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Das Buch

Genau das hat Samuel gebraucht. Eine Spur in ein neues Leben. Als ihn aus Japan eine Postkarte erreicht, mit einer Glückskatze vorne drauf, kann er nicht anders, er packt seine Koffer. Das Leben des jungen Literaturprofessors ist in eine Sackgasse geraten, der Aufbruch kommt zur rechten Zeit. Am meisten interessiert ihn aber: Wer hat ihm diese Postkarte geschickt? Ein zauberhaftes Rätsel, das nur mit der Poesie eines Neuanfangs zu lösen ist.

Der Autor

Francesc Miralles ist ein Multitalent. Er macht Musik, schreibt, wurde vielfach ausgezeichnet und arbeitete einige Jahre als Indie-Verleger. Heute ist er in seiner Lieblingsstadt Barcelona zu Hause.

Francesc Miralles

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Aus dem Spanischen von

Maria Hoffmann-Dartevelle

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

List

Hoffnungsvoll zu reisen ist besser als anzukommen.

JAPANISCHES SPRICHWORT

Einleitung

Wir kommen aus dem Nichts, und ins Nichts kehren wir zurück. Dazwischen geschieht etwas. Und dieses Etwas nennen wir Leben.

Früher lag mir viel daran, diesen Funken zwischen der Dunkelheit vor uns und der nach uns in Zeit zu messen. Ich stellte mir das Leben vor wie einen mit mehr oder weniger Stunden, Monaten und Jahren gefüllten Sack. Der Gedanke, dass jede gelebte Minute eine Minute weniger ist, machte mir Angst. Dieser Countdown würde mich an einen Ort bringen, den ich nicht kenne und zu dem nichts mich drängt.

Ich hatte noch nicht begriffen, dass ein paar Sekunden intensiven Glücks tiefere Spuren in der Seele hinterlassen als ein ganzes Leben eintönigen Wartens.

Bis zum Alter von siebenunddreißig Jahren lebte ich in einem Gefängnis aus Einsamkeit, das ich mir Stein um Stein selbst errichtet hatte. Nachdem ich ringsherum die Mauern hochgezogen hatte, warf ich den Schlüssel weg, damit niemand hereinkonnte.

Doch eine Straßenkatze schaffte es, diesen Schlüssel zu finden, und brachte mich mit katzenhafter List dazu, der Welt die Türen wieder zu öffnen.

Seitdem lebe ich mit ihr – für Freunde: Mishima – und einigen merkwürdigen Reisegefährten auf meinem Weg durchs Leben.

In der Wohnung über mir, im Stadtteil Gracia in Barcelona, wohnt Titus, ein alter Redakteur, der Ratgeber schreibt und dem ich etwas zur Hand gehe, wenn meine Lehrtätigkeit an der Universität es mir erlaubt.

Es war Mishima, die mich zu Titus führte, und der brachte mich wieder mit Gabriela zusammen. Ich bin in sie verliebt, obwohl ich fast nichts über ihre Vergangenheit weiß und kaum etwas über ihre Gegenwart, wenn sie sie nicht gerade mit mir verbringt. Und da sie bisher nicht mit mir zusammenziehen wollte, spiele ich gezwungenermaßen den modernen Mann: ein Paar, zwei Wohnungen.

Eine Zeitlang hat Valdemar bei mir im Haus gewohnt, ein exzentrischer Physiker, der die verborgene Seite des Mondes erforschte. Eines schönen Tages verschwand er und hinterließ uns sein Teleskop, das er in Titus’ Küche aufgebaut hatte. Außerdem blieb uns ein Manuskript mit seinen Forschungsergebnissen und die große Leere, die Menschen hinterlassen, die uns etwas bedeutet haben.

Wenn Titus und ich melancholisch werden, bauen wir das Teleskop auf und schauen hoch zum Mond, als wäre Valdemar dorthin verschwunden und könnte uns jeden Moment zuwinken.

Eines Tages kommt er ganz bestimmt zurück zu uns, oder wir kommen zurück zu ihm, denn wir alle sind Zutaten des großen kosmischen Eintopfs, der immer auf dem Feuer steht.

