Lampenfieber …! Für viele Menschen ist dieser Zustand gleichbedeutend mit Nervosität und Angst. Manch hochbegabter Musiker gab aus diesem Grund schon seinen Berufswunsch als auftretender Künstler auf. Muss das wirklich sein? Oder kann es gelingen, die lähmende Form des Lampenfiebers in eine anspornende, ja inspirierende umzuwandeln?
Aus der Beschreibung der Ursachen des Lampenfiebers gewinnt der Autor mentale Strategien zu dessen Bewältigung bei öffentlichen Auftritten. Checklisten am Ende jedes Kapitels fassen die wichtigsten Aspekte zusammen. Ziel des Buches ist es, die jeweils persönliche Wirkungsweise des Lampenfiebers zu verstehen, das eigene »Lampenfieberprofil« zu erkennen und kreativ einzusetzen.
Gerhard Mantel (1930–2012), international erfahrener Cellist und Pädagoge, lehrte an der Musikhochschule Frankfurt und war Ehrenpräsident der deutschen Sektion der »European String Teachers Association« (ESTA). 1993 gründete er das Forschungsinstitut für Instrumental- und Gesangspädagogik e. V. und führte Kurse und Seminare im In- und Ausland durch. Weitere Veröffentlichungen bei Schott Music: »Cello üben«, »Einfach üben.185 unübliche Überezepte für Instrumentalisten«, »Intonation. Spielräume für Streicher« und »Interpretation. Vom Text zum Klang«.
