Buchcover

Ocke Bandixen

Grosse Fahne West

Roman

Saga

Für S.

I. Vorher

1

Wieder finden wir uns ein am Ende eines Jahres, der Hafen ist schon in Sicht, langsam fährt das Schiff ein. Nutzen wir den kurzen Moment der Besinnung und gedenken wir derer und der Dinge, die wir lassen mussten. Die uns aus unserem Leben genommen wurden, deren Gedächtnis wir in Ehren halten wollen.

Doch wenden wir unseren Blick frohgemut auf das neue Jahr. Die drei Bojen liegen voraus, Glaube, Liebe und Hoffnung. Das Schiff liegt bereit für die Reise in das neue Jahr.


Die Dampferpredigt war die alljährliche Predigt des Schifferpastors. Der hielt diese schon so lange, wie die Menschen sich daran erinnern konnten. Jedes Jahr dieselbe. Nur die erwähnten Jahresdaten wurden ausgewechselt. Wilhelm Schiffers schämte sich nicht dafür. In einer Mischung aus Verachtung seinen Spöttern gegenüber, Trotz und Stolz auf die zunehmende Zahl der Gottesdienstbesucher, die inzwischen nur aus diesem Grund am letzten Abend des Jahres in die Kirche kamen, hielt er sie mit den gleichen Worten.

Ich, Peter Leversen, kannte meinen alten Pastor gut, aber ich konnte nicht sagen, ob der Schifferpastor die Predigt inzwischen auswendig konnte oder jedes Jahr aufs neue ablas.

Inzwischen war er pensioniert. Seine weiße, wilde Mähne war dünner geworden. Er harkte sie mit seinen dicken Fingern wie eh nach hinten. Seine Stimme hatte etwas an tönender Kraft verloren, die Brüchigkeit, die der Schifferpastor sonst nur an Satzenden zeigte, hatte zugenommen. Er war noch ein wunderbarer, tröstender Redner. Ich hatte mich neulich beim Geburtstag meines Vaters davon überzeugen können, wo der Schifferpastor eine donnernde Ansprache gehalten hatte.

2

Am Rand, man konnte es nicht anders beschreiben: am Rand. Danach kam nichts mehr. Nur noch Felder, Koppeln, irgendwann die Deiche, dann auch noch die Nordsee, das Wasser, wenn es denn da war. Da war unser Haus.

Apfelhaus. Apfelhäuschen nannte die Familie das kleine weiße Haus mit den schwarzen Schindeln. Und das galt, wie immer, was die Familie sagte.

Die Familie: Tat alles, war alles, wusste alles, regelte alles: was man zu denken und zu meinen hatte, zu reden sowieso. Es ließ ein bisschen nach, jetzt, da so viele ein bisschen alt wurden. Das ganze Bevormunden und Hereinreden, fast fehlte es mir.

Für ein Reetdach hatte es nicht gereicht, pflegte Peer Leversen, mein Vater, zu sagen. Er hatte in das Haus eingeheiratet. Hier weht immer noch eine große Fahne West. Das sagte er oft und meinte den Wind wie den Stolz der Familie. Im Garten, der an der zur See gewandten Seite lag, flatterte so lange ich denken konnte und sicher noch länger eine Friesenfahne zwischen den Bäumen, die dem Apfelhäuschen seinen Namen gegeben hatten. Gold oben, dann rot und unten dann ein leuchtendes Mittelblau. Sie wurde über die Jahre kürzer durch den Wind und alle paar Jahre durch eine neue aus dem scheinbar unerschöpflichen Vorrat meiner Großmutter ersetzt.

Zwölf Bäume standen im Garten. Wie die Apostel, donnerte der Schifferpastor bei jedem Geburtstag, auf den er eingeladen war. Er hätte aus unserem Vater gern einen frommen Menschen gemacht. Zumindest einen so fröhlich-frommen wie dessen Frau Ellen, unsere Mutter, es gewesen war, solange sie lebte. Das mit der Kirche bleibt alles an dir hängen, Peter, hatte er nicht nur einmal zu mir gesagt. Und ich hatte mich bemüht.

Auch Frerk, mein älterer Bruder, hatte kein näheres Interesse am Glauben und Kirchenleben der norddeutschen Kleinstadt Feddering gezeigt. Für ihn war Sport das wichtigere Fluidum für sein Leben. Ich, nicht ganz ohne Neid in meinem Spott, hatte gelästert über den sauren Turnschuhduft der Sporthallen, den schwitzigen Muff der Umkleidekabinen, den dunkelgrünen Sumpf der Fußballplätze, in denen sich mein Bruder so oft bewegte.


Ja, ich war anders. Nicht so schlimm, aber spürbar anders. Der zweite Sohn. Der Augapfel meiner Mutter. Nicht offen fröhlich, aber heiter und optimistisch vom Naturell, würde ich sagen.

Mein Vater Peer, der als Tischler in Anstellung arbeitete, gab sich Mühe, mich zu verstehen, mir nahe zu sein, aber es fiel ihm schwer.

Seine Frau war gestorben, schnell und traurig war das gewesen. Sie hatte ihr Leben gelassen. War fort und konnte nie ersetzt werden.

