Biografie
Bernard Craw wurde 1972 in Bramsche geboren. Nach Bundeswehr und Studium der Wirtschaftsinformatik zog er nach Schwaben und später in seine Wahlheimat Köln, wo er heute lebt. Er ist ledig, katholisch und war im Hauptberuf als Projektleiter für einen internationalen Konzern tätig.
Seit der Schulzeit schreibt Craw Kurzgeschichten und Romane, wobei häufig ein militärisches Setting für das fantastische Genre adaptiert wird. Mit Karma erschien 2007 sein erster im BattleTech-Universum spielender Roman. Seitdem veröffentlichte er in der Reihe Das Schwarze Auge zahlreiche Fantasy-Romane und unter dem Pseudonym Robert Corvus unabhängige Titel sowie Perry Rhodan NEO.
Craw schätzt stimmige Gesellschaftsentwürfe und eine konsequente Handlungsführung, bei der die Sympathieträger nicht unter Naturschutz gestellt werden. Auf www.bernardcraw.net kann man sich über seine schriftstellerischen Aktivitäten informieren.
Bernard Craw
Gier
Band III der Andurienkriege
Originalausgabe
Impressum
Ulisses Spiele
Band US41025EPUB
Titelbild: Karsten Schreurs
Lektorat: Michael Fehrenschild, Matthias Heß
Buchgestaltung: Ralf Berszuck
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers
©2014 The Topps Company, Inc. All rights reserved.
Wiege der Basilisken, Classic BattleTech, BattleTech, BattleMech and ’Mech are registered trademarks and/or trademarks of The Topps Company Inc. in the United States and/or other countries. Catalyst Game Labs and the Catalyst Game Labs logo are trademarks of InMediaRes Productions, LLC.
Deutsche Ausgabe Ulisses Spiele GmbH, Waldems, unter Lizenz von INMEDIARES PRODUCTIONS, LLC., also doing business as CATALYST GAME LABS.
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Print-ISBN: 978-3-95752-022-7
E-Book-ISBN: 978-3-86889-897-2
Mein Dank ...
... an die BattleTech-Fans, die viele Jahre ihrem Hobby treu blieben, um es jetzt mit frischer Kraft neu zu beleben. Euer Zuspruch macht Romane wie diesen möglich. Ihr rockt!
Mein besonderer Dank ...
... gilt meinen Fact-Checkern Stephan und Matthias, die geholfen haben, diesen Roman sauber in die Setzungen des BattleTech-Universums einzupassen.
Karte der Innere Sphäre
randwärtiger Bereich 3030
1
Nadirsprungpunkt, Canopus
Magistrat Canopus
13. September 3029 TNZ
Die Reise auf unseren bestens gewarteten Sprungschiffen ist sicherer als der Gang über eine Straße.
– Informationsbroschüre von ›Milkyway Travels‹, 3029 –
Richard Humphreys hatte noch den Countdown der Sprungsequenz im Ohr, als der Alarm schrillte. Statt einer Liege boten die Kabinen im Passagierbereich der Rana gepolsterte, an den Wänden befestigte Luxusschlafsäcke. Außerhalb des Gravdecks herrschte überall in dem Sprungschiff der Merchant-Klasse Schwerelosigkeit. Als er den Verschluss löste und sich herauszog, erwartete Richard daher, in die Mitte der Kabine zu schweben. Statt einer geraden Flugbahn bewegte er sich jedoch in einem leichten Bogen zu der Wand, in der sich das Schott befand. Mikrogravitation, erkannte er. Das Schiff bewegt sich.
Er runzelte die Stirn. Das Schrillen des Alarms störte die Konzentration, bestätigte aber auch, dass hier etwas ganz und gar nicht nach Plan verlief. Die Rana war vor dem Sprung bewegungslos im Raum geschwebt. Ebenso bewegungslos hätte sie am Nadir der Sonne Canopus erscheinen sollen.
Wie eine herabsinkende Feder näherte er sich der Wand. Den Kontakt mit der Schaumtapete fing er dennoch mit vorgestreckten Armen ab. Im Gegensatz zum Gewicht reduzierte sich die Masse nicht durch den weitgehenden Wegfall der Schwerkraft.
Die Sirene wurde noch lauter, als Richard das Schott öffnete und sich in den röhrenförmigen Gang zog. Anders als in einem Landungsschiff, das häufig beschleunigte oder abbremste und dadurch Schwerkraft erzeugte, machten bei einem Sprungschiff die Begriffe ›oben‹ und ›unten‹ kaum Sinn. Die meisten Räume waren so gestaltet, dass alle Wände als Nutzflächen verwendet wurden.
Hinter Richard zischte das Schott zu, während er auf die gegenüberliegende Rundung des Gangs sank. Rotes Licht pulsierte in Leuchtstreifen. Er befand sich in der fünfzehn Kabinen und zwei Aufenthaltsräume umfassenden Passagiersektion, zu der der vordere Frachtraum umgebaut worden war. Kalter Schweiß brach aus seiner Haut. Seine Kehle war so trocken, dass das Schlucken Mühe bereitete. Gerade noch war das Universum zu einer Fläche, einer Linie, einem Punkt geworden, bevor es sich wieder entfaltet hatte. Die Desorientierung wich nur allmählich. Richard musste sich zwingen, seine Position zu verorten.
Rechts ging es zu den technischen Sektionen, Frachträumen und Hangars, dem Andockring, schließlich zum Kearny-Fuchida-Sprungtriebwerk und dann zum Staubereich für das Sonnensegel, das ausgefaltet beinahe einen Kilometer durchmaß. Auch die Mannschaftsquartiere lagen dort. Die Frachtarbeiter, Mechaniker und Bordingenieure lebten weniger komfortabel als die zahlenden Passagiere. Wenn sie sich länger an Bord aufhielten, begaben sich die luxuriös Reisenden dennoch gern dorthin, um das Gravdeck zu nutzen ‒ eine ringförmige, vierzig Meter durchmessende Rotationssektion, die den Besucher mit annähernd Terranormschwerkraft an die Außenwand drückte.