Gerhard Mantel
Mut zum Lampenfieber
Mentale Strategien für Musiker
zur Bewältigung von Auftritts- und Prüfungsangst
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Bestellnummer SDP 53
ISBN 978-3-7957-8601-4
© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten
Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer SEM 8385
© 2008, 2013 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Inhalt
Vorwort
Teil A: Das Phänomen Lampenfieber
I. Lampenfieber – warum?
1. Biologische Betrachtungen
2. Gründe – für das Musizieren und das Lampenfieber
3. Angst – Einbildung
4. Lampenfieber und dessen Folgen
5. Lampenfieber akzeptieren
II. Lampenfieber-Situationen
1. Lampenfieber – allein mit dem Publikum
2. Lampenfieber im Ensemble
3. Lampenfieber im Orchester
4. Lampenfieber für andere
III. Phasen des Lampenfiebers
1. Die Bedeutung des Lebensalters
2. Gewöhnung
3. Lampenfieberkurven
IV. Künstler und Hörer als System
1. „Moloch“ Publikum
2. Das einzelne Individuum
3. Was nimmt der Hörer wahr? – Interpretatorische Aspekte
3.1 Dynamik
3.2 Rhythmus und Zeitgestaltung
3.3 Das Zeitfenster
3.4 Tonansatz und Artikulation
3.5 Klangfarben
4. Langeweile oder Risiko?
5. Innen- und Außenwahrnehmung
Teil B: Die langfristige Vorbereitung des Auftritts
I. Die Verantwortung des Lehrers
1. Das „Richtig-falsch-Syndrom“
2. Selbstwertgefühl
3. Spieltechnik
4. Schamgefühl
5. Selbstständigkeit
6. Wettbewerb
7. Vorspielgelegenheiten
II. Mut
1. Mut zur eigenen Einrichtung eines Werks
2. Mut zum Ausdruck
3. Mut zur Mitteilung
4. Mut zur Einmaligkeit
5. Mut zur Charakterisierung
6. Mut zur Variation
7. Mut zur Dynamik
8. Mut zur freien Tempogestaltung
9. Mut zur Geste
10. Mut zur Übertreibung
11. Mut zur Improvisation
12. Mut zur Sprache
13. Mut zur Rolle
14. Mut zur Unabhängigkeit
III. Lernkanäle: Vielfachrepräsentation im Gehirn
1. Das motorische Gedächtnis
2. Das kognitive Gedächtnis
2.1 Notennamen
2.2 Intervalle
2.3 Notenbild
3. Das strukturelle Gedächtnis
4. Das semantisch-syntaktische Gedächtnis
5. Das emotionale Gedächtnis
IV. Überituale
V. Umgang mit Fehlern
1. Einstellung zum Fehler
2. „Fehlerfreundlichkeit“ und Perfektion
3. Absichtliche Fehler
4. Fehlerwiederholung und Einprägung
VI. Mentales Training
VII. Zeit und Raum
1. Zeitgestaltung
2. Pausen
3. Langsames Üben und Tempovarianten
4. Raum beanspruchen
VIII. Programmgestaltung
Teil C: Vor dem Konzert
I. Der Tag des Auftritts
1. Ausgeschlafen?
2. Kleidung
3. Arbeitswiderstand
4. Akustik, Beleuchtung – und mehr
5. Essen
6. Mitmenschen
7. Einspielen
8. Keine kurzfristigen Änderungen
9. Selbsteinschätzung
10. Keine negativen Selbstanweisungen
11. Das Ritual
11.1 Das Ritual und seine Regeln
11.2 Atemübungen
11.3 Die Bedeutung der Langsamkeit
11.4 Der Countdown
II. Der Gemütszustand vor dem Konzert
1. Wie übt man einen bewegten Zustand?
2. Gedanken schaffen Fakten
3. Geduld
4. Gegen den Kontrollzwang
5. Vertrauen – Misstrauen – Fehlertoleranz
6. Ablenkbarkeit
7. Medikamente
Teil D: Das Konzert
I. Auftreten
1. Haltung und Selbstbewusstsein
2. Spannung – Entspannung
3. Raumgefühl
4. Mimik und Gestik
II. Während des Spiels
1. Selbstlob
2. Die Macht des Musikers
3. Der Dialog mit dem Publikum
4. Lauschen
5. Sensibilisierungsbewegungen
6. Ausdrucksbewegungen
Schlussbemerkung
Anhang
Checkliste: Was ist bei einem Probespiel zu beachten?
Der Kenner
Literaturhinweise
Mensch zu sein bedeutet Angst zu haben.
(C. Arrau)
Angst ist das Schwindelgefühl der Freiheit.
(S.A. Kierkegaard)
Vorwort
Lampenfieber…! Für viele Menschen ist dieser Zustand gleichbedeutend mit Nervosität und Angst. In Umfragen bestätigen 70 Prozent aller Musikstudierenden, dass sie immer oder doch zeitweise Probleme mit dem Phänomen „Lampenfieber“ haben, und manch hoch begabter Musiker musste aus diesem Grund seinen Berufswunsch als auftretender Künstler aufgeben. Muss das wirklich sein?
Im vorliegenden Buch wird der Versuch unternommen, aus der Sicht des ausübenden Künstlers und des Pädagogen, der dem Lampenfieber in vielen Formen begegnet ist, Gründe aufzuzeigen und Methoden zum Umgang mit dem Lampenfieber, ja zu seiner Meisterung darzustellen. Es sollen Wege beschrieben werden, wie die lähmende, bedrohliche Form des Lampenfiebers in seine „anstachelnde“ Variante umgewandelt werden kann – wie ein „Anzünder“ bei einem Grillfeuer. Nicht jede Methode ist für jeden Menschen gleich wirksam, doch scheinen einige der angeführten Aspekte beim Lampenfieberempfinden und -verhalten fast aller Menschen eine Rolle zu spielen.
Das Buch soll nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es ein paar billige und garantierte Tricks zur Überwindung des Lampenfiebers. Dafür ist Angst eine zu umfassende und zu tief verankerte Eigenschaft des Menschen. Jeder Mensch hat Angst. Angst zu haben ist keine Schande. Bei Bewerbungen zur Pilotenausbildung z. B. haben „angstfreie Draufgänger“ keinerlei Chancen. Angst hat eine zur jeweils eigenen Biographie gehörende ganz individuelle Ausprägung. Das Adrenalin bewirkt offensichtlich bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Reaktionen, die in ihrer milderen Ausprägung einen Anreiz, im stärkeren Fall lähmende Angst produzieren. In letzterem Fall ist Lampenfieber eine subjektive Überbewertung des Risikoaspekts gegenüber dem Anreizaspekt einer Herausforderung. (Die Angstform kann bei manchen Musikern sogar einen so hohen Grad erreichen, dass nur psychologisch-therapeutische Hilfe möglich und sinnvoll erscheint. In extremen Fällen sollte deshalb keine Scham bestehen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, um schweren beruflichen und sozialen Schaden zu verhindern.)
Wir beschäftigen uns hier aus nahe liegenden Gründen in erster Linie also mit den leider so verbreiteten negativen, leistungshemmenden Wirkungen des Lampenfiebers. Denn die positiven Wirkungen bedürfen ja keiner speziellen Therapie; es reicht, wenn wir uns darüber freuen! Und da, wo wir uns darüber freuen können, sollten wir diese Freude als jederzeit verfügbare Erinnerung fest in unserem Gedächtnis verankern!
