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Peter Berling

Kreuzzug der Kinder

Roman

hockebooks

Kapitel 8:
Die Pforte zum Paradies

Der mächtige Segler des Hafsiden pflügte die Wellen der Großen Syrte, füllte in Benghazi noch einmal seine Trinkwasservorräte auf, um dann Kurs entlang der libyschen Küste auf das Nildelta zu nehmen. Die Stimmung an Bord war heiter und gelassen, jedenfalls strahlte Abdal, das unbestrittene Haupt des Unternehmens, soviel an Zuversicht aus, dass die Spannung, die über seinem völlig ungewissen Ausgang lag, nie Oberhand gewann. Rik litt am meisten unter den Zweifeln, aber auch er zwang sich, sie nicht zu zeigen, schon um den unbekümmert die Fahrt genießenden Karim nicht zu belasten. Als äußerst hilfreich erwiesen sich Miriam mit ihrer freundlichen, fast mütterlichen Art und wie immer der kecke Mohr, der sich von nichts und niemandem einschüchtern ließ, was auch immer an Widrigkeiten auf sie zukommen mochte. Sie kümmerten sich um Karim, wenn Rik die Nähe Abdals suchte, der, wann immer es ging, selbst am Steuer stand. Doch eingedenk der eingegangenen Verpflichtung behielt der ›Erzieher des Prinzen‹ seinen Schutzbefohlenen dabei stets im Auge. Ihm fiel auf, dass der Knabe bei den gemeinsamen Mahlzeiten viel zu wenig aß, dagegen die üppigen Reste seines Mahls sorgfältig in einem Tüchlein verstaute und damit unter Deck verschwand. Nun hatten sie weder Sklaven an Bord, die etwa im stickigen Kielraum geschmachtet hätten, noch litt die Mannschaft Hunger. Rik stellte Karim ob seines merkwürdigen Verhaltens zur Rede, und der Knabe reagierte unerwartet heftig.

»Meinem Herrn Vater beliebt es, mich als Geisel zu stellen –«, fauchte er den Deutschen an, »ich nehme nicht an, dass der Sultan den Sohn seines Emirs an der Hand einer Amme erwartet!«

Rik war erschrocken über die unverblümte Klarheit, mit der Karim seine Funktion sah, doch mehr noch verletzte ihn die unerwartete Zurückweisung. Er verstellte dem Jungen den Weg, denn Karim versuchte, trotzig an ihm vorbeizuschlüpfen. »Ich habe dich – lange bevor du das entsprechende Alter erreicht hast –, wie einen jungen Mann behandelt, nicht wie ein Kind!«, brach es aus Rik heraus. »Benimm dich gefälligst auch nicht so!«

Karim hielt dem strengen Blick nicht lange stand, Tränen des Zorns schossen ihm in die Augen. »Deine bemühte Tätigkeit als mein Erzieher ist beendet«, würgte er hervor. »Du kannst mir dieses Schicksal nicht ersparen, also hast du mir auch nichts mehr zu sagen, und ich muss deine Fragen nicht länger beantworten!« Seine Hand umklammerte fest den Beutel.

Rik untersagte es sich, dem Knaben – wie sonst – die Hand freundschaftlich auf die Schulter zu legen oder gar ihm über den Kopf zu streichen. Es schmerzte ihn ungeheuer.

Karim blieb dies nicht verborgen, doch er war willens, in der Sache hart zu bleiben. »Wenn du mein Freund bleiben willst, Rik –«, lenkte er im Ton ein, »dann lässt du mich jetzt gehen –«

Rik gab ihm zögerlich den Weg frei. »Wenn du meinst, Karim«, sagte er, stockend vor Selbstbeherrschung, »dass man Freunde so behandelt, habe ich dir in der Tat nichts mehr zu sagen!« Er drehte sich abrupt um und stampfte von dannen.

Am Abend sah Rik, dass sich der Knabe an der Schulter von Miriam ausweinte. Die Jüdin war es, die dafür sorgte, dass Karim auf ihn zulief und mit gesenktem Blick ihn wie ein Ertrinkender umklammerte. »Bitte, lieber Rik, verlass mich nicht!«, flüsterte er heiser, und Rik strich ihm beruhigend übers Haar.

Doch seine Angewohnheit, wenig zu essen und reichlich beiseite zu legen, behielt Karim bei. Rik beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Beim nächsten Mal tat er so, als würde er das Einbeuteln der Speisen völlig übersehen, auch die Tatsache, dass sich Karim von der Tafel entfernte, bevor der Hafside sie aufgehoben hatte. Kaum war der Knabe in der Luke zur Treppe entschwunden, die hinab ins Unterdeck führte, erhob sich Rik und folgte ihm auf leisen Sohlen. Karim stieg noch tiefer, bis in den Kielraum mit den Sklavenkäfigen. Ganz am Ende – so erschien es im schummrigen Licht – hockte, unter Stroh versteckt, ein Wesen wie ein wildes Tier. Als Karim die Tür zum Verschlag geöffnet hatte und seinen Beutel vor dem Geschöpf ausbreitete, trat Rik mit einem Räuspern hinzu, denn er wollte die beiden nicht verschrecken. Es war die kleine Aisha, deren helle Augen ihn aus schwarzem Gesicht verschüchtert anlächelten. Rik gab sich Mühe, sanft wie Honig zu klingen: »Warum versteckst du sie?«, wandte er sich überfreundlich an Karim, der sich sofort einigelte.

»Ich wollte nicht, dass jemand denkt –«, stammelte er dann doch, »– ich hätte es um meinetwillen getan!«

»Sondern –?«

»Das kann ich –«, antwortete er mit einem Verständnis heischenden Seitenblick auf Aishas Kraushaar voller Strohhalme, »jetzt nicht sagen!«

Rik runzelte die Stirn. »Auf jeden Fall begebt ihr euch sofort hinauf an Deck!«, befand er bündig. »Dort werden wir weitersehen –« Er wartete ab, bis die beiden sich erhoben und vor ihm her sich die Stiegen hinauf trollten. Rik übergab das Mädchen der rührend besorgten Miriam. Timdal machte große Augen, er strahlte über das ganze Gesicht, als er der Kleinen ansichtig wurde.

Karim zerrte Rik beiseite, denn er fühlte den missbilligenden Blick des Hafsiden auf sich ruhen. »Ihr müsst mir glauben«, flüsterte Karim eindringlich, »ich habe sie nur an Bord geschmuggelt, weil ich Timdal eine Freude machen wollte!« Rik war sprachlos, so dass Karim sich veranlasst sah, sich besser zu erklären. »Erinnerst du dich an das ›Wahrheitsspiel‹? Der Mohr hat sie sich doch als Frau gewünscht?!«

»Aisha ist dazu noch viel zu jung!«, entfuhr es Rik mehr spöttisch als entrüstet, doch Karim hatte auch dafür eine Lösung parat.

»Da muss Timdal halt etwas Geduld haben –«

Rik schüttelte den Kopf. »Sehr viel Geduld! Doch darüber wird Abdal zu entscheiden haben. Wir befinden uns an Bord seines Schiffes, und so ist er allein Herr über Leben und Tod von Sklaven.«

»Ich werde mich für die beiden verwenden«, erklärte Karim mannhaft. »Mir wird er den Wunsch nicht abschlagen!«

»Sei froh, wenn er sie nicht in seinen Harem steckt, denn dazu hat er das Recht! Ich würde ihn jetzt nicht weiter reizen, indem du deiner eigenmächtigen Handlung auch noch unbilliges Begehr hinzufügst!«, lautete der aufrichtige Rat des Deutschen, und Karim schien einsichtig. »Wenn wir erst in Ägypten sind –«, fügte Rik noch begütigend hinzu, »kann vielleicht die Sajidda Miriam das Kind in ihre Obhut nehmen.« Es war Rik nicht entgangen, dass der Mohr vor Aufregung von einem Bein aufs andere trat. »Bis dahin sorg dafür, dass auch Timdal sich an meinen Vorschlag hält!«

»Der weiß von nichts!«, lachte Karim.

