Ich wusste, was ich diesen Sonntag versäumt hatte: mir ein Eis zu kaufen nämlich. Mittlerweile war es bereits dunkel geworden. Kein Wunder – am ersten September, dem meteorologischen Herbstbeginn, wurde es in Berlin-Charlottenburg nach 20 Uhr gerne mal dunkel. Aber »Eis Conny«, die kleine Eisdiele nebenan, würde mir helfen. Wie jeden Sommer hatte ich auch in diesem Jahr so viele Stunden vor dem Geschäft gesessen, dass ich recht genau sagen konnte, wie Conny sein längst überfälliges Coming-out bewältigt hatte, und wie viele Eiskugeln zum Bezirzen seines neuen Freundes notwendig gewesen waren.
Wenn ich heute Glück hatte, würde Waltraut, Connys resolute Mutter, nicht da sein, die mich seit dem ersten Frühlingshauch über alle Fürs und Widers ihrer Totaloperation und die sich daraus ergebenden Folgen für ihre Ehe mit Günther informierte.
Allerdings wurde mir nicht nur das erhoffte Glück zuteil. Zugegeben, Waltraut war tatsächlich nicht da, aber Connys Eisdiele war ebenfalls abgeschlossen. Innen am Schaufenster klebte ein Zettel: »Danke euch allen für den schönen Sommer. Ab September schließen wir abends wieder um acht. Man sieht sich. Euer Conny.«
Enttäuscht drehte ich mich um. Plötzlich war ich von dickem weißen Nebel umgeben. Aus einer unbestimmbaren Richtung schien es sogar zu zischen. Eine Nebelmaschine? Aber wer sollte so ein Ungetüm bei Anbruch der Nacht auf einen Kirchplatz schleppen?
Ein Mann löste sich aus dem Nebel und kam auf mich zu. Klein und untersetzt, blass geschminkt, mit auffälliger, parfümiert riechender Perücke und einem übergroßen Orden an seiner Jacke.
»Seid Ihr Herr Kohr?«, fragte er. Seine Stimme klang irgendwie staubig.
»Ja?«, staubte ich unsicher zurück,
»Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach heiße ich. Nach mir ist dieser Platz benannt, und Euch suche ich.«
Tatsächlich war auf einer kleinen Tafel an einer Straßenecke zu lesen, dass der Karl-August-Platz nach einem gleichnamigen Großherzog benannt war. Da stand aber auch, dass der Herzog von 1757 bis 1828 lebte, und demzufolge heute Abend eigentlich tot sein müsste.
»Ja?«, wiederholte ich deshalb noch einmal.
»Ich habe eine Aufgabe für Euch, die da lautet: Wer drei Proben kann bestehen/ Wird den Glöckner vom Kirchplatz sehen!«
»Gerne. Es ist nur so, dass … ääh …«, versuchte ich eine gehaltvolle Antwort. »Und morgen Vormittag habe ich auch noch einen Termin beim Friseur.«
»Schweigt!«, herrschte der Herzog mich an. »Mein halbes Leben war ich Regent bei den Illuminaten! Wollt Ihr Euch gegen mich stellen?«
Zwar wusste ich nichts über die Illuminaten, aber andererseits wusste ich auch kaum etwas über die Scientologen, und würde mich trotzdem nur ungern mit Tom Cruise anlegen.
»Na gut«, lenkte ich ein. »Wo finde ich den Mann? Oder die erste Probe?«
Der Großherzog hob den linken Arm und wies auf die Kirche. »Am Eingang findet Ihr Antwort.« Dann verschwand er wieder im Nebel, wobei er lachte wie Vincent Price mit schwerer Bronchitis.
Am Eingang saß vor allem ein dicker Mann mit einem Tetrapak Billigwein in der Hand.
»Sind Sie eventuell der Glöckner?«
»Seh’ ich so aus?«
»Nein.«
»Kannst Lambrusco-Schorsch zu mir sagen. Auf der linken Seite gibt es ein zerbrochenes Fenster. Da steigst du ein, und dann wirst du schon sehen. Und jetzt gib mir ein bisschen Geld, damit ich nicht mehr diesen Verschnitt saufen muss!«
Tatsächlich: Halb von Efeu verborgen war da ein Fenster, das aus der Verankerung gerissen war. Dahinter war Chorgesang zu hören. Wenn das die erste Probe sein sollte, war sie immerhin recht einfach. Ich zwängte mich durch das Fenster.