Mit der Zeit habe ich begriffen, dass nicht die Einsamkeit, sondern andere Menschen einem helfen, sich selbst kennenzulernen. Hat man auf alles verzichtet, ist es ziemlich leicht, einen Berg zu besteigen und einfach nur darauf zu warten, dass die Tage vergehen. Richtig schwierig aber ist es – und darin liegt auch die ganz große Kunst –, mit jemandem eine Beziehung zu haben, der anders ist als man selbst. Unser Geschick auf diesem Gebiet ist die wichtigste Fertigkeit, die uns Menschen auszeichnet.

Ich muss wahrscheinlich immer noch viel lernen, da mich die Entscheidungen der Menschen um mich herum immer wieder und noch immer überraschen. »Um mich herum« ist ein ziemlich weit gefasster Begriff, wie sich am ersten Junimorgen zeigen sollte, als ich die Treppe hinunterging und meinen Briefkasten öffnete.

Vom Aussterben bedrohte Tierarten

An der Philologischen Fakultät war das Studienjahr zu Ende, und ich verbrachte die Zeit mit Programmbesprechungen, Klausurbetreuungen und ein paar Sprechstunden, zu denen nur selten jemand kam.

An jenem Dienstagmorgen saß ich in meinem Büro und schaute mir an, wie das sommerliche Licht durch die großen Fensterscheiben fiel und auf dem alten Schreibtisch eine Landschaft aus Kratzern und Staub beleuchtete. Plötzlich ertappte ich mich dabei, wie ich seufzte.

Seit meiner Promotion in Germanistik und dem Beginn meiner Tätigkeit als Dozent hatte sich zwischen den Wänden des wunderschönen altehrwürdigen Fakultätsgebäudes alles geändert. Von diesem Büro aus, in dem mich ein Stapel zu korrigierender Klausuren erwartete, hatte ich zuschauen müssen, wie der einst von mir selbst absolvierte Studiengang verschwand.

Der letzte Germanistikjahrgang hatte aus höchstens einem Dutzend Studenten bestanden, die quasi zur Familie gehörten.

Danach starb der Studiengang offiziell aus wie ein nutzloses, archaisches Tier, und ich wurde vom Fachbereich Anglistik übernommen.

Damit war ich selbst zu einer vom Aussterben bedrohten Art geworden.

Von meinen Literaturveranstaltungen war nur ein Doktorandenseminar übriggeblieben. Ansonsten brachte ich die Sprache Goethes jetzt Studenten bei, für die mein Fach die reinste Schinderei bedeutete. Deutsch ist wie eine Geliebte, die einen nur respektiert, wenn man ihr Ausschließlichkeit zugesteht. Als Nebenfach eines Anglistikstudenten kann es die Hölle sein. Die langen Listen der Substantive mit unregelmäßigen Pluralendungen und die vielen Deklinationen sind schwere Kost für jemanden, der sie nur ein- oder zweimal pro Woche zu sich nimmt.

Deshalb war ich seit dem Aussterben meines Studiengangs zum Dozenten einer Sprache geworden, die den jungen Leuten mehr Leiden als Befriedigung brachte.

Das einzig Gute daran, keine regulären Literaturstudenten mehr zu haben war, dass ich auch ihre Arbeiten nicht mehr bewerten musste. Denn im Google-Zeitalter ist das praktisch unmöglich geworden. Das Korrigieren eines Referats kommt heutzutage einer regelrechten Forschungsarbeit gleich, bei der es zu ermitteln gilt, wo der Student einfach mittels »Kopieren« und »Einfügen« abgekupfert hat.

Wenn ich im Hörsaal eine Klausur überwache, muss ich aufpassen wie ein Luchs, dass die Studenten nicht ihre zu unerschöpflichen Spickzetteln mutierten Smartphones benutzen.

Während mir all dies durch den Kopf ging, öffnete sich plötzlich die Bürotür, und ein blonder Lockenschopf bat um Einlass. Aus meinen nostalgischen Träumen eines 45-jäh­rigen Dozenten erwachend, schaute ich zu der jungen Frau hinüber, deren dreieckiges Gesicht mich an eine Katze erinnerte.

Sie war alt genug, um zu promovieren, aber ich hatte sie noch nie gesehen.