»Umso schlimmer!«, drohte ihm Rik schelmisch, und der Knabe nickte dankbar, rannte los zu dem Mohren, der Aisha aus gebührender Entfernung mit den Augen verschlang, wenn er diese nicht gerade vor lauter Glück verdrehte.

Rik begab sich ans Steuer zu Abdal. »Diese Kinder!«, grummelte der. »Wenn wir Alexandria erreichen, wo ich über ein ordentliches Haus verfüge, werden sie uns nicht mehr auf der Nase herumtanzen.«

Rik war froh, dass der Hafside dem Vorfall keine weitere Bedeutung beimaß.

Der Hafen der Weisheit

Der Segler bog um die weit ins Meer ragende äußerste Landzunge der Stadt des Ptolemäus, wo die bis ins Wasser gestürzten klobigen Granitbrocken noch immer von dem einstmals als Weltwunder gefeierten ›Pharos‹ zeugten, und glitt mit gerefftem Tuch in den sich vor ihnen öffnenden östlichen Hafen.

»Dort oben in den Hügeln –«, Abdal lenkte den Blick seiner Gäste auf einen zwischen dem dunklen Grün der Zedern und Zypressen hervorschimmernden Palast, »wartet meine alexandrinische Absteige auf uns erschöpfte Seefahrer!«

Zu aller Überraschung wurde Miriam am Kai, kaum dass sie angelegt hatten, von ihrem Mann Ezer Melchsedek begrüßt. »Ich bin im Gefolge des Großwesirs hierher gereist«, erklärte er dem hocherfreuten Hafsiden, »der alte Herr ist der Hitze Kairos entflohen, um sich hier in seiner Sommerresidenz und der erfrischenden Brise des Meeres zu erholen!« Der unauffällig teuer gekleidete Kaufmann kümmerte sich nur kurz um sein Weib, er hatte für sie und ihre Freunde Sänften bereitgehalten, die Miriam jetzt mit den Kindern bestieg. »Um der ständigen Inanspruchnahme durch den kränkelnden Großwesir zu entgehen –«, erläuterte Ezer Melchsedek dem Hafsiden sowohl seine Position als auch seine Lage, »andererseits doch in seiner Nähe zu weilen, habe ich wie schon so oft von Eurer Gastfreundschaft Gebrauch gemacht –«

Abdal verneigte sich mit einem einladenden Lächeln und brachte die wohlgesetzte Rede seines langjährigen Geschäftspartners zu Ende, »– zumal mein bescheidenes Heim sich in unmittelbarer Nachbarschaft der herrscherlichen Residenz befindet.«

»Oder eher umgekehrt!«, wandte sich der Vertraute des Großwesirs heiter an Rik, den er sich von Abdal hatte vorstellen lassen.

Timdal, der Mohr, war bereits den Sänften gefolgt, und so begaben sich auch die Herren hinauf in die Hügel.

»Ich werde dann den Großwesir von Eurer Ankunft benachrichtigen«, eröffnete Ezer, »denn ich nehme an, dass der Emir von Mahdia seinen Sohn wegen dieser ebenso brisanten wie hochinteressanten ›Chronik‹ geschickt hat, die uns zwei recht fragwürdige Individuen überbracht haben –«

»Wo steckt dieser betrügerische Majordomus?«, verlangte Rik sofort zu wissen. »Habt Ihr ihn etwa laufen lassen!?«

»Zehn Schritt geradeaus, vier zur Seite!«, lachte Ezer. »So groß ist etwa die vergitterte Kammer in der Kaserne der Bahriden, die den westlichen Hafen bewachen. Dort steht er unter Hausarrest, zusammen mit dem stinkenden Ulama, der sich Saifallah nennt!«

»Eine beruhigende Nachricht!«, grummelte der Hafside. »Auf Euch, Ezer, ist noch stets Verlass!«

Dieser dankte es ihm mit einer leichten Verbeugung. »Die beiden bleiben zu unserer Verfügung, bis der Großwesir geruht, die Lektüre zu beenden und – was noch länger dauern kann – mit sich zu Rate gegangen ist, was er davon zu halten hat.«

»Ich nehme an, Ihr werdet ihm dabei zu Diensten sein!« Rik war ein erster Stein vom Herzen gefallen.

Schon am nächsten Abend erging an sie die Einladung, sich im Palast des Großwesirs einzufinden. Karim wurde von Miriam fein herausgeputzt, was dieser als völlig überflüssig empfand. »Wenn’s nicht einmal der Sultan selber ist –«, nörgelte er herum, doch auch Rik hatte kein Erbarmen.

»Du vertrittst deinen Vater, also zeig dich würdig!«

Auch Timdal durfte mit, sozusagen als Mitbringsel der weitgereisten Sajidda Miriam, auf die ihr Mann schon deswegen stolz war, dass sie in der ›Chronik‹ eine nicht unwesentliche Rolle spielte.

Doch empfangen wurden sie von einem jungen Mann, Fakhr ed-Din, dem Neffen des Großwesirs. Er entschuldigte seinen Onkel, der bettlägrig sei und deswegen nicht in Erscheinung treten könne. »Ich vertrete ihn« – Fakhr ed-Din trat sehr selbstbewusst auf, aber seine Offenheit nahm jeden sogleich für ihn ein, selbst Karim, dessen anfängliche Widerborstigkeit in Wahrheit nur seine Ängste verdecken sollte. Fakhr ed-Din hielt dem Knaben als Erster die Hand hin und sagte: »Ich bin ein Vetter deines mutigen und tüchtigen Vaters.« Damit hatte er sogleich Karims Herz gewonnen.

Es war aber noch ein anderer wichtiger Gast bei dem Empfang zugegen: der Chevalier Armand de Treizeguet, Sonderbotschafter des mittlerweile gekrönten Kaisers Friedrich. Seine Gegenwart beunruhigte Rik van de Bovenkamp, obgleich der Chevalier immer nur zu seinem Besten in sein Leben eingegriffen hatte. Aber seine Anwesenheit ließ auf schwerwiegende Probleme mit dem Hof von Kairo schließen, die Gefahr eines Kreuzzugs stand drohend mit ihm im Raum, auch wenn er mit Fakhr ed-Din vertraulich scherzte.

Rik übergab steif und förmlich im Namen seines Herrn, des Emirs Kazar Al-Mansur, den noch fehlenden Teil der ›Chronik‹, damit der hohe Herr Großwesir – ›Allah yati as-saha oua ‘oumr taouil‹ – ein abschließendes Bild von dem Kreuz der Kinder, ihrer Verblendung und Unvernunft, ihrem Leiden und ihrem traurigen Los gewinnen möge.