Links befand sich der Durchgang zum Bug mit den Offizierskabinen, der Aussichtskuppel und der Kommandozentrale. Obwohl Richard oft zwischen den Sternen gereist war, hatte er nie mit der Technik oder der Steuerung der Flüge zu tun gehabt. Aber er war ein Sohn der Herzogin von Andurien. Auch wenn er seiner Mutter nie nahegestanden hatte, zeigte die Disziplinschule seiner Jugend Wirkung. Die herzogliche Familie war dort, wo Entscheidungen zu treffen waren. Obwohl der Puls in seinem Hals hämmerte und die Gedankenfetzen in seinem Kopf wirbelten, reagierte sein Körper so effizient, dass ein Beobachter Richard als besonnenen Akteur inmitten der hysterischen Alarmsignale wahrnehmen musste. Mit sanften Stößen schwebte er Richtung Zentrale.
Ein Kabinenschott öffnete sich. Eine beleibte Dame mit weit aufgerissenen Augen hielt sich an der Kante fest. Sie war Sängerin, wenn sich Richard recht entsann. »Was geschieht hier?« Ihre wohltönende Stimme passte nicht zu dem Schrecken in ihrem Gesicht. »Werden wir sterben?«
»Nein! Gehen Sie wieder in Ihre Kabine!« Richard hörte sich selbst zu, während er diese festen Worte sprach.
Auf die Sängerin wirkten sie. Sie schien sogar erleichtert, als sie sich zurückzog. Die Lamellen des Schotts trafen sich in seinem Mittelpunkt wie bei einer stählernen Irisblende.
Als Richard den bugwärtigen Durchgang erreichte, übertönte ein metallisches Kreischen aus Richtung des Hecks die Sirenen.
»Hüllenbruch!«, meldete eine Automatenstimme. »Notabriegelung Sektor Gamma! Hüllenbruch! Notabriegelung ...«
Sie verstummte mit einem Knacken, ebenso wie die Sirene. Nur die roten Leuchten pulsierten weiterhin.
Richard sah seiner eigenen Hand zu, wie sie das Tastfeld berührte. Hüllenbruch, dachte er. Dekompression. Atmosphärenverlust. Der Durchgang öffnete sich. Aufplatzende Gefäße. Ersticken. Vakuumtod.
Er blinzelte, um die Bilder zu verscheuchen, die jedes Schulkind im Fach ›Raumfahrt‹ studierte. In einem Klassenraum waren die Fakten zu Todesfällen im All Anlass für wohliges Schaudern. Wenn einen nur eine dünne Wand vom Nichts trennte, verschwand das Wohlige aus der Vorstellung.
Richard zog sich vorbei an den mit Scannern gesicherten Spinden, in denen Handwaffen für den Fall einer Meuterei oder eines Enterangriffs verwahrt wurden. Die Schwerkraft hielt ihn an einer Seite, war aber so niedrig, dass er sich bewegte wie jemand, der sich unter Wasser vom Grund einer Lagune abstieß, ausgestattet mit einem Bleigürtel, der seinen Auftrieb eliminierte.
Auch in dieser Sektion pulsten die roten Leuchten. Sie ließen die verworrenen Skulpturen, für die Kapitän Guerro ein Faible hatte, wie züngelnde Flammen aussehen.
Wieder knirschte Metall. Das Geräusch arbeitete in der Raumschiffhülle. Unmöglich zu bestimmen, wo es seinen Ursprung hatte. War es lauter als beim ersten Mal?
Das Schott zur Zentrale war mit einer Codetastatur versehen. Sicher hatte die Besatzung Erfahrung mit aufdringlichen Passagieren, die lieber mit dem Kapitän als mit dem Steward sprachen. Richard betätigte den Summer, eine Geste, die ihm durch ihre Zurückhaltung deplatziert in der prekären Situation vorkam. Er lachte auf. Nur ein Humphreys machte sich in jeder Lage Gedanken um die Etikette.
Was immer das Problem war ‒ in der Kommandozentrale hatte man jetzt sicher andere Sorgen, als ihn einzulassen.
Richard überlegte, ob er sich besser zum Andockkragen begeben sollte. Dort wartete die Baroness, ein Landungsschiff der Monarch-Klasse. Die meisten Passagiere waren dort geblieben. Richard hatte sich vom Quartier im Sprungschiff etwas mehr Privatsphäre versprochen. Seit seiner überraschenden Rückkehr ins Herzogtum war er Beute für Gesellschaftsreporter. Gern spekulierte man darüber, warum seine Mutter ihn wieder in Andurien duldete, hatte seine Verbannung doch formal noch Bestand. Das würde jetzt niemanden interessieren. Der Alarm, zumal unmittelbar nach dem Sprung, hatte sicher eine Panik ausgelöst. Wurden sie etwa beschossen? So weit entfernt von den Schlachtfeldern des Vierten Nachfolgekriegs?
Das Schott zur Zentrale drehte auf. Ein Mann prallte gegen Richard. »Aus dem Weg!«, schrie er.
»Was ist denn los?«
»Ich muss zur Rettungskapsel!« Die Spirale am Uniformkragen verriet den Piloten.
»Beruhigen Sie sich!«
Der Mann stieß Richard zurück und hastete davon.
Richard ergriff die Gelegenheit und glitt in die Zentrale, bevor sich das Schott schloss.
Für einen Moment war er geblendet. Der Bug eines Sprungschiffs wies meist in den dunklen Weltraum, weil sich das Sonnensegel am Heck befand. Deswegen war das Transplast der Sichtscheiben nur begrenzt darauf ausgelegt, extreme Helligkeit zu blocken. Canopus‘ Licht hatte einen höheren Anteil Weiß als das von Andurien, das vergleichbar mit dem Sols war. Immerhin scheinen wir unser Ziel erreicht zu haben, dachte Richard, während er seine Augen mit der Hand beschirmte. Sie waren in einem Sonnensystem rematerialisiert, nicht im Leerraum. Die erste gute Nachricht seit dem Alarm.
Der gleißende Ball verschwand aus dem Sichtbereich.