»Wen suchst du?«

»Ich weiß nicht.«

Sie kam näher und legte mir eine CD auf den Tisch. Das Cover zeigte einen Kreis, der mit einem durchgehenden Pinselstrich gemalt war, wie von einem Meister japanischer Kalligraphie.

Dass mir nach der geheimnisvollen Postkarte mit dem Maneki-neko ein Mädchen mit Katzengesicht eine CD mit einem japanischen Zeichen auf der Hülle brachte, hatte bestimmt etwas zu sagen. Leider hatte ich keine Ahnung, was genau.

»Ich wüsste gern, was der Text auf dieser CD bedeutet«, sagte sie mit sanfter, melodiöser Stimme. »Könnten Sie bitte mal reinhören, nur eine Minute?«

Sie zog einen alten Discman aus der Tasche, ein weiterer Vertreter einer ausgestorbenen Gattung. Während sie mir die Kopfhörer entgegenhielt, aus denen eine männliche Stimme schallte, schlüpfte ich in die Rolle des Germanistikdozenten, der keine Zeit zu verlieren hat.

»Damit musst du zur Escuela Oficial de Idiomas gehen«, riet ich ihr. »An dieser Universität wird kein Japanisch unterrichtet.«

»Es ist kein Japanisch«, entgegnete sie, »sondern eine tote Sprache, die ich gern verstehen würde. Oder zumindest wüsste ich gern, welche Sprache es ist …«

Verblüfft hielt ich mir die Kopfhörer ans Ohr. Von Gitarrenakkorden begleitet, sang ein junger Mann ein seltsam melancholisches Lied. Der Text war vollkommen unverständlich. Im ersten Moment klang er nicht nach einer semitischen Sprache. Auch nicht nach einer archaischen Sprache germanischen Ursprungs.

Die junge Frau mit den blonden Haaren wartete ungeduldig auf mein Urteil.

»Tut mir leid, aber ich muss dich enttäuschen«, sagte ich und gab ihr den Discman zurück. »Ich habe keine Ahnung, was …«

»Zuerst dachte ich, es sei Elbisch«, unterbrach sie mich und legte die CD auf meinen Schreibtisch, »aber ein Freund von mir, der gerade seine Doktorarbeit über Tolkien schreibt, meint, es hätte nichts damit zu tun.«

Da klingelte das Handy der Katzenfrau, was mir einen idealen Vorwand lieferte, um diese absurde Sprechstunde zu beenden. Ich stand auf und wollte die Frau verabschieden, doch sie drückte den Anruf weg.

»Ich vermute, es ist Atlantisch«, sagte sie.

Ich war perplex. Seit siebzehn Jahren arbeitete ich nun an der Uni und war noch nie mit einer so ungewöhnlichen Angelegenheit konfrontiert worden. Doch jetzt gewann meine Schwäche für Raritäten die Oberhand über die Vernunft.

»Wie kommst du darauf, dass es Atlantisch ist?«, wollte ich wissen.

Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, wurde mir klar, wie absurd und lächerlich sie aus dem Mund eines Universitätsdozenten klang. Über Atlantis gibt es nur ein paar vage Andeutungen bei Platon. Von einer dazugehörigen Sprache hatte ich eigentlich noch nie gehört.

Gerade wollte ich der jungen Frau ihre CD zurückgeben, als erneut ihr Handy klingelte. Wütend schaute sie auf das Display, und diesmal ging sie dran, als wäre sie zu Hause und nicht in einem Universitätsbüro.

»Ich habe dir doch gesagt, ich will nichts mehr von dir wissen. Rede ich vielleicht nicht deutlich genug?«

Aus dem ärgerlichen Gesichtsausdruck der Katzenfrau schloss ich, dass der Mensch am anderen Ende der Leitung nicht klein beigab. Sie antwortete in schroffem Ton und bewegte sich dabei Richtung Ausgang. Auf dem Flur angekommen, winkte sie mir kurz zum Abschied und schloss die Tür.

Verwundert über das Vorgefallene blieb ich eine Weile am Fenster stehen. Da flog kreischend eine riesige Möwe mit ausgebreiteten Flügeln vorbei.

Als ich wieder zum Tisch schaute, erschrak ich leicht. Neben den noch unkorrigierten Klausuren lag die CD mit dem fremdsprachigen Liedtext. Ich lief zur Tür, aber die junge Frau mit dem lockigen Haar war nicht mehr zu sehen.

