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„Es ist verboten, mit Kindern Handel zu treiben!“

Artikel 35 der UN-Kinderrechtskonvention

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Copyright © edition zweihorn GmbH & Co. KG, Neureichenau

ISBN: 978-3-943199-08-6

Antje Szillat

Asphaltspuren

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Inhalt

Frühstück

Luna

Picknick für Monica

Bitteres Erwachen

An einem fremden Ort

An die Arbeit

Boris

Auf der Straße

Der Weg in die Freiheit

Weg hier!

Leben

Epilog

Nachwort

Frühstück

Simeon hatte schlecht geschlafen. Vorsichtig, damit sein kleiner Bruder nicht erwachte, erhob er sich von der schmalen Matratze, die er sich mit ihm teilte. Es gelang ihm tatsächlich – wenigstens Boris’ fortgesetztem Schnarchen nach zu urteilen.

Es war stickig in dem kleinen Zimmer. Simeon roch durchschwitzte Wäsche und ungewaschene Füße und sein Magen verkrampfte sich. Wie so oft in letzter Zeit hatte er das Gefühl, nicht mehr frei atmen zu können.

Energisch wischte er sich mit den Händen über den flachen Bauch, als ob er damit die üble Empfindung verjagen könnte und zog sich dann das Oberteil seines Jogginganzugs über. Die hellgraue Jacke war schmutzig, genau wie die Jeanshose, die er seit vielen Tagen nicht mehr gewechselt hatte.

Simeon schlich aus dem Zimmer, öffnete die Haustür und tappte ins Freie.

Es dämmerte bereits. Dichter Nebel hing über der schmalen Seitenstraße. Bevor Simeon die Hose öffnete, und den Bund ein wenig runterstreifte, versicherte er sich, dass weit und breit niemand zu sehen war. Dann pinkelte er gegen die Hauswand.

Das Klo in der Wohnung war nun schon seit Wochen kaputt. Sobald man die Spülung betätigte, erklang ein markerschütternder Pfeifton, der erst nach einer halben Ewigkeit langsam nachließ. Selbst die Leute in der Nachbarwohnung wurden davon wach. Doch der Vermieter scherte sich einen Dreck darum. Die Miete musste pünktlich bezahlt werden, sonst konnte er extrem ungemütlich, ja, sogar handgreiflich werden. Wenn es jedoch seitens der Hausbewohner irgendetwas zu beanstanden gab, war er plötzlich nicht erreichbar, stellte die Ohren auf Durchzug oder vertröstete die Leute immer und immer wieder.

Simeons Mutter konnte den Kerl nicht ausstehen, doch es gab nun mal keine Alternative zu dieser Wohnung.

Tief durchatmend zog er den Reißverschluss wieder zu und machte sich auf den Weg.

Heute würde er mal wieder bei den anderen Kindern schlafen, beschloss er. In dem kleinen Park hinter dem Bahnhof konnte er wenigstens frei atmen. Und außerdem bestand dort nicht die Gefahr, dass er diesem Typen begegnete, der seit über einem Jahr regelmäßig nachts in die Wohnung kam, um sich mit seiner Mutter zu vergnügen. Simeon bekam zwar selten mit, was der Typ mit seiner Mutter anstellte, weil sie ihn stets fortschickte, trotzdem oder gerade deshalb, hasste Simeon den Kerl. Simeon nannte ihn in Gedanken den reichen Penner. Er stank nach Schnaps und aufdringlichem Aftershave. Doch das Schlimmste war, dass er seine Mutter glauben ließ, er würde seine Familie ihretwegen verlassen.

„Er hat es mir fest versprochen“, hatte sie erst vor wenigen Tagen zu Simeon gesagt.

„Scheißdreck“, hatte der Junge sie ärgerlich angeblafft. „Der wohnt mit seiner vornehmen Tusse und drei Blagen in einer reichen Arschlochgegend. Glaubst du wirklich, dass so einer das gegen dies hier eintauschen würde?“

„Natürlich wird er das machen. Er holt uns hier raus ... ganz sicher.“

„Willst du hören, was er neulich zu mir gesagt hat?“

„Nein. Ich will es nicht hören ...“ Sie tat so, als ob sie sich die Ohren zuhalten würde.

