Gerät neu justiert, damit es Metallschrott ignoriert. Es wird keinen falschen Alarm mehr geben.«
»Es gibt gar nichts mehr. Es piept nur noch.«
Hi trug eine grelle Kombination: rotes Adidas-Stirnband, blaues Hawaii-Shirt und weiße Shorts. In den Händen hielt er einen Fisher Labs F2 Metalldetektor, den er heute Morgen gerade frisch ausgepackt hatte. Dreißig Minuten lang hatte er die Lichtung abgesucht und behauptet, hier sei etwas versteckt.
Mit seinem runden Gesicht und den roten Wangen sah Hi aus, als wäre er dreißig Minuten gerannt und nicht auf einer kleinen Fläche ein Raster abgelaufen. Manchmal konnte er ziemlich nervig sein, aber wir respektierten seine wissenschaftliche Neugier. Hi liebte Experimente und Apparate über alles und war ein Tüftler vor dem Herrn. Für gewöhnlich hatte er deshalb bei mir einen Vertrauensbonus.
Heute waren jedoch nicht alle so großzügig.
»Das ist beknackt.« Shelton war ein Computerfreak und hackte sich lieber in fremde Webseiten, als durch die Wälder zu robben. »Überprüf das GPS noch einmal. Wir können auch an der falschen Stelle sein. Und überhaupt, wer würde hier draußen etwas verstecken? Das ist ein Privatgrundstück.«
Loggerhead Island ist eine private tierärztliche Forschungseinrichtung, auf der Armeen von Rhesusaffen frei leben, und zwar nahezu ungestört, da es außerhalb des Hauptkomplexes vom LIRI keine Gebäude gibt.
Wir kamen oft hierher. Loggerhead ist einer der wenigen Orte, wo wir ganz allein sein können.
»Auf der Geocaching-Webseite waren diese Koordinaten gelistet«, wiederholte Hi stur. »Das ist der erste Cache, der je für Loggerhead gepostet wurde, und ich beabsichtige, ihn zu finden.«
»Seit wann hast du denn dieses tolle neue Hobby?«, fragte Ben.
»Seit ich meinen Detektor bestellt habe. Also seit letztem Monat, schätze ich. Jetzt hört auf, mich zu nerven, und lasst mich in Ruhe die Lichtung zu Ende absuchen. Der Cache befindet sich innerhalb eines Radius von ungefähr dreißig Metern um die Koordinaten.«
Ein öder Sonntag. Da wir nichts anderes vorhatten, entschieden wir uns für das Übliche – auf Loggerhead abzuhängen. Unsere Zuflucht. Wie gewöhnlich hatten wir die Sewee genommen und waren losgewandert, um den Wald am Tern Point zu erkunden. Dieser konische Felsturm liegt auf der Südostecke der Insel. Hi hatte darauf bestanden.
»Erklär es doch noch einmal«, bat ich, weil ich nicht sicher war, ob ich tatsächlich verstanden hatte, worum es ging.
»Ich suche einen Geocache.« Hi zeigte unendliche Geduld. »Das ist ein Spiel. Jemand vergräbt oder versteckt einen Behälter mit einem Gegenstand und postet die Koordinaten im Internet.«
Shelton, skeptisch: »Woher weißt du, dass hier ein Behälter vergraben ist?«
Hi setzte seinen Gang in gemessenem Schritt fort und schwenkte den Detektor langsam vor sich hin und her. »Weil mir mein iPhone verrät, dass wir uns an den genauen Koordinaten befinden, und der Hinweis lautete: ›Auf jeden Fall an der Oberfläche kratzen.‹«
»Alles in allem«, meinte Shelton, »ist das ziemlich stumpfsinnig.«
»Du bist stumpfsinnig«, erwiderte Hi.
»Wir könnten die Verbindung üben, solange Hi sucht«, schlug ich vor und wusste, die Idee würde ihnen nicht gefallen.
Dreimaliges Stöhnen. Wie erwartet.
»Wir müssen unsere Superkräfte im Griff haben«, beharrte ich. »Was für einen Zweck haben solche Fähigkeiten, wenn man sie nicht kontrollieren kann?«
Hi grunzte und löste den Blick nicht vom LCD-Bildschirm des Detektors.
»Es ist unheimlich.« Shelton schauderte trotz des warmen Oktobernachmittags. »Unangenehm.«
Ben nickte. »Du solltest dich lieber aus den Köpfen anderer Leute fernhalten.«
Die Infektion mit dem Supervirus hatte eine starke … Nebenwirkung. Die von Vorteil ist. Oder ein Fluch.
Wir nennen es »Schübe«. Wenn die Veränderung eintritt, spielt unsere Wahrnehmung verrückt, und dann macht es klick in meinem Gehirn. Meine Sinne bekommen eine unvorstellbare Klarheit. Sehen. Riechen. Hören. Schmecken. Sogar der Tastsinn.
Der Wolf kommt hervor, verleiht uns Schärfe und Kraft.
Das Virus macht die Virals.