Die möglichen Strategien zur Meisterung des Lampenfiebers basieren ebenso wie die Angst auf biographischen Wurzeln – schädlichen wie nützlichen. Es steht also nicht die Frage im Vordergrund, wer warum wann wie viel Lampenfieber hat, sondern: Was kann ich als Individuum unternehmen, um meine ganz persönliche Art des Lampenfiebers, mein „Lampenfieberprofil“, besser zu verstehen und kreativ zu bewältigen?
Ein wichtiger Aspekt im vorliegenden Buch ist die gedankliche Aufarbeitung des Phänomens Lampenfieber. Gedanken sind Fakten und schaffen daher auch Fakten im emotionalen Bereich wie dem des Lampenfiebers. Eine Änderung des Blickwinkels, unter dem eine Konstellation – etwa ein Vorspiel, ein Probespiel oder ein Konzert, ja selbst ein Vortrag – gesehen wird, kann eine emotional und damit geradezu körperlich spürbare Erleichterung in einem Stresszustand wie dem des Lampenfiebers bewirken.
Es ist für jeden, der ins Rampenlicht tritt, eine tröstliche Tatsache, dass gerade die größten Musiker oft unter erheblichem Lampenfieber gelitten haben bzw. leiden und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb – kaum auf der Bühne angekommen – wunderbare künstlerische Leistungen vollbracht haben und vollbringen! Deshalb kann ich zu mir sagen: „Genau so fühlte sich Vladimir Horowitz oder Pablo Casals oder Svjatoslav Richter oder Dietrich Fischer-Dieskau vor jedem Konzert, wie ich mich vor diesem Auftritt heute fühle!“ Casals z. B. berichtete, dass ihm bei einem leichten Unfall, bei dem seine Hand minimal verletzt wurde, zunächst durch den Kopf schoss: „Nie mehr Lampenfieber!“ Erst der zweite Gedanke ließ ihn erschrecken: Er könnte vielleicht nicht mehr Cello spielen! – Ich habe also eine ganz tiefe, gefühlsmäßige Gemeinsamkeit mit diesen Künstlern. Ich bin nicht allein mit meinem Lampenfieber! Selbst wenn ich jetzt Svjatoslav Richter wäre, so hätte ich doch Lampenfieber.
Auch wenn nicht jeder ein großer gefeierter Podiumskünstler werden kann, mit oder ohne Lampenfieber, so bedeutet doch die Meisterung des Lampenfiebers, der „Sieg über das Lampenfieber“, ja seine Instrumentalisierung als künstlerischer Anreiz einen gewaltigen Schritt in Richtung eines größeren Selbstbewusstseins und damit einer höheren persönlichen Lebensqualität.
Ziel muss es also sein, die psychische Energie des Lampenfiebers von ihrer negativen Erscheinungsform (Angst als „Fluchtimpuls“) in positive Aktivität („Angriff“) umzumünzen. Dann erfahren wir das Lampenfieber sogar als Notwendigkeit für Höchstleistungen. In einem Zustand, in dem Lampenfieber vor einem Konzert völlig fehlt, kann es manchmal (z. B. bei einer Konzertreise, bei der die gleichen Programme oft wiederholt werden müssen) zu einem Zustand kommen, bei dem man sich sogar dringend „etwas mehr Lampenfieber“ wünscht – sonst fehlt der „Biss“. Artur Rubinstein erzählte, dass er für ein Konzert unbedingt ein bisschen Lampenfieber brauchte, sonst langweilte er sich und das Publikum.
Die in diesem Buch dargestellten Erfahrungen zum Lampenfieber kommen aus dem künstlerischen und pädagogischen Bereich eines Streichers. Einige Beispiele sind daher vielleicht etwas „streicherlastig“. Der kein Streichinstrument spielende Leser wird die Überlegungen unschwer übertragen und seine eigenen Erfahrungen ergänzen können.
Teil A: Das Phänomen Lampenfieber
I. Lampenfieber – warum?
1. Biologische Betrachtungen
Der Begriff Lampenfieber wird in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht. Physiologisch gesehen ist Lampenfieber eine Form von Angst. Für diesen Zustand stellt unser Körper zusätzliche (psychische und körperliche) Energie bereit – durch eine erhöhte Ausschüttung von Adrenalin bei gleichzeitiger Herabsetzung der Großhirnaktivität, also des differenzierten Denkens. Angst ist Teil der genetischen Ausstattung jeder höheren Spezies; sie gehört zu mir nicht individuell, sondern zu mir als Mensch. Zum Überleben des „Tiers Mensch“ in gefährlichen Situationen stehen als Folge der Angst zwei Verhaltensalternativen zur Verfügung: Flucht und Angriff.