Die Zentrale bot drei Stationen, eine für den Kapitän, eine für den Navigator und die letzte, leere, für den Piloten. Das Design nutzte die Möglichkeiten der Schwerelosigkeit besser, als es dem Standard auf Merchants entsprach. Die Stationen waren gleichmäßig an der runden Wand verteilt, im Abstand von jeweils 120 Grad. Die Köpfe der drei Raumfahrer wiesen, wenn sie angeschnallt in ihren Sesseln saßen, zur Mitte des kugelförmigen Raums. Jede Station war von einem Instrumentenpulk umschlossen. Zudem gab es isolierte Spezialterminals für seltenere Aufgaben, wie das Ausbringen des Sonnensegels.
»Was ist geschehen?«, rief Richard.
Kapitän Guerro reagierte nicht. Er krampfte die Hände um die Lehnen, als wolle er mit seinem Sessel verschmelzen.
Der Navigator sah erst zu seinem Vorgesetzten, dann zu Richard. »Sprungkollision.« Er wandte sich wieder seinen Instrumenten zu, hämmerte hektisch auf Sensorfelder.
Um einen solchen Unfall zu vermeiden, sprang man nur zu genau festgelegten Punkten in einem Zielsystem. Üblich waren die stabilen Gravitationssenken über den Polen des Gestirns. Dort war das Risiko vernachlässigbar, auf einen Felsbrocken zu treffen, der einsam durch das Nichts reiste. Alle Materie wurde auf Spiralen oder den vergleichsweise wenigen Kreisbahnen um die Sonne gezogen. An Zenit und Nadir konnte nur auftauchen, was einen eigenen, von der Sonne unabhängigen Bewegungsimpuls hatte.
»Ein Asteroid?«, fragte Richard.
»Ein anderes Sprungschiff«, gab der Navigator zurück. »Invader-Klasse.«
Obwohl sich Richard inzwischen ein wenig beruhigt hatte, nahm er diese Nachricht auf wie einen Hieb in die Magengrube. Unmittelbar vor dem Auftauchen eines Sprungschiffs entstand am Materialisationspunkt ein elektromagnetischer Impuls, der kosmischen Staub verdrängte. Schon bei Steinchen von Walnussgröße versagte dieser Effekt. Solche kleinen Hindernisse konnten ein komplettes Antriebsaggregat lahmlegen, wenn sie an der falschen Stelle den gleichen Bereich des Raumkontinuums beanspruchten wie das Schiff. Von einem solchen Vorfall hatte Richard einmal gehört. Damals hatte ein Schiff einen angeblich sicheren Lagrangepunkt innerhalb eines Systems angesprungen. Wenn man die Planetenbahnen genau berechnete, ergaben sich solche Bereiche mit Nullgravitation auch auf der Ekliptik. Wer dort materialisierte, konnte den Landungsschiffen Wochen auf ihrem Weg zum Planeten ersparen. Damals war das Steinchen auf molekularer Ebene mit dem Metall des Aggregats verschmolzen. Die betroffene Komponente war ausgetauscht worden und jetzt im technischen Museum auf Xanthe III zu bestaunen.
Das war nur ein Steinchen gewesen, mit einer Masse von fünfzig Gramm.
Ein Sprungschiff der Invader-Klasse hatte eine Masse von etwa 150.000 Tonnen. Richard würgte.
»Wir können nicht in dem anderen Schiff materialisiert sein«, sagte er zu niemand Bestimmtem. »Sonst wären wir schon tot.«
»Wir hängen an Sektion Epsilon zusammen«, berichtete der Navigator. »Jetzt sind wir Siamesische Zwillinge. Und wir haben einen unterschiedlichen Drall.«
Richard bewegte sich zur Navigationsstation. »Sie ziehen uns mit? Das erklärt den Zentrifugaleffekt.«
»Schlimmer. Wir reißen aneinander. Sie hat es genauso erwischt wie uns. Noch halten die Schiffshüllen.«
Wie aus Protest drang ein metallisches Knirschen durch die Zentrale.
»Wenigstens bis jetzt.«
»Aber nicht mehr lange«, stellte Richard fest. Paradoxerweise beruhigte ihn die Nervosität des Mannes. »Wie heißen Sie?«
»Salvez, Prinz Richard.«
»Haben Sie die Evakuierung bereits ...«
»Eingehender Funkspruch!« Salvez legte den Ton auf den Lautsprecher.
»Hier Canopus-Nadirstation. Wir bieten Ihnen ein Rettungskommando an. Unser Preis beträgt 500.000 C-Noten.«
Ungläubig starrten sich Salvez und Richard an.
»Das dürfte einem Prozent des Werts Ihres Schiffs entsprechen. Wir können in fünfzehn Minuten bei Ihnen sein. Akzeptieren Sie?«
Kapitän Guerro blieb reglos.
»In fünfzehn Minuten sind wir Geschichte«, murmelte Salvez.
»Nein!«, schrie Guerro. Seine Faust krachte auf die Lehne des Kapitänssessels. »Ich werde meine Rana niemals aufgeben!«
Er hatte die typisch sehnige, beinahe muskellose Gestalt der Menschen, die den Großteil ihres Lebens in der Schwerelosigkeit verbrachten.
»Was ist das für eine Anzeige?« Richard deutete auf ein Symbol, das gelb aufflammte.
»Eines unserer beiden Landungsschiffe dockt ab«, sagte Salvez. »Der Buccaneer.« Er tippte. »Das ist schlecht ...«
»Was genau ist schlecht?«
»Sieht so aus, als wollte er ...«
Ein Knall drang durch das Schiff, als risse eine Stahlfeder. Wie das Nachgrollen eines Donnerschlags folgte vielfaches Knacken des Metalls.
»... die Düsen zünden, bevor er auf Sicherheitsabstand ist.«
Auf mehreren Konsolen flammten rote Lichter. Fächer öffneten sich und gaben Atemgeräte frei.
»Wir müssen das andere Schiff abtrennen!«, rief Guerro. »Laser einsetzen! Schneiden Sie uns los! Herguez! Die Asteroidenabwehrgeschütze!«
Herguez musste der Pilot sein, der ihm entgegengekommen war und inzwischen vielleicht schon eine Rettungskapsel erreicht hatte. Guerro schien sein Fehlen nicht zu bemerken oder in seiner Verzweiflung zu ignorieren.