Doch die Evolution lässt sich nicht an Regeln binden. Das Virus äußert sich bei jedem von uns anders. Vielleicht haben sich die Mutationen unseren individuellen Gensequenzen angepasst. Aus welchem Grund auch immer, jeder hat eine andere Stärke. Hiram bekommt Augen wie ein Adler nach einer Laserkorrektur. Shelton kann die Federn rauschen hören, wenn ein Spatz mit den Flügeln schlägt. Ben wird so stark und schnell wie ein Bulle auf Anabolika. Meine Nase wird so fein, dass ich Gefühle, Falschheit und Angst riechen kann. Und andere Dinge, über die man lieber nicht nachdenken möchte.
Und kürzlich haben unsere Fähigkeiten ein vollkommen neues Niveau erreicht.
Jedenfalls bei mir.
Die Jungen sind dazu nicht in der Lage. Und es gefällt ihnen auch nicht. Aber wenn das Rudel bei einem Schub nah zusammen ist, kann ich manchmal mit den anderen Virals eine Verbindung herstellen. Ihre Gedanken lesen und ihnen meine übermitteln. Diese Fähigkeit war schon einige Male nützlich. Und hat uns das Leben gerettet.
»Nur einmal, bitte.« Ich blieb hart. »Damit ich einschätzen kann, was Coop zu der Mischung beiträgt.«
Wieder stöhnten sie dramatisch, aber die Jungen gaben sich geschlagen.
»Okay«, sagte Hi.
»Wenn es sein muss.« Shelton.
»Einmal.« Ben hielt einen Finger in die Höhe. »Genau ein einziges Mal.«
Ich nickte, schloss die Augen und wurde innerlich ganz ruhig. Ich holte tief Luft und versenkte mich auf eine Weise, die ich nicht richtig beschreiben kann. Meine Gedanken tauchten ab in einen ursprünglichen Bereich meines Hirns.
Ich stellte mir einen einzelnen Strang DNA vor. Das Fundament meines genetischen Wesens.
Während ich mich konzentrierte, stellte ich mir vor, ich würde meine Doppelhelix auseinanderziehen.
KLICK.
Der Schub durchfuhr mich wie ein Lavastrom. Mir stockte der Atem. Mir brach der Schweiß aus, als der Wolf hervorkam.
Obwohl ich die Kraft immer besser rufen konnte, war es am Anfang stets eine Herausforderung für meine innere Abwehr. Als wäre ein wildes Tier in meinem Nervensystem freigesetzt worden. Im besten Fall gelang es mir, knapp die Kontrolle zu behalten.
Wieder konzentrierte ich mich nach innen und tauchte in mein Unterbewusstsein ein. Nacheinander erschienen die Bilder der Virals und wurden scharf. Zuerst Hi, dann Shelton. Im nächsten Augenblick verfestigte sich Ben in meinen Gedanken. Ich spürte Coop, der sich in der Nähe irgendwo im Wald herumtrieb und wach wurde.
Linien aus Feuer bildeten sich zur Gruppe aus. Ein goldener Schein umgab jeden von ihnen.
Virals. Hört mich.
Meine Nachricht prallte gegen eine unsichtbare Barriere. Ich versuchte es erneut und konzentrierte mich stärker.
VIRALS. HÖRT MICH.
Diesmal trieb ich die Worte entlang der flammenden Verbindungen nach außen. Die Jungen zuckten heftig. Überrascht rissen sie die glühenden Augen auf.
Ich untersuchte die Barriere, die uns trennte. Suchte nach Schwächen. Plötzlich wurde die Sperrmauer schwächer und löste sich in ihre Einzelteile auf.
Die Köpfe der anderen Virals öffneten sich mir, als wäre eine Schleuse aufgegangen. Gedanken und Gefühle strömten auf mich ein. Sorgen. Nackte Emotionen. Vereinzelte Häppchen aus fremden Erinnerungen. Die Woge der Informationen überflutete mein Gehirn.
Ich versuchte, mich gegen diesen Sturm zu wappnen, da ich spürte, wie leicht das in Wahnsinn enden könnte.
Was hat die Barriere eingerissen? Wie bin ich durchgebrochen?
»Welche Barriere?«, entfuhr es Hi. »Warum schreist du?«
»Tory!« Shelton hielt sich den Kopf mit beiden Händen. »Es tut weh! Hör auf damit!«
Ben stand still wie ein Fels, schnitt eine Grimasse und starrte ins Leere. »Raus mit dir!«, stammelte er.
Meine Blicke schossen wild hin und her und ich konnte es einfach nicht begreifen. Mein Verstand brabbelte vor sich hin, und ich versuchte verzweifelt, die Flut von Gedanken abzuwehren, die in mein Gehirn strömten.
Ich sah Bäume. Himmel. Den Metalldetektor. Coop, der sich auf die Lichtung wagte und mich anstarrte.
Als könnte Coop die Gefahr für mich spüren, sprang er Shelton an, der überrascht zu Boden ging. Abrupt erlosch das goldene Licht in seinen Augen.
Der zerebrale Ansturm ließ nach.
Dann sprang Coop an Hi hoch und bellte ihm ins Gesicht. Erschrocken wich Hi zurück, ließ den Detektor fallen und stürzte ebenfalls. Sein Flackern verschwand, als er auf dem Boden landete.
Eine weitere Woge verebbte.
Plötzlich stand ich auf festerem Grund, konnte meinen Verstand beruhigen und die Flammen löschen.