Fakhr ed-Din lächelte gewinnend, reichte die dicke Mappe etwas achtlos einem daneben stehendem Mussa’ad weiter, besann sich aber rechtzeitig der unhöflichen Geste. »Mein Onkel liest – trotz seiner Krankheit – Eure Abenteuer mit großem Vergnügen«, erklärte er Rik, »zeigen sie doch, wie einfach es ist, die Christen ins Verderben zu locken, und wie leicht, sie glücklich zu machen – wie kleine Kinder.«

Rik fühlte sich gefordert, auch wenn der Blick des Hafsiden ihn beschwor, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Das hängt ganz von ihren Führern ab«, der Deutsche vergewisserte sich der Aufmerksamkeit des Chevaliers, »ein Heer von Kaiser Friedrich geführt, wird kein leichtes Spiel für seine Feinde sein, sondern Verderben über sie bringen –«

Hier sah sich der Botschafter genötigt einzugreifen. »Was aber keineswegs dem Wunsch des Kaisers entspricht, der dem Islam mehr als offen gegenübersteht und als Freund aller Muslime –!«

Fakhr ed-Din zeigte seine schneeweißen Zähne, fand aber schnell sein gewinnendes Lächeln wieder. »Fragt sich nur, wie man das eine, den absurden Kreuzzug, vermeidet und zum andern die Freundschaft zwischen unseren Völkern zum fruchtbaren Tragen bringt, kurz: Wie man den Kaiser glücklich macht?«

In die spannungsgeladene Pause hinein krähte Karim: »Schenkt ihm doch Jerusalem!« Die Stille, die jetzt eintrat, war die ungläubigen Staunens und zugleich einer ablehnenden Ratlosigkeit, doch Fakhr ed-Din legte wie schützend seinen Arm um den Knaben, was den ermunterte fortzufahren: »Alle Christenkinder, meine liebe Mutter, mein guter Rik, hatten doch nur eines im Sinn: das heilige Jerusalem!«

»Und woher weißt du das!?«

»Das steht doch in dieser Chronik –!« Karim wandte sich, da er bei Rik keine Unterstützung erwarten durfte, hilfesuchend an Timdal und Miriam. Der Mohr grinste zwar zustimmend, und Miriam nickte heftig, aber beide äußerten sich nicht, schließlich war der Mohr kein Christ und Miriam Jüdin. Endlich – eingedenk seiner Mission – ermannte sich der Chevalier.

»Das mag wohl stimmen!«, meinte er nachdenklich. »Genau betrachtet, ist es vielleicht keine schlechte Idee!«

Fakhr ed-Din, der von dem Gesandten eine wesentlich komplexere Verhandlungsführung erwartet hatte, schüttelte erstaunt den Kopf. »Manchmal lehren uns Kinder, wie einfach man mit schwerwiegenden Fragen umgehen kann. Ich werde dem Großwesir ans Herz legen, die ›Chronik‹ unter diesem Aspekt zu prüfen!«

Nach dieser unerwarteten Wendung begab man sich zu Tisch. Rik überlegte gerade, wie er Karim zur Rede stellen könnte, ohne dass sein Zögling sich in die Ecke gedrängt fühlte, denn es interessierte ihn doch brennend, ja beunruhigte ihn, wie und durch wen der Knabe an eine so wesentliche Information aus dem abgeschirmten ›Saal der Bücher‹ kommen konnte, die Quintessenz ihrer gesamten Arbeit herausgefiltert zu einem Satz, der alles auf den Punkt brachte: ›Die Sehnsucht nach Jerusalem!‹

Da traten zwei hohe Würdenträger an ihn heran. »Der Großmächtige Herr Wesir Al-Ouazir al-qadir wünscht, den Knaben zu sehen!« Karim sprang sofort auf, zeigte nicht die geringste Scheu, sondern folgte den beiden Höflingen mit vor Stolz hochrotem Kopf.

Um Rik herum brodelten die Gespräche um die Ehre, die dem Sohn des Kazar widerfahren; der Chevalier spottete, er könne eigentlich heimwärts nach Sizilien segeln, denn dieser muntere Knabe zeichne sich durch ein Verhandlungsgeschick aus, das sein Bemühen überflüssig erscheinen ließe. Miriam war vor Freude aufgeregt wie eine Glucke über ein goldenes Ei, ihr Mann Ezer und Abdal der Hafside machten sich über sie lustig und malten sich gleichzeitig aus, wie dem Kaiser die Schlüssel zur Heiligen Stadt feierlich zu überreichen seien – nur lange bleiben sollte er dort möglichst nicht, da waren sich Jude und Muslim einig, schließlich beherbergten die ehrwürdigen Mauern außer dem Grab Christi auch noch den Felsendom und den Tempelberg! Nur Rik machte sich Sorgen, je länger der Knabe fortblieb, aber da erschien Karim schon wieder mit einer schweren, kostbaren Kette um den Hals und strahlend: Er habe dem Großwesir eine Stelle aus der Chronik vorlesen dürfen, die habe gerade von dem Ring Friedrichs gehandelt, den er, Karim, in seinem Besitz halte, aber das habe er dem Großwesir nicht verraten!

Der Abend verlief ausgelassen und heiter. Spät in der Nacht erst kehrte die kleine Gesellschaft, von Fackelträgern geleitet, in die Villa des Hafsiden zurück.

Bereits am nächsten Tag statteten der Neffe – als Vertreter des Großwesirs Fakhr ed-Din – und der Chevalier Armand de Treizeguet, Botschafter des Kaisers, dem mächtigen Hafsiden einen Gegenbesuch ab. Man traf sich im hoch über Stadt und Hafen abseits gelegenen Pavillon des Parks, zugegen waren auch Ezer Melchsedek, Statthalter Abdals im Reich der Ayubiten und Vertrauter des Großwesirs, sowie – auf ausdrücklichen Wunsch des Chevaliers – Rik van de Bovenkamp. Frauen und Kinder wurden von dem gut bewachten Tagungsort ferngehalten.

»Der eigentliche ›motor spiritus‹ eines neuerlichen Kreuzzugs ist nicht mein Kaiser –«, eröffnete der Chevalier die Gesprächsrunde, »sondern vielmehr der Papst. Der hochbetagte Honorius III. will sein Pontifikat mit diesem glorreichen Unternehmen krönen, um in die Geschichte als der ›Pontifex maximus‹ einzugehen, welcher der Christenheit ihre heiligen Stätten für immer und alle Zeiten zurückgegeben hat.«

Die Männer schwiegen und saugten bemüht gelassen an der Nargilah.

»Davon kann gar nicht die Rede sein«, erwiderte Fakhr ed-Din, »unser großer Sultan Saladin hat Jerusalem nicht zurückerobert, um jetzt im Herzen der islamischen Welt ein neues Rom entstehen zu lassen –«

»Das wäre auf ewig ein Dorn im Fleisch der Kinder Abrahams«, fügte Ezer Melchsedek bedächtig hinzu. »Freier Zugang: ja – Besitz: niemals!«

Gerade in diesem Augenblick schleppten die Wächter Timdal an, der sich nicht hatte abweisen lassen. Der Mohr kam auch gleich zu Sache: »Saifallah ist aus der Haft entwichen!« Dann berichtete er, wie unten im westlichen sowie im östlichen Hafen die Soldaten des Bahriden-Regiments alle auslaufenden Schiffe kontrollierten, fieberhaft Straßensperren auf allen Landwegen errichteten. »Doch die Schande, dass ihnen eine solche Nachlässigkeit unterlaufen, deucht ihre Offiziere noch schlimmer als die zu erwartende Strafe!«

»Da könnten sie recht haben!« Fakhr ed-Din erhob sich. »Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken, wenn sich der Zorn des Großwesirs über sie entlädt.« Er verneigte sich knapp vor den Versammelten und verließ eiligen Schritts den Park, um den alten Mann von dem ärgerlichen Vorfall zu unterrichten.