Der Flur war wieder leer, genauso leer wie die Regalfächer für Atlantisch.

Eine leuchtende Musik, die dein Innerstes in Ordnung bringt

Lieber Freund,

ich fühle mich geschmeichelt, dass ein Universitätsdozent wie Sie (auch ich habe recherchiert und Ihre Mailadresse an der Uni gefunden, die ist mir lieber als Facebook) meine CD hört und sich dafür interessiert.

Mir ist klar, dass die Klangqualität nicht besonders ist. Ich wollte die Lieder einfach mal aufnehmen, bevor ich sie vergesse. All die Stücke, die ich komponiert habe, passen schon gar nicht mehr in meinen Kopf. Beim Aufnehmen hatte ich dann das Gefühl, dass ich ein erstes Demo machen kann.

Trotz des mäßigen Sounds haben die Lieder, glaube ich, nicht an Qualität verloren. Sie folgen außerdem einem einheitlichen Muster: immer Solostimme zu Gitarre. Ohne Vorbereitung und in einem durch. Es kann natürlich sein, dass diese Einheitlichkeit beim Zuhören monoton wirkt.

Was die Sprache betrifft: Es gibt gar keine, nur improvisierten Gesang. Die Melodie bleibt gleich, aber der Klang der Stimme ändert sich und wiederholt sich nie. So kann ich spontan Musik machen und ausdrücken, was ich in einem konkreten Moment empfinde. Seltsam, aber irgendwie glaube ich, dass der Zuhörer diese Unmittelbarkeit spürt.

Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mit dieser Art des Singens Gefühle ausdrücken kann, die ich unmöglich in Worte fassen könnte. Bei meinen musikalischen Gurus habe ich immer ihr Leuchten und die spirituelle Kraft ihrer Musik bewundert. Eine leuchtende Musik, die dein Innerstes in Ordnung bringt, die einen Ort des Wohlgefühls schafft, die dir Kraft gibt, dir Mut und Hoffnung macht.

Sollte es mir eines Tages gelingen, diese Dinge weiterzugeben, werde ich mein Ziel erreicht haben.

Ich sage gern, dass man mich in keinem einzigen Land versteht, im Grunde aber kann mich jeder verstehen. Das Ganze hat etwas Universelles.

Andererseits findet eine Art Auflösung des Ich statt. Ich glaube, bei der Entstehung unserer Identität spielt unsere Sprache eine wesentliche Rolle. Wir benutzen sie, um uns selbst zu denken.

Dagegen habe ich, wenn ich singe, nicht das Gefühl, dass der, der da singt, ich selbst bin. Vielmehr empfinde ich eine Art Leere. Niemand ist da. Oder vielleicht ist es genau umgekehrt: Wenn ich singe, bin ich noch mehr ich selbst als sonst. Und zwar dadurch, dass ich mir eine eigene Sprache schaffe, eine Sprache, die sich laufend verändert, wie die Wirklichkeit.

Ich bin ein großer Fan von Nietzsche, Wittgenstein und Foucault und deren Sprachforschungen. Davon, wie die Sprache unsere Art, zu sehen und die Welt zu begreifen, determiniert.

Aber das alles sind nur Worte. Haarspalterei, ich weiß. Wichtig ist die Musik und die Tatsache, dass ich beim Singen einem natürlichen, spontanen Impuls folge. Ich glaube, diese Art zu singen entspringt einem naiven, unschuldigen Gemüt.

Schon als Kind habe ich abends im Bett so gesungen. Ich schlief mit meinem Bruder im selben Zimmer, auf der oberen Etage eines Stockbetts. Er schlief immer sofort ein, und da fing ich an, im Dunkeln zu singen. Keine Ahnung, was ich da sang. Ich war eben ein Kind und hatte noch keine Platten oder irgendwelche Lieblingssongs. Ich habe einfach nur gesungen.

Aber es heißt ja, beim Kind gehört die Unschuld zur Grundausstattung, während Erwachsene sie mühsam zurückgewinnen müssen. Ich weiß nicht, ob ich mir diese Unschuld erhalten oder sie wiedergefunden habe oder vielleicht nur glaube, dass ich sie besäße.