KLACK.
Das Bombardement der Sinne hörte auf. Ich fiel auf die Knie und sah, dass es Ben genauso erging.
»Verflucht, Tory«, schnauzte mich Ben durch die zusammengebissenen Zähne an. »Du spielst mit dem Feuer!«
»Es hängt mit Coop zusammen«, schnaufte ich. Mein Herz pochte. »Wenn er in der Nähe ist, werden meine Fähigkeiten immens verstärkt. Ich konnte sie nicht kontrollieren.«
»Dann lass es doch bleiben!« Shelton putzte sich zitternd mit dem T-Shirt die Brille. »Du hast in meinem Kopf herumgebrüllt. Ich habe mich total erschreckt!«
Hi betrachtete mich besorgt. »Du hast Schwierigkeiten gehabt, das konnte man merken. Du musst vorsichtiger sein. Diese Gedankengeschichten sind gefährlich.«
»Ich passe auf.« Aber zuerst werde ich dieses Geheimnis lüften.
Das behielt ich für mich, obwohl es keinen der anderen überrascht hätte.
Gefährlich oder nicht, ich war entschlossen, den ganzen Umfang unserer Fähigkeiten zu erforschen. Ich musste wissen, was in unseren Körpern vor sich gegangen war. Wozu wir fähig waren. Was als Nächstes passieren würde.
Durch unseren Gen-Brei verfügten wir über Fähigkeiten wie niemand sonst. Über erstaunlich scharfe Sinne. Aber die Veränderungen gingen noch weit darüber hinaus. Die zellulare Kreuzung von Mensch und Tier hatte in unseren Köpfen Türen aufgestoßen. Ich fühlte mich berufen zu erkunden, wohin man durch sie gelangte.
Obwohl ich zugeben musste, dass es mir bei der Vorstellung, Gedanken lesen zu können, kalt den Rücken hinunterlief. Ich wollte ja auch nicht, dass jemand in meinem Kopf herumstöberte. Jeder hat Geheimnisse und ein Recht darauf. Die Grenze zwischen Kommunikation und gedanklicher Invasion zu ziehen, könnte knifflig werden.
Meine Festplatte war wieder online. Mein Kopf wurde klarer. Da bemerkte ich ein Piepen von His Metalldetektor, der im Gras gelandet war.
Piep! Piep! Piep!
Hi hob sein wertvolles Spielzeug auf und bewegte es über eine Stelle mit nackter Erde.
PIEP! PIEP! PIEP!
»Bingo!«, rief Hi. »Das Scheißding funktioniert.«
KAPITEL 2
Zwanzig Minuten später stieß Hi mit der Schaufel auf etwas Hartes.
»Endlich!« Er ging auf die Knie und fuhr mit dem Zeigefinger die Umrisse des Gegenstandes nach, der in dem Loch lag, das wir ausgehoben hatten. »Warum ist es bloß so verflucht tief eingegraben?«
»Wurde ja auch Zeit.« Shelton warf seinen Spaten beiseite. »Wie viele von diesen« – er hob die Hand – »Dingern hast du schon gefunden?«
»Die heißen Geocaches und das ist mein dritter.« Hi barg die schmutzige Masse vorsichtig aus der Erde. »Die anderen waren nicht vergraben, nur versteckt. Der erste lag auf Morris in der Nähe der Brücke. Der zweite steckte in der Hecke neben dem Postamt von Folly Beach.«
»Am Postamt?« Ich spähte Hi über die Schulter und versuchte, einen Blick auf den Fund zu erhaschen. »Das ist seltsam. Warum sollte man dort etwas verstecken?«
»So geht das Spiel.« Hi arbeitete methodisch und barg das Ding langsam aus der Erde. »Man versteckt irgendwo einen Cache und postet die GPS-Koordinaten auf der Webseite. Dann können sich die Mitspieler die Infos runterladen und sich auf die Suche machen.«
»Ist das so beliebt?« Ben saß auf seiner Angelkiste im Schatten einer großen Ulme. »Klingt irgendwie nach einer Sache für Spinner.«
»Es kann ja nicht jeder wie du Vogelrufe nachahmen.« Hi wischte Erde von einem Plastikbehälter. »Weltweit gibt es Millionen Geocache-Verstecke und jede Menge Webseiten, auf denen sie aufgelistet sind. Ja, das Spiel ist tatsächlich ziemlich beliebt.«
»Schon okay, Blue.« Shelton grinste. »Hi hat den nächsten Schatz gefunden. Wir sind im Geschäft. Ich wusste, dass es eine gute Idee ist.«
Ich verdrehte die Augen angesichts von Sheltons plötzlicher Kehrtwendung.
»Der Inhalt hat bestimmt keinen großen Wert«, warnte Hi. »Es geht ums Finden, nicht ums Behalten. Normalerweise ist nichts Besonderes drin.«
»Das nehme ich dir glatt ab«, witzelte Ben. Shelton deutete über die Entfernung ein Abklatschen an.
Ich beachtete ihr Gerede nicht, sondern half Hi, den Schmutz abzuwischen. »Hier hat sich jemand Mühe gegeben.«
Der Cache hatte ungefähr die Größe eines Schuhkartons und war sorgfältig mit Kreppband zugeklebt. Außen war er purpurfarben und mit Klebebildern von tanzenden Clowns verziert. Ihre verzerrten Cartoongesichter lächelten breit.