Ich wusste immer noch, was ich diesen Sonntag versäumt hatte: Mir ein Eis zu kaufen nämlich. Doch stattdessen hatte mir ein vor knapp 200 Jahren verstorbener Großherzog aufgetragen, den Glöckner vom Karl-August-Platz zu finden, und nun war ich gerade dabei, mich durch ein zerbrochenes Fenster in die Kirche zu quetschen. Von innen hörte ich einen Knabenchor proben, was mir durchaus in den Kram passte, da ich noch nie ein besonders leiser durch-zerbrochene-Fenster-Quetscher gewesen war. Immerhin kam ich mit zwei Schnittwunden an den Händen davon, und den Sturz in den dunklen Raum dahinter fing ich lässig mit dem Gesicht ab. Während ich den Zustand meiner Schneidezähne kontrollierte, stellten sich mir gleich zwei Fragen.
Erstens: Wieso probte der Knabenchor seine christlichen Lieder zu einer für Kinder so deutlich unchristlichen Zeit? Und warum sangen die Burschen seit mindestens 30 Sekunden unablässig »Ein Schiff, das sich Gemei-ei-ei-ei-ei«?
Die Antwort kam wie auf Stichwort aus dem Nebenzimmer. »Och nein, nicht schon wieder!«
Neugierig geworden, öffnete ich die Tür. Dahinter befand sich ein kleiner Saal voller Stühle, die vor einer niedrigen Bühne standen. Er war leer bis auf einen Mann, der mit einer Hand in seiner ohnehin kaum als Frisur zu erkennenden Frisur herumwühlte, während die andere Hand an einem CD-Player verschiedene Knöpfe drückte. »Diese blöde CD! Immer hängt sie fest!«. Entschlossen riss er das Kabel aus der Wand. Das »ei-ei-ei« erstarb. Dann entdeckte er mich.
»Was wollen Sie denn hier?«
»Ich bin einer, der den Glöckner sucht. Sind Sie das vielleicht?«
Er schüttelte traurig den Kopf.
»Ich bin nur ein einsamer Chorleiter, dem seine Sänger abhanden gekommen sind. Kennen Sie noch Jungs, die zum Kirchenchor gehen? Spätestens seit es im Fernsehen auch für Kinder diese Casting-Shows gibt, interessiert sich kein Mensch mehr für das, was ich mache. Mittlerweile sind mir meine Sachmittel erheblich gekürzt worden.« Er wies auf den CD-Player. Darauf lag eine verbogene Stimmgabel. »Die kann man nicht mehr benutzen. Und meinen Taktstock musste ich eigenhändig mit Tesafilm flicken!«
Plötzlich zog ein Hauch von Trotz über das Gesicht des traurigen Mannes. »Weil ich noch ein wenig Hoffnung habe, lege ich trotzdem jeden Sonntagabend hier eine CD ein. Das mit den Castings kann doch nicht ewig so weitergehen. Wenn’s vorbei ist, werde ich noch hier sein!«
Was kann man da tun? Ich entschied mich, mitfühlend zu lächeln.
»Können Sie für mich singen?«, fragte der Chorleiter. »Es wäre so schön, hier wieder eine menschliche Stimme zu hören.«
Gerade wollte ich abwinken, als ich erkannte: Das hier war gewiss die zweite der insgesamt drei Aufgaben, die mich zum Glöckner führen würden. Also räusperte ich mich, und begann mit einem Medley:
»Es geht eine helle Flöte«, »Der Mond ist aufgegangen«, »Bunt sind schon die Wälder«, »God Save the Queen«, »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei«, »Die Caprifischer«, »Schmidtchen Schleicher«, »Ein bisschen Frieden«, »Yesterday«.
Dann reichte es mir. Fragend schaute ich den Chorleiter an.