Der Psychologe und Angstforscher Gerald Hüther betrachtet Angst als die wichtigste Voraussetzung von Entwicklung überhaupt, auch im übergeordneten entwicklungstheroretischen Sinne. Er beschreibt sie als das verunsichernde Gefühl eines Lebewesens, für eine neu auftretende Situation im Gehirn nicht die geeigneten neuronalen Verschaltungsprogramme, d. h. Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben. Aus der Angst, nämlich diesem stark empfundenen Defizit heraus wächst dann die Suche nach geeigneteren Verschaltungen. So kann man Angst sogar als eine Bedingung für allgemeinen und persönlichen Fortschritt definieren. Angst ist in diesem Sinne ein zum Menschen gehörendes natürliches und für das Überleben notwendiges Gefühl. Es besteht also kein Grund, die Angst auch noch mit einem Schuldgefühl zu potenzieren. Niemand ist schuld an seiner Angst!
2. Gründe – für das Musizieren und das Lampenfieber
Musikmachen ist offensichtlich ein Urbedürfnis des Menschen. Musik hat keinen direkten Nutzen. In der Musik erlebe ich aber Gefühle, Energieströme, die sinnlich erfahrbare Symbole und Korrelate zu den Prozessen darstellen, die mein Leben bestimmen. Musik vertieft also mein Bewusstsein. Der Mensch ist da ganz Mensch, wo er spielt (F. Schiller). Dieser Satz lässt sich auch auf das „Spielen“ von Musik beziehen. Musik ist deshalb für uns Menschen etwas Wichtiges, ja Notwendiges.
Im Musizieren habe ich die wunderbare Möglichkeit, ohne den Umweg über die Sprache Gefühle mit Menschen auszutauschen, die ich vielleicht gar nicht kenne, die mich vielleicht gar nicht kennen. Ich kann andere Menschen in mein Spiel hereinnehmen und so meine Isolation als Individuum durchbrechen – aber nur, wenn ich Musik als etwas betrachte und erlebe, das mich mit meinen Hörern verbindet und nicht von ihnen trennt. Andernfalls stellen sich Gefühle von Verlorenheit, Isolation, Auf-sich-selbst-gestellt-Sein ein, die mit der Angst vor Kontrollverlust über mein Handeln einhergehen. Das Bewusstsein, als Künstler mit seinen Hörern verbunden zu sein, scheint einer der wichtigsten mentalen „Hebel“ zu sein, um das Lampenfieber in eine konstruktive Befindlichkeit zu transformieren.
Durch Musik kann ich über mich selbst etwas erzählen, aber auch etwas erfahren (im Sinne des „Erkenne dich selbst“), über meine Geschichte, über meine kulturell bedingte und gesellschaftlich entstandene Persönlichkeit. Woher kommt es nun, dass gerade diese ideale Kommunikationskunst, dass gerade das musikalische Spiel als Ausdruck größter Freiheit durch Lampenfieber und Angst belastet ist, durch Angst vor Fehlern, vor Versagen? Musikalisch zu kommunizieren hat doch einen viel tieferen Grund als den, keine Fehler bei einem Konzert zu machen oder bei irgendjemanden einen guten Eindruck zu hinterlassen!
Das Lampenfieber entsteht in den meisten Fällen nicht aus der Angst, musikalisch zu leichtgewichtig, vielleicht zu phantasielos in der Darstellung, im musikalischen Gespräch mit dem Zuhörer zu erscheinen, sondern hauptsächlich aus der Angst, technischen Normen nicht zu genügen, die mir so oft – vom ersten Tag meiner Ausbildung an – als Spiegel meines Wertes vorgehalten werden. Der Wert meines technischen Könnens wird gleichgesetzt mit meinem Wert als Musiker, als Mensch.
Hierin liegt eine Wurzel der Aufführungsangst. Eine Teileigenschaft wird als Wertmaßstab für den ganzen Menschen genommen: „Sage mir, wie gut du Klavier (Geige, Gitarre etc.) spielst, und ich sage dir, was du wert bist.“ Oder noch spezifischer: „Sage mir, wie sauber deine Intonation, wie groß deine Treffsicherheit, wie schnell deine Oktaven sind, und ich sage dir, wer du bist.“ Wenn der Selbstwert zwanghaft an solches Gelingen gekoppelt ist, kann die Angst vor dem Misslingen einer einzigen Stelle nicht nur die Freude und die Qualität eines ganzen Auftritts verderben, sondern sogar dem Selbstbewusstsein meiner Person dauerhaften Schaden zufügen.