»Clowns«, murmelte Shelton. »Ich hasse diese albernen Trottel.«
Hi nickte klug. »Letzten Sommer habe ich Es gelesen. Stephen King. Vertraue niemandem, der sich ein Lächeln ins Gesicht malt.«
»Ihr seid so was von blöd.« Ben zog sein Taschenmesser aus den Cargoshorts und warf es Hi zu. »Schauen wir mal, was der Idiot für dich versteckt hat.«
Hi fing das Messer auf und klappte die Klinge aus. Vier Schnitte und der Deckel war vom Klebeband befreit.
»Vielleicht noch mehr Gold?« Shelton zwinkerte. »Dieses Jahr ist eine neue X-Box fällig.«
»Es ist bestimmt nicht wertvoll«, wiederholte Hi. »Genießt doch einfach mal das Erfolgsgefühl.«
»Genau«, meinte Ben ernst. »Ist ja auch ein richtiger Erfolg.«
»Genug.« Ich schnippte mit den Fingern. »Sesam, öffne dich.«
Der Behälter enthielt zwei Gegenstände: einen Briefumschlag und ein kleines Stoffbündel.
Hi reichte mir den Briefumschlag und betrachtete das Stoffbündel. »Wird schon schiefgehen.«
Das Bündel enthielt einen weiteren rechteckigen Behälter, der aus kleinen pflaumenfarbenen Metallstücken zusammengesetzt war. Er hatte die Größe einer Zigarrenkiste und war von Hand mit weiteren herumtollenden Clowns bemalt.
Aber diese Clowns lächelten nicht. Sie schnitten grollende, finstere Mienen.
Es war direkt unheimlich.
»Gruselig.« Hi drehte den Behälter in den Händen. »Und keine Möglichkeit, ihn zu öffnen.«
Coop schnüffelte daran. Ich bückte mich und kraulte ihn zwischen den Ohren. Und spürte, wie er sie unter meinen Fingern anlegte.
Der Wolfshund knurrte tief.
»Was ist los, Junge?« Ich versuchte, seine Schnauze zu streicheln. »Hat dich etwas erschreckt?«
Coop fiepte, offensichtlich aufgeregt. Sein Blick ging zu Hi. Zum Behälter. Wieder zu Hi.
»Mir gefällt es nicht, wie der Wauwau mich anguckt.« Hi trat nervös einen Schritt zurück. »Ich komme in Frieden, Bruder.«
»Coop, bei Fuß!«, befahl ich. »Sei ein braver Hund.«
Der Wolfshund blaffte zweimal, ließ jedoch Hi nicht aus den Augen. Dann drehte er sich um und setzte sich neben mich.
»Lies den Brief vor«, meinte Shelton. »Darin wird der Behälter bestimmt erklärt.«
Ich rieb mit den Fingern über den Umschlag. Das Papier war dick, cremefarben und eindeutig teuer. Er war mit rotem Wachs versiegelt. Beschriftet war er lediglich mit einem kalligrafisch ausgeschmückten großen S.
»S?« Ich sah Hi an. »Hat das etwas zu bedeuten?«
»Für Suche?« Hi zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur eins: Wer auch immer das hier vergraben hat, muss sich viel mehr Mühe gegeben haben als die meisten anderen Spieler. Ist sicherlich ein guter Cache.«
»Dann mach ihn doch auf«, drängte Shelton.
Ich brach das Siegel, öffnete den Umschlag und holte zwei Blatt lila Papier feinster Qualität heraus.
Die erste Seite war ebenfalls mit einem verschnörkelten S verziert, das in einer Linie endete, die horizontal über die Seite lief.
»Ich schätze, das ist das Log«, meinte Hi.
Die Rückseite war leer. »Dann sind wir die Ersten, die diesen Cache gefunden haben?«
Hi nickte. »Auf der Webseite gab es kaum Infos. Keine Hinweise, keine Vorgeschichte, nicht einmal ein Eintrag, wer ihn versteckt hat. Nur die Koordinaten. Es ist der erste Cache, der für Loggerhead gelistet wurde, daher überrascht es mich nicht, dass es noch keinen Logeintrag gibt.«
»Und auf dem anderen Blatt?«, fragte Ben.
Auf dem anderen Blatt stand in der gleichen prachtvollen Schrift ein einziger Satz: Himitsu-Bako.
»Himitsu-Bako«, las ich laut. »Versteht das jemand?«
»Chinesisch?«, überlegte Hi. »Japanisch? Birmanisch?«
Leere Gesichter. Niemand wusste es.
»Was jetzt?«, fragte Shelton. »Versteigern wir den Cache auf eBay?«
Hi hob den Behälter. Darin klapperte es.
»Ich glaube, man kann ihn aufmachen«, meinte Hi. »Wir sollen wohl herausfinden, wie.«
»Dann mach doch.« Ben gähnte laut. »Ich wusste, es wird todlangweilig.«
»Banause.« Hi zog eine zerlesene Sports Illustrated, in der es um Schwimmkleidung ging, aus dem Rucksack. »Das ist alles, was ich zum Tauschen dabeihabe«, sagte er und zuckte mit den Schultern.