»Und? Habe ich die Probe bestanden?«
»Keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Wo ist der Glöckner?«
»Habe ich heute nicht gesehen. Aber vielleicht fragen Sie mal den Sigristen. Der müsste irgendwo da oben sein.«
Er zeigte auf eine Türeinfassung. Dahinter waren einige Treppenstufen zu sehen, die sich im Dunkeln verloren. Wenn ich richtig sah, tummelten sich winzige Mäuse darauf. Oder waren es riesige Kakerlaken?
»Ich geh dann mal …« Meine Stimme klang rau, als ich die erste Stufe erklomm.
»Wer eine Treppe hochläuft, stirbt.« So sagen es jedenfalls die Helden in Wes Cravens Horrorstreifen »Scream« von 1997, und der weitere Film zeigt, dass sie recht behalten.
Ich stieg trotzdem eine Treppe hoch. Immerhin war ich auf der Suche nach dem Glöckner vom Karl-August-Platz, und ein seltsamer Chorleiter hatte mir den Hinweis gegeben, dass der Sigrist im Kirchturm mir helfen könnte.
War es in Kirchtürmen eigentlich immer so dunkel? Je weiter ich mich von den Glühbirnen am Fuß der Treppe entfernte, und je häufiger ich auf Insekten trat, die unangenehm krachend zerbrachen, desto mehr fragte ich mich: Kannte ich diese Situation nicht aus »Der Exorzist«? Oder aus »Nightmare on Elm Street, Teil 5«? Oder hatte ich einfach zu viele Horrorfilme gesehen?
Noch bevor ich den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, blieb ich abrupt stehen. Aus dem Dunkel löste sich eine Gestalt. Sie trug einen geblümten Kittel aus Synthetik, eine schlecht sitzende blonde Perücke und schwenkte vor der Brust eine kurzstielige Schaufel, die in der Mitte ein großes Loch hatte. Die Gestalt sah aus wie die höchst unoriginelle Karikatur einer polnischen Putzfrau.
»Schaufel kaputt«, radebrechte sie. »Deshalb viel Schmutz!«
»Guten Abend.« Ich bemühte mich, mir den Schreck nicht anmerken zu lassen. »Können Sie mir sagen, wo der Sigrist ist?«
»Nix viel Deutsch«, jammerte die Frau.
Mit einem großzügig bemessenen Achselzucken stieg ich weiter die Treppe hoch.
»Oder sind Sie vielleicht Knud Kohr?« Binnen Sekunden hatten sich die Deutschkenntnisse der Putzfrau dramatisch verbessert.
»Ja, bin ich.«
Sie griff hinter sich und schaltete das Licht im Turm an. »Verzeihen Sie dieses seltsame Bühnenbild. Die Kakerlaken sind übrigens aus Plastik.« Dann kam sie bis auf meine Stufe.
»Roland! Kommst du mal kurz runter?!«, rief sie nach oben.
»Äähh?«, versuchte ich die Ereignisse um mich herum zusammenzufassen.
Die Putzfrau zog sich mit einem Ruck die Perücke vom Kopf, und auch der Putzkittel lag Sekunden später auf dem Boden. Darunter trug sie eine Kurzhaarfrisur und Jeans zum Sweatshirt.
»Entschuldigen Sie bitte dieses Gastarbeiter-Gestammel, aber das steht so im Skript von unserem Texter.«
»Im Skript?« Vorsichtig sah ich mich um. Wollte man mich hier etwa zum Opfer einer Fernsehshow mit versteckter Kamera machen?
»Letzten Januar habe ich die staatliche Schauspielschule abgeschlossen«, fuhr sie fort. »Aber bei der derzeitigen Haushaltslage muss man froh über jeden Job sein. Kennen Sie eine einzige Putzfrau, die noch so aussieht? Ich glaube fast, dass unser Texter da einen Fetisch hat. Ey, Roland, muss ich dich tragen kommen?!«
»Was ist denn los, Vanessa?« Wieder kam eine Gestalt aus dem Dunkeln. Diese hier trug vollständig schwarze Arbeitskleidung, dazu ein Hemd mit zu engem Kragen. Aus einem Mundwinkel rann Blut, und sein rechtes Auge pendelte an einem Stück Sehne über seinem Mundwinkel.