So entsteht der paradoxe Teufelskreis, dass die Angst, technischen Normen nicht zu genügen, zu einem Zustand führt, in welchem ich meiner eigenen Vorstellung eines musikalischen Werkes vielleicht wirklich nicht genüge. Angst verengt den Horizont, verkürzt die als Gegenwart erlebte Zeit, lässt also die erlebbare Jetzt-Spanne schrumpfen, lässt den Körper erstarren („starr vor Angst“), verringert sogar meinen räumlichen Bewegungsspielraum und reduziert so meine künstlerischen Möglichkeiten.
Aus den bisherigen Überlegungen zum Lampenfieber geht bereits ein wichtiger Ansatz zu dessen Vermeidung hervor: Wenn es mir gelingt, mich auf die Ebene der Frage zu schwingen „Warum mache ich überhaupt Musik?“, bin ich dem negativen Einfluss des Lampenfiebers schon ein Stück weit entflohen! Denn die Antwort vermindert das Gefühl der Isolation, das immer mit Lampenfieber einhergeht. Sie heißt: Ich mache etwas für mich und andere Menschen außerordentlich Wichtiges – etwas so Wichtiges, dass sie gekommen sind, mir zuzuhören.
Im ganz „normalen“ Leben tritt – in unterschiedlicher Ausprägung je nach Persönlichkeit und Anlass – ebenfalls Lampenfieber auf, wenn wir z. B. einen Vortrag halten oder wenn ein Rendezvous mit einem für uns wichtigen Menschen bevorsteht. Der Künstler kommt auf die Bühne mit dem Gefühl, etwas Wichtiges zu betreiben, wenn er Musik macht. Vor einem Konzert habe ich gewissermaßen ein wichtiges „Rendezvous mit dem Publikum“ vor mir.
3. Angst – Einbildung
In der einschlägigen Literatur wird oft eine prinzipielle Unterscheidung gemacht zwischen Lampenfieber (stage fright) und Aufführungsangst (performance anxiety), wobei letztere als Angst davor zu verstehen ist, bei der bevorstehenden Aufführung durch die physisch wirkenden Folgen der Angst gelähmt zu werden. So hat man dann „Angst vor der Angst“. Bei allem Bemühen um eine solche Unterscheidung ist man sich aber doch in wissenschaftlichen Untersuchungen meist darüber einig, dass Lampenfieber und Angst ein und dasselbe Phänomen darstellen, wenn auch in unterschiedlichem Kontext, unterschiedlicher Stärke und Wirksamkeit. Leider schaffen die nüchterne, objektivierende, wissenschaftliche Begründung oder die statistische Beschreibung des Phänomens das Lampenfieber noch nicht weg. Objektivierung und Relativierung können aber doch helfen, die negative Wirkung der Lampenfiebergefühle zu mindern.
Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen (Epiktet, 1. Jh. n. Chr.). Im ursprünglichen Sinne ist eine Vorspielsituation keine echte Bedrohung; niemand will mir dabei ans Leben. Die echte Bedrohung wird aber ersetzt durch die „eingebildete“ Bedrohung, nämlich die einer Minderung meines Wertes als Persönlichkeit in den Augen von anderen. Die eingebildete Bedrohung wird durch diese Autosuggestion, die ja ein starkes Gefühl erzeugt, indirekt wieder zu einer echten Bedrohung. Lampenfieber ist also in der spezifischen Situation (z. B. eines Konzerts) Angst um die Einschätzung meines Wertes durch andere.
Ein beachtlicher Teil der Angst entsteht mehr aus eingebildeten als aus wirklich vorhandenen Gefahren. Ein Beispiel: Ein Hörer raschelt mit dem Programm. Es stört mich, wenn ich gerade auf dem Podium sitze und spiele – weniger wegen des Geräuschs als wegen der vermuteten Gleichgültigkeit meinem Spiel gegenüber. In Wirklichkeit mag das Geräusch dem Hörer selbst außerordentlich peinlich sein, es ist ihm bei irgendeiner Bewegung eben passiert und hatte nichts mit mir zu tun. Vielleicht entstand es sogar in einem Moment, in dem er auf mein Spiel intensiv reagierte. Trotzdem beziehe ich das Verhalten in negativer Weise auf mich selbst, da der Lampenfieberzustand das Selbstbewusstsein besonders zerbrechlich macht.