Das Apfelhaus war danach klarer und weißer. Mehr als vorher. Das war, so schien es mir, das, was bleiben würde. Das Leben war ein paar Grad kälter. Sie fehlte mir unsagbar.

Das Haus erzog mich, zog mich auf, lehrte mich, wann es Zeit war im Jahr, das Küchenfenster zu schließen, im Herbst, wenn die Stürme uns und das Haus auf die Probe stellten. Mein Großvater grüßte noch weißbärtig und grimmig ins Gegenlicht blinzelnd von der Wand. Es war manchmal, als sei er noch nicht richtig fort und tot, so oft sprachen seine Töchter, meine Tanten, von ihm, soviel spürten wir, mein Vater, mein Bruder und ich von seiner Aufteilung der Räume, seinem angelegten Garten. Jeder Nagel war von ihm, jedes Werkzeug in dem Blechkoffer, jeder Holzspan dazwischen. Das Haus sagte mir, wann ich die Hecke schneiden musste, um im Frühjahr morgens schon Licht zu empfangen. Es gab mir zu verstehen, wann es Zeit zum Öffnen und Hinaustreten war und wann man besser drinnen war und die dunklen Gerippe der Bäume gegen das Licht bestaunte. Es lehrte mich Ordnung, Maß und Verantwortung. Mein Vater war da, aber das Haus machte mich groß.


Das Apfelhäuschen hatte einen kleinen Hof. Einem weißen Torbogen, der den Durchgang zum Obstgarten markierte, schloss sich dem Wohnhaus gegenüber ein zweites Häuschen an. Die Sommerküche. Ein Arbeitshaus, Werkstatthaus, Gartenmöbel-unterstell-Haus. Nur schlecht beheizbar, hell, verstaubt. Seit meine Mutter tot war noch mehr. Ab und zu fegte unser Vater das Häuschen zwar und wirbelte den Staub in kleinen Schwüngen auf, danach setzte er sich, der Staub, in Tagen und Wochen, in denen die Sommerküche nicht benötigt wurde, wieder wie eine Schutzschicht auf alles, was sich darin befand. Im hinteren Raum war die Abstellkammer, sie hatte einen zweiten Ausgang zum Garten, allerlei Hacken, Kratzer, Harken drängelten sich an der Wand. Eine Schubkarre wartete auf ein neues Rad oder zumindest einen Flicken im Reifen. Der Rasenmäher tropfte.

Im vorderen Raum war eine funktionstüchtige Küche eingerichtet. Marmelade war hier früher eingekocht worden. Mein Großvater hatte hier mit einem im Wasser heißgemachten Messer seine Bienenwaben aufgeschnitten und geschleudert. Die hölzerne Arbeitsfläche war abgeschrubbt und hell geworden. Ich hatte gute und süße und saure Erinnerungen an den Geruch der Sonnabendnachmittage, wenn meine Mutter mit mir die Gläser gefüllt hatte. Glückliche Tage mit dem Geruch halbvergorener Obstschalen. Ein kleiner Tisch und drei ausrangierte Stühle bevölkerten die Küche, einzelne Kinderbilder von Frerk und mir, Männchen und gekritzelte Kreise hingen gerahmt neben einem Poster für eine längst vergangene Kunstausstellung.

Im Keller, zu dem eine Bodenluke und eine Stiege führten, lagerten die Kompottschätze der Familie, die Fruchtsäfte und die Batterien von Marmeladengläsern. Unsere Tanten sorgten stets dafür, dass jeden Sommer welche dazu kamen. Ich rückte die Jahrgänge nach vorne, um die Reihenfolge in Ordnung zu halten. Die Gläser zu leeren, die Vorräte über den Winter zu verbrauchen, das versuchten wir nicht einmal. Um das reine Verzehren schien es auch nicht zu gehen bei den Vorräten. Sie waren wie ein Sparguthaben, eine Rücklage für schlechte oder zumindest schlechtere Zeiten. Und darüber hinaus ein sichtbares Zeichen der Zuwendung unserer Tanten. Liebe im Glas.

Auch ein Obergeschoss hatte die Sommerküche. Das alte Sofa von drüben stand hier und wurde gelegentlich benutzt. Zum einen, darüber sprach niemand, wie überhaupt über solcherlei Dinge wenig gesprochen wurde, schlief hier unser Vater seinen Rausch aus. Das kam ab und zu vor, ich und Frerk ebenso nahmen es wie gelegentliches Regenwetter hin, dass unser Vater trank. Die Sonne folgte ja meist auf den Regen, warum daraus ein Thema machen?

Nun war es so, dass Vater nicht etwa leere Flaschen, schmutzige Gläser oder zerdrückte Dosen dort oben stehen ließ. Er achtete peinlich genau darauf, morgens, wenn er aufwachte, und das war, auch wenn es viel Bier gewesen war, stets früh, das Leergut wegzuräumen.