»Du rätst nie, wen ich hier habe, Roland. Das ist Knud Kohr.«
Der Sigrist nickte so heftig, dass sein ausgerissenes Auge fröhlich übers Gesicht rollte.
»Ist ja ein Ding. Wir suchen dich seit Wochen. Ich darf doch Knud sagen?«
Mittlerweile war mir alles egal. Diesmal zuckte ich derart die Achseln, dass ich mir um ein Haar eine Ohrläppchenquetschung zugezogen hätte.
»Wir würden nämlich gerne deine Meinung hören«, sagte Vanessa. »Vielleicht haben wir sogar einen Job für dich.«
»Jetzt gehen wir aber erst mal zum Glöckner.« Im Laufen zog sich der seine Maske vom Gesicht. Ich trabte einfach hinterher. Wenn das hier eine Probe sein sollte, war es eine ziemlich surreale.
Noch immer war ich an diesem Abend auf der Suche nach dem Glöckner vom Karl-August-Platz. Mittlerweile hatte ich die Bekanntschaft von Vanessa und Roland gemacht, zwei Schauspielern, die als Putzfrau beziehungsweise als verstümmelter Sigrist verkleidet waren und zu wissen schienen, dass der Glöckner sich in einer Kammer am oberen Ende der Kirchturmtreppe befand.
»Nicht erschrecken, Torben!«, rief der Sigrist, als er die laut knarrende Tür aufdrückte.
»Was ist denn …«, stammelte der Mann dahinter. Er trug eine Art grauen Kartoffelsack, in den Löcher für die Arme und den Kopf hineingeschnitten waren. Bislang hatte mir nie jemand gesagt, was ein »härenes Gewand« ist. Vor allem deshalb, weil ich nie jemanden gefragt hatte, aber so stellte ich mir eines vor. Wenn Torben der Glöckner war, wurde der Gesamteindruck allerdings empfindlich dadurch gestört, dass er immer noch dieselbe Perücke trug, mit der er sich mir vorhin als Großherzog Karl August vorgestellt hatte. Hektisch riss er sie vom Kopf. Dabei rutschte ihm hinten ein Kissen aus dem Gewand, das vermutlich einen Buckel hätte darstellen sollen.
Außerdem befanden sich zwei weitere Männer im Raum. In einer Ecke versuchte sich Lambrusco-Schorsch hinter einem spanischen Reiter zu verstecken. Dafür war er aber deutlich zu dick, und zudem hielt der seinen Tetrapak Wein in der Aufregung so schräg, dass der Inhalt auf den Boden pladderte.
Vanessa versuchte die Flucht nach vorn: »Georg kennst du ja schon. Und Konstantin auch«, sagte sie und zeigte auf den dritten Mann, der peinlich berührt in die Ecke sah.
»Der Herr Chorleiter!«, grüßte ich.
Oben in der Kammer hingen die drei Glocken der Kirche. Plötzlich bewegte sich der Klöppel der größten ein Stück. Es schlug zur halben Stunde – völlig ohne Glöckner.
»Knud, du fragst dich wahrscheinlich, was hier los ist.«
Augenscheinlich hatte sich Torben wieder gefangen.
»Wir kennen uns alle von der Schauspielschule. Als wir unsere Jobsuche auf die Schweiz ausdehnten, fanden wir deine Kolumne in der Basler Zeitung.«
»Wir haben uns überlegt«, übernahm Vanessa, »dass wir hier am Platz vielleicht für Touristen einige der Heldengeschichten nachspielen könnten. Und dann kam uns die Idee, dass eine Gruselgeschichte einträglicher wäre.«
»Der Glöckner vom Karl-August-Platz«, auch Konstantin fand seine Stimme wieder.
»Genau«, fuhr Torben fort. »Seitdem machen wir hier am Sonntagabend Stellproben. Und heute Abend läufst du mir einfach über den Weg. In den nächsten Tagen hätten wir uns sowieso bei dir gemeldet.«
»Warum?« Ich verstand gar nichts mehr.