Es ist deshalb nicht nur legitim, sondern außerordentlich hilfreich, auch bei der Bekämpfung des Lampenfiebers ganz gezielt und aktiv „Einbildung“ – also mentale Kräfte – einzusetzen, die bis zu dem medizinisch längst als wirksam erkannten Placeboeffekt reichen. Besonders das „Ritual“ besitzt in hohem Maße einen solchen Placeboeffekt (s. S. 183). „Einbildung“ bewirkt ganz konkrete Veränderungen in bestimmten Teilen des ungeheuren Netzwerks unseres Gehirns und damit unseres Körpers. Sie ist insofern real, ja sogar mit neuen wissenschaftlichen Methoden optisch beobachtbar, nicht etwa nur virtuell. Wirklich ist alles, was wirkt. Auch das Lampenfieber ist eine nur von mir selbst geschaffene Wirklichkeit!
Die Art, wie Menschen Lampenfieber empfinden, wie es sich auswirkt und welche Therapiemethoden am besten ansprechen, ist so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Für jeden Einzelnen gilt: Mein Lampenfieber wird von mir selbst hergestellt, meist durch eine Überschätzung (also einer von mir selbst gesteuerten „Einschätzung“) des Bedrohungspotentials. Bei manchen Menschen bringen kognitive Methoden, wie z. B. die gründliche Analyse der zu spielenden Werke als Verringerung des „eingeschätzten“ Bedrohungspotentials (etwa von Gedächtnislücken), eine deutlich erhöhte Sicherheit. Andere sprechen auf „desensibilisierende“, psychologische Methoden besonders gut an, wie sie etwa bei der Therapie der Flugangst eine Rolle spielen. Wieder andere schwören auf Psycho- und Körpertechniken wie NLP (Neurolinguistisches Programmieren), Yoga, progressive Relaxation, Kinesiologie, Alexandertechnik, Dispokinese, Nowobalance oder Feldenkrais. Alle diese Methoden haben für verschiedene Menschen eine jeweils persönliche Bedeutung mit oft erstaunlichen Resultaten.
Es ist bemerkenswert, dass viele Menschen zu einer fast sektiererischen Einstellung „ihrer“ Methode gegenüber tendieren. Vielleicht muss das so sein: Der Glaube an die Methode ist – wie beim Placeboeffekt – ein Teil, hier vielleicht sogar der wichtigste Teil der Therapie, da er ja den Zustand, die Befindlichkeit sowohl psychisch als auch körperlich verändert, und zwar auch beim aufgeklärtesten modernen Menschen. Der Einbildungseffekt ist also weitgehend unabhängig vom Bildungsstand eines Menschen. – Folgende Anekdote soll sich tatsächlich zugetragen haben: Die beiden Atomphysiker Niels Bohr und Werner Heisenberg trafen sich in einem Chalet von Niels Bohr. Heisenberg bemerkte ein Hufeisen über der Tür und fragte seinen Freund, ob er denn an dessen Wirkung glaube. Darauf Niels Bohr: „Es hilft auch, wenn man nicht daran glaubt!“
Vielleicht ist hier der Grund zu suchen, warum die meisten Künstler mehr oder weniger abergläubisch sind. Auch dem dezidiert Un-Abergläubischen passiert es, dass er sich ganz bewusst gegen den Aberglauben stemmen muss, etwa wenn er trotzig unter einer Leiter durchmarschiert, was ja – laut Aberglauben – Unglück bringen soll, oder wenn er vor einer Aufführung angestrengt bemüht ist, sich für ein „toi, toi, toi!“ des Kollegen nicht zu bedanken (denn sich dafür zu bedanken, ist nach Bühnenaberglauben strikt verboten!).
Auch hier liegt es nahe, den Spieß umzudrehen: Wenn die Einbildung doch bei allen Menschen eine so große Wirkung hat, kann ich ja „per Einbildung“, und sei es ein bisschen in Richtung meines privaten „Aberglaubens“, eine Verbindung herstellen zwischen dieser Einbildung und einem positiven Zustand, den ich damit verknüpfen will! Wenn Lampenfieber zum großen Teil auf „Einbildung“ beruht, also auf der „Bevorzugung“ negativer Bilder von mir und meinem Auftritt, ist es legitim, als „Gegenmittel“ ebenfalls die Einbildung zu verwenden, geradezu als eine milde Form von Selbsthypnose.