Mein Bruder hatte eine Coolness, die nichts mit zurückgegelten Haaren und verspiegelten Sonnenbrillen zu tun hatte. Sie war nicht an einen modischen Kniff, etwa einen hochgestellten Kragen oder einen bestimmten Jackenschnitt gebunden. Sie hatte etwas Altmodisches, Ungerührtes. Etwas, das ihn schon immer älter gemacht hatte, zeitloser. Seine äußere Unerschütterlichkeit hatte etwas von Jean Gabin oder Lino Ventura, deren Filme wir zusammen so gern guckten, nachts, wenn unser Vater schon lange schlief. Etwas von Charles Bronson, der müde und angeekelt dem albernen Treiben zusieht und nicht dazugehören möchte. Etwas Wissendes lag in dieser unbeweglichen Miene, als habe er viel erfahren und erlebt, viel Erstaunen schon abgelegt und aufgebraucht in seinem weltbefahrenen Leben.

Er konnte, wenn man an seiner Seite war, dieses Gesicht wie einen Schutzschild aufsetzen gegen jeden Fremden, jede unerfreuliche oder unerwünschte Ansprache. Der Schutz reichte dann über ihn hinaus, oft hatte ich ebenso mein Gesicht zu Stein machen können, als ich seines neben mir sah. Um dann, wenn wir wieder allein waren und die Situation ausgestanden, in ein breites, kräftiges Grinsen und Lachen auszubrechen. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind lachend an seiner Hand gerannt war, wir mussten irgendwem schnell entkommen. Ich flog an seiner Hand und lachte wie er. Wir rannten so lange, weit, bis kurz vor unser Haus, bis unser Atem nur noch zum Lachen reichte.

Es ist ablandiger Mond, hatte mein Bienengroßvater gesagt. Oder: es ist auflandiges Licht am Morgen, ablaufender Wind, auflaufender Regen. Frerk und ich übernahmen das und sprachen vom auflaufenden Kaffee, vom ablandigen Brotbestand und so weiter. Mein Vater feixte, wenn er es hörte, manchmal mit uns und hob seinen Becher in Richtung des Bildes, von dem der Bienengroßvater so viele Jahre nach seinem Tod noch über uns und sein Haus wachte. Es war unsere Art, an ihn zu erinnern und uns an ihm abzuarbeiten.

Während ich mich um das Haus und die Küche kümmerte und unser Vater auf seine Art für uns sorgte, war die Unerschütterlichkeit im Blick Frerks Beitrag zu unserer merkwürdigen kleinen Familie.


Seit einiger Zeit war mir aufgefallen, dass auch Frerk so manchen Morgen über den Hof, also von drüben in die Küche kam. Grund dafür war seine erste feste Freundin, die Holly genannt wurde, worüber ich nachdenken musste: War das eine Abkürzung, und wenn ja, wofür?

3

Allein waren wir dennoch nicht. Unsere Mutter hatte drei Schwestern, die alle im gleichen Ort lebten und sich um uns kümmerten. Zumindest taten sie eine Menge. Mein Bruder, Vater und ich ertrugen es mit freundlichem Gleichmut. Ich hatte an mir die gleichen Anlagen wie die meines Vaters bemerkt, den alle, seiner Geschicklichkeit mit den Händen, seines langmütigen, ausgleichenden Wesens wegen Peer Patent nannten. Peter Patent hatte der Schifferpastor mich eines Abends eher aus Versehen genannt. Aber es stimmte: Ich konnte die Sonne in meinem Gesicht aufgehen lassen und schweigen, zuhören, leicht ein, zwei gute Worte sagen, wo andere schwiegen, plötzlich und ohne Mühe aufmerksam sein. Das half viel, wenn sich wieder einmal Worte über Worte über uns ergossen.

Denn zumindest zwei der drei Tanten legten sich ordentlich ins Zeug, unseren Männerhaushalt in Schwung zu halten.


Die erste, Charlotte, genannt Lotti, hatte kurze, graue, praktische Haare und noch einen Mann, Karl, der je nach Stimmung »mein Karl«, »Kuddel« oder »Charlie« genannte wurde. Sie war älter als Mutter gewesen. Ihr Ressort waren Wäsche und Vitamine. Einmal in der Woche kam sie und steckte alle Handtücher und Wischlappen, die sie finden konnte, in die Waschmaschine, füllte sie mit Pulver, drehte sie auf sehr heiß und schloss mit einem vernehmlichen Geräusch, als wollte sie ein Ausrufezeichen am Ende ihrer Tat setzen, die Maschine, die sofort begann zu schäumen. Überhaupt lebte sie in einer Welt voller Feststellungen, Aussagen, Gewissheiten, manchmal beneidete ich sie darum. Sie brachte einmal in der Woche Essen, »mein Karl und ich schaffen das doch nicht«, natürlich ohnehin zum Vorbeibringen eingeplante Reste, außerdem Röllchen aus der Apotheke, um unsere Abwehrkräfte mobil zu halten. Wenn wir wirklich das ganze Zeug aufgelöst in Wasser getrunken hätten, unser Körper hätte vermutlich täglich stolz Heerschau halten können in der Gewissheit, dass nichts ihn besiegen könne. Frerk und ich tranken einige Jahre später einmal einige Rollen der Vitamin-C-Brausetabletten gemischt mit Wodka in Ermangelung richtigen Orangensaftes. Ging auch.