»Na ja. Als Ratgeber sozusagen. Um Erlaubnis fragen wollten wir natürlich auch.«
»Und vielleicht«, Georg beendete den Kampf mit seinem Tetrapak, indem er ihn entschlossen leerte, »könntest du ja auch als Erzähler bei uns mitmachen. Auf halber Strecke stehst du unter einem Baum und liest ein paar von deinen Geschichten vor. Dann dauert die Sache länger, und wir können mehr Geld verlangen.«
Das war deutlich zu dreist. Kopfschüttelnd verließ ich den Raum und stieg die Treppe hinab. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges. Rund um die Kirche war es Nacht geworden. Der Mond stand hoch und voll am Himmel. Obwohl mir kalt wurde, setzte ich mich an die Stelle, an der ich vorhin Lambrusco-Schorsch und seinen Tetrapak getroffen hatte. Rund um den Platz war kaum noch ein Fenster erleuchtet. Wahrscheinlich lagen die meisten Helden schon in ihren Betten und träumten neuen Taten entgegen. Und dort im Mondschein wurde mir klar, dass sie einen Berichterstatter wie mich eigentlich gar nicht mehr brauchten.
Für Susann Sitzler. Für alles, was war. Und alles, was sein wird.
Für Christian Winter, der zum Kirchplatz gehört wie das Glockenläuten
Meine Ermittlungen zum Thema »Helden wie ihr« begannen an einem Sonnabend vor dem Schaufenster von Serbia Tourist in Berlin-Charlottenburg. Anfangs hatte ich selbst keine Ahnung, dass ich ermittelte. Auf dem Zettel stand, dass schräg über dem Reisebüro ab sofort eine Wohnung frei wäre. Da ich schon seit Längerem eine neue Bleibe suchte, ließ ich mir sofort den Schlüssel für eine Besichtigung geben.
Schlüsselverwalterin war Sanja, die Serbin aus dem Reisebüro. Keine Ahnung, ob sie eine Heldin war. Aber als ich den Schlüssel erst nach einer Stunde zurückbrachte, bedachte sie mich mit einem strengen Blick, der mir auf den Magen schlug wie ein serbischer Räuberspieß mit scharfen Zwiebeln. Doch kaum signalisierte ich Interesse an der Wohnung, hatte Sanja den Telefonhörer in der Hand und vereinbarte mit dem Hausbesitzer binnen Minuten einen Vorstellungstermin drei Tage später.
Ob mein neuer Vermieter ein Held war, kann ich auch nicht genau sagen. Vermutlich aber schon: Immerhin war er beim Vorstellungsgespräch 90 Jahre alt. Er hatte in Ostpreußen bereits das Ende des Kaiserreichs erlebt und die Weimarer Republik. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war er über irgendeine zugefrorene Bucht oder Nehrung nach Berlin geflohen und hatte es zu sechs Mietshäusern gebracht, die er seitdem mit eiserner Faust verwaltete. Ob er sich selbst als Held sah, konnte ich jedoch nicht ermitteln, weil der geldgierige Kerl es vorzog zu versterben, bevor er auch nur den maroden Holzboden in meiner Küche reparieren ließ. Aber immerhin ließ er mich vor seinem Urnenbegräbnis noch einen Mietvertrag unterzeichnen.
Man kann also sagen, dass ich keine Ahnung von Heldentum hatte, als ich meine neue Wohnung fand. Natürlich wusste ich all die Sachen, die man eben so weiß, wenn man 1966 zur Welt gekommen ist: Wann man den Henrystutzen benutzt, und wann man sich lieber auf den Bärentöter verlässt zum Beispiel. Oder wie Hermann der Cherusker ein paar römische Legionen im Teutoburger Wald dem Erdboden gleichmachte. Und ich wusste schon vor dem affektierten Hollywoodschinken »300«, warum König Leonidas und seine Spartaner gegen die Perser zur größten Schlacht aller Zeiten antraten. Aber ansonsten überließ ich das Reden und Schreiben über Heldentaten vor allem Nachrichtensprechern und Sportreportern, den Mitarbeitern von Boulevardzeitungen, dem Nobelpreiskomitee, den Ärzten ohne Grenzen und anderen Menschen, die in regelmäßigen Abständen Preise für Heldentum verteilen. Dabei blieb es über Jahrzehnte. Ich machte also keine großen Unterschiede, was das Heldentum des spartanischen König Leonidas anging oder das der netten Frau Helga, die trotz ihrer 88 Jahre wacker für ihre zwei Jahre ältere Schwester eine Niere spendete. Oder das des Profifußballers, der in einem wichtigen Spiel meines Lieblingsclubs Werder Bremen den Ausgleichstreffer in der 88. Minute erzielte. Das alles waren Helden. Irgendwie. Auf ihre Art.