»Unterschreiben wir da jetzt oder nicht?« Ich hielt das erste Blatt aus dem Umschlag hoch.
Hi dachte nach. »Unterschreib auf dem Blatt mit dem S und steck es wieder in den Umschlag. Das zweite Blatt behalten wir. Der Satz ist vielleicht eine Art Hinweis.«
Ich holte einen Stift aus der Tasche, kritzelte meinen Namen auf das Blatt und legte es zurück in den Behälter, neben die Zeitschrift. »Nicht gerade ein fairer Tausch, Hi.«
»Ich weiß. Hat jemand etwas, das wir dazutun können?«
»Hier.« Shelton kam herüber und legte seine zerkratzte grüne Timex dazu. »Das ist eine billige Uhr. Außerdem bekomme ich zum Geburtstag sowieso eine neue. Aber du bist mir etwas schuldig, Stolowitski.«
»Ich bin dir etwas schuldig?«, fragte Hi. »Wer trägt heute noch Armbanduhren? Höhlenmenschen?«
Zufrieden mit unserem Tauschangebot, schloss ich den Behälter und stellte ihn ins Loch zurück. Ben und Shelton schnappten sich die Schaufeln und schippten Erde darüber.
Hi steckte den Metallbehälter in seinen Rucksack, als ihn ein weiteres Knurren ablenkte.
Cooper. Nur Zentimeter entfernt. Mit gefletschten Zähnen.
»Huch!« Hi ließ den Rucksack fallen. »Ich dachte, wir wären Brüder!«
»Nein. Sieh mal.« Ich zeigte es ihm. Coop wurde wie hypnotisiert von dem Rucksack angezogen.
Mit angespannten Muskeln schnupperte der Wolfshund an dem Rucksack, jaulte, schnüffelte erneut und begann wieder zu knurren.
»Anscheinend ist er kein großer Geocaching-Fan«, krächzte Shelton, hob den Metalldetektor auf und schaltete ihn aus.
»Damit steht der Köter nicht allein da«, murmelte Ben.
»Ihr seid echt zum Schießen«, meinte Hi. »Lacht nur. Ruf doch jemand den Hund zurück.«
Ich pfiff und lenkte Coop damit ab. »Hier.«
Widerwillig schnüffelte Coop ein letztes Mal am Rucksack und trabte dann zu mir.
»Coop mag diesen Behälter nicht.« Ich kniete und rieb dem nervösen Wolfshund die Schnauze. »Hoffentlich ist nicht ein totes Eichhörnchen drin oder so.«
»Das würde mich nicht im Geringsten überraschen«, murrte Ben, zwinkerte jedoch. Er wollte nur Hi aufziehen.
»Das ist kein Nagetiersarg!«, schnaubte Hi. »Dieser Cache ist cool. Ihr werdet schon sehen, ihr Neider.«
»Okay, Leute.« Ich sammelte mein Angelzeug zusammen. »Das war’s für heute. Eigentlich hätte ich schon vor einer halben Stunde zurück im LIRI sein sollen, wenn es nach Kit ginge.«
»Den großen Boss dürfen wir nicht verärgern«, meinte Shelton. »Dann sollten wir uns ein bisschen beeilen.«
Einer nach dem anderen marschierten wir los und ließen die Lichtung hinter uns.
KAPITEL 3
Das hintere Tor vom LIRI rollte mit leisem Surren auf.
»Kommt schon endlich rein«, grummelte Carl. Der Wachmann mit den roten Wangen war kaum einen Meter sechzig groß, wog aber gute hundertdreißig Kilogramm, daher war er nach dem kurzen Gang über den Hof bereits außer Atem. »Die Magneten geben das Tor nur für dreißig Sekunden frei.«
»Danke, Carl«, sagte ich fröhlich, da ich sein griesgrämiges Benehmen kannte. »Tut mir leid, dass Sie extra rauskommen mussten. Kit hätte diese neuen Automatikschlösser gar nicht bestellen sollen.«
»Direktor Howard wird seine Gründe gehabt haben.« Carls Ton deutete an, dass wir Virals vielleicht einer der Hauptgründe gewesen waren.
Nachdem wir den Sicherheitszaun passiert hatten, tippte Carl auf die Tasten der jüngst eingebauten Zifferntastatur. Das Tor ging hinter uns zu. Oben schwenkten zwei Überwachungskameras herum und behielten uns im Auge.
»Darf ich davon ausgehen, dass ihr vier heute nicht noch einmal hier hinauswollt?«, fragte Carl. »Ich bin es langsam leid, ständig über den Hof zu latschen.«
»Wir sind gleich weg«, sagte Hi. »Sie schaffen es noch pünktlich ins Fitnessstudio.«
Carl warf Hi einen scharfen Blick zu, während sich seine himmelblaue Uniform gefährlich über seinem riesigen Bauch spannte.
»Wir gehen gleich nach Hause.« Ich schob Hi mit der Schulter den Weg entlang. »Ich wollte nur kurz bei meinem Vater vorbeischauen. Nochmals danke!«
Carl watschelte in Richtung von Gebäude 4 davon und murmelte etwas über die verdummte Jugend vor sich hin.