Ezer Melchsedek versuchte, ihn auch sofort herunterzuspielen. »Dem Flüchtling bleibt nur der Seeweg, denn landeinwärts gerät er auf der einen Seite in die Wüste, auf der anderen irrt er duch die Kanäle des Deltas. Sie werden ihn schnell wieder einfangen!« Er ließ sich Tee nachschenken.

»Der Meinung bin ich nicht«, widersprach ihm der Hafside, »wie ich den Moslah einschätze, wird er die Flucht, zu der er selbst zu feige ist, geschickt eingefädelt haben. Nach meinem Dafürhalten schwimmt dieser räudige Ulama längst auf hoher See!«

»Vielleicht auf einem Eurer Schiffe, Abdal!«, spottete der Chevalier, doch Rik unterbrach ihn mit ernster Miene.

»Für mich hat diese Flucht, ihr Zeitpunkt vor allem, etwas mit unserem Eintreffen hier und dem freundlichen Empfang durch den Großwesir zu tun!«

»Die Gauner sehen ihre Falle davonschwimmen!«, pflichtete ihm nun auch Armand de Treizeguet bei. »Die ›Chronik von Mahdia‹ erweist sich nicht als tückische Waffe gegen den Emir und alle an ihr Beteiligten, sondern als sinnvolle Richtschnur unseres gemeinsamen zukünftigen Handelns.«

Die Männer schmauchten an den Mundstücken ihrer Wasserpfeifen und schlürften bedächtig den heißen Shai bil Nana.

»Vielleicht geht es jemandem wie dem Kaiser mehr um eine symbolische Handlung, die ihn als folgsamen Sohn der Kirche darstellt, als um strategischen Zugewinn einer Stadt?«, stellte Ezer, der jetzt den advocati diaboli für die ägyptische Seite übernahm, die Frage in den Raum, doch der Chevalier widersprach ihm sofort.

»Einem Herrscher wie Friedrich Machtinstinkt und Interesse an territorialem Zugewinn abzusprechen, hieße, seinen Charakter sträflich zu verkennen –«

»Jerusalem ist nur zu halten –«, dämpfte der Hafside sogleich derartige Ambitionen, »wenn man auch die Burgen des Hinterlandes in der Hand hält –«

»Diese Sachlage ist aber nicht gegeben und steht außerhalb jeder Diskussion!«, ertönte die Stimme von Fakhr ed-Din, der mit finsterer Miene zurückgekehrt war. »Der Großwesir hat beschlossen, nach Kairo zurückzukehren, um sich mit El-Kamil, unserem Sultan, zu beraten. Er würde sich freuen –«, wandte er sich eher beiläufig an den Chevalier, »wenn sich der Herr Botschafter ihm anschließen würde.« Fakhr ed-Din nahm seinen Platz nicht wieder ein, sondern trank seinen Tee im Stehen.

»Und was geschieht mit dem Moslah?!«, begehrte Rik zu wissen.

»Den führen wir in einem Käfig mit, wie ein bösartiges Reptil! Die Bahriden haben ihn nach der Flucht seines Kumpanen sofort in ein ausbruchsicheres, vergittertes Behältnis geprügelt –«

»Mich interessiert mehr, was aus meinen Gästen wird?«, wandte der Hafside ein. »Ich habe den Sohn des Emirs und vor allem Herrn Rik hierher gebracht, damit sie dem Sultan – wohlwollende Aufnahme vorausgesetzt – auf Verlangen die Chronik erläutern –« Abdal gab sich Mühe, nicht ungehalten zu wirken, aber Fakhr ed-Din speiste ihn lächelnd ab.

»Ihr werdet die Freundlichkeit besitzen, hier zu warten, bis sich Kairo zu einer Entscheidung durchgerungen hat. Das gilt insbesondere für meinen Neffen Karim, denn über Mahdia wird auch noch zu reden sein.«

Damit löste sich die Runde auf, und der Chevalier und Fakhr ed-Din kehrten zur Residenz des Großwesirs zurück, wo man sich reisefertig machte. Auch Ezer Melchsedek und seine Frau Miriam entschieden sich – in Absprache mit Abdal –, bereits jetzt nach Kairo zu reisen, wo sie ein Landhaus bei Gizeh besaßen, direkt im Angesicht der Pyramiden. Es schien vernünftiger, Ezer, der das Ohr des Großwesirs besaß, vor Ort zu wissen, so dass er unliebsame Entscheidungen rechtzeitig beeinflussen konnte.

»Machen wir uns nichts vor«, grummelte der Hafside. »Solange Wesir und Sultan sich zu keiner Lösung durchgerungen haben, stehen wir praktisch unter Hausarrest!«

»Die Gastlichkeit Eurer vier Wände lässt mich dieses Schicksal als erträglich empfinden«, scherzte Rik und wies auf den Blick, den die Villa über Stadt und Hafen bot. Doch das entschädigte den Hafsiden mitnichten.

»Ich hasse es, wenn man mich an die Kette zu legen versucht! Aber –«, er seufzte tief, »›mitgehangen, mitgegangen!‹, wie man bei euch sagt –«

Karim wollte sich nicht von Miriam trennen, die ihm im Verlauf der Reise wie eine Mutter geworden war, eine Zuwendung und auch Zufluchtsmöglichkeit, die der Knabe nie recht erfahren hatte, denn seine Amme Ma’Moa hatte ihn zwar stets rührend umhegt, jeden Wunsch von den Augen abgelesen, aber ihm nie ein ›Nein‹ entgegengesetzt. Miriam ließ ihm hingegen keineswegs stets seinen Willen.

»Es ist klüger, Karim, der Hof des Sultans empfindet mich wieder als das Weib an der Seite des klugen Melchsedek, als dass ich hier bleibe und dann gemeinsam mit euch und der Chronik auftrete –«

»Du willst nur nicht mit mir in einen Topf geworfen werden!«, empörte sich der Knabe, den Tränen nahe.

»Ganz gewiss nicht!«, hielt Miriam unbeirrt dagegen. »Sonst kann ich dich ja nicht herausfischen!«

Das Bild leuchtete Karim ein, schließlich war er sich seiner Stellung als Geisel bewusst – und auch stolz darauf. »Eine Geisel ist nur lebendig was wert«, gab er seine Einstellung zum Besten, »– und nicht gekocht!«

»Das entspräche auch nicht dem Speisezettel des Sultans!«, tröstete ihn Abdal schmunzelnd, und so konnten Ezer und seine Frau sich verabschieden.

Timdal sprang für die abgereiste Miriam ein, was die kleine Aisha äußerst belustigte, und das wiederum freute den Mohren. Rik hockte missmutig daneben, denn Abdal ging grimmig im Hafen seinen Geschäften nach, indem er seine eintreffenden und auslaufenden Schiffe genauestens kontrollierte. Er hatte schließlich feststellen müssen, dass der geflüchtete Saifallah tatsächlich auf einem seiner Frachtsegler Alexandria unbehelligt verlassen hatte. Das aufreibende Warten dauerte Wochen, bis endlich der Kommandeur der Bahriden in der Villa erschien mit der Order, der erhabene Großwesir verlange, Abdal und seine Gäste ausnahmslos in Kairo zu sehen. Mit gemischten Gefühlen, aber auch erleichtert, bestiegen sie die bereitgestellte Nilbarke der Regierung.