Ein paar Wochen später zog ich gemeinsam mit meiner Freundin in die neue Wohnung ein. Obwohl gerade Anfang Februar war und es kräftig fror, standen wir in der ersten Zeit gern in der geöffneten Glastür zu der zwei Quadratmeter großen Zumutung, die aus unerfindlichen Gründen »French balcony« genannt wird. Vermutlich hatten die Engländer sie so getauft, um sich an Frankreich für den Hundertjährigen Krieg zu revanchieren. Es handelt sich um ein Stück Balkon, auf dem man weder in Ruhe sitzen noch stehen kann, der aber groß genug ist, um sich wie Leonardo di Caprio und Kate Winslet an der Bugspitze der Titanic aneinanderzuschmiegen und »Ich bin der König der Welt!« zu rufen. Und um Menschen auszulachen, die weder einen frisch verlegten Haufen Holz unter den Füßen noch dreieinhalb Meter Deckenhöhe mit Stuck über ihren Köpfen haben. In meinen arroganten Augen waren diese Menschen Kleindarsteller, die nur für mich über die Bühne des Kirchplatzes vor unseren Fenstern wuselten. Und ich saß auf der Empore.
Der Karl-August-Platz misst etwa einen Hektar, und er gilt als der achtschönste Platz Berlins. Wobei ich mir die Frage, wer zum Teufel eine solche Liste in Auftrag gibt, und was sie aussagt, niemals stellte. Nach achtzehn langen Jahren in Studentenwohnheimen, in von steinalten Witwen möblierten Absteigen in Schlachtensee oder in Absteigen mit Ofenheizung und Kampfspuren aus dem Zweiten Weltkrieg im Prenzlauer Berg war ich unversehens in den Top Ten des Wohnens angekommen. Wenn ich Lust auf Büffelfleisch oder Berberitzen hatte, konnte ich jeden Mittwoch und Sonnabend auf den zu meinen Füßen stattfindenden Markt gehen. Der übrigens als drittbester Berlins gilt – einer anderen Liste zufolge.
Eines Mittwochs sah ich dort meine erste Heldin. Ein Mädchen von vielleicht sechs Jahren, die ihren tief und schief über einen Rollator gebeugten Großvater auf den Markt begleitete. Auf der Straße direkt unter meinem Balkon schien der große, schwere Mann plötzlich Kreislaufbeschwerden zu bekommen. Er griff mit den Armen in die Luft, um dort Halt zu finden.
»Du kannst dich auch an mir festhalten, Opa«, krähte das Mädchen tapfer und stemmte sich gegen den Rücken des Mannes. Wäre er nach hinten gefallen, hätte seine Enkelin mit Sicherheit schlimme Verletzungen davongetragen. Doch ihr entschlossener Ruf half dem alten Mann. Er fing sich wieder, streichelte seiner Enkelin über den Kopf und setzte den Spaziergang fort.
Offenbar war ich Zeuge einer Heldentat geworden, die Frau Helga oder König Leonidas nicht besser hätten bestehen können. Nicht mal ein Ausgleichstreffer war notwendig gewesen.