Simeon sagte es trotzdem. „ ‚Wegen einer Schlampe und ihren zwei verdreckten Missgeburten werde ich ganz bestimmt meine Familie nicht verlassen. ‘Genau das hat er gesagt. Ob du es wahrhaben willst oder nicht.“

„Du lügst! Du lügst!“, schrie sie ihn an, obwohl sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Doch mit den paar Lei, die der Kerl ihr für ihre Dienste gönnerhaft in die Hand drückte, konnten sie wenigstens das Nötigste zum Leben besorgen. Nur darauf kam es an. Und das wusste auch Simeon und wenn es ihn noch so sehr ankotzte.

Simeon hatte das Ende der engen Hinterhofgasse erreicht und bog um die Ecke. Um den Bukarester Bahnhof herum herrschte trotz der frühen Morgenstunde bereits reges Treiben. Die Autos rasten so schnell an Simeon vorbei, dass er eine ganze Weile brauchte, bis er eine Lücke abpassen konnte, um auf die andere Seite zu gelangen. Dann machte er sich an die Arbeit.

Von den Straßenkindern, die sich gewöhnlich hier aufhielten, war weit und breit noch nichts zu sehen. Die meisten würden wohl noch ihren Rausch ausschlafen. Die Mischung aus Lackdämpfen und billigem Alkohol ließ sie normalerweise bis mittags schlafen.

Simeon machte sich daran, in den Mülltonnen das Frühstück für sich und seine Familie zusammenzusuchen. Der reiche Penner war schon einige Nächte nicht da gewesen. Womöglich hatte er das Interesse an seiner Mutter verloren. Simeon hoffte es, wenn es auch bedeutete, dass wieder mal kein Geld da war, um wenigstens das Nötigste zum Überleben zu besorgen.

Bestimmt würde Boris heute Morgen vor Hunger weinen und das wiederum konnte seine Mutter nicht ertragen. Auf alle Fälle würde sie zum Bahnhof gehen und zu irgendeinem fiesen Sack ins Auto steigen, der ihr dafür anschließend ein paar Lei in den Ausschnitt steckte.

Ein Gedanke, der noch unerträglicher als der an den reichen Penner für Simeon war. Etwas, das sich ihm die Eingeweide zusammenziehen ließ und ihn fast um den Verstand brachte.

Er durchstöberte einen Behälter nach dem anderen. Neben zwei halb leeren Getränkedosen, einer angebissenen Scheibe Graubrot, einem ebenfalls angebissenen Apfel und zwei zerdrückten, aber noch ungepellten Mandarinen gehörte auch ein kleines Stückchen Schokolade zu seinen Funden. Simeon steckte alles in eine Plastiktüte, die er in einer der Tonnen am Bahnhof gefunden hatte.

Die größte Mülltonne, die sich in der Seitenstraße am hinteren Ausgang des Bahnhofsrestaurants befand, hatte er sich bis zum Schluss aufgehoben. Hier ließen sich immer die meisten Reste finden, das hatte er schon vor langer Zeit herausbekommen. Deshalb war die Tonne von den anderen Straßenkindern auch immer schwer umkämpft. Aber jetzt war es noch zu früh für sie und Simeon fand eine Menge Reste.

Manchmal hatte er nicht so viel Glück. Im Sommer bestellten die Menschen in den Restaurants lieber leichte Gerichte. Viele aßen dann nur Salat, und wenn der ein paar Stunden im Müll gelegen hatte, waren die Lebensmittelreste darunter völlig ungenießbar. Das hatte Simeon schon oft genug erlebt.

Aber heute war wirklich sein Glückstag. In der Tonne lagen ein paar Brötchen und sogar einige noch nicht ganz abgenagte Hühnerknochen.

Sein Bruder würde sich freuen. Er liebte Fleisch über alles. Und wenn er dann noch das Stückchen Schokolade entdecken würde ...

Bei dem Gedanken an Boris musste Simeon unwillkürlich lächeln. Er konnte ihn direkt vor sich sehen, wie seine grünen Augen vor Freude über die Hühnerbeine funkelten. Und anschließend würde er sich die Schokolade in seinen Mund stecken und genüsslich kauen. So genüsslich, wie Simeon es bei keinem anderen Kind des Bahnhofs bisher gesehen hatte. Die meisten stopften einfach alles nur so in sich hinein und schlangen es runter. Egal, was es war und wie es schmeckte. Hauptsache es füllte den Magen und stillte für einen kurzen Moment den Hunger, ihren ständigen Begleiter.

Boris war da ganz anders. Boris war etwas ganz Besonderes. Darüber waren sich Simeon und seine Mutter ausnahmsweise mal einig.