Die zweite Tante hieß Trudi, sie arbeitete im Gemeindebüro und hatte eine kunstvolle Dauerwelle, keinen Mann mehr, dafür aber noch ihren Schwiegervater Heinrich, der viel Zeit und Kraft in Anspruch nahm. »Du kannst es dir nicht vorstellen! Nein, kannst du nicht.« Sie kam oft zu uns, nur so von Haus zu Haus, wie sie stets sagte. Wobei ich nicht verstand, warum »von Haus zu Haus«, von wo nach wo denn sonst? Sie tat ebenso scharf wie ihre große Schwester, war aber von wärmerem und zugänglicherem Wesen als diese. Was sie sagte, sang sie in einer höher steigenden Melodie, manchmal bis zum Schrillen gesteigert, um dann wieder in tiefsten Tiefen im nächsten Satz zu starten.

Sie kümmerte sich um unser geistiges und geistliches Wohl. Mahnte meinen Vater und Frerk, mich nicht, ich ging ohnehin oft, am Sonntag in den Gottesdienst zu kommen. Brachte ausgelesene, aber für uns als noch brauchbar bewertete Zeitungen der letzten Woche mit, manchmal aber auch eine, wie sie stolz sagte, »frische«, die sie, als sei es eine besonders schön eingepackte Praline und nicht eine weitere graue Zeitung, oben auf den Stapel platzierte. Unten in dem Haufen tauchten in letzter Zeit häufiger als früher christliche Erbauungsschriften auf, Blätter, in denen die abgebildeten Jesusse mit zum Himmel verdrehten Augen offensichtlich um ihren Verstand rangen, ob des Treibens auf Erden, Magazine, die das sichere und, vor allem, baldige Ende nicht nur prophezeiten, sondern leibhaftig davon kündeten, quasi mit Fahrplan aller vier apokalyptischen Reiter.


Und dann war da noch schließlich die jüngste: Helene, genannt Tante Leni. Lehrerin. Sie lachte viel. Lebte allein, rauchte, hatte rot gefärbte lange Haare, wechselnde Freunde und Verehrer, was für ihre beiden älteren Schwestern, je älter sie wurden, schlechter zu ertragen war. Sie kümmerte sich um den Garten, das heißt, nicht um den Rasen, das sei Männerarbeit, war sie der Ansicht, sondern um die Blumen und Sträucher. Sie ging zuerst und sah nach den Magnolien, dann nach den Männern, wie sie sagte.

Sie kam selten und dann wollte sie Klavier spielen, solo und mit mir vierhändig, wobei ihr ein, zwei rote Strähnen ins Gesicht fielen, die sie anschließend hochpustete. »So sieht es hier also aus«, sagte sie amüsiert, kurvte nach dem Spiel herum auf dem drehbaren Klavierhocker, und freute sich, wenn ich ihr Kaffee kochte. Sie musterte mich in meiner ausladenden Nadelstreifenhose und in meinem weiten, weißen Fischerhemd, das ich mir in dem Andenkenladen gekauft hatte und ließ zum Spaß die altmodischen Hosenträger wieder auf meine dünne Brust zurückschnappen. Ich hatte sie meinem Vater aus der Schublade genommen, er hatte es entweder nicht bemerkt oder mit Absicht übersehen. Jedenfalls trug ich sie, mit dem Stolz und der modischen Gewissheit, zu der nur ein 16-, 17-Jähriger fähig ist.

Leni redete uns am wenigsten rein, sie führte sich nicht auf wie eine Ersatzmutter, dabei war ich ihr Patenkind. Wenn sie etwas an uns auszusetzen hatte, wiegte sie mit der Zunge schnalzend den Kopf und sorgte damit dafür, dass auch wir endlich die Löcher am Ellenbogen im Pullover unseres Vaters bemerkten und diesen zur Schneiderin gaben.


Noch etwas war wichtig. Trotz aller Streitereien und gegenseitigen Maßregelungen: Alle drei liebten sich und sie liebten uns. Eigene Kinder hatten sie keine. Dann hatten sie vor einigen Jahren auch noch ihre Schwester verloren. Sie weinten mit Vater, Frerk und mir am Grab und hielten uns seither fest zu jeder Begrüßung und zu jedem Abschied, als wollten sie das Leben, auch das, welches von ihrer Schwester noch da war, retten.

Vater mochte die drei gern. Er lächelte gleichmütig und brummte, zustimmend, ein wenig spöttisch, staunend.

4

Wenn man eine Uhr auf einem deutschen Bahnhof betrachtet, und in der Regel tut man das, wenn man dort ist, dann wird man vieles feststellen. Meistens, aber das sei ausgelassen, dass der Zug zu spät da ist. Manchmal vielleicht aber auch, dass die Uhr immer gleich aussieht. Ein blasses, nämlich weißes Gesicht, Striche als Markierungen, keine Ziffern, anstelle derer aber längere schwarze Striche. Dazu gerade Zeiger ohne Spitze oder Kopf. Einzige Ausnahme, es geht bei der Bahn eben besonders um kleine Zeiteinheiten: der Sekundenzeiger. Eine lautlos, grenzenlos in der Runde schwebende Kelle mit Loch. Eine rote Lupe auf Wanderschaft, auf der Suche vielleicht.