Seit diesem Tag sah ich meinen Kirchplatz mit anderen Augen und entdeckte Helden, die ich vorher nicht einmal als solche erkannt hatte. Ein altes Paar zum Beispiel, das jedes Wochenende auf einem selbst zusammengeschweißten Tandem den Platz umkreiste. Als sie ein Sauerstoffgerät bekam, trat er einfach doppelt so kräftig in die Pedale. Oder einen jungen Franzosen, der mehrfach wöchentlich die Werbezettel eines Billigmarktes verteilte. Dabei hatte er stets den Kopfhörer seines iPhone in den Ohren und rappte. Wie er nach getaner Arbeit manchmal seinen Freunden in einem Straßencafé erzählte, schrieb er nicht nur seine Texte, sondern programmierte auch die Beats auf seinem iPhone selbst. Sein Durchbruch als Musiker war nur noch wenige Monate entfernt – sagte er. Und gab seinen Freunden ein spätes Frühstück aus. Häufig kam auch ein Mann vorbei, der zwei alte, blinde Frauen gleichzeitig an einen anderen Tisch des Cafés brachte. Sie beschimpften sich jedes Mal, und auch für ihn hatten sie niemals ein gutes Wort oder gar ein Trinkgeld.
All diese Menschen schienen Dinge zu tun, die keinen Sinn ergaben, aber ihnen dennoch Spaß machten. War mein Kirchplatz in Charlottenburg voll mit Geistesgestörten? Oder war ich in einer seltsamen Filiale vom Restaurant am Ende des Universums gelandet? Oder schaute ich einfach zu viel aus dem Fenster?
Irgendwann bot die Basler Zeitung mir an, eine Kolumne für sie zu schreiben. Natürlich entschied ich mich für die Helden rund um den Kirchplatz vor meiner Tür. Für die »Helden wie ihr«. Meine Ermittlungen dauerten sechzehn Monate lang. Was sie zu Tage förderten, steht auf den nächsten Seiten.
Weil Sie eventuell zwischendurch die Lektüre unterbrechen müssen, um eine radioaktiv verstrahlte Riesenechse zu töten oder einen Käse zum Bahnhof zu rollen, ist mein Bericht in mundgerechte Stücke geteilt.
Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie man zum Helden wird? Im Lauf der Menschheitsgeschichte gab es dafür die verschiedensten Möglichkeiten. Noch im alten Griechenland konnte jeder dahergelaufene Halbgott allein schon dadurch unsterblichen Ruhm erlangen, dass er bei König Augias im Kuhstall mal ordentlich durchwischte. Wenige Jahrtausende später etablierten die USA den Rang des Superhelden. Der überragte den Durchschnittshelden um ein Stück, musste dafür aber in der Regel bereit sein, während der Kernarbeitszeit Strumpfhosen zu tragen. In der Schweiz hingegen reichte der Besitz einer handelsüblichen mittelalterlichen Schusswaffe aus, um zum Nationalhelden zu werden – wenn man sie nur präzise auf seinen leiblichen Sohn abfeuerte.
Sie sehen, es ist eine komplizierte Frage. Meine persönliche Lieblingsdefinition des Heldentums stammt von Cus D`Amato, jenem legendären Boxtrainer aus den USA, der Muhammad Ali beriet und Mike Tyson entdeckte. »Der Held und der Feigling«, so sagte er einst, »empfinden haargenau das gleiche Gefühl der Furcht. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Held lernt, seine Furcht zu kontrollieren, und danach handelt.«
Daran muss ich denken, wenn ich auf den Kirchplatz vor meinem Fenster in Berlin-Charlottenburg sehe. Dort fährt oft ein schwerstbehinderter Mann vorbei. Er liegt auf einem elektrischen Rollstuhl, seine Beine sind je nach Wetter in eine Wolldecke gewickelt oder unter einer Plastikplane verborgen. Auf den ersten Blick ist er jemand, der alles Recht der Welt zu haben scheint, sein Leben im Bett eines Heims zu verbringen, um mit Volksmusiksendungen um die Wette zu verscheiden.
Doch dann offenbart sich die Lieblingsbeschäftigung des Mannes: Wachen Blicks lenkt er seinen Rollstuhl gern frontal auf Entgegenkommende, egal, ob das Spaziergänger sind, Eltern mit Kinderwagen oder Alkoholiker, die mit ihren Flaschen träge im Schatten lagern. Manchmal sprengt er sogar Gruppen von Grundschülern auseinander, die zwischen Kirchtreppe und Spielplatz herumlungern. Alle springen beiseite. Ausnahmslos jeder könnte ihn für seine Unverschämtheit verprügeln, doch niemand traut sich auch nur zu schimpfen.