Auch wenn man nicht auf die Stufe eines primitiven Aberglaubens herabsteigen will, bleibt doch festzuhalten, dass die Vorsatzbildung bei Psychotechniken wie autogenem Training oder NLP im Grunde auch nichts anderes ist als die sinnvolle therapeutische Verwendung der realen Macht der Einbildung, wie sie sich auch in abergläubischen Verknüpfungen manifestiert. Das Wort „Einbildung“ kann hier sehr wörtlich genommen werden: Wenn ich mir ein Bild mache von etwas, ist meine Vorstellung natürlich viel lebhafter, als wenn ich im abstrakten begrifflichen Rahmen bleibe. Die Einbildung wird zur Wirklichkeit. (Es sei hier an Voodoo-Todesurteile erinnert, aufgrund derer ein aus der Gesellschaft ausgestoßener, zum Tod verurteilter Mensch „per Einbildung“ wirklich stirbt, nur weil er weiß, dass er sterben soll. Auch das bekannte Phänomen der „self-fulfilling prophecy“ gehört in diesen Zusammenhang.
4. Lampenfieber und dessen Folgen
Wir müssen zwischen dem unangenehmen Gefühl der Aufführungsangst und den wirklichen Folgen eines solchen Gefühls unterscheiden. Die Maßnahmen, die ich für den erfolgreichen Umgang mit Lampenfieber ergreifen kann und die im Folgenden im Detail beschrieben werden sollen, vertreiben nur zum geringeren Teil und eher indirekt das Gefühl „Lampenfieber“ selbst, wohl aber dessen negative Konsequenzen. Dadurch entsteht ein positiver Kreislauf: Die Beobachtung, dass die negativen Konsequenzen des Lampenfiebers nachlassen oder sich überhaupt nicht einstellen, stabilisiert natürlich rückwirkend mein Selbstbewusstsein und lässt das Lampenfieber – ohne den Umweg etwa über einen Zustand von Gleichgültigkeit – umschlagen von einer defensiven in eine offensive Befindlichkeit.
Eine der Schwierigkeiten beim Umgang mit Lampenfieber ist die Tatsache, dass zwischen dem Lampenfieber und den möglichen Maßnahmen, angefangen von der gründlichen Konzertvorbereitung über Psychotechniken bis hin zur Einnahme von Betablockern, keine direkt körperlich fühlbare Kausalkette besteht. Im Alltag erkennt man Wenn-dann-Beziehungen im Allgemeinen sofort, z. B.: Wenn ich einen Topf auf dem heißen Herd stehen lasse, brennt sein Inhalt an. Wenn ich mir in den Finger schneide, tut es weh etc.
Beim Lampenfieber wirken solche Wenn-dann-Beziehungen auch, aber sie sind nicht direkt sinnlich erfahrbar. Sie wirken in einer dem Bewusstsein unzugänglichen „Black Box“; ihre Wirkung ist nur am Resultat ablesbar. Dies ist einer der Gründe, warum Lampenfieber uns als etwas so „Mystisches“, Fremdes, Gefährliches, Geheimnisvolles, Unkontrollierbares, dem Aberglauben Ausgeliefertes erscheint, auf das wir keinen direkten Zugriff haben. „Alles im Griff“ zu haben, ist ja im Leben eine Art Maxime, deren Beherrschung wir oft auch dann vorgeben, wenn wir keineswegs alles im Griff haben (niemand hat immer alles im Griff!). Der soziale Druck, „alles im Griff“ haben zu müssen, bewirkt, wenn man bei sich das Gegenteil beobachtet, natürlich ein Schamgefühl. Die Scham wirkt als sicherer Verstärker des Lampenfiebers. Schon deshalb ist es unerlässlich, dass man zumindest sich selbst gegenüber ganz „scham-los“, geradezu un-„verschämt“ den Zustand des Lampenfiebers eingesteht. Denn nur bei klar definierter psychischer Ausgangslage kann eine wie immer geartete Therapie überhaupt greifen.
Den Grad der „Sensibilität“ eines Menschen oder gar seines Könnens in ein Verhältnis zum Lampenfieber zu setzen, dürfte keine brauchbare Erkenntnis für den Einzelnen erbringen, zumal schon die Definition des Begriffs „Sensibilität“ Schwierigkeiten macht. Sicher ist nur, dass extrem unsensible Menschen meist nicht viel Lampenfieber haben. Der Umkehrschluss aber ist nicht zulässig, weil auch sehr sensible Menschen aus den verschiedensten situativen und biographischen Gründen zu mehr oder auch zu weniger Lampenfieber neigen können. (Einem Boxer würde mancher Künstler nicht allzu viel Sensibilität zutrauen und doch kann ein Boxer vor einem Kampf ein extrem starkes Lampenfieber haben.)