Nun ja, wie Sie sehen, rede ich liebend gern über dieses Thema. Ich bin dann nicht mehr zu bremsen. Und über Musik habe ich im Endeffekt kaum etwas gesagt.

Ganz herzliche Grüße und bis bald!

DANIEL LUMBRERAS

Liebesarchäologie

Es war vier Uhr morgens, und ich hatte noch immer nicht reagiert. Ich lag in der Badewanne, das Wasser war abgekühlt, und meine Gedanken wanderten zwischen Gabrielas Anruf und der langen, tiefschürfenden E-Mail hin und her.

Zu oft im Leben laufen die Dinge anders, als man denkt. Ich hatte mit Ärger wegen der zerbrochenen Vase gerechnet, stattdessen war unsere Beziehung in die Brüche gegangen, zumindest vorläufig. Ich dachte, meine Frage an den atlantischen Liedermacher würde mit Schweigen oder höchstens ein paar kurzen Zeilen beantwortet, stattdessen hatte ich einen Brief erhalten, den ich in den folgenden Tagen noch oft lesen würde.

Der Lauf der Dinge ist unvorhersehbar, aber weise Menschen betonen immer wieder, alles geschehe zu seiner Zeit. Und das ist besonders beunruhigend. Ich verstand nicht, warum Gabriela nach acht Jahren ausgerechnet jetzt den Untergang unser beider Atlantis ausgelöst hatte.

Während ich die Tatsache zu ignorieren versuchte, dass ich vor Kälte zitterte, rekapitulierte ich den Verlauf unserer Beziehung, um zu begreifen, wie es so weit gekommen war. So weit, dass Gabriela nicht mehr von einer Arbeitsreise zurückkehrte, die nur ein paar Wochen dauern sollte.

Unsere Beziehung hatte merkwürdig und zugleich spannend begonnen. Gabriela kannte ich schon, als wir noch Kinder waren. Mit über 35 waren wir uns wieder begegnet und nach ein paar Monaten der Unschlüssigkeit schließlich zusammengekommen. Zweieinhalb Jahrzehnte, in denen keiner etwas vom anderen wusste, liefern eine Menge Stoff für Gespräche, und bei allen Paaren folgen diese Gespräche am Beginn der Beziehung einem ganz bestimmten Drehbuch.

Zuerst vögelt man wie verrückt, dann beginnt die Phase der Liebesarchäologie: Jeder fühlt sich verpflichtet, die eigene amouröse Vorgeschichte aufzurollen, und erklärt dem an­deren, warum seine bisherigen Beziehungen gescheitert sind. Das mag langweilig werden, vor allem am Anfang, wo beide an nichts anderes denken, als sich aufeinanderzustürzen. Aber es ist ein zuverlässiger Gesprächsstoff, wenn man im Park spazieren geht, gemeinsam im Restaurant sitzt oder nach einer Liebesnacht den Tag im Bett verbringt.

Irgendwie ist es reizvoll, zu erfahren, was den anderen zu Bettgenossen hingezogen hat, die ganz anders waren als man selbst. Auch will man wissen, was in früheren Beziehungen schiefgelaufen ist, um nicht die gleichen Fehler zu machen. Man ist verliebt und wünscht sich, dass das, was man mit dem anderen aufbaut, hält.

In dieser Anfangsphase hatte ich nicht viel zu erzählen, da ich mehr platonische als echte Liebesgeschichten erlebt hatte. Und mit über dreißig dann nicht mal mehr platonische. Ich hatte mich in meinen Bunker zurückgezogen und die ganze Welt zum Feindgebiet erklärt.

Gabriela dagegen erzählte mir von den drei Beziehungen, die sie wichtig fand. Alle anderen waren, so dachte ich mir, nur »Affären« gewesen. Sie ging nicht allzu sehr ins Detail, da sie fest entschlossen war, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Für sie war die Vergangenheit offenbar nicht der Stoff, aus dem wir Menschen gemacht sind, sondern irgendein radio­aktives Material, das man in tiefsten Tiefen vergraben muss.

Besonders ungern sprach sie über die Jahre, in denen sie in Japan gelebt hatte. Sie hatte in Osaka Englisch unterrichtet, und wenn sie nicht mit ihren Schülern zusammen gewesen war, hatte sie die Zeit damit verbracht, in ihrem Zimmer Erzählbände auf Englisch zu lesen.