Die Schlüssel von Jerusalem

Zum Empfang im Sultanspalast waren ausdrücklich nur Abdal und der deutsche Ritter zugelassen. Der Chevalier Armand de Treizeguet hatte bereits wieder seine Heimreise nach Palermo angetreten. So blieben Karim, Aisha und Timdal im Landhaus des Melchsedek am Nil draußen in Gizeh unter der Obhut Miriams. Es empfing sie in der Vorhalle des Audienzsaales der allzeit präsente Fakhr ed-Din, zwei Schritte hinter ihm stand Ezer Melchsedek. Der rührige Neffe instruierte die Delegation aus Mahdia, dass sein Onkel – und auch er – die ›Chronik‹ nunmehr gelesen hätten: Sie bestätige zwar nicht ›expressis verbis et de facto‹ die angenommene These, aber mit etwas Phantasie ließe sich der törichte Wahn, eine Stadt verzückt ans Herz pressen zu wollen, herauslesen. Noch während er dies mit gedämpfter Stimme vortrug, wurde im Hintergrund die breite Prunkliege mit dem Großwesir hereingetragen. Der kranke, alte Mann blieb ihren Blicken verborgen, denn ein vor Fliegen und Mücken schützender Baldachin aus feinstem Musselin überdachte das Lager wie ein Zelt.

»Kurzum«, beendete Fakhr ed-Din seine Rede, »wir sehen die Möglichkeit einer Kompensation: Der Kaiser verzichtet auf die Durchführung seines Kreuzzugs, der Sultan tritt Jerusalem ab!«

»Und das in streng auszuhandelnder Korrelation«, tönte die Stimme aus dem weißen Zelt ziemlich barsch und auf Abschluss drängend. »Wir werden Euch, Fakhr ed-Din, als Gesandten an den Hof von Sizilien entsenden!«

Der somit Beauftragte verneigte sich ehrerbietig in Richtung Baldachin, aus dem jetzt erneut die leicht rasselnde Stimme forderte: »Kommen wir zu Mahdia!«

Gehorsam griff Fakhr das Argument auf. »– wo wir mit dem Treiben, dem sich Treibenlassen –«, verbesserte er sich schnell im Sinne des gestrengen Onkels, »– unseres lieben Neffen und Vetters Kazar Al-Mansur nicht sonderlich einverstanden –«

»Er setzt sich nicht durch!«, bellte die Stimme des Alten, »er lässt sich von dem Eunuchen aus Tunis vorführen, wie ein kleiner – –«

Ein Hustenanfall erstickte die Vorwürfe, Fakhr ed-Din griff schnell ein, auch zur Verteidigung des Gescholtenen. »Seit in Marrakesch die Herrschaft auf diesen ›Miramolin‹ übergegangen ist« – der Titel ›Sultan‹ kam am Hofe von Kairo keinem über die Lippen – »ist auch das Interesse am Horn von Iffriqia wieder gestiegen, der Druck aus Tunis –«

»Der Esel hat sich nicht wieder verheiratet«, nörgelte der Großwesir. »Kazar ist unbeweibt und zeugt keine weiteren Nachkommen –«

»Dafür ist ihm der eine besonders wohl gelungen!«, widersprach Fakhr ed-Din. »Karim hat doch auch Euch überzeugt, dass – –«

Er wurde von einem Diener unterbrochen, der sich mit einem Korb zum Hafsiden heranzudrängen versuchte, was diesem furchtbar peinlich war, zumal der Überbringer beschwörend seine Stimme senkte. »Eine wichtige Nachricht für Euch!«

»In Gegenwart des Großwesirs flüstert man nicht!«, wies Herr Abdal ihn zurecht. »Ich habe keine Geheimnisse zu verbergen!«, forderte er den Erregten auf, und der rief jetzt laut und abgehackt: »Der Emir von Mahdia – ermordet! – Aus Alexandria – ein Bote! – dies schickt er Euch vorweg –« Und er drückte Abdal den Korb in die Hand.

Der hob den Deckel, verzog sein Gesicht, entnahm ein fleckiges Schreiben, das er überflog – – Alle, auch Fakhr ed-Din und der Großwesir warteten gespannt. »Es ist leider die Wahrheit!«, sagte der Hafside endlich und ließ das Pergament sinken.

»Nein!«, stöhnte Rik. Für ihn war es, als bräche ihm der Boden unter den Füßen weg, er wankte, und der schwächliche Ezer musste ihn stützen. Der Großwesir flüsterte Fakhr ed-Din etwas zu, der dann mit nahezu tonloser Stimme verkündete: »Ich darf alle bitten, uns mit Abdal al-Hafsid allein zu lassen!«

Ezer führte den versteinerten Deutschen behutsam aus dem Audienzsaal, wo jetzt ein erregtes Gemurmel die anfänglich betroffene Stille schnell ablöste.

Abends im Landhaus von Gizeh. Hinter dunklen Palmen schlummert der Nil, gewaltig und unwirklich ragt der schroffe Dreikant der Pyramide des Cheops gegen den nächtlichen Himmel. Hinter verschlossener Tür ist deutlich das Schluchzen von Karim zu vernehmen. Rik tritt aus dem Zimmer, verstört blickt er auf Timdal, der weinend vor der Tür sitzt, Aisha hält seine Hand.

»Euer Weib Miriam«, wendet er sich an Ezer, »ist die Einzige, die er an sich ranlässt –«

Ezer nickt und führt den Gebrochenen auf die Terrasse vor dem Haus. Schweigend starren sie auf die Dattelpalmen, deren Fächer leise im Wind wispern und rauschen.

Aus der Dunkelheit des Zufahrtsweges ertönten Stimmen. Abdal traf ein, mit Daniel. »Er brachte den Korb«, sagte der Hafside und schob den Mussa’ad vor sich her, »mit dem Brief meiner Sajidda Blanche, aber sie ließen ihn nicht durch.«

Daniel verneigte sich vor Rik, der ihm fahrig die Hand reichte. »Wie konnte das geschehen!?«

Bevor noch der Secretarius zu einer Erklärung ansetzte, sagte der Hafside: »Ich hatte noch keine Zeit, alles zu lesen.« Sein Blick fiel ins Innere des erleuchteten Hauses auf Timdal. »Der Mohr soll die Kleine wegschicken und das Geschriebene vorlesen.«

Hier griff Daniel ein. »Es ist wohl besser, ich übernehme das, denn es war meine Hand –«

Mit schroffer Bewegung hielt ihm Abdal das verknautschte Pergament hin. Ezer ließ Licht bringen:

Liebster Mann und Gebieter,

in höchster Eile – ich weilte in El-Djem, als ich von der Bluttat hörte. Der Emir stieg wie immer über den Turm hinab, um in der Moschee zu beten – allein befand er sich noch auf der Treppe, da drangen hinter ihm von oben, wie auch von unten, die Meuchelmörder auf ihn ein, zerstachen im Dunkeln sein Herz mit unzähligen Dolchstößen – – Sie müssen von den fanatischen Ulamat aus Kairouan geschickt worden sein, denn dorthin flohen diese Assassinen nach vollbrachter Tat – – Ich rief alle Eure Söhne zusammen, sämtliche Beduinen, derer ich auf Eurem Landgut habhaft werden konnte, hetzte berittene Boten an die Küstenorte, wo ich Piraten Eures Vertrauens wusste und gab Auftrag, vom Meer aus in Mahdia einzudringen, vor allem den Hafen zu besetzen, während wir auf der Straße vorwärts preschten – –