Richard musste die leichte Schwerkraft überwinden, um die Pilotenstation zu erreichen. Er ging in die Hocke und stieß sich kräftig ab, als wolle er springen wie ein Frosch. Am höchsten Punkt der Sprungkurve kam er seinem Ziel nahe genug, um einen der Kontrollmonitore zu greifen. Er zog sich in den Sitz und schnallte sich an. Das Gefühl, kopfüber an der Decke zu hängen, trug zur albtraumhaften Surrealität der Situation bei.
»Feuer!«, schrie Guerro. »Schießen Sie uns frei!«
Die Waffenstation war leicht an der roten Umrahmung auszumachen. Aber dies war ein ziviles Schiff. Ein Bordschütze war nicht vorgesehen, es gab keine Phalangen von Partikelprojektorkanonen und auch keine Raketenbatterien zu dirigieren. Der Pilot konnte mit einigen kleinen Lasern Asteroiden zertrümmern, die den Weg kreuzen mochten, wenn das Sprungschiff aus irgendeinem Grund mit seinen Navigationstriebwerken durch das System flog. Militärisch irrelevant, aber aus nächster Nähe kam es nicht auf Reichweite an. Die Durchschlagskraft mochte durchaus ausreichen, um dem angeschlagenen Schiff den Rest zu geben, obwohl die Laser eigentlich nur Klumpen aus Eis und Gestein zertrümmern sollten, anstatt Panzerung zu durchschlagen.
Richard ließ den Sicherheitsschalter unberührt. Stattdessen setzte er die Kopfhörer auf und öffnete eine Funkverbindung zu dem anderen Schiff.
»Hier LFWSS Diver!«, meldete sich eine weibliche Stimme. »Wir haben schwere Schäden!«
»Damit sind Sie nicht allein.« Richard wunderte sich über die Ruhe in der eigenen Stimme. Seine Finger zitterten noch nicht einmal, als er die Nahbereichssensoren justierte.
»Sie waren plötzlich da! Wir laden hier schon seit einem Tag auf!«
»Glauben Sie mir, das haben wir uns nicht ausgesucht.«
Richard wählte die Sonne als Fixpunkt. Das Gebilde aus den verbundenen Raumschiffen ähnelte einer um drei Achsen wirbelnden Astgabel. Das Heck der Diver war mit dem hinteren Viertel der Rana verschmolzen. Wäre das Schiff nur zehn oder zwanzig Meter weiter entfernt materialisiert ‒ eine lächerlich kleine Distanz, wenn man die Maßstäbe von Raumfahrern anlegte ‒ wäre nichts passiert.
»Wir können uns nicht losreißen!«, klagte die Frau. »Wir werden es mit Vollschub nach Drei Punkt Sieben bei Neun bei Zwei Punkt Zwei versuchen.«
»Negativ!«, rief Salvez von der Navigationsstation herüber. »Das wird uns in der Mitte auseinanderbrechen lassen!«
»Haben Sie verstanden, Diver?«, fragte Richard. »Damit bringen Sie uns um! Und sich selbst wahrscheinlich gleich mit!«
»Darauf müssen wir es ankommen lassen! Die Drift reißt uns auseinander, wenn wir nichts unternehmen.«
Richard spürte Druck an seinem Hals.
Guerro konnte sich leicht in der Beinahe-Schwerelosigkeit bewegen. Er hatte einen Nadler in der Faust, die typische Waffe für Umgebungen mit technischer Ausstattung. Die geschredderten Hartplastsplitter zerfetzten Haut und Fleisch, konnten aber selbst leicht gepanzerter Elektronik nichts anhaben. »Die Dame hat recht.« Guerros Stimme kippte. »Die oder wir. Ich sage: wir! Machen Sie Platz. Ich muss an die Laser.«
»Das ist Unsinn. Diese Laser sind nicht ausgelegt, um ...«
Guerro sog die Luft ein. Richard sah den Schweiß auf seiner Stirn und das fiebrige Flimmern seiner Augen.
Er löste den Haltegurt. Langsam turnte er aus dem Sitz.
Plötzlich tauchte Salvez hinter dem Kapitän auf. Seine Handkante krachte seitlich gegen den Halsansatz. Guerro sackte zusammen. In bizarrer Langsamkeit fiel er nach unten, wie Laub von einem Baum.
»Sie haben das Kommando, Prinz Richard.«
»Was empfehlen Sie, um aus diesem Schlamassel herauszukommen?« Richard zog sich wieder in den Sessel.
Salvez verhakte seine Füße geschickt, sodass er die Monitore im Blick hatte. »Wir müssen die Drift unserer Schiffe angleichen.«
»Empfangen Sie, Diver?«
»Wir hören.«
Salvez griff an Richard vorbei und rief die Funktionsdaten der Manövriertriebwerke auf. Er fluchte.
»Das viele Rot ist wohl kein Grund zur Freude«, vermutete Richard.
»An Steuerbord sind wir gelähmt, an Backbord können wir noch humpeln.«
»Das dauert uns zu lange, Rana! Wir brechen uns los! Tut mir leid für euch, Jungs ...«
»Warten Sie!«, rief Richard. Er holte eine andere Anzeige auf den Schirm. »Was ist mit dem Monarch?«
»Das Landungsschiff hängt noch am Andockring.«
»An welcher Seite?«
Salvez tippte. »Steuerbord. Sie meinen ...«
»Wir haben eine Lösung, Diver! Wir leihen uns die Steuerdüsen unseres Monarch! Damit können wir uns Ihrer Drift anpassen.«
»Sind Sie sicher?«, zweifelte die Stimme.
»Absolut!«, bestätigte Richard. Er schaltete das Mikrofon aus. »Ich brauche Ihren Sachverstand«, sagte er zu Salvez. »Besetzen Sie eine der anderen Stationen und koordinieren Sie die Manöver mit dem Monarch. Ich beruhige unsere nervösen Freunde.«
2
Orbitalstation Star Chip, Canopus IV
Magistrat Canopus
21. September 3029 TNZ
Der Wert verschiedener Güter unterliegt stark unterschiedlichen Schwankungen. Am stabilsten ist der Wert einer C-Note: eine Sekunde Hyperpulsübertragungszeit für eine reine Textnachricht nach Standardschema. Die größte Schwankungsbreite hat der Wert eines Menschenlebens.