Auch die diversen Therapien und Psychotechniken unterliegen dieser grundsätzlichen interindividuellen Unschärfe. Hier soll deshalb nicht eine statistisch verwendbare psychologische „Medikation“ versucht werden, sondern auf die verschiedenen intrapersonellen Faktoren eingegangen werden, die bei der Umwandlung der Aufführungsangst in eine positiv-aggressive Befindlichkeit eine Rolle spielen können.
Wichtig bei der Meisterung der Folgen meines persönlichen Lampenfiebers ist die Antwort auf die Frage, auf welchen instrumentalen oder künstlerischen Parametern ich denn eigentlich erfahrungsgemäß durch das Lampenfieber Schaden nehmen könnte. Man kann beobachten, dass verschiedene Spieler des gleichen Instruments ganz unterschiedliche „Ausfälle“ als Folgen eines starken Lampenfiebers haben:
•Es gibt z. B. Streicher, bei denen auch bei starkem Lampenfieber keinerlei Trübung der Intonation eintritt, wohl aber eine Verminderung der klanglichen Kontrolle (das Bogenzittern gehört in diese Kategorie).
•Bei anderen Musikern entsteht zwar keine bemerkbare technische Unsicherheit, wohl aber eine deutliche Herabsetzung des Ausdrucks beim Spielen.
•Eine weitere Folge ist vielleicht eine Einschränkung der Kraft und Ausdauer bei Belastungen, die das Spiel mit sich bringt.
•Wieder andere Künstler können eine Beeinträchtigung des Gedächtnisses bei sich beobachten, ohne dass der Ausdruck im Einzelnen hörbar betroffen wäre.
•Bei anderen leidet die Trennschärfe von schnellen Passagen, nicht aber die Tonqualität im kantablen Bereich.
•Bei vielen Spielern ist das Tempogefühl beeinträchtigt, wobei durch die erhöhte Puls- und Atemfrequenz das Tempo oft schneller wird, Einsätze zu früh kommen und so die schon durch das Lampenfieber verursachte Unruhe noch einmal potenziert wird.
•Aber auch das Gegenteil kommt je nach Lampenfieberprofil vor: dass man vor lauter Vorsicht das Tempo verliert, langsamer wird (auch wenn dies der seltenere Fall ist).
•Eine bei fast allen Menschen auftretende Gefahr bei Lampenfieber ist die Herabsetzung des Bewegungsambitus.
Wenn der Spieler die Folgen seines persönlichen Lampenfiebers festgestellt hat, kann eine gezielte Übetherapie entwickelt werden. Wenn z. B. die klangliche Qualität Einbußen erleidet, kann ich nach konkreten Bedingungen Ausschau halten, die bestimmend für Klangqualität sind, und gezielt daran arbeiten: Anschlagsübungen, Atemkontrollübungen, beim Streicher auch Strichstellen-Kontrollübungen, Vibratoübungen etc. – je nach persönlichen Erfahrungen und Instrument. Wenn die Tempokontrolle abnimmt, kann man durch Dirigierübungen oder ausnahmsweise auch einmal durch einen Durchlauf der einen oder anderen Passage mit dem Metronom einen Arbeitsansatz schaffen.
Außerordentlich hilfreich kann es auch sein, einem Menschen, dem ich vertraue und dessen Kompetenz ich respektiere, vorzuspielen und seine wohlwollende Kritik einzuholen; dies wird aber aus menschlich nahe liegenden Gründen nur höchst selten in Anspruch genommen. Jascha Heifetz soll jedoch als weltweit gefeierter Geiger immer wieder bei seinem Lehrer einzelne Unterrichtsstunden genommen haben.
5. Lampenfieber akzeptieren
Die Akzeptanz des Lampenfiebers ist der erste Schritt zu dessen Überwindung. Hier drängt sich eine alte Seemannsregel gegen die Seekrankheit auf: „Die Wellen bewusst mitmachen, statt sich in die Kajüte flüchten!“ Es geht letztlich um die Akzeptanz der gegensätzlichen Zustände im Leben, wie Hochspannung (Lampenfieber!) – Entspannung, Wachen – Schlafen, Hunger – Essen, ja der zyklischen Zustände der Natur überhaupt, wie Tag – Nacht, Sommer – Winter. Die Akzeptanz solcher zyklischer Wellenbewegungen im Leben und in