Die Torwachen am Bab Zawila hatten alle Fallgitter hinuntergelassen und die große Mauer bemannt, sie waren völlig verstört und tief beschämt. Aber sie ließen uns ein. Ich stürmte mit einer Handvoll Getreuer zum Palast, alle Bediensteten weinten, die Bibliothek war leer, aber Marius, den ich ebenso wie Daniel mitgenommen hatte, hörte Geräusche über unseren Köpfen, oberhalb des Aufzugs. Ich schickte die Beduinen – beidseitig geschliffene Dolche zwischen den Zähnen – vorweg die Wendeltreppe hoch und folgte: Sie hatten den Saifallah ergriffen, als er die ›Truhe der Chronik‹ durchwühlte und bereits einige Pergamente an sich gerafft – –

Ich weiß, dass Ihr unnötigen Ballast gern vermeidet und mehr Wert auf das Wesentliche legt. So sende ich Euch als Beigabe nur den Kopf des Übeltäters, der auch höhnisch gestand, dass Ahmed Nasralla, der Kabir at-Tawashi von Tunis, im Anmarsch sei, um Mahdia im Namen des Sultans von Marrakesch zu übernehmen. Ich traue mir zu, die Festung zu halten, bis Ihr eintrefft. Also eilt, ich vermisse Euch

Blanche

»Tüchtiges Weib, meine Sajidda!«, schnalzte anerkennend der Hafside. Daniel fügte noch an, dass Madame Blanche mit ihm auch die Ma’Moa und den gelähmten Mustafa geschickt habe, damit sie Karim in seinem Kummer mit ihrer Herzensgüte tröstend beistehen mochten – sie müssten bald eintreffen.

»Der Großwesir«, verkündete der Hafside beiläufig, »hat mich offiziell mit dem Gouvernement von Mahdia betraut.« Er küsste seinen Vertrauten Ezer auf beide Wangen und umarmte lange und fest Rik van de Bovenkamp. »Mein Haus ist immer auch Euer Haus!«

An der Spitze eines Trupps Kamelreiter erschien der Neffe des Großwesirs, überbrachte dem Hafsiden die Urkunde seiner Bestallung und drängte auf seine sofortige Abreise. »Wir haben Euch den besten Schnellruderer bereitgestellt, die Triere liegt schon in Gizeh bereit, um Euch nach Alexandria zu bringen. Dort wartet Euer Schiff auf Euch!«

Abdal dankte Fakhr ed-Din für seine Umsicht, dann rief er Daniel, der noch bei Timdal stand. »Komm jetzt, wir müssen uns sputen.«

Karim trat mit rotgeweinten Augen aus der Tür, gerade als der Hafside und Daniel auf die bereitgehaltenen Reittiere stiegen. Sie winkten ihm zu, aber der Knabe erwiderte den Gruß nicht. »Ich will nicht zurück nach Mahdia«, erkärte er Fakhr ed-Din mit fester Stimme und setzte zornig und schon wieder mit Tränen in den Augen hinzu: »Was soll ich auf diesem nackten Felsen für Geier, auf dem schon meine Mutter und jetzt auch mein Vater verblutet sind?! Ich hasse das ›Horn von Iffriqia‹!«

Fakhr ed-Din ließ ihn seine Wut und seinen Schmerz ausheulen, er hielt auch alle anderen, so auch Rik und Miriam, zurück, die Karim in die Arme nehmen wollten. Dann sagte er ruhig: »Du kannst hier bei Miriam und Ezer bleiben, die dich wie einen Sohn halten wollen.« Der Knabe wischte seine Tränen ab und nickte zustimmend, Fakhr ed-Din ließ ihm Zeit. »Die Patenschaft für dich übernehme ich, wenn du das wünscht, aber auch Rik wird immer für dich da sein!«

Karim überlegte nicht lange, dann sagte er: »Auch Timdal und Aisha sollen bei mir bleiben!«

Spät in der Nacht trafen die Ma’Moa und Mustafa in einer Sänfte ein. Ezer kam gleichzeitig von der Anlegestelle am Nil zurück, wohin er seinen Freund, den Hafsiden, begleitet hatte. Er brachte auch die Nachricht, dass der Korb mit dem Kopf dem Baouab in die Zelle geschickt worden war samt einer festen, dünnen Schlinge. »Damit hat sich der Moslah am Fenstergitter erhängt!«

Die Ankunft der Sänfte und das Ausladen des gelähmten Mustafa gingen leise vonstatten, denn Karim war endlich in tiefen Schlaf gefallen. Die Ma’Moa übergab Rik einen verschlossenen Brief, auf dem sein Name stand. Sie hatte ihn auf dem Arbeitstisch des Emirs unter den zerwühlten Papieren gefunden.

Rik dankte der treuen Amme, die darauf bestand, in die Kammer ihres Töchterchens geführt zu werden, damit sie Aisha endlich wieder in ihren Armen halten könne. Rik zog sich auf die einsame Terrasse zurück, wo immer noch die Öllichter brannten, und erbrach das Siegel des Schreibens.

Das Herz des Emirs:
Der letzte Brief des Kazar Al-Mansur

Bismillah ar-rahman ar-rahim.

Es ist einsam geworden auf dem Felsen von Mahdia, Rik, lieber Freund. Still und reglos erstreckt sich zu meinen Füßen das Gräberfeld. Zu hören ist nur das Kreischen der Möwen, die unruhig über dem Hafenbecken kreisen und vergebens auf Fischabfälle warten, die ihnen einst anlandende Fischer hinwarfen. Wer ist mir sonst geblieben? Ein, zwei Dutzend Wächter und ebensoviele Diener, die einen verwaisten Harem bewachen, Türen, hinter denen niemand mehr weilt, Treppen, die keiner hinaufsteigt. Eine Palastküche, die nicht weiß, für wen sie kochen soll, ein Hamam, den es nicht lohnt zu beheizen. Anfangs habe ich mich noch seinen Dämpfen hingegeben, habe mich täglich vom Rais al-Hamam durchwalken lassen, um mich zu zerstreuen, zu träumen, bis mich der kalte Guss des rasha bardi in die trostlose Wirklichkeit zurück riss. Die Ma’Moa ist untröstlich ob ihrer entschwundenen Tochter, sie schiebt den feisten Krüppel auf seinem Wägelchen über die menschenleeren Gänge, als sei es Ihr Kind.

Eine Zeitlang spielte ich mit dem Gedanken, Mustafa, den einst gefeierten Verfasser von Liebesschwüren, mit der Niederschrift des Briefes zu betrauen, doch habe ich diese Lösung schließlich verworfen. Ist er nicht auch ein Opfer unserer vermessenen Idee, unser Schicksal nachträglich wie ein Chirurgos zu sezieren und aus den Eingeweiden unserer Seelen entnehmen zu wollen, wir hätten zu irgendeinem Zeitpunkt unser Los selber und anders bestimmen können? Allah hat uns gestraft.

Nur die Styrum ist vielleicht zu ihrem Hadj Zahi Ibrahim nach Tunis so unverändert zurückgekehrt, wie sie dereinst zu uns gestoßen war, doch hatte nicht ›Armin‹ schon zuvor an der Bürde ihrer zwiespältigen Körperlichkeit genug zu tragen!?

