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Der nächste Gegner ist immer der
schwerste.

Sepp Herberger, deutscher Fußballtrainer (1897-1977)

Über die Autorin

Antje Szillat, geboren 1966, verheiratet und Mutter zweier Söhne und zweier Töchter, ist ausgebildete Lerntherapeutin und Lernberaterin. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Hannover.

Sie ist freiberuflich als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern sowie Sachbüchern tätig. Außerdem arbeitet sie als freie Redakteurin für namhafte Printmagazine.

Die Lese- und Jugendförderung liegen ihr besonders am Herzen. Seit mehreren Jahren betreut sie in Kooperation mit der Stiftung Lesen Leseclubs, leitet jugendliche Schreibgruppen und ist als freie Dozentin tätig.

Dank

Für die umfangreiche Unterstützung bei den Recherchearbeiten zu diesem Buch bedanken wir uns ganz herzlich bei der Vereinsführung des VfL Wolfsburg, im Besonderen beim Nachwuchs-Leistungszentrum „der Wölfe“ und dem Team des NLZ und des Fußball-Internats.

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Antje Szillat

Die Hoffnung ist grün

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Prolog

Angefangen hat alles – alles, was für mich so wichtig geworden ist – vor über zwei Jahren. An einem ganz normalen Donnerstag im September.

Na ja, bis zu Amelies Auftauchen war dieser Donnerstag wirklich nur einer dieser öden und stinklangweiligen Schultage gewesen.

Doch dann hatte sie die Aula der Gesamtschule betreten und plötzlich hatte ich das Gefühl, als wenn die Erde unter meinen Füßen zu beben anfangen würde.

„She’s got black hair“, war das Einzige, was ich denken konnte.

Warum ich damals in Englisch dachte? Keine Ahnung. Englisch war mein absolutes Wackelfach und die Schlüter hatte mir nahegelegt, eine Förder-AG in Englisch zu belegen. Nur deshalb war ich an diesem Tag überhaupt in die Aula gekommen.

Und weil ich Profifußballer werden wollte. Schon so lange, wie ich überhaupt denken konnte.

„Almost everywhere in the world people speak English, Marius. Ohne Englisch kannst du heute nichts mehr werden“, hatte auch Haro Bartels kurz zuvor zu mir gesagt.

Haro war mein Trainer – mein Ziehvater, jemand, dem ich viel mehr als nur meine Erfolge im Fußball zu verdanken hatte: mein Leben. Aber das ahnte ich damals noch nicht.

Bis zu diesem Donnerstag im September hatte ich nur ein Ziel vor den Augen gehabt: Fußball. Seit meinem sechsten Lebensjahr spielte ich Fußball. Straßenfußball. In der Siedlung, in der ich wohnte, gab es keine Fußballplätze. Also spielten wir auf den Hinterhöfen, die aus grauem Beton, Schmutz und Trostlosigkeit bestanden.

Ich spielte stets mit den älteren unter den Ghettokids, den Jugendlichen.

Unser Spiel war hart und oftmals ziemlich brutal. Mit mir gingen die Jungs besonders rücksichtslos um. Klar, denn schon damals war ich besser als sie. Schneller, geschickter und begabter als jeder gottverdammte Typ dieses miesen Ghettos.

Häufig waren meine Beine und Arme blutig aufgeschrammt, weil mich einer der Penner zu Boden gerammt oder mir einen heftigen Bodycheck verpasst hatte, so dass ich gegen eine der Betonwände krachte, die den Hinterhof umgaben.

Manchmal trug ich auch ein Veilchen oder eine aufgeplatzte Oberlippe davon. Einige der Typen waren nämlich nicht nur grottenschlechte Fußballspieler, sie waren auch schlechte Verlierer. Wenn ihnen die Schmach, dass ein kleiner Bengel wie ich sie regelmäßig blöd dastehen ließ – quasi mit heruntergelassenen Hosen – zu groß wurde, dann bekam ich ihre Wut anschließend durch einen fetten Arschtritt zu spüren. Oder sie verpassten mir einen Faustschlag ins Gesicht.