Simeons Gedanken wanderten zu Boris’ Vater Mischa, der noch eine Weile nach Boris’ Geburt bei ihnen geblieben war. Nicht so wie sein Vater.

Mischa war auch etwas Besonderes gewesen, fand Simeon noch immer. Obwohl Mischa sie am Ende auch verlassen hatte. Doch der Unterschied für Simeon lag darin, dass Boris wenigstens die Chance gehabt hatte, seinen Vater kennenzulernen und eine Weile mit ihm zusammenzuleben.

Von seinem Vater wusste Simeon nur, dass er ein paarmal mit seiner Mutter in die Kiste gestiegen war und als er dann erfahren hatte, dass Simeon unterwegs war, sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte. Mehr gab es über diesen Typen nicht zu berichten.

Simeon seufzte tief und rannte dann mit der kostbaren Plastiktasche in der Hand zurück nach Hause.

Als er die winzige Wohnung betrat, wollte sich seine Mutter gerade auf den Weg machen. Ihr Gesicht war grell geschminkt, dennoch konnte man genau erkennen, dass sie geweint hatte.

„Wo willst du hin?“, fragte Simeon, obgleich er die Antwort bereits kannte.

„Boris wird bald aufwachen ...“ Sie schniefte leise.

„Deswegen musst du dir keine Sorgen machen.“ Simeon reichte ihr die Tüte. Sie warf einen kurzen Blick hinein und schleuderte sie dann ärgerlich in die Zimmerecke.

„Verdammt! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass wir keine Reste aus den Mülltonnen essen?!“ Sie funkelte Simeon böse an. „Den Dreck, den die anderen weggeschmissen haben ... einfach widerlich.“

Angeekelt verzog sie ihren knallrot geschminkten Mund.

„Die Reste der anderen zu essen, ist lange nicht so widerlich, als sich von irgendeinem Typen angrapschen zu lassen!“

Ihre Hand landete laut klatschend mitten auf Simeons Wange.

Damit hatte er nicht gerechnet. Die Wucht des Schlages ließ ihn ein paar Schritte zurücktaumeln. Fassungslos sah er sie an.

„Wag es nicht ... wag es nicht noch einmal ...“ Ihre Stimme zitterte vor Wut. Simeon rechnete fest damit, dass sie sich jeden Moment auf ihn stürzen würde. Instinktiv verschränkte er die Arme in Abwehrposition vor seinem Gesicht. - Erwartete den Angriff, ihre wütenden Schläge. Sein Herz dröhnte wie verrückt, Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Doch plötzlich drückte sie die Schultern durch, wischte sich mit dem Handrücken eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht und zischte ihm leise zu: „Mach nur so weiter, Simeon. Als ob ich gerne rausgehen würde. Denkst du, das gefällt mir? Aber verdammt, wie soll ich euch denn sonst durchbekommen?! Es gibt hier unzählige Mütter, die sich einen Scheißdreck um ihre Kinder kümmern. Aber ich bin nicht so eine. Ich kämpfe für euch – für uns. Mit allen Mitteln. Da kann ich gut darauf verzichten, dass der feine Herr Sohn meint, mir ganz genau das zum Vorwurf machen zu müssen.“ Sie stockte, holte tief Luft, bevor sie Simeon die nächsten Worte nur so entgegenspuckte. „Oder wäre es dir lieber, mit den anderen Freaks im Park oder in dreckigen Kanalhöhlen zu hausen, hä?“

Bevor Simeon etwas erwidern konnte, war sie an der Tür. Sekunden später fiel sie scheppernd ins Schloss, so dass Boris erschrocken hochfuhr.

„Was-was ist pa-passiert?“, krächzte er und blickte sich verwirrt im Zimmer um.

„Nichts. Ich habe uns nur was zum Frühstück besorgt“, sagte Simeon und zwang sich zu einem Lächeln.

Es gibt viele Straßenkinder in Rumänien. Grobe Schätzungen liegen zwischen 1.000 und 30.000, so genau weiß das niemand. Die Bevölkerung reagiert mit Ablehnung und Diskriminierung auf die Kinder. Bezeichnend ist, dass das Wort „Straßenkinder“ in der Umgangssprache gleichbedeutend ist mit „Ratten“ oder „Abschaum“.