Von Alekos, dem dichtenden Schankknecht, hörte ich, dass sein Hakim Oliver sich mit dem Gedanken trage, in die Dienste des Hafsiden zu treten, der wohl für die Gebresten des Alters vorsorgen will, dass er einen Leibarzt ständig um sich wünscht. Mag auch sein, dass seine Frau Elgaine – gerade nach dem Wiederaufkochen ihrer höfischen Vergangenheit im brodelnden Topf der Chronik‹ – keine Lust mehr verspürt, einzig ihrem Mann zur Hand zu gehen, wenn der am Rand der Wüste durchziehende Nomaden ärztlich versorgt.

Daniel und Marius sind nach El-Djem zurückbeordert worden, wo der Mönch Rosen schneidend darum beten sollte, dass die noch ausstehende Prügelstrafe in Vergessenheit geraten möge – verdient hat er sie allemal, schon für seine Klaue als Schreiber!

Ihrem Mussa’ad Daniel hingegen soll die tüchtige Sajidda Blanche dem Vernehmen nach jetzt ihre ›Memoiren‹ als kindliche Huri von Saint-Denis‹ diktieren, um dem Hafsiden eine Freude zu machen, denn Abdal liebt solche Geschichten über alles! Vielleicht das Geheimnis dieser ungewöhnlichen Ehe! Mit dem Fortgang von Timdal, den gewiss in der Fremde ein erstrebenswerteres Los erwartet, als nochmals in die fleischigen Pranken des Eunuchen von Tunis zu geraten, und mit der unvermeidlichen Abreise von Miriam, deren Ehemann eine erstaunliche Geduld besitzen muss, um auf sein schönes Weib so lange zu verzichten, hat unsere ›Chronik‹ nun endgültig ihren Abschluss gefunden. Der Beitrag, den der stets freundliche und hilfsbereite Mohr für ihr Gelingen geleistet, allein schon durch seine muntere, aufmunternde Art, war für mich so außerordentlich wertvoll, dass ich Ihm gern ein Geschenk zum Abschied machen würde vielleicht sollte ich ihm die kleine Aisha zur Frau geben.

Kein auch nur im Geringsten angemessener Dank fällt mir für Dich ein, Rik, der Du an meiner Seite standest in den schwersten Stunden meines Lebens, ebenso selbstverständlich wie zu dem Zeitpunkt, als wir den Entschluss fassten, den Weg von Melusine zu mir in allen seinen Stationen aufzuzeichnen. Es sollte ein liebenswertes Kinderbuch werden für einen wachen Knaben, der ohne Mutter, ja ohne sie je gekannt zu haben, aufwachsen musste. Es wurde eine schonungslose Enthüllung unseres Innersten.

Du, Rik, wirfst Dir Versagen vor? Versagt hat hier nur einer, das bin ich – begonnen mit meinem unverzeihlichen Zuspätkommen, das in seinem Gefolge zum vermeidbaren Tod von Melusine führte. Anstatt aus meiner Verzweiflung Wut und Rache zu schöpfen, duckte ich vor dem Eunuchen, den ich hätte mit eigenen Händen erschlagen sollen! Meine Duldung des Moslah war der nächste Schritt in den Schlamm der Schmach. Ich hielt ihn für den Gewährsmann des Ouazir al-Khazna. Wie alle Zuträger trieb er ein doppeltes Spiel, und ich glaubte, damit leben zu können! Auch wenn ich den vollen Umfang seiner Falschheit, die Tragweite seines bösen Tuns erst dem Bericht des Timdal entnahm, der über mich ausgeschüttet wurde wie ein Kübel Unrat. Du hast mich mehrfach gewarnt, ich habe feige weiter die Scheiße hinuntergewürgt, anstatt den Molch sofort darin zu ersäufen.

Und schließlich habe ich vor meinem Sohn versagt: Statt ihm ein klares Bild der Liebe seiner Eltern zueinander und zu ihm, ihrem einzigen Kind, zu zeichnen, bestand ich Schwächling auf dieser ›Chronik‹, weil ich an Melusine und ihrer Liebe zweifelte, ich Narr!

Heute verfluche ich die Chronik‹; sie hat meine Illusionen zerstört, sie hat das geliebte Weib weit über mich Unwürdigen erhoben, und jetzt hat sie mir auch noch den Sohn geraubt! Das ist kein Vorwurf an Dich, Rik. Ich kann Dir nicht mehr in die Augen sehen, schon deswegen sollst Du nicht nach Mahdia zurückkehren! Selbst der tote Pol triumphiert über mich! Wenn schon nicht Dich, ihn sollte Karim zum Vater haben! Nicht einen Verdammten wie mich! Erfüll mir eine letzte Bitte, Rik: Karim soll an einem Ort erzogen werden, der ihn nicht länger mit der öden Einsamkeit des Horns von Iffriqia‹ umgibt, Ihn ständig an das traurige Schicksal seiner Mutter erinnert und mit einem Vater konfrontiert, der spätestens seit seiner ersten Begegnung mit jener Frau zum Verlierer geworden ist. Gib ihm die Chronik‹ nie zu lesen, Karim soll unbekümmert und ohne Zwiespalt unter Gleichaltrigen aufwachsen, in der festen Gewissheit, dass seine Eltern ihn liebten über alles auf Erden – seine kühne, schöne Mutter Melusine, als sie ihn zur Welt brachte, und sein Vater Kazar Al-Mansur, Emir von Mahdia, bis zum letzten Schlag seines Herzens, den Allah ihm gewährt.

Ich verlasse mich auf Dich,

ya sadigi, auf immer Dein Freund,

Kazar Al-Mansur

gegeben zu Mahdia im Jahre Eures Herrn 1222

im Jahre der Hedschra 619

Epilogos

Bismillah ar-rahman ar-rahim.

Im Jahre der Hedschra 626, in der Zeitrechnung des Abendlandes 1229.

Dem hochgeschätzten Emir Karim Ibn Kazar Al-Mansur sei Dank für das von Herzen kommende Schreiben an seinen betagten Murabbi Sheikh, dessen unverbrüchlicher Liebe er stets gewiss sein darf.

Ganz besonders hat mich gefreut, dass der umsichtige Großwesir Fakhr ed-Din Euch zu den edlen Herren und Würdeträgern des Ehrengeleits erwählt hat, die Kaiser Friedrich vor den Toren Jerusalems im Namen des Sultans El Kamil willkommen hießen und ihm die Schlüssel der Stadt überreichten. Mir hatte der Groß- und Hochmeister meines Ordens der Deutschen Ritter, der untadelige Hermann von Salza, die Freude verwehrt, Euch bei der Gelegenheit wiedersehen zu dürfen!

Ich wurde von meinem Ordenskomtur von Starkenberg nach Akkon entsandt, um dort für den Schutz des Kaisers zu sorgen, dessen Kommen ja auch unter den einheimischen Christen heftig umstritten war. Besonders unsere Geistlichkeit und die Barone des Landes feindeten Friedrich heftig an, die einen, weil er trotz des auf seiner Person lastenden Kirchenbanns diese Reise unternommen hat, die anderen, weil sie befürchteten, er könnte bleiben und ihnen ihre Rechte beschneiden. So konnte ich nicht an der Krönung‹ teilnehmen, die Ihr mir so trefflich geschildert habt. Schade, bin ich doch wahrscheinlich einer der wenigen Ritter meines Ordens, der die arabische Sprache und die Sitten des Landes aus langer Erfahrung beherrscht, ganz zu schweigen davon, dass ich über den Vorzug verfüge, den jetzt amtierenden Großwesir persönlich zu kennen, wie überhaupt unsere ›Chronik‹ damals vielleicht ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass Friedrich die Heilige Stadt Jerusalem ohne Blutvergießen betreten konnte.