»Jetzt geht er erst mal zum Kantinenautomaten«, flüsterte Shelton. »Der muss schließlich auch bewacht werden.«
»Idiot.« Ben war bereits vorgegangen.
Das LIRI besteht aus einem Dutzend Glas- und Stahl-Bauten, die von einem zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben sind. Die ultramodernen Gebäude sind in zwei Reihen um einen zentralen Hof angeordnet. Es gibt nur zwei Eingänge: ein großes Haupttor, durch das man den einzigen Bootsanleger der Insel erreicht, und das kleinere Tor hinten. Alle festen Bauwerke auf Loggerhead befinden sich in dem Komplex.
Als wir den Hof überquerten, staunte ich wieder einmal darüber, wie hektisch es hier zuging. Ein Dutzend Wissenschaftler in weißem Kittel waren draußen. Manche eilten von einem Labor zum nächsten, während andere auf Bänken saßen und ihre Forschungsergebnisse besprachen, eine Kleinigkeit aßen oder einfach nur die Nachmittagssonne genossen.
Seit Kit den Direktorenposten übernommen hatte, galten im LIRI Tatkraft und Zielstrebigkeit wieder etwas. Das Personal hatte sich verdoppelt; und so wimmelte es dieser Tage überall auf dem Gelände von eifrigen Veterinären mit wichtigen Projekten. Da die Finanzmittel dauerhaft gesichert waren, gehörte das LIRI wieder zu den besten Einrichtungen, die die Tierwelt auf diesem Planeten erforschten.
»Müssen wir unbedingt rein?« Hi hielt sich die Hand über die Augen und spähte hinüber zu Gebäude 1. Mit vier Geschossen war es das größte und beherbergte die modernsten Labore und die Verwaltung. »Mein Dad richtet die Zentrifugen neu ein und er wird mich bestimmt nicht sehen wollen.«
Der Vater von Hi, Linus Stolowitski, war Cheflabortechniker und erst im vergangenen Monat von Kit befördert worden. Seit er die neue Stelle angetreten hatte, verstand Mr S. nicht mehr viel Spaß, wenn die Teenager von Morris Island sich an den Geräten zu schaffen machten.
»Du brauchst dich gar nicht zu beschweren«, sagte Shelton. »Meine Eltern arbeiten da beide.«
Nelson Devers, Sheltons Vater, war der Leiter der IT-Abteilung. Sein Büro lag im Erdgeschoss. Sheltons Mutter Lorelei arbeitete als Tierarzthelferin in Labor 1.
»Es geht doch ganz schnell«, erwiderte ich. »In letzter Zeit hat Kit so viel zu tun, dass ich ihn kaum noch zu Gesicht bekomme.«
Das stimmte. Seit Kit vor zwei Monaten zum Direktor ernannt worden war, hatte er praktisch ununterbrochen gearbeitet. Vorstandssitzungen. Personalversammlungen. Etatkonferenzen. Obwohl er unablässig schuftete, wirkte er dabei glücklich. Und das galt sogar für alle Angestellten am Institut.
Auf Loggerhead Island war Kit so etwas wie ein Gott.
Als die Mittel ausgingen und dem LIRI die Schließung drohte, war Kit großzügig eingesprungen. Das glaubten zumindest alle.
Niemand außer Kit wusste, wer das Institut in Wirklichkeit finanzierte. Dass die Jungen und ich nämlich den verschollenen Schatz der Piratin Anne Bonny entdeckt und dem LIRI gespendet hatten. Ausgerechnet diese lästigen Teenager hatten das Fortbestehen des LIRI gesichert.
Den Virals war das nur recht.
Je weniger man uns beachtete, desto besser.
»Warte hier.« Ich nahm Coop an die selten benutzte Leine und schlang sie um das Geländer am Eingang. »Wolfshunden ist der Zutritt leider verwehrt.«
Coop ließ sich auf den Bauch fallen, legte den Kopf auf die Pfoten und drückte seine Missbilligung deutlich mit dem Blick aus. Mit über 30 Kilo hatte er schon ein ordentliches Gewicht und war immer noch nicht ausgewachsen. Der Halbwolf sah durchaus furchterregend aus, solange er einem nicht das Gesicht ableckte. Bestimmt würde er den einen oder anderen, der vorbeikam, ordentlich erschrecken.
Was nicht so schlimm war. Das gab ihrem Tag ein bisschen Würze.
Wir traten durch die Türen des Hochsicherheitstraktes und gingen auf den Tresen des Pförtners zu. Die andere Hälfte der vordersten Verteidigungslinie des LIRI schob hier Dienst. Sam war das genaue Gegenteil von Carl, hager wie ein Skelett und vollständig kahl. Er war älter und unheilbar sarkastisch veranlagt, trotzdem kamen wir mit ihm meistens wesentlich besser aus.
»Schau an, die Vagabunden sind zurück.« Sam verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln. »Na, was habt ihr denn heute kaputt gemacht?« Er hielt keine Schießsport- oder Jagdzeitschrift in der Hand, was nur eins bedeuten konnte – sein neuer Chef war in der Nähe.