– Peter Blane, Handreichung für Investoren, 3015 –
Als Emma Centrella mit ihrem Schwarm von It-Girls und Leibwächtern in die fünfzig Meter durchmessende Hohlkugel des Diamantsaals schwebte, erlöste sie Richard von der kaum verhohlenen Neugier der Sternchen, Klatschreporter und Möchtegern-Prominenten. Zufrieden sog er etwas von seinem türkisfarbenen Drink durch den Halm, während er sie betrachtete.
Die bunten Lichtfinger verfälschten die Farben. Von Holografien wusste Richard, dass ihre Haut den Ton von Zimt hatte. Sie trug ein enges Kleid, am Dekolleté tief ausgeschnitten, auf halber Höhe der Oberschenkel geschlossen, um auch in der Schwerelosigkeit Einblicke aus ungünstigen Winkeln zu verwehren. Die engen Strumpfhosen nahmen die helle Farbe des Kleids auf, waren aber halb durchsichtig. Raffinierte Spitze umschmeichelte wohlgeformte Beine. Bis zu den Ellbogen reichten die Handschuhe, die Oberarme blieben frei. Die beiden auf Höhe der Schulterblätter befestigen Schleppen schufen die Illusion von sanft schlagenden Flügeln.
Inmitten der wummernden Musik und der tanzenden Menge wirkte Centrella trotz ihrer geringen Körpergröße wie eine Löwin, die sich in ihrem Revier umsah. Ihre hoch angesetzten Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht eine Härte, die mit den vollen Lippen kontrastierte. Das schwarze Haar trug Emma Centrella zu einem dicken Zopf geflochten, dessen Spitze zwischen ihren Brüsten zuckte, als sie den Kopf wandte.
Sie hob das Kinn ein Stück weit, als sie ihn entdeckte. Mit genau bemessenem Druck gegen eine der Stangen des dreidimensionalen Gitters, das sich durch den Raum zog, stieß sie sich in seine Richtung. Die Korrektur, die sie auf halbem Wege mit einem sanften Tritt vornahm, wäre Richard beinahe entgangen.
Er stellte seinen Kelch auf die Bar, wo er wegen seiner magnetischen Standfläche haften blieb. Richard zog die weißen Handschuhe glatt. Im Gegensatz zu seinen ältesten Geschwistern bekleidete er keinen militärischen Rang, aber sein Anzug unterschied sich kaum von einer Uniform. Die Hofschneider bestanden auf strengen Linien, um die weithin bekannte konservative Seriosität des herzoglichen Hauses zu betonen. Farblich hatte man sich für Ocker entschieden, was aber von den Lichtfingern, die in der Tanzhalle den Hauptteil der Beleuchtung übernahmen, sabotiert wurde.
Bei Emma Centrella fiel dieser Effekt kaum ins Gewicht. Vermutlich war ihr Kleid bei Tageslicht weiß. Sie kannte sich in den canopischen Vergnügungstempeln aus. Während ihre Begleiterinnen die Partygäste in der näheren Umgebung überschwänglich begrüßten und dadurch ablenkten, schwebte sie auf ihn zu wie ein dunkelhäutiger Engel.
Sie setzte an, ihn zu begrüßen, aber er fing eine ihrer Hände, als sie sich an der Theke abbremsen wollte, zog sie an seine Lippen und hauchte einen Kuss darüber. »Ich werde den Hersteller meines Abspielgeräts verklagen, Hoheit«, sagte er. »Die Holografien werden Ihrer Schönheit in keiner Weise gerecht.«
Entwaffnet lächelte sie. »Ganz Canopus spricht von Ihrer Heldentat, Prinz Richard.«
»Wollen Sie etwas trinken?«
»Später. Jetzt würde ich lieber mit Ihnen tanzen.«
Richard hakte sie unter und stieß sich ab, sodass sie in einen freien Bereich des Tanzraums trieben. Er bemerkte, dass sie kaum merklich die Gitterstangen touchierte, um ihre Flugbahn zu justieren. Bei einem Kreuzungspunkt hielten sie sich an den Stangen fest.
»Hier kann man uns schwieriger belauschen als an der Bar«, erklärte Centrella. Ihre grauen Augen waren groß und rund. Sie passten zu dem Mund, der glitzerte, als klebte Zucker daran.
»Und wenn wir uns dreidimensional durch den Raum bewegen, wird den Beobachtern das Lippenlesen erschwert.« Auch solche Überlegungen wurden einem Kind im herzoglichen Haushalt eingetrichtert.
Eine zwei Meter durchmessende Lichtkugel erschien im Zentrum des Raums. Darin schwebte die beleibte Sängerin, der Richard auf dem Sprungschiff begegnet war. Madame Carous, wie er inzwischen wusste. Sie hatte sich überschwänglich bei ihm bedankt.
»Ich hoffe, du hast noch nicht die Nase voll von der Nullgravitation?«, sagte Centrella.
»Ich habe sie beinahe schon vermisst. Ich war eine Woche auf einem Landungsschiff.«
»Auf dem Monarch, den du für dieses spektakuläre Manöver eingesetzt hast.«
Richard nickte. »Eigentlich hatte ich kaum etwas damit zu tun. Der Navigator sollte einen Orden bekommen.«
»Bescheidenheit gilt bei uns als Laster!«
»Ich habe nur die richtigen Leute zusammengebracht.«
»Wie jeder Konzernchef, jeder General und jeder Staatsmann.«
Die Musik machte eine Pause. Madame Carous sah zu ihnen auf. »Meine sehr verehrten Damen und Herren!«, wandte sie sich an das Publikum. »Seit einem halben Jahr freue ich mich darauf, für Sie singen zu dürfen. Aber einige Minuten muss das noch warten. Denn das erste Lied des Abends kann ich nicht für Sie vortragen. Ich muss es demjenigen widmen, dem ich mein Leben verdanke ‒ und mit dieser Schuld bin ich nicht allein.«
Sie zeigte auf ihn.
»Richard Humphreys von Andurien!«
Die Menge applaudierte.