Hat der rote Reiter eine weitere Runde gedreht, ohne zu zucken oder zu stolpern wie bei anderen Uhren, kommt er unausweichlich, gleichförmig, schwebend an die Zwölf, die volle Stunde, aus seiner Sicht die volle Minute. Er bleibt, wider Erwarten nach der ungebremsten Runde, auf dieser stehen, bis der Minutenzeiger – dramatisch genug – zur folgenden Position, eben eine Minute weiter, fortspringt, als müsste er den Platz aufrücken. Er springt um, zittert im Stand wie ein Turner, der vom Reck federt.

Erst dann startet der Sekundenzeiger erneut, beginnt seine nächste Gleitrunde um den gleichen blassen Parcours.

Der Sekundenzeiger wartet höflich auf den Sprung des großen Bruders und setzt seine eigene hastige Runde aus. Die Zeit steht still in diesem Moment. Und das auf der Uhr, die als absolut zuverlässigste gilt, die nicht nur mit ihrer Anzeige die Nerven der Reisenden beruhigt oder zum Flattern bringt, die aus Gehenden Rennende macht, aus Reisenden Rasende. An ihr scheint der gesamte Betrieb zu hängen. Der Puls des Eisens. Der Vollzug des Plans, des Fahrplans, das Pfeifen, das satte, gummigebremste Einrasten der Türen, das Winken des Zugchefs, die langsame, schneller werdende Bewegung des Zuges.

Wissen die Dinge, dass ihr Antrieb, die Bahnhofsuhr, genau genommen falsch geht? Der Sekundenzeiger wartet, bis der Minutenzeiger umspringt, und zwar länger als eine Sekunde. Was wie ein höflich gewährter Vortritt des Älteren, Bedeutenderen aussieht, ist in Wahrheit länger, als es sich für eine Sekunde gehört. Es dauert exakt eineinhalb Sekunden, die – natürlich, denn die Minuten müssen ja zumindest stimmen, im nächsten Rund wieder eingeholt werden müssen, die Sekundenzeigerrunde dauert also bis zum anderthalb sekündigen Stillstand präzise 58 einhalb Sekunden.

Kann das große Ganze nur funktionieren, wenn es im Kleinen nicht stimmt? Ist die kleine Mogelei, die übersehene Ungenauigkeit, die in Kauf genommene Unschärfe am Ende sogar die Voraussetzung für das große Gelingen, die funktionierende Wirklichkeit, die allgemeine, von allen anzuerkennende Wahrheit?

Dreht sich die Welt nur ruhig und gleich, wenn man darüber hinwegsieht, zu welchem Preis?

5

Und noch etwas taten meine Tanten, wenn auch nicht bei uns zu Hause: sie spielten Karten, mit heiligem Ernst. Sie spielten Zwicker, ein altes Kartenspiel, also sie zwickerten, wie es hieß. Ein Spiel, das quasi wie die Fahne oder das Apfelhäuschen zur Familiendekoration gehörte. Zwickern war weder besonders aufregend noch besonders schwer, wir spielten es oft, als wir klein waren, auch mit unseren Tanten.

Sie trafen sich einmal in der Woche. Seit sie denken konnten. Und würden es wahrscheinlich tun, bis alle tot waren. Turnen, Arzttermine, Friseur, alles gut und schön, aber nicht montags nachmittags.

Lotti, Trudi, Leni und, seit meine Mutter nicht mehr lebte, Käthe Bernd Hans, eine gleichaltrige Freundin der Familie, ehemaliges Nachbarskind. Käthe war ein häufiger Name, das machte die zusätzliche Kennzeichnung »Bernd Hans« notwendig. Bernd Hans war Käthes Mann gewesen. War aber schon tot. Falls Käthe aus einem unerfindlichen Grund nicht konnte, wurde auch noch deren Schwester Lucie gestattet mitzuzwickern, dann folgerichtig familienintern Lucie Bernd Hans genannt.

Sie sprachen vom Club, wenn sie sich trafen. Kein Hauch Ironie war darin enthalten, nur der Ausdruck ihrer einst getroffenen und wöchentlich einzulösenden Verpflichtung: Komme die Hölle oder Hochwasser über uns – montags wird gezwickert. Club. Dieser fand umschichtig statt. Jeder war also einmal im Monat dran. Und zeigte, was so ging. Lotti holte ihre Sammeltassen aus dem Schrank. Mit Goldrand und Füßchen, eine schon einmal geklebt, einer ihrer beiden Neffen war schuld. Jede ein Kunstwerk, bemalt mit Jagd- oder Schäferszenen, umrankt, verschnörkelt und unermesslich wertvoll, mir kam es so vor, zumindest aber unersetzlich.

Trudi bot anderes auf: Silber: Kaffeekanne, Zucker und Rahm auf eigenem Tablett, Spitzendeckchen darunter. Einfüßige Silberschale mit gemischtem Kleingebäck, vom Bäcker, nicht vom Kaufmann, versteht sich.

Und Torten. Mehrere. Die anderen kauften vom besten Konditor der Stadt, Leni buk selbst, füllte, spritzte, verzierte. Über die Jahre nahm der Anteil von Diabetikerkuchen zu, aber nicht allzu sehr.

Erst der Kaffee, dann die Karten. Klatsch die ganze Zeit.