Als hätte er den Gedanken gelesen, brüllte jemand aus einem Büro hinter Sams Schreibtisch: »Was ist denn los?«
Sicherheitschef David Hudson kam nach vorn. Er war über vierzig und grau meliert, hatte die Haare kurz geschoren und einen Blick wie ein Raubvogel. Seine Uniform war ordentlich gebügelt, seine Schuhe und sein Namensschild glänzten.
Nach den jüngsten Ereignissen hatte Kit die Sicherheitseinrichtungen vom LIRI komplett überholen lassen. Neue Zäune. Neue Kameras. Neue Schlösser. Überarbeitete Dienstanweisungen. Bessere Ausrüstung. Dazu hatte er einen harten Knochen als Aufseher eingestellt, der auf alles ein Auge hatte. Hudson war noch keinen Monat an Bord, galt jedoch bereits als unpopulärste von Kits Neuerungen.
»Ich muss zu meinem Vater, Mr Hudson«, sagte ich höflich. »Nur kurz.«
»Warte.« Hudson nahm ein Klemmbrett vom Tresen. »Unterschrift, bitte.«
»Es dauert ja nicht lange«, sagte ich und gab mein Bestes, entwaffnend zu lächeln. »Ich will Ihre offiziellen Listen nicht mit meinem Kurzbesuch strapazieren.«
Fingertippen. »Unterschrift.«
Während meine Mundwinkel in ihrer hochgezogenen Position verharrten, kritzelte ich meinen Namen. »Reicht das?«
Hudson lächelte nicht. Lächelte nie. »Keine Abstecher.«
Wir nickten gehorsam und machten uns zu den Fahrstühlen auf.
»Halt!«
Bevor ich mich umdrehte, schloss ich kurz die Augen. »Ja?«
»Nur du.« Hudson musterte Hi, Shelton und Ben. »Es sei denn, diese Jungen haben ebenfalls etwas zu erledigen.«
»Nein.« Ben machte sich auf den Weg nach draußen.
»Mr Hudson«, setzte ich an, »wir wollen nur …«
»Schon okay, Tory.« Shelton trottete Ben hinterher und Hi folgte ihnen kopfschüttelnd. »Wir warten bei Coop.«
»Danke, Jungs. Bin in fünf Minuten zurück, spätestens.«
Ich machte mich zum Fahrstuhl auf, betrat ihn und drückte auf den Knopf für den dritten Stock.
»Keine Abstecher«, brüllte mir Hudson hinterher, als sich die Türen schlossen.
»Idiot«, murmelte ich, ehe mir einfiel, dass mich Hudson über seine Kameras beobachten konnte.
Der Fahrstuhl hielt im ersten Stock, wo zwei Männer in weißen Kitteln zustiegen. Den größeren der beiden kannte ich mit Namen.
»Hi, Anders.« Ich versuchte, nicht rot zu werden.
»Tory. Willst du zum Zauberer?«
Mit den hellgrünen Augen und den braunen Locken war Anders Sundberg einer der aussichtsreichsten Kandidaten für den bestaussehenden Angestellten des LIRI. Er war knapp über dreißig, hatte als Schwimmer an einer Olympiade teilgenommen und sah aus wie die durchtrainierte Ausgabe von Justin Timberlake. Mit anderen Worten: absolut knackig.
Anders war im vergangenen Sommer zu Kits Meeresbiologieteam gestoßen, als Experte für Meeresschildkröten. Seit Kits Beförderung hatte er die Abteilung provisorisch geleitet. Dass man ihn auswählte, hatte unter den Angestellten, die ihren Doktortitel schon viel länger hatten, für Aufregung gesorgt, doch unter dem Strich leistete der Mann bislang gute Arbeit.
»Ich nehme an, Sie meinen Kit«, antwortete ich. »Dann: ja.«
»Er sitzt doch hinter dem Vorhang und zieht die Strippen.« Anders grinste. »Der große und mächtige Dr. Howard!«
Der andere Mann sah aus, als wäre er ein Jahrzehnt älter als Anders. Er hatte schütteres schwarzes Haar, das er über seine Halbglatze kämmte, eng stehende Augen und eine Nase, die mehrere Zentimeter zu lang war. Während er darauf wartete, dass sich die Türen schlossen, tippte er ungeduldig mit dem Fuß.
»Dieser Spaßvogel ist Mike Iglehart.« Anders stieß seinen Begleiter mit dem Ellbogen an. »Darf ich vorstellen: Tory Brennan.«
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Iglehart höflich. »Macht ihr gerade einen Schulausflug auf die Insel oder so? Ich denke, du solltest lieber bei deiner Klasse bleiben.«
Damit hatte er das Interesse an mir verloren und wandte sich wieder Anders zu. »Ich brauche mehr Rechnerkapazität. Das Triton-Programm läuft im Augenblick nur auf halber Kraft. Wenn wir …«
»Sie ist die Tochter von Direktor Howard, Mike. Sicherlich wollten Sie nicht unhöflich sein.«
»Kits Kleine?« Iglehart sah mich zum ersten Mal an. »Das ist sicherlich spannend, dass dein Vater jetzt Direktor ist. Schade, ich hätte auch gern einen verschollenen Schatz gefunden.«
Mein Mund ging auf, aber mir fehlten die Worte. Was für ein Problem hatte der Kerl denn?