Das alles nahm ich in Kauf, denn ich wollte Fußball spielen. Fußball war mein Leben und meine Zukunft. Etwas, das ich unbedingt machen wollte und das ich so gut wie nichts anderes in meinem Leben konnte. Deshalb biss ich die Zähne zusammen, ließ mir keinen Schmerz anmerken und heulte erst, wenn ich alleine in meinem Zimmer hockte, meine lädierten Knochen betrachtete und notdürftig verarztete.

Dann starb meine Mutter. Und kurze Zeit später hatte mein Alter seinen Job verloren und sich selbst an den Alkohol.

Hatte ich geglaubt, bisher wäre mein Leben beschissen gewesen, so musste ich bitter feststellen, dass ich damit dane-bengelegen hatte. Es wurde noch viel beschissener.

In mir brodelte eine geradezu selbstzerstörerischer Wut, die ich versuchte beim Fußballspielen abzureagieren. Von Tag zu Tag wurde es schlimmer mit mir, so dass ich mich bald selbst nicht mehr ausstehen konnte.

Auch in der Schule wurde es immer enger für mich, weil ich so brutal gegen meine Mitschüler vorging. Bis meine Klassenlehrerin mir nach einer gehörigen Standpauke von dem Fußballverein erzählte, der auch Kinder aus armen Familien beitragslos aufnahm. Noch am selben Tag stand ich Haro Bartels gegenüber und plötzlich konnte ich das Licht am Ende des Tunnels ein kleines bisschen aufflackern sehen.

Das alles lag eine ganze Weile zurück. Inzwischen hatte ich mein Leben einigermaßen in den Griff bekommen. Ich kümmerte mich um meine jüngere Schwester Lisa, während Haro und seine Frau Nele uns gewissermaßen zu ihren Ziehkindern gemacht hatten. Sie sorgten sich um uns. Achteten darauf, dass wir zur Schule gingen und regelmäßig etwas zu essen bekamen, während unser Alter nur noch besoffen vor der Glotze lag.

Haro kümmerte sich auch um meine Fußballkarriere, hatte mich unter seine Fittiche genommen und dafür gesorgt, dass aus meinem kindlichen Talent nach und nach etwas Großes, etwas Echtes, etwas ganz Besonderes wurde.

Eigentlich lief alles gut, na ja, fast gut. Eben so gut es laufen konnte, wenn man in einer beschissenen Gegend aufgewachsen war und gelernt hatte, dass man Auseinandersetzungen nur mit Brutalität regeln konnte. Entweder ich teilte aus, oder die anderen verpassten mir eins in die Fresse. So einfach war das. Und egal wie sich Haro und Nele auch bemühten, mir ein ganz anderes Leben vorlebten, tief in mir drinnen blieb ich der brutale Junge aus dem Ghetto.

Bis zu dem Tag, an dem Amelie in mein Leben trat.

Sie trug eine enge, schwarze Jeanshose mit einer lachsroten Bluse und gleichfarbigen Sneekers. Sie hatte ihr schulterlanges schwarzes Haar im Nacken mit einer hellen Spange zusammengefasst und schaute sich suchend in der Aula um, bis ihr Blick an mir hängen blieb.

Ich muss ziemlich dämlich ausgesehen haben, damals, als ich mit halb offenem Mund dagestanden hatte und sie wie hypnotisiert anstarrte.

Wahrscheinlich hatte sie augenblicklich Mitleid mit mir Superdeppen. Anders kann ich mir auch heute ihre Reaktion nicht erklären. Amelie hatte zwar immer behauptet, dass es ganz bestimmt kein Mitleid war, was sie vom ersten Moment unseres Zusammentreffens für mich empfunden hätte, aber so recht konnte ich ihr das nie glauben.