Karl, der Mann meiner Tante Lotti, Frührentner seines Rückens wegen, fuhr die Damen zusammen, je nach Austragungsort, verkrümelte sich dann aber mit einer seiner stinkenden Zigarren zum Spazierengehen oder in den Garten in die Hollywoodschaukel, irgendwohin, wo er nicht gesehen werden konnte. Lotti pflegte, ich habe es selbst mehrfach gehört, wenn sie fertig waren, und Karl sich für den Rücktransport bereit machen sollte, mit ihrem Ring gegen die große Wohnzimmerscheibe zu klopfen. Und schon erschien er.

6

Mein Vater zwickerte nicht. Natürlich konnte er es, genauso wie Frerk und ich. Unsere Tanten zwickerten mit uns, als wir klein waren, oft und viel, »da könnt ihr gleich noch ein bisschen Rechnen üben«.

Mein Vater spielte Skat, jeden Sonnabendnachmittag. Ich war, als ich kleiner war, oft dabei. Ich liebte diese vor Lachen dröhnende und Trümpfe knallende Welt, Bierdunst, dunkel gequalmtes Holz an der Wand, einige Männer hatten ihre Mützen auf. Man spielte zu viert, ein Geber. Ich durfte gucken und gelbe Brause oder Cola haben. Mein Vater spielte an einem der fünf Tische mit denen, die nicht allein der Ehrgeiz trieb, hier als Sieger das Lokal, die »Krone«, zu verlassen. Auch saß er nicht bei denen, die um Geld spielten. Er gab, reizte, drückte, spielte aus, warf ab allein für die nächste Runde Bier und Korn.

Ich staunte über die Männer und den Umgang, das schweigsame Nicken, das halb gegrunzte Reizen, hinter Zigarren und Zigaretten hervor. Sie klopften, wenn Contra gegeben wurde, nicht höflich mit dem Fingerknöchel auf den Tisch, wie ein Etagenkellner an der Zimmertür. Sondern sie knallten die flache Hand auf den Tisch der Gastwirtschaft, dass die Gläser einen Sprung machten.

Ich blieb, solange ich durfte, manchmal holte mich Frerk nach dem Fußball ab, manchmal ging mein Vater mit nach Hause, vergnügt, singend, mich an sich ziehend, mal wegen der guten, mal wegen der schlechten Blätter lachend, die er heute gehabt hatte. Auch wegen der Getränke.

Nachdem meine Mutter gestorben war, ging mein Vater ein paar Wochen nicht. Aus Pietät, aus ehrlicher Trauer, weil er nicht wusste, ob er überhaupt jetzt noch gehen dürfe, jetzt, als auf einmal allein verantwortlicher Vater. Seine drei Schwägerinnen mochte er nicht fragen, während dieser Zeit auf uns aufzupassen. Für einen wichtigen Zahnarzttermin, sicher, für die Jahreshauptversammlung der Freiwilligen Feuerwehr, keine Frage, aber fürs Kartenspielen?

So nahm er mich, den Jüngeren, mit, setzte mich auf die Bank neben sich, sagte beim ersten Mal: »Das ist mein Peter.« Damit war der Fall erledigt.

Der Wirt, ein zurückhaltender, fröhlich-durchtriebener Gastgeber, der gerne gut einschenkte, machte sich und mir einen Spaß daraus, wie ein Oberkellner mit kariertem Handtuch über dem Arm statt der weißen Serviette nach meinem werten Befinden zu fragen und ebenso nach meinem Getränkewunsch, er habe da noch einen vorzüglichen Gelbe-Brause-Jahrgang im Keller, den er mir kältestens ans Herz lege, ob das recht sei. Es war.

Die Zusammensetzung an den Tischen wechselte, auch unser Sitzplatz. Ich kannte bald Atze und Kalle und Asmussen und de schwatte Rolf sowie Jan vun de Eck, rotwangige, vom Grand ohne Vieren erhitzte Männergesichter, deren müde Augen blitzten und eng wurden im Qualm und Gelächter der Tische.

Die meisten in Stoffhosen und Oberhemd, einige aufgekrempelt, andere schon den halbguten Pullover mit den Lederflicken am Ellenbogen.

Hereinkommen, grüßen, umgucken, abwartenden, gemessenen Schrittes an einen noch nicht voll besetzten Tisch treten, als Gruß auf das Holz klopfen und setzen. Ein Ruf Richtung Wirt, die Hand zur hastigen Kontrolle an der Brusttasche, das Rauchwerk, der erste Schnack zum Wetter, Fußball oder zum aktuell liegenden Stich. Diese Männer wärmten sich gegenseitig in dieser verrauchten Holzkammer, das gelbe Bier, der eisige Schnaps wurden zu brüderlichen Getränken. Das Kartenspielen, das geschwätzige Mischen, das stumme Abheben, Geben, Grinsen und Brummen, das Schnalzen und »O heijo«-Sagen wurde zur Bestätigung des eigenen Tuns und Seins. Hier waren alle so, alle gleich, zumindest einen Nachmittag lang.