Der Fahrstuhl piepte bei der Ankunft im zweiten Stock. Iglehart stieg aus und drehte sich nicht noch einmal um.
»Nimm es ihm nicht übel.« Anders zwinkerte tatsächlich. »Mike hat ungefähr zur gleichen Zeit wie dein Vater beim LIRI angefangen und er ist nicht gerade die Karriereleiter hochgestolpert. Deswegen ist er neidisch.«
»Null problemo.« Ich wollte fröhlich wirken und spürte, wie ich mich unwillkürlich aufrichtete, weil mir Anders jetzt seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. »Schönen Tag noch.«
»Ich werde jetzt einen drei Wochen alten Kadaver einer Schildkröte sezieren. Schöner kann der Tag gar nicht werden«, sagte Anders, als sich die Türen langsam schlossen.
»Schönen Tag noch«, wiederholte ich, als ich allein in der Kabine war. »Brennan, du bist eine Idiotin.«
Der Fahrstuhl fuhr weiter zum obersten Stockwerk. Ich stieg aus und befand mich in einem kleinen Vorraum, der zu einer zweiflügligen Mattglastür führte. Zum Direktorentrakt. Unter Karsten war das hier eine Geisterstadt gewesen. Da er jegliche Ablenkung verabscheute, hatten alle Büros außer seinem leer gestanden.
Bei Kit war das anders. Auf der Chefetage herrschte Leben. Jeder Arbeitsplatz war entweder besetzt oder für Gastforscher reserviert. Im Direktorentrakt hatte Kit die Verwaltungsangestellten versammelt. Finanzierung. Marketing. Öffentlichkeitsarbeit. Vermögensverwaltung.
Einmal hatte ich Kit gefragt, warum er sich so viel Betriebsamkeit in seinen Trakt holte. »Ist doch besser, die Bürohengste sitzen bei mir, als dass sie den Forschern das Leben schwermachen«, hatte er erklärt. »Und ich möchte diese Leute hier draußen auf Loggerhead haben, nicht in irgendwelchen hübschen Hochhäusern in der Stadt. Dann erinnern sie sich besser daran, was wir hier eigentlich machen.«
Hinter der Tür hatte ich mein letztes Hindernis erreicht: Cordelia Hoke.
Der Drache.
Unter Karsten hatte Hoke als einzige andere Angestellte im dritten Stock gearbeitet. Als Kit Unruhe in ihr einst privates Königreich brachte, war sie nicht begeistert gewesen, aber das versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen. Was ihr allerdings für gewöhnlich misslang.
Hoke als Kits persönliche Sekretärin? Meiner Vermutung nach war er zu feige, sie zu entlassen.
Kit hatte versucht, Hokes stündliche Zigarettenpause zu unterbinden – schließlich war das LIRI seit eh und je eine rauchfreie Zone –, doch sogar ich wusste, dass sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine Zigarette reinzog. Immerhin hatte sie das Rauchen unter der neuen Leitung reduziert.
Der Nikotinentzug hatte sich nicht positiv auf die Laune des Drachen ausgewirkt. Ungnädig starrte sie mich über den Rand ihrer Gleitsichtbrille an.
»Kann ich dir irgendwie weiterhelfen, Tory?« Ihrem Ton nach hoffte sie, das Gegenteil wäre der Fall.
»Ich hätte gerne Kit kurz gesprochen.«
»Dein Vater ist sehr beschäftigt.« Hoke wuchtete ihren massigen Leib herum und fegte sich Kekskrümel von ihrem ausgeleierten Kaschmirpullover. Sie hatte für jeden Tag der Woche einen anderen. Heute war violett an der Reihe. »Er kann nicht jedes Mal angelaufen kommen, wenn du dir das Knie aufgeschürft hast.«
Grrrr.
»Ich würde ihn nur gern fragen, welche Pläne er für das Abendessen hat.«
Leere Miene. Keine Reaktion.
»Damit ich meine Pläne für das Abendessen machen kann.«
Nichts.
»Passen Sie auf, sagen Sie meinem Vater einfach, dass ich hier bin.«
Hokes Miene wurde düster. »Also, zu meiner Zeit war es nicht üblich, dass junge Menschen so mit Erwachsenen reden. Uns hat man noch Benimm beigebracht.«
Ich war kurz davor, ihre Meinung über meine Erziehung noch weiter zu verschlechtern, als sich das Rollo zu Kits Büro hob. Mein Vater stand, das Telefon am Ohr, auf der anderen Seite der Glaswand, und sein Gesicht drückte Langeweile aus. Der pechschwarze Anzug und die kastanienbraune Krawatte standen im krassen Gegensatz zu dem abgewetzten weißen Laborkittel, der bisher seine Arbeitskleidung dargestellt hatte.
Mit Gesten gab er mir zu verstehen: »Kann jetzt nicht reden, habe zu tun, kümmere dich bitte selbst ums Essen.« Ich nickte und winkte ihm zum Abschied zu.
Kit schüttelte bedauernd den Kopf und formte die Lippen zu einem »Tschuldige«.
Ich zeigte ihm einen erhobenen Daumen und lächelte, um mein Verständnis auszudrücken.
Hoke räusperte sich. »Sonst noch etwas?«
Ich war schon zur Tür unterwegs. »Nee.«