Sie musterte mich einen kurzen Moment, bevor sie mir ihre schmale weiße Hand entgegenstreckte und sich zu einem Lächeln entschloss.

Ich schätzte, dass sie etwa so alt war wie ich. Vielleicht ein bisschen jünger. Ihre Lippen waren von einem kräftigen Naturrot. Ihre Haut war sehr hell und schimmerte wie Porzellan. Ihre Augen erinnerten mich an zwei Bernsteine.

„Hi, ich bin Amelie“, stellte sie sich vor. „Bin neu an der Schule. Und wer bist du?“

„Ähm … Marius, i-ich b-bin Marius.“

Ich ergriff ihre Hand und das war genau der Moment, in dem ich mich in sie verliebte. Um uns herum waren an die hundert Schüler versammelt oder vielleicht noch mehr, aber ich sah nur noch sie.

Meine Güte, war ich dumm. Ein Kind, nicht der Mann, für den ich mich hielt. Ein Schulkind, das reinste Baby. Naiv und dumm – und so randvoll mit Gefühlen, dass ich glaubte, jeden Moment platzen zu müssen.

Ich setzte mich mitten auf den Rasen des Stadions, auf dem noch gestern die Fußballprofis des VfL Wolfsburg gegen Werder Bremen 3:1 gewonnen hatten, und blickte zur Tribüne hinauf. Ich konnte Amelie vor mir sehen, die vor lauter Aufregung auf ihrem Platz hin und her rutschte und mir dabei lachend zuwinkte. Ich sah sie ganz deutlich, ihre schwarzen Haare, die strahlenden Augen, die Grübchen auf ihren Wangen.

Sie wirkte so unbeschwert und glücklich, völlig frei.

Ich holte tief Luft.

Nele hatte mir einmal gesagt, dass man Menschen, die einem ganz wichtig waren, immer wieder sehen würde.

Sie hatte recht gehabt.

„See you, Amelie!“, rief ich ihr zu und lächelte.

Kapitel 1.

Das Erste, was Lisa sah, waren die grellen Lichter. Sie kamen ihr geradezu unwirklich vor, in dem sonst so stockdunklen Park. Gleichzeitig war sie erleichtert darüber, offenbar nicht mehr alleine hier zu sein.

Lisa hasste es, im Dunkeln durch den Park zu gehen. Aber kurz nachdem sie sich von ihren Freundinnen im Einkaufszentrum getrennt hatte, um nach Hause zu gehen, hatte es heftig zu regnen angefangen. Maike hatte ihr am Nachmittag die Haare gefönt, so schön, wie Lisa es alleine nie hinbekam. Und morgen in der Schule sollten ihre Haare noch immer so schön sein, allein schon wegen Tobias.

Sie hatte sich die Kapuze ihrer Sweatshirtjacke so eng wie möglich über den Kopf gezogen und war losgerannt. Wenn sie den Weg außen um den Park herum gewählt hätte, dann wäre garantiert von ihrer frisch gestylten Frisur nichts mehr übrig geblieben. Also hatte sie mit wild klopfendem Herzen die Abkürzung quer hindurch genommen.

Die Büsche hatten Augen, viele bedrohliche Augen. Lisa konnte geradezu fühlen, wie sie von ihnen beobachtet wurde. Manchmal glaubte sie, hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen, einen Schatten gesehen zu haben. Dann schrak sie heftig zusammen, schaute sich hektisch um und beschleunigte ihren Schritt noch ein bisschen mehr.

Die Frisur ist es allemal wert, sprach sie sich immer wieder selbst Mut zu. Und außerdem, was sollte ihr hier schon passieren? Klar, es war dunkel, aber noch nicht sehr spät. Gerade mal acht Uhr. Da schlichen garantiert noch keine miesen Typen durch den Park und warteten auf vierzehnjährige Mädchen, wie sie eines war. Außerdem befanden sich um den Park herum noch zu viele Menschen auf den Straßen. Zu viele, damit ein Gewaltverbrecher sich ungestört fühlen konnte, war sich Lisa sicher. Der Gedanke beruhigte sie ein wenig und sorgte dafür, dass sich ihr Pulsschlag wieder etwas verlangsamte.