Ja, einige blieben länger, tranken mehr, konnten keine Ruhe im Spiel finden, der Ausnahme ihres sonstigen Lebens: Beruf, Familie, und der Rasen, der muss am Wochenende ja auch noch. Aber die meisten wollten hier genau das, eine Zeitlang so sein und bei den anderen, die genauso waren und fühlten.

Ich guckte, hörte, lachte und spielte zu Hause noch die Blätter und die Kommentare des Sonnabendnachmittags nach. Ich blieb in Gedanken noch den halben Sonntag in der »Krone«.

Es endete, als ich eines Nachmittags gefragt wurde. Es war der letzte und alles entscheidende Spieltag der Fußball-Bundesliga und erst wenige waren vor der Sportschau in die Wirtschaft gekommen. Ein Tisch war besetzt mit den »Piesen«, wie mein Vater sie nannte: nörgelnde Skatturnier-Spieler, die hier nicht zum Spaß saßen wie die Mehrheit, die freilich noch fehlte. Am zweiten Tisch saß erst der alte Jacobsen, die Karten vor sich. Mein Vater und ich setzten uns. Ob ich denn nicht, Jacobsen wand sich um die entscheidende Frage, ja, ob ich denn nicht, ich sei nun doch schon so oft mitgekommen und könne doch sicher schon, ob ich denn nicht Lust hätte, jetzt mitzuspielen? Ich spielte einen Nachmittag lang, ging dann allein nach Hause und kam nie mehr wieder. Auf einmal ekelte mich die Gesellschaft an, zu der ich so lange hatte gehören wollen. Abstoßend, selbstbetrügerisch, widerlich kam mir die Runde vor, die dort Karten klopfte. Ich hatte so wie sie werden wollen an vielen Nachmittagen, aber ich war nicht wie sie.

7

Es war in meiner Erinnerung Anna, die mich irgendwann rausholte. Es war im Juni, ich war 14, das weiß ich genau. Was davor war, liegt wie hinter grünem Glas, wie hinter einer Reihe leerer Flaschen, durch die man versucht hindurchzusehen.

»Du musst hier raus, aus deinem Heimatmuseum. Nachher im Schwimmbad, bei den Kiefern. Keine Widerrede.«

»Okay.«

»Es wird toll: Halbnackte Mädels, ich zum Beispiel. Dumme Sprüche, Sonnencreme, Eis. Mittendrin wir. Ich besetze ein Handtuch. Genau zwischen den Reihen. Du weißt schon.«

Ich wusste. Die Jungengruppe, Jürgen, Philp, der vor einiger Zeit ein »i« in seinem Namen eingebüßt hatte und alle die anderen lagen immer links am Zaun, die Mädchen rechts an der Kiefer.

»Ich mache mir nichts aus Schwimmen.«

»Wer spricht denn vom Schwimmen? Glotzen. Kannst ja vorher die Haare nass machen. Sieht sowieso cool aus, wenn die nassen Locken auf deine Schultern fallen.« Sie lächelte Strahlen. »Das tropft dann so, da könnte ich schon umfallen.«

Ich hatte ihr nichts entgegenzusetzen, und das gefiel mir. Sehr sogar.

»Also, abgemacht, und komm, so früh du kannst.«


Wir legten unsere Handtücher genau zwischen die beiden Gruppen, die Jungen am Zaun und die Mädchen an den Kiefern. Wir gehörten nicht zu ihnen, und das nicht nur, weil wir miteinander befreundet waren. »Der beste Platz. Gucken und beguckt werden!« Anna wedelte ihre Haare nach hinten, nachdem sie ihr T-Shirt ausgezogen hatte.

»Muss das wirklich sein?«

»Na klar. Hier kommt keiner vorbei, ohne dass wir es mitkriegen. Die müssen alle hier über unser Gebiet. Glienicker Brücke.«

»Was?«

»Glienicker Brücke ist das hier. Du weißt schon, die Brücke da in Berlin, über die die Agenten ausgetauscht werden. Alle müssen hier rüber.« Sie zog ihren Rock geschäftsmäßig aus, ließ das Badehosengummi auf die Haut schnappen und legte sich auf den Bauch. »Was meinst du, warum ich hier bin?«

»Dich interessiert das alles wirklich?« Ich legte mich nach hinten, auf die Ellenbogen gestützt.

»Aber sicher, das ist wie im Theater, du wirst sehen. Nur mit weniger Klamotten.«

»Und nasseren.«

»Jetzt hast du es.«

Anna setzte sich ihre schreckliche Sonnenbrille auf und blickte wieder nach links und rechts.

»Na, guck. Der dicke Manzini zieht sich auch nicht aus. So wie du!«

»Du hast gesagt, ich muss nicht.«

»Musste auch nicht. Hast ja mich dafür.«


Anna war besonders. Sie war nicht eine, die zu einer Gruppe gehörte oder einer Sippe wie ich. Sie war ungebunden, frei. Freier als alle, die ich kannte. Sie war nur da, mit ihrer Mutter und ihrem Vater. Das Haus war ein Neubau, gemietet, der Vater arbeitete beim Bundesgrenzschutz, sie waren oft umgezogen in den letzten Jahren. Anna war einzig. Einzige Tochter. Glanz ihrer kleinen Familie. Blondes Gelächter und Ziel vieler Augen. Auch meiner, sowieso. Musste ja jemand auf sie aufpassen, oder? Und sie ließ mich, warf ihre blonden Haare prüfend nach hinten, betrachtete mich wie einen Spiegel. Durch sie war ich in der Lage zu begreifen, dass Mädchen tatsächlich echt waren, handfest und nicht nur Traumbilder.