Emma Centrella hob eine Braue. »Es scheint, dass wir die volle Aufmerksamkeit haben.«
»Ich habe von Ihren Tanzkünsten gehört. Bitte retten Sie uns.«
Harte Klänge orchestrierten Madame Carous‘ arienhaften Gesang. Volle Bässe und elektronische Riffs hämmerten durch den Raum, so laut, dass Richard seine Organe vibrieren fühlte.
Einladend spreizte Centrella die Finger. Richard nahm ihre Spitzen. Eine typische Haltung im Null-g-Tanz, bei dem der leichteste Impuls genügte, eine Bewegung auszulösen.
»Jetzt bin ich Ihnen ausgeliefert!« Richard musste rufen, um die Musik zu übertönen.
Sie lachte. »Warum siezt du mich? Wir sollen doch heiraten. Wie es aussieht, wirst du bald noch ganz andere meiner Körperteile kennenlernen als meine Finger. Und du wirst sie nicht nur mit deinen Händen erkunden.« Sie zwinkerte ihm zu.
Langsam um eine Achse zwischen sich kreisend trieben sie durch den Raum.
»Was ist?«, fragte Emma Centrella.
»Nichts. So eine offene Rede ist mir nur ungewohnt.«
Säuerlich verzog sie den Mund. »Ich habe gehört, dass ihr in Andurien etwas verklemmt seid. Ich hoffe, du hast schon ... Ich meine, ich muss dir doch nicht alles beibringen?«
»Keine Sorge. Ich bin voll funktionstüchtig.«
Unvermittelt trat sie gegen eine Stange, was ihr einen heftigen Impuls gab. Die Verbindung an den Fingerspitzen reichte nicht mehr aus. Richard wollte ihre Handgelenke greifen, erwischte aber nur eines. Centrella schwang über seinen Kopf. Er fühlte ihren Zug. Sie war kräftiger, als sie aussah. Er wirbelte herum. Als er sie wieder ansah, fasste sie den Ellbogen des freien Arms.
Ein anerkennendes Raunen ging durch die Menge.
»Sie denken, ich hätte das geführt«, erkannte er.
Centrella lächelte. »So kann man sich täuschen.«
»Wie bei der Rettung der Sprungschiffe. Auch dabei habe ich im Wesentlichen zugeschaut.«
»In den Berichten klingt das anders. Wer ist auf die Idee gekommen, die Triebwerke des Monarch zu nutzen?«
»Ich«, gab er zu.
Wieder wirbelte sie herum. Richard verlor sie für einen Augenblick aus dem Sichtfeld. Dann spürte er ihren Griff an seinem Schienbein, wurde zu ihr hinuntergezogen und übergangslos in eine Tanzhaltung gebracht.
»Das war ein kluger Zug. Du hast unersetzbare Hochtechnologie gerettet. Ein Laderaum der Rana ist mit dem Stauraum für das Sprungsegel der Diver verschmolzen. Es wird nicht billig, aber beides kann man austauschen. In ein paar Wochen sind die Schiffe wieder flott.«
»Es gab drei Tote«, erinnerte er.
»Kanntest du sie?«
»Sie gehörten zur Mannschaft der Rana. Mit uns Passagieren hatten sie nichts zu tun.«
»Ich habe mir die Sache genau angesehen. Kein SeniorTech war dabei. Sie sind leicht zu ersetzen.«
Richard runzelte die Stirn. »Wir bekamen ein Rettungsangebot von der Nadirstation. Für eine halbe Million C-Noten hätten sie uns Hilfe geschickt.«
Centrella grinste. »Ich kenne die Stationskommandantin. Eine gerissene Elster, die eine Gelegenheit erkennt, wenn sie sich bietet. Damit hätte sie sich gesundgestoßen. Sie bekommt zehn Prozent von allem Neugeschäft, das sie an Land zieht.«
»Wir waren in akuter Lebensnot.«
»Und wenn du den Kopf verloren und das erste Angebot angenommen hättest, wärst du als armer Mann nach Canopus IV gekommen. So bist du der Held des Sprungpunkts.«
Zur Abwechslung leitete Richard einige Tanzfiguren ein. Sie ließ ihm die Illusion, zu führen.
»Sie wären ohnehin nicht schnell genug gekommen«, nahm Richard den Faden wieder auf.
»Das werden wir nie erfahren. Auf jeden Fall wären die Angebote mit jeder Minute billiger geworden. Aber so ist es noch besser. Jetzt machst du Gewinn.«
»Wieso das?«
Sie zwinkerte verschwörerisch. »Das andere Landungsschiff hat euch doch etwas voreilig verlassen.«
»Der Buccaneer.«
»Verstoß gegen die Raumflugordnung. Ein Teil der Strafzahlung steht dem Geschädigten zu.«
»Aber die Rana gehört mir nicht.«
»Kapitän Guerro wird sicher einer Teilung des Profits zustimmen, wenn du ihm, über die Beziehung zu deiner baldigen Verlobten, gute Anwälte besorgst.«
Verlobte. Richard schaffte es nicht, dieses Wort, Emma Centrellas Gesicht und sich selbst in Verbindung zu bringen.
Sie beendeten den Tanz unter dem Applaus der Menge und schwebten an den Rand des Saals, wo ein Kordon aus Centrellas schwatzenden Freundinnen sie sogleich abschirmte.
Richard griff in die Innentasche seine Jacketts und zog einen durchsichtigen Zylinder heraus. Er öffnete ihn und entnahm eine Kular-Lilie. »Aus den Gärten von Jojoken«, sagte er, als er sie überreichte. Die Blüte nahm immer die Komplementärfarbe des auf sie treffenden Lichts an. »Ich danke für den Tanz und hoffe, dass weitere folgen werden.«
Centrella öffnete den Silberanhänger ihrer Kette und entnahm zwei bunte Pillen, von denen sie eine an Richard weitergab.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ein Abenteuer.« Ihr Blick hatte etwas Verschwörerisches, als die kleine Kugel zwischen ihren vollen Lippen verschwand.
3
Adiria, Canopus IV
Magistrat Canopus
22. September 3029 TNZ
Für einen Humphreys hat die Liebe zum Herzogtum absolut zu sein.
– Catherine Humphreys, Herzogin von Andurien, 3020 –
Als Richard sich aufsetzte, spürte er einen Stich durch seinen Kopf dringen. Stöhnend rieb er seine Schläfen.