Dann sah sie die Lichter – und atmete auf. Sie fühlte sich sicher.

Als sie näher kam, erkannte sie, dass die Lichter von drei Streifenwagen kamen. Komisch, was machen denn die Streifenwagen mitten im Park, fragte sie sich.

Dahinter stand ein weiteres Fahrzeug, ebenfalls mit blinkendem Licht auf dem Dach, ein Krankenwagen. Und dann waren da noch die einzelnen Lichtstrahlen, die von unterschiedlichen Taschenlampen oder größeren Schweinwerfern zu kommen schienen. Lisa konnte nicht so genau erkennen, wer oder was sich hinter den Lichtern verbarg.

Sie vermutete, Polizisten.

Vielleicht eine Übung?

Und der Krankenwagen?

Wahrscheinlich hatte sich jemand verletzt. Der Boden war inzwischen richtig tückisch – matschig und schlüpfrig. Da konnte man leicht stürzen, wenn man nicht genau aufpasste.

Aber deswegen gleich so ein Aufgebot an Scheinwerfern, Krankenwagen und Polizei?

Lisa blieb stehen. Für einen Moment dachte sie an ihre Haare und dass ihre Sweatshirtkapuze bald völlig durchweichen würde, wenn sie nicht schleunigst weiterrannte. Sie befühlte mit der linken Hand die Kapuze. Nass. Pitschnass. Verdammter Mist, die ganze Hetze durch den ätzenden Park umsonst. Da konnte sie auch einen Moment stehen bleiben und nachschauen, was dort drüben eigentlich geschehen war.

Sie atmete tief durch und näherte sich langsam der Stelle, an der sich die Fahrzeuge und die Leute mit den Schweinwerfern befanden. Ein Polizist war gerade dabei, den Platz rund um das Gebüsch mit einem rot-weißen Plastikband abzusperren.

Als Lisa bis an das Absperrband herangetreten war, hörte sie einen der Männer sagen: „Verdammte Sauerei!“

Plötzlich wurde Lisa unbehaglich. Ein Nerv an ihrer linken Schläfe begann zu zucken. Verdammte Sauerei, das hatte so verzweifelt und gleichzeitig so wütend geklungen, dass in Lisa ein schlimmer Verdacht aufstieg. Hier war etwas geschehen. Etwas Schreckliches. Und die Schweinwerfer leuchteten den Ort des schrecklichen Geschehens aus.

An dieser Stelle dachte Lisa: Am besten verschwinde ich von hier. Entweder ich renne einfach weiter, mache einen kleinen Bogen durchs Gebüsch oder ich laufe den Weg wieder zurück.

Aber ihre Beine fühlten sich zentnerschwer an. Und ihre Schultern ließen sich einfach nicht aufrichten. Lisa hatte entsetzliche Angst, sehen zu müssen, was oder wer dort beleuchtet wurde, dennoch schaute sie hin.

Das Mädchen lag neben dem Gebüsch, wie schlafend. Ihr schmales, regennasses Gesicht war ernst, angespannt, so als würde sie angestrengt über etwas nachdenken. Doch es waren ihre Hände, die Lisa am meisten erschütterten. Sie waren zu Fäusten geballt, und sie empfand sie als Sinnbild für die Qualen und Ängste, aber auch für die Wut, die das Mädchen in den letzten Momenten vor ihrem Tod empfunden haben musste.

Ein Blitzlicht flammte auf und eine Kamera surrte. Lisa hatte plötzlich das Gefühl, zu ersticken. Eine eiserne Hand hatte sich in ihre Brust gekrallt und schnürte ihr die Luft ab. Die Angst, nicht mehr atmen zu können, ging in Panik über, sodass sie immer hektischer nach Luft schnappte. Sie legte ihre Hand an die Kehle und konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, ruhiger zu atmen, und ganz langsam gelang es ihr auch. Wenngleich die Panik, ersticken zu müssen, noch immer ganz dicht unter ihrer Haut lauerte, bereit, jeden Moment wieder über sie herzufallen.