Zum Beispiel die 14-jährige Monica: Sie fand ihren Vater auf dem Dachboden, mit einer Schlinge um den Hals und an einem Balken hängend. Damals war Monica gerade mal 10 Jahre alt. Kurze Zeit später wurde sie Zeugin, wie ihre Mutter, die als Prostituierte ihr Geld verdiente, von einem Freier (männlicher Kunde) aus dem geschlossenen Fenster geworfen wurde. Sie überlebte ihre Verletzungen nicht. Seitdem lebt Monica auf der Straße.

(Quelle: Caritas international – Das Hilfswerk der deutschen Caritas)

Luna

„Was machen wir heute?“, fragte Boris. Satt und zufrieden streckte er sich auf der Matratze aus.

„Du gehst in die Schule.“ Simeon verstaute die Überreste in der Plastiktüte und stellte sie neben die Tür. Wenn seine Mutter zurückkam, sollte sie sie nicht noch einmal sehen. Simeon tat der Streit inzwischen leid. Er wusste ja selbst, dass sie dieses Leben hasste und sich nichts mehr wünschte, als dass es ihren beiden Söhnen gut ginge. Und ihre Drohungen, dass Boris und er eines Tages auf der Straße landen könnten, weil sie die Schnauze voll hatte, ihre Jungs mitdurchzuschleppen, kannte Simeon auch schon zu genüge. Manchmal, wenn sie so richtig verzweifelt war, wurden ihre Drohworte noch krasser. Dann sprach sie davon, dass sie auch von einem dieser widerlichen Perverslinge ermordet werden könnte. Und dann, ja dann würden Boris und er völlig chancenlos sein.

Aber Simeon wusste, dass sie das nicht ernst meinte. Das sagte sie nur, wenn sie nicht weiterwusste, da war er sich ganz sicher.

Sie würde Boris und ihn nicht im Stich lassen, wie die vielen anderen Mütter ihre Kinder hier in Rumänien einfach so aus ihrem Leben verbannten. Die Gründe dafür waren allerhand, hatten fast immer mit hoffnungsloser Armut zu tun. Fortan waren sie völlig auf sich gestellt, lebten in den unterirdischen Kanalrohren oder im Park. Ihr Leben bestand aus Betteln, Hunger, Aurolac und Verzweiflung. Die Straßenkinder hatten niemanden außer sich selbst und sehnten sich nach nichts anderem auf der Welt so sehr wie ihren Müttern – nach einer Familie.

Einmal hatte ihm Janosch, ein elfjähriger Junge, der ständig am Bahnhof lebte, erzählt, wie er seine Mutter verloren hatte.

Sie war am Morgen zum Markt gegangen, um etwas zum Essen zu besorgen. Doch sie kam nicht wieder zurück. Janosch hatte sie überall gesucht, aber sie blieb verschwunden. Irgendwann hatte er dann begriffen, dass ihr nichts zugestoßen, sondern dass sie einfach abgehauen war. Damals war Janosch sieben Jahre alt gewesen. Sie hatten ihn in ein Heim gesteckt. Doch da hatte er es nicht lange ausgehalten und war abgehauen.

Seit damals lebte er am Bahnhof.

Und seitdem Simeon diese Geschichte gehört hatte, hatte er Angst, wenn seine Mutter die winzige Wohnung verließ. So sehr er ihr vertraute, desto mehr misstraute Simeon dem Leben, den Menschen da draußen. Deshalb wollte das unbehagliche Gefühl in seinem Bauch nicht restlos verschwinden.

„Och nö. Muss das sein?“ Boris verzog schmollend den Mund. „Du gehst doch auch nicht zur Schule. Warum muss ich denn schon wieder da hin?“

„Weil du sechs Jahre alt bist und noch was lernen musst und ich bin fünfzehn und habe schon alles gelernt. So einfach ist das!“

„Pfff, glaub ich nicht“, maulte Boris. So einfach wollte er sich aber nicht geschlagen geben. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Simeon trotzig an.

„Wo ist Mama überhaupt? Wenn einer bestimmt, was ich machen muss, dann ist das Mama.“

„Sie kommt gleich zurück. Und wenn sie sieht, dass du nicht in der Schule bist, dann wird sie sehr wütend werden. Das garantiere ich dir.“ Er zog Boris am Arm auf die Beine.

„Also los, komm schon.“

Obwohl Boris absolut nicht einsah, warum er zur Schule gehen sollte, wusste er, dass weiterer Widerstand zwecklos war. Also nahm er die abgewetzte braune Schultasche entgegen, die Simeon ihm hinhielt.