Probeweise öffnete er die Augen. Warmes Sonnenlicht fiel durch eine verglaste Front in einen mit hellem Marmor ausgekleideten Raum. Er war so groß, dass er beinahe leer wirkte. Richard saß auf einem seidenbezogenen Bett, über dem sich ein Himmel aus goldfarbenem Stoff spannte. Auf dem Boden lag ein dicker, weißer Teppich, bedeckt mit Kleidungsstücken, von denen Richard einige als seine eigenen erkannte. Geriffelte Halbsäulen zogen den Blick empor zu der hohen Decke. Durchsichtige Vitrinen standen an den Wänden oder wölbten sich daraus hervor. Still zollte Richard dem Architekten Respekt für die Fähigkeit, mit Licht und Weite einen Raum zu schaffen, der zugleich Stärke und Freiheit ausstrahlte.
Der Kopfschmerz pochte heftiger, als er aufstand. Er suchte seine ockerfarbene Hose. Während er noch mit dem linken Bein haderte, fiel sein Blick auf ein Beistelltischchen. Darauf stand die Kular-Lilie in einer gedrehten Vase. In dem warmen Sonnenlicht hatte sie eine dunkelblaue Blüte.
Irgendwo spielte leichte Musik. Die Sängerin war wohl das Gegenteil von Madame Carous. Sie hatte die unbeschwerte Stimme einer Frau Anfang zwanzig, deren größte Sorge in der Auswahl des Parfums bestand. Richard überlegte, ob er durch eines der Portale gehen sollte. In Rahmen und Türsturz nahmen sie die Gestaltung der geriffelten Säulen auf. Rote Samtvorhänge ersetzten die Türblätter.
Er entschied sich, zunächst den Vitrinen einen genaueren Blick zu gönnen. Er betrachtete eine aus Jade modellierte Statuette, die eine stilisierte Frau in eleganter Pose zeigte. Auf ihrem Sockel verkündete eine Plakette, dass sie der ›Siegerin des Adenola-Turniers im Null-g-Tanz‹, Kategorie ›weiblich, solo‹, des Jahres 3028 gehörte. Der Name ›Emma Centrella‹ war in geschwungenen Lettern graviert. Außer weiteren Trophäen, die von ähnlichen Erfolgen kündeten, füllte eine Vielzahl von Fächern die Vitrinen. Manche waren traditionell gestaltet, aus bemaltem Papier oder bestickter Seide. Andere bestanden aus blattdünnem Holz, manche aus Metall. Während er sie betrachtete, fiel Richard auf, dass sie farblich sortiert waren. In der Vitrine mit der Jadestatuette befanden sich die gelben, jetzt kam er zu den roten.
Er beugte sich vor, um sich zu überzeugen, dass er keiner Täuschung erlag. Zwischen den metallenen Rippen eines der Fächer flimmerten Energiefelder! Beeindruckt hielt er die Luft an.
»Du hast mein bestes Stück gefunden«, hörte er Emmas Stimme hinter sich.
Er drehte sich um.
Sie trug einen safranfarbenen Morgenmantel aus Seide. Da sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihn zu schließen, gewährte er umfassende Einblicke. Sie belächelte seinen Versuch, den Blick nicht zu tief gleiten zu lassen.
Barfuß reichte sie ihm gerade einmal bis zum Kinn. Das tat ihrer Attraktivität keinen Abbruch, zumal sie mit diesem Umstand zu spielen wusste. Sie sah aus ihren großen Augen zu ihm auf, als sie ihm eines der Gläser reichte, das sie mitgebracht hatte. »Das wird die Bohrmaschinen aus dem Kopf vertreiben.«
»Dann kann ich es gut gebrauchen.« Er nahm einen Schluck der prickelnden Flüssigkeit und wandte sich wieder dem Fächer zu. »Waren Energiefelder, die stabil genug sind, um Luft Widerstand zu bieten, nicht schon zu Sternenbundzeiten experimentelle Technologie?«
Warm fühlte er ihre Brüste an seinem nackten Rücken, als sie sich an ihn schmiegte und ihn von hinten umarmte. »Wie so vieles ein Abfallprodukt militärischer Forschung. Der Traum vom Schutzschirm.«
»Und ihr habt ihn zu Ende geträumt?« Er hörte die Erregung in der eigenen Stimme.
»Das hättest du der Peripherie gar nicht zugetraut, was?«
Er drückte die Fingerspitzen der Linken an das Glas der Vitrine. »Ich bin kein Soldat, aber ...«
»Ich schon«, unterbrach sie ihn. »Nimm dich in Acht! Wenn ich eifersüchtig werde, komme ich mit meinem Grasshopper, um nach dem Rechten zu sehen.«
»... aber Schirmtechnologie ... Das würde das Gefechtsfeld revolutionieren! Alle Doktrinen zur Stahlkeramikpanzerung wären obsolet.«
»Ja. Das wären sie.« Sie seufzte theatralisch. »Sind sie aber nicht. Der Fächer hat eine Membran. Sie ist nur zu dünn, als dass man sie durch das Leuchten des Energiefelds würde sehen können.«
Richard fühlte die Erregung von sich abfallen. »Dann ist es militärisch nutzlos?«
»Ungefähr so massiv wie eine Holografie über einer Aluminiumfolie.« Sie küsste ihn zwischen die Schulterblätter. »Heute Nacht warst du wärmer.«
Sanft löste er ihre Arme. »Deine Medizin wirkt schon. Mein Kopfschmerz verflüchtigt sich.«
»In jahrelanger Feldforschung habe ich das beste Mittel gegen einen Kater gefunden.«
»Haben wir das alles getrunken?« Richard zeigte auf eine Ansammlung umgestürzter Gläser und halbleerer Flaschen.
Emma kicherte. »Wir mussten uns zwischendurch stärken.«
»Ich kann mir denken, was wir getrieben haben ...«
»Das ist die passende Formulierung!«, lachte Emma.
»... aber ich erinnere mich nicht daran.«
»Soll ich es dir zeigen?« Wieder schmiegte sie sich an ihn.