„Hey, was machst du denn hier? Hier gibt es nichts zu gucken. Geh mal schnell weiter“, erklang plötzlich eine dunkle Männerstimme neben ihr.

Lisa zuckte zusammen und fuhr herum. Die Hand noch immer um die Kehle gelegt, die Augen vor Entsetzen geweitet, schaute sie in das rundliche Gesicht eines Polizisten, der sie nun leicht am Oberarm berührte. Lisa konnte nicht ausmachen, ob es die plötzliche Berührung des Mannes oder die Tatsache war, dass dort vorm Gebüsch, nur ein paar Schritte von ihr entfernt, die Freundin ihres Bruders lag – tot, wirklich tot –, die sie veranlasste, den Mund so weit aufzureißen, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment würden ihre Mundwinkel einreißen, und laut loszukreischen.

Sie schrie und schrie, bis der Polizist sie einfach fest an sich zog und ihr gleichzeitig die Hand auf den Mund presste. Erst nachdem er eine Weile beruhigend auf sie eingeredet hatte, ohne dabei seinen Griff zu lockern, ließ ihr Gekreische nach und ging in ein leises, verzweifeltes Wimmern über.

„Kennst du die Tote?“, fragte der Polizist behutsam.

Natürlich kenne ich sie. Amelie, dort liegt Amelie. Marius’ Amelie. Marius’ große Liebe. Marius’ Leben. Marius’ Hoffnung. – Alles, was Marius jemals an großen Gefühlen hatte, liegt dort auf dem aufgeweichten, matschigen Parkboden mit geballten Händen, wollte Lisa am liebsten schreien. Doch sie war zu nichts anderem in der Lage, als weiter zu wimmern und ihren Kopf so zu bewegen, dass man ein Nicken erahnen konnte, zumal sich die Hand des Polizisten noch immer auf ihrem Mund befand.

Doch das schien ihm schon auszureichen.

„Hannes“, rief er zu den Scheinwerfern hinüber, „sag doch mal Kommissar Böttcher Bescheid. Hier ist ein Mädchen, das die Tote kennt. Und hol mal den Doc gleich dazu. Sie steht ziemlich unter Schock.“

Dann wandte er sich wieder Lisa zu. „Ich nehme jetzt ganz langsam meine Hand von deinem Mund. Bitte fang nicht gleich wieder an zu schreien. Alles ist gut. Niemand tut dir etwas. Du bist in Sicherheit. Ich kann mir vorstellen, dass das ein ganz schöner Schock für dich ist, eine Freundin dort liegen zu sehen. Sie ist doch eine Freundin, oder?“

Er schien nicht wirklich eine Antwort auf seine Frage erwartet zu haben. Und Lisa hätte auch keine gehabt. Amelie war Marius` Freundin. Schon seit eineinhalb Jahren. Aber war sie auch Lisas Freundin? Wohl kaum. Lisa war oft eifersüchtig auf Amelie gewesen, weil Marius sich, seitdem er mit Amelie zusammen war, kaum noch um sie kümmerte. Früher waren sie unzertrennlich gewesen. Er war ihr großer, toller Bruder. Ihr Beschützer, in der miesen Gegend, in der sie wohnten. Doch dann hatte er Amelie kennengelernt.

Amelie kam nicht aus der Siedlung. Sie wohnte in einer reichen Gegend. Machte solche abgefahrenen Sachen wie Yoga, liebte englische Literatur und hatte zum Kotzen reiche und eingebildete Eltern.

Lisa hatte Amelie in den letzten eineinhalb Jahren mehr als einmal verflucht. Und noch öfter hatte sie sich gewünscht, dass sie wieder verschwinden würde. Puff und weg, einfach in Luft aufgelöst.