Der Kaiser erntet die Früchte, und das ist ja auch in Ordnung so. Dank seiner Heirat mit Iolanda und vor allem dank des ihm geborenen Sohnes Konrad kann er sich jetzt auch noch ›König von Jerusalem‹ nennen! Von vielen wird selbst das angezweifelt und ihm allenfalls der Titel eines Regenten zugestanden! Friedrich hat viele Neider seines Erfolgs, sie gehen so weit, ihm diesen mit dem aberwitzigen Argument zu schmälern, er habe ihn nicht mit der Ehre des Schwertes errungen! Aber auch der Sultan El-Kamil muss – hinter seinem Rücken – Schmähungen ertragen: Für keinen Preis der Welt hätte er die heilige Stätte »von der aus der Prophet – aleihi salam – zum ›A1-Buraq‹, seinem Nachtritt, aufgefahren« den Christenhunden aushändigen dürfen! So ernten beide keinen Dank, sondern nur Verleumdungen und Missgunst.

So, wie ich die Lage einschätze, wird das Friedensabkommen nicht von langer Dauer sein. Stirbt einer der beiden toleranten wie friedliebenden Herrscher, werden ihre Nachfolger – oder andere – schon dafür sorgen, dass der Kampf fortgesetzt wird. Es geht auch gar nicht um Jerusalem, wie wir Schwärmer uns einst einbildeten: Die christliche Seefahrt – allen voran die Republiken Venedig und Genua –, aber auch die sesshaft gewordenen Adelsfamilien, profitieren von den Handelsmonopolen in den Küstenstädten schon so lange, dass sie sich an die ständig sprudelnden Einkünfte, an den Reichtum ihres Besitzes gewöhnt haben und ihn für ihr gottgegebenes Recht ansehen. Dem Islam können diese Invasoren mit der Präpotenz ihrer Missionare nur ein ewiger Stachel im Fleisch sein – bis zu dem Tag, an dem sie ihn mit vereinten Kräften höchst schmerzhaft herausreißen und ins Meer werfen! Das, so hoffe ich, muss ich nicht mehr erleben!

Mit größter Genugtuung nahm ich von Euch zur Kenntnis, dass der Hafside nicht nur unter den fanatischen Ulamat von Kairouan aufgeräumt hat – auch ich hätte sie, schon zum Andenken Eures Vaters, des von mir hochgeschätzten Kazar Al-Mansur, ausgeräuchert und jeden von ihnen über die Klinge springen lassen! –, sondern dass er auch den Obereunuchen aus Tunis verjagt und einen seiner eigenen zahllosen Söhne dort als ›seinen‹ Statthalter eingesetzt hat. Dass er sich jetzt als Stammvater sieht und sich Abu Hafs‹ nennt, deutet doch sehr darauf hin, dass sich am ›Horn von Iffriqia‹ eine neue Dynastie etabliert, die der Hafsiden‹. Wie ich den Alten kenne, wird er aber nicht nur die Oberherrschaft des fernen – und seit seiner Niederlage von Las Navas de Tolosa stark geschwächten – Sultans von Marrakesch abschütteln, sondern sich in Zukunft auch von Euch in Kairo nicht mehr dreinreden lassen! Mahdia sitzt dann nicht länger zwischen zwei Stühlen, sondern ist weit genug von beiden Thronen entfernt gelegen, dass es unter einer starken Hand und einem klugen Kopf seine Unabhängigkeit erringen und bewahren kann.

Kürzlich besuchte mich unser alter Freund, der Chevalier Armand de Treizeguet. Er hat nach all den Jahren mühseliger Verhandlungen zwischen Sultanshof und Palermo nunmehr Friedrich den Dienst aufgekündigt. Litt er doch wie kein anderer unter der schier endlosen Kette von Verhinderung – wie der Sultan es wünschte –, Durchführung – wie der Papst es verlangte – und ständiger Verschiebung – was die Taktik des Kaisers war –, die sich über sieben Jahre lang zermürbend hinzog. Der Kreuzzug, der keiner war, hing dem Chevalier derart zum Halse raus, dass er auch das Angebot unseres gleichermaßen verdienten Hoch- und Großmeisters Hermann von Salza ausschlug, der ihm eine friedliche Komturei in den Hügeln des Antilibanon anbot. Hingegen vererbte seine Jugendliebe Marie de Rochefort ihm ihren gesamten Besitz, als sie kinderlos in seinen Armen starb.

Von Armand hörte ich auch vom unrühmlichen Ende der beiden Halunken aus Marseille. Nach der letzten fehlgeschlagenen Revolte gegen Friedrich auf Sizilien, suchten der ›Eiserne Hugo‹ und Guillem das Schwein‹ Zuflucht auf der Insel Linosa. Die dortigen Templer sahen nicht die geringste Veranlassung, sich wegen zweier Sklavenhändler mit der Flotte von Sizilien anzulegen. Ihre Sergeanten knüpften sie sorgsam nebeneinander an der Reeling auf und schickten das steuerlose Schiff beim nächsten passenden Wind unter vollem Tuch zurück aufs Meer. Entweder haben sich Haie die Herabbaumelnden geholt, oder sie sind irgendwo in den Felsen der Küste zerschellt. Jedenfalls hat man nie wieder von ihnen gehört. Allahu hu al-Adil! Gott ist letztlich gerecht!

Ich werde jetzt endlich die Gelegenheit des ungehinderten Zugangs wahrnehmen – wer weiß, wie lange das so bleibt – und nach Jerusalem pilgern. Weniger, um mich endlich als ›Ritter des Heiligen Grabes‹ zu fühlen, als die Erfüllung des Traumes, um dessentwillen wir unreife, aber vom Glauben beflügelte Kinder aus Frankreich und Deutschland einst übers Meer gefahren sind, als es sich nicht teilen wollte. So auch deine Mutter Melusine de Cailhac und der deutsche Ritter Rik van de Bovenkamp. Am Heiligen Grab will ich für Euch, Karim, und Eure lieben Eltern beten!

 

Inna Allaha
‘andahu ‘almusaati
ua yunsilu al ghaitha
ua ya’alamu
ma fi al arhami
ua ma tadri nafsu
madha taksibu ghaddan.
Ua ma tadri nafsu
bi aye ‘ardin tamout.
Inna Allah ‘alimun
khabirun.

 

Wahrlich bei Allah allein
liegt die Kenntnis der Stunde.
Er sendet den Regen nieder,
und Er weiß, was in den Mutterschößen geschieht.
Niemand weiß,was der Morgen seiner Seele bringen wird.
in welchem Lande er begraben wird.
Wahrlich, Allah ist allwissend und weise.

Sure 31,35

Nachwort:
Zur historischen Lage zu Beginn des 13. Jahrhunderts

Im christlichen Abendland

Im ›Hohen Mittelalter‹, das mit dem Einsetzen der Kreuzzüge eingeläutet worden war, eskalierten – gleichzeitig mit dem Beginn seiner Endphase im 13. Jahrhundert – die Umwälzungen infolge der Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit dem Orient auf allen wissenschaftlichen Gebieten, bis sie schließlich in die Renaissance mündeten (Dante, La vita nova, um 1293). Die oft schockartige Begegnung mit dem ›Neuen‹ beschied sich jedoch nicht mit der Diskussion neuer Denkweisen, sondern entlud sich zunehmend im Bruch traditioneller Strukturen, vor allem im erstarrten Feudalsystem.