Er legte den Arm um ihre Schultern. Sie war muskulöser, als sie aussah. »Wir haben die Orbitalstation mit einer Fähre verlassen. Dann waren wir in diesem Club ...«
»Wir waren in vielen Clubs.« Sie küsste seine Rippen. »In Adiria haben wir kaum einen ausgelassen.«
»Und dann hast du mich in diesen Palast gebracht?«
»Keine Sorge, außer uns sind nur ein paar Bedienstete hier. Meine Mutter schlägt sich in Crimson mit ihren Ministerinnen herum. Keiner hat uns gehört.«
Er sah auf das zerwühlte Bett.
»Uns würde auch niemand hören, wenn wir eine kleine Bonusrunde einlegen würden«, neckte Emma. »Wir brauchen also keine Angst zu haben, dass unsere gestrengen Mütter etwas herausfinden.«
Richard machte sich los. Der Teppich kitzelte unter seinen Füßen. Er stellte das Glas ab und hob sein Hemd auf. »Im Magistrat herrschen lockere Sitten.«
»Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass Herzogin Catherine Humphreys ein Problem damit hat, wenn ihr Sohn eine Nacht mit seiner Zukünftigen verbringt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Solche Sachen interessieren sie nicht.«
»Ich habe gehört, dass Andurianer prüde sind. Aber deine Vorstellung hier verstehe ich nicht! Letzte Nacht hast du bewiesen, dass du mit einer Frau umgehen kannst. Und jetzt? Willst du mit mir Tabletop spielen? Findest du mich etwa hässlich, wenn du nüchtern bist?« Demonstrativ stützte sie eine Hand in die Seite, wobei sie den Morgenrock zur Seite zog.
Er seufzte. »Du bist eine schöne Frau.«
»Sehr richtig, Richard Humphreys! Warum benimmst du dich dann nicht wie ein Mann? Was passt dir nicht?«
Richard setzte sich auf das Bett. Er betrachtete die Kular-Lilie. »Ein schönes Blau«, meinte er.
Sie kniete sich hinter ihn. »Deine Augen haben auch ein schönes Blau.«
»Das liegt bei den Humphreys in der Familie.«
»Hey!« Mit der flachen Hand schlug sie auf seinen Rücken. »Wir sind gerade dabei, dass sich ein halbnackter Mann mit einer halbnackten Frau in diesem Raum befindet. Der Fehler daran ist das ›halb‹. Ich will nichts von Familien hören.«
»Aber die Wahrheit ist, dass ich nur wegen meiner Familie hier bin. Der Befehl meiner Mutter hat mich in dein Bett gelegt, und der Befehl meiner Mutter wird uns vor den Altar führen. Ein paar leere Worte, mehr kann ich dir nicht bieten.«
Sie fasste ihn an den Schultern und drehte ihn herum. Wieder spürte er ihre Kraft. »Du würdest lieber eine andere heiraten?«
»Ich werde dich niemals lieben, Emma. Ich finde, das solltest du wissen. Ich liebe die Mutter meiner Tochter.«
»Du hast mir doch erzählt, dass deine Tochter schon zehn Jahre alt ist! Warum hast du diese Frau nicht schon längst geheiratet? Warte!« Sie hob die Hand. »Dynastische Verpflichtungen.«
»Wenn es nur das wäre.« Er stand auf. »Elala und ich waren damals sehr jung. Als sie mit Dalma schwanger war ...« Er schluckte. »Wir waren überfordert. Wir fanden einen Arzt, der, wie wir dachten, unsere Unvorsichtigkeit ungeschehen machen könnte.«
»Ihr wolltet das Kind abtreiben lassen.«
Der Gedanken schnürte ihm die Kehle zu, aber er nickte. »Der Arzt wurde erwischt, bevor unser Termin anstand. Die Beweise waren so eindeutig, dass er einen Monat später exekutiert wurde.«
»Weil er einen herzoglichen Spross beseitigen wollte?«
»Weil er vorher schon mehr als ein Dutzend Abtreibungen vorgenommen hatte.«
»Bei uns wäre das kein Verbrechen.«
»Auch ein Grund, warum ich jetzt hier bin. In Andurien weiß die Öffentlichkeit nichts von meinem damaligen Vorhaben, auch wenn es Gerüchte über mein Verschwinden gab. Wenn irgendwann alles ans Licht käme, hätte ich daheim einen schweren Stand.«
»Selbst als künftiger Herzog?« Emmas Verwunderung war unüberhörbar.
»Es ist eines unserer grundlegenden Gesetze.«
Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
»Meine Mutter hat mich verbannt. Ich dachte, sie würde sich wieder beruhigen. Aber sie schickte Elala fort. Ich weiß nur, dass sie sich außerhalb des Herzogtums befindet und noch immer Geld bekommt, damit sie niemals heimkehrt.«
»Warum hat deine Mutter sie nicht auch hinrichten lassen?«
»Die Strafe für den Versuch ist Verbannung. Außerdem ist Elala die Mutter ihrer Enkelin. Dalma wächst im herzoglichen Haushalt auf. Man sagt, sie ist meiner Mutter ähnlich.«
»Das muss kein Kompliment sein.«
»Es ist sicher keins, wenn man es auf Atreus sagt.« Er lächelte schwach. Die Zentralgewalt der Liga war in Canopus ebenso verhasst wie in Andurien, was auch eine Grundlage für das gute Einvernehmen zwischen Magestrix Kyalla Centrella und Herzogin Catherine Humphreys bildete.
»Ich habe Elala das letzte Mal gesehen, als ich an Bord des Schiffs nach Kanata ging.«
»Wie lange ist das her?«
»Acht Jahre, zehn Monate und vier Tage.«
Emma starrte ihn an.
Langsam schob sie sich zurück, stand auf und schloss ihren Morgenmantel. Nachdenkliche Falten furchten ihre Stirn. Sie drehte sich weg.
»Ich muss meinen Mech checken«, behauptete sie. »Das Sommermanöver der Magistrats-Miliz steht an.«
Am Portal hielt sie inne, die Hand am geriffelten Rahmen. »Mutter hat dir eine Wohnung in unserem Palast in Crimson herrichten lassen.« Sie sah ihn über die Schulter an. »Ich werde jemanden anweisen, dich dorthin zu fliegen.«
»Ich werde fort sein, wenn du zurückkommst.«