Irgendetwas Schlimmes musste in Japan passiert sein, sonst hätte sie nicht von einem Tag auf den anderen beschlossen zurückzukehren. Die Gründe dafür aber behielt sie für sich. Sie wollte einfach nicht darüber reden.

Doch zurück zur Liebesarchäologie. Wenn die Phase vorüber ist, in der man sich garantiert Geschichten zu erzählen hat, beginnt die eigentliche Herausforderung. Das Paar kann sich nun nicht mehr auf die Miseren der Vergangenheit stützen, jetzt zählt nur noch die Gegenwart, die im täglichen Einerlei und oft ohne große Höhepunkte dahinfließt.

Jetzt macht man den anderen nicht mehr damit scharf, dass man ihm beschreibt, wie man es damals mit einer Mitschülerin zwischen zwei Autos getrieben hat, jetzt resümiert man seinen Arbeitstag für ihn. Anfangs ist das vielleicht noch amüsant, weil der andere die Akteure des kleinen Dramas, das tagtäglich im Job gespielt wird, noch nicht kennt. Wenn sich die Serie aber hundert- oder tausendmal wiederholt, wird das Ganze allmählich langweilig.

Dauernd tauchen dieselben Probleme auf, und die Ratschläge, die man seinem Partner oder seiner Partnerin gibt, sind auch immer dieselben.

An diesem Punkt beginnt die Faszination, der Brennstoff für das Feuer der Liebe, zu versiegen.

Der Tempel des goldenen Pavillons

Ich erwachte vor neun Uhr morgens, und ein noch bittereres Gefühl als im Morgengrauen überkam mich.

In der nächtlichen Verwirrung war mir mein Drama wie ein Alptraum oder Alkoholdelirium vorgekommen, obwohl ich nicht einen einzigen Schluck getrunken hatte. Ich hatte mich berechtigt gefühlt, mit dem Engel des Films zu verschmelzen, während die Menschheit einem neuen Tag entgegenschlief.

Im aggressiven Morgenlicht aber blieb mir nicht anderes übrig, als zu erkennen, was aus mir geworden war: ein wider Willen einsamer Mann.

Während ich mich rasierte, um zur Uni zu gehen, obwohl ich an diesem Morgen keine Klausurbetreuung und keine Sprechstunde hatte, betrachtete ich im Spiegel die grauen Haare, die mittlerweile den Kampf gegen die schwarzen gewonnen hatten. Auch die Schwellungen unter meinen Augen traten deutlich hervor, was allerdings auch an den nächtlichen Tränen liegen konnte.

»Vielleicht solltest du sie anrufen und dich erkundigen, wie es ihr geht«, sagte ich mir, während ich mir das Gesicht mit Rasierwasser einrieb. »Es heißt ja, dem, der verlässt, geht es schlechter als dem, der verlassen wird.«

Passend zu meiner seelischen Verfassung kleidete ich mich von Kopf bis Fuß in Schwarz und schleppte mich zur Tür wie ein verwundetes Tier. Ich war schon halb draußen, da entdeckte ich unter meinen Füßen eine zweite Postkarte.

Vermutlich hatte der Briefträger, der mit irgendeinem Paket zu Titus hoch musste, sie frühmorgens vor meine Tür gelegt.

Auf der Ansichtsseite war ein zierlicher orientalischer Tempel inmitten einer Gebirgslandschaft zu sehen. Sofort begriff ich, dass die Karte vom selben Absender stammen musste wie die mit der Katze, die mir so viel Pech gebracht hatte.

Briefmarke und Stempel waren japanisch, aber in einer Ecke war in lateinischer Schrift vermerkt, dass das Foto den Tempel des goldenen Pavillons in Kyoto zeigt. Und genau wie auf der ersten Postkarte waren mein Name und meine Adresse sorgfältig mit einem Füllfederhalter geschrieben worden.

Ich fand es sehr verwirrend, nicht zu wissen, wer um alles in der Welt mir diese Karten schickte, zumal ich noch nie in Japan gewesen war. Doch am meisten beunruhigte mich der Teil der Karte, der für eine Nachricht bestimmt war.

Er war vollkommen leer.