Als ich sie zum ersten Mal im Gemeinderaum sitzen sah, oben bei den Sofas, machte ich innerlich einen Sprung. Auf den sonnigen Straßen am Nachmittag war sie mir schon aufgefallen. Ihre Mähne, ihr lautes Lachen, ihre tief ausgeschnittenen Sommerkleider. Ich lernte bald mehr als nur Äußerliches über sie: Anna war ernster, lustiger, offener und wütender als die meisten. Lachte und schimpfte viel und gern, weinte, küsste, fasste einen am Arm, umarmte viele und auch mich. Auch beim ersten Treffen.

»Hey. Draußenmann.«

»Wieso Draußenmann?«

»Du wohnst doch da draußen, oder? Wie du heißt, weiß ich nicht.«

»Dann lassen wir es dabei. Anna? Du bist Anna, oder?«

Sie lachte, bejahte und zog Sommersprossen auf ihren Wangen zu Inseln zusammen. Fragte nicht, woher ich das wissen konnte, sondern nahm es als gegeben an, dass sie eine Attraktion war. Sie war wie eine Botin aus einer anderen Welt.

»Gut, Draußenmann.« Da war sie.

8

Ich begegnete Engellena Schmidt das erste Mal in einer osteuropäischen Stadt. Es war Zufall, wer hätte das alles ahnen können.

Eine Klassenreise kurz vor dem Abitur brachte viel Alkohol, ein wenig Auslandsbildung und viel Staunen über den Ostblock mit sich.

Sie gehörte zu einer Klasse aus der DDR, die im selben Hotel war, wir trafen uns zufällig mehrere Tage nacheinander auf dem Flur, sie blieb einmal an ihrer, dann ich einmal länger als nötig an meiner Zimmertür stehen, und hatte geguckt, sie einmal mehr als ich, bildete ich mir ein, bevor wir in unsere Zimmer gingen.

Und dann, eines Abends, als ich eigentlich meiner nach einem ausführlichen und dennoch spottbilligen Essen satten und angesäuselten Klasse über die nächste Straße hätte folgen müssen, da sprang die Fußgängerampel auf Rot um. Autos fuhren an, setzten ihren unterbrochenen mehrspurigen Strom fort. Engellena Schmidt trat zu mir an die Fahrbahnkante.

Ich sprach ein tonloses Hallo, sie ebenfalls. Wir guckten geradeaus. Ich seufzte, deutete erst mit dem Kopf, dann, größer, mit Hand und Arm meiner besoffen selig abrauschenden Klasse hinterher. Man wollte nach dem Gelage noch weiterziehen.

»Die sind weg.«

»Ja, das denke ich auch.«

»Ist eh nicht der Weg ins Hotel.«

»Nee, die gehen auch noch nicht ins Hotel, die gehen noch weiter.«

»Und du?«

»Ich weiß nicht.«

»Ist ganz leicht.«

»Was?«

»Na, der Weg ins Hotel.«

»Ja, hier am Ufer entlang, oder? Und dann über eine der Brücken.«

»Weißt du auch welche?«


Wir gingen zusammen, sie rechts, dahinter der Fluss, der golden blinkte, links von mir die Straße, also nichts. Wir liefen lange, wunderbar lange. Ich hielt ihre Hand fest, als sie auf der Mauer balancieren wollte. Ließ sie nicht mehr los. Dann balancierte ich, und sie hielt mich fest. Sie spielte mit meinen warmen Fingern. Wir bogen ein, auf eine der Inseln, die im Fluss lagen, als seien sie dort, mitten in der Stadt, eingefangen worden und mit einer Brücke ans Land vertäut. Ich zog sie an mich, wir küssten uns.

Engellena Schmidt war schmal und schön. Sie hatte dunkle, wehende, ein bisschen lockige Haare, die in die Augen fielen. Ein kleiner Sehfehler irritierte mich. Ein roter, spöttischer Mund. Im ersten Moment dachte ich, dass ihre kräftige dunkle Stimme gar nicht zu ihrem Äußeren passte.

Am nächsten Abend trafen wir uns wieder. Es war, als müsste es so sein. Verabredet hatten wir uns nicht. In dem Haus auf der Insel waren alle hohen Fenster erleuchtet. Musik schwebte mit dem goldenen und weißen Licht nach draußen. Engellena saß auf einer der Mauern am Fluss und schaute. Und ich kam dazu.

9

Heinrich Hebarth Neutonsen wünschte nicht, Opa genannt zu werden. Großvater, das hatte die Spannweite, die ihm gefiel. Großvater, das klang nach seiner eigenen Kindheit. Wir nannten ihn also Großvater, auch wenn er nur der übrig gebliebene Schwiegervater unserer Tante war. Aber sonst hatten Frerk und ich ja keinen mehr.

Sollte die Flut doch kommen, er würde gewappnet sein. Hunger und Durst, nicht mit ihm!