Und nun lag sie vor ihr im Dreck.

Tot.

Ein Unfall?

Ermordet?

Lisa war zu verstört, um sich mit diesem Gedanken weiter beschäftigen zu können.

Kapitel 2.

Ich warf einen verstohlenen Blick auf meine Armbanduhr. Schon kurz nach zwanzig Uhr. Amelie wird mich in der Luft zerreißen, befürchtete ich. Dennoch stahl sich ein winziges Lächeln auf meine Lippen. Das geschah ganz automatisch, immer wenn ich einen Blick auf meine Armbanduhr warf und sofort daran erinnert wurde, wie Amelie mir die Uhr zu unserem ersten Jahrestag geschenkt hatte. Seitdem trug ich sie. Ständig. Nur zum Training und wenn ich ein Spiel hatte legte ich sie ab.

„Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?“, motzte Haro leicht angesäuert. Dem Trainer entging nicht die kleinste Unaufmerksamkeit.

„Haro, kann ich kurz telefonieren? Dann bin ich auch garantiert wieder voll bei der Sache“, versprach ich.

Haro zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe. „Zwei Minuten“, murmelte er.

Ich kramte umständlich mein Handy aus der Seitentasche meiner Sporttasche hervor, obwohl ich ganz genau wusste, dass es sowieso völlig sinnlos war. Aber das war ein Teil meiner Strategie – die immer aufging. Natürlich hatte Haro das schon längst durchschaut.

„Jetzt lass mal die Show sein und frag mich lieber gleich, ob ich dir mein Handy leihe. Als wenn sich schon jemals Guthaben auf deinem befunden hätte.“

Ich grinste verschämt.

„Danke, Trainer, das ist echt okay von dir“, murmelte ich.

„Spar dir dein Gesäusel für deine Süße auf und mach hinne.“

Ich nickte und tippte mit dem ausgestreckten Zeigefinger Amelies Handynummer auf der Tastatur ein. Dann hob ich das Handy ans Ohr und wartete. Nach zehnmaligem Tuten gab ich es schließlich auf. Wahrscheinlich hatte Amelie Haros Nummer erkannt und war aus Trotz nicht drangegangen.

„Was ist, ist deine Süße für dich nicht erreichbar?“, unkte Haro.

Wieder nickte ich. „Scheint so.“

Mehr sagte ich dazu nicht. Mehr wollte der Trainer auch gar nicht wissen, bildete ich mir ein. Es interessierte ihn nicht, dass ich mich vor zwei Stunden mit Amelie verabredet hatte. Es interessiert ihn auch nicht, dass Amelie nun stinksauer auf mich war, weil ich sie mal wieder versetzt hatte. Und dass sie deswegen mehrere Tage schmollen würde, war dem Trainer auch völlig egal – dachte ich. Für Haro war etwas ganz anderes von Bedeutung: meine Fußballkarriere. Und dass mir eine bevorstand, davon war der Trainer fest überzeugt. Ich war ein ganz großes Talent, darüber war man sich beim SV Worsten einig und förderte mich, wo man nur konnte. Dass ich aus einer miesen Gegend kam und erst mit der Zeit gelernt hatte, dass es gewisse Regeln gab, die auch für mich galten, war für den Trainer nicht immer leicht gewesen. Genauso dass ich keinerlei Unterstützung von zu Hause erhielt. Mein Vater war meistens besoffen und eigentlich nur daran interessiert, dass sich stets genügend Alk in der Wohnung befand.

Dazu kamen meine Versagensängste, die dunkle Seite in mir, die ich einfach nicht kontrollieren konnte – auf die ich keinen Einfluss hatte.

Doch seitdem ich mit Amelie zusammen war, lief es besser. Die Schattenseite brachte mich immer seltener in ihre Gewalt. Und wenn es ihr doch einmal gelang, wenn meine Gedanken sich schwer und träge anfühlten, dann war Amelie zur Stelle und half mir da wieder raus. Sie zeigte mir den Weg, die Perspektive, die Hoffnung – dass das Leben lebenswert war.

„Das Mädel ist gut für dich, Marius“, hatte Haro erst vor Kurzem zu mir gesagt. Angesichts seiner sonst so wortkargen Art, versetzte eine derartige Aussage sämtliche Kenner ziemlich ins Staunen.

Dennoch kam für ihn der Fußball an erster Stelle und wenn er nun mal der Meinung war, dass ich vor einem wichtigen Spiel eine Extratrainingseinheit in Strategie und Taktik zu absolvieren hatte, dann war es unwichtig, dass ich deswegen Amelie oder sonst jemanden zwei Stunden irgendwo warten ließ.

Aber zwei Stunden hatte Amelie garantiert nicht gewartet, beruhigte ich mein schlechtes Gewissen. Sicherlich war sie schon nach einer Viertelstunde wütend abgerauscht. Ich nahm mir vor, später noch einmal bei ihr zu Hause vorbeizugehen und mich zu entschuldigen – wenn Amelies Vater mich hineinließ.

„Okay, lass uns für heute Feierabend machen. Das bringt jetzt sowieso nichts mehr“, schlug Haro vor. „Lass dir in Ruhe alles noch einmal durch den Kopf gehen. Du weißt, was ich von dir erwarte.“ Er hatte es nicht als Frage formuliert. Dennoch nickte ich. Natürlich war mir bewusst, was am Sonntag für mich auf dem Spiel stand. Schließlich konnte ich seit Tagen an nichts anderes mehr denken – außer vielleicht an Amelie – für Amelie fand sich immer ein Plätzchen in meinen Gedanken.

Ein Talentscout vom VfL Wolfsburg hatte sich zum Heimspiel gegen den Grün-Weiß Ahrlberg angesagt – ein Talent-scout, der meinetwegen den Weg von Wolfsburg hierher antreten würde. Ich war meinem Ziel so nahe wie niemals zuvor. Diese Chance musste ich nutzen, so gut ich nur konnte. Ganz egal, was passierte.

Ich schob Haro das Handy wieder über den Tisch zurück. Dann stand ich auf, nahm meine Sporttasche von der Bank und ging zur Tür.

„Dann bin ich jetzt weg“, sagte ich und grinste dabei schwach.

Der Trainer legte die Stirn in Falten. „Am besten auf dem direkten Weg nach Hause, was essen und ab ins Bett, okay?“

„Mach ich“, log ich und hatte es plötzlich eilig, das Vereinsheim zu verlassen.

Doch so schnell wollte Haro mich nicht gehen lassen.

„Und wenn dein Vater wieder randaliert, dann kommt ihr zu uns, du und Lisa. Ja?!“

„Wird er schon nicht. Mach dir mal keine Sorgen“, erwiderte ich. Dann nickte ich ihm zu und verließ das Vereinshaus.

Kapitel 3.

Lisa hockte mit angezogenen Knien auf ihrem Bett. Mit den Armen hielt sie die Beine fest umschlungen und wippte gleichmäßig vor und zurück. In ihrem Zimmer war es ganz still. Nur der Regen prasselte gegen das Fenster.

Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Irgendwie Klarheit hineinzubringen. Klare Gedanken deshalb, weil jeden Moment Marius nach Hause kommen würde und sie, Lisa, ihm sagen musste, was geschehen war. – Wenn die Polizei ihn nicht schon vorher aufgegriffen hatte.

Beim Schlucken schmerzte ihr Hals. Wahrscheinlich hatte sie sich eine Erkältung eingefangen. Doch noch viel mehr schmerzte der Gedanke, der seit dem Gespräch mit Kommissar Böttcher nicht mehr aus ihrem Kopf verschwinden wollte, egal wie sehr sie sich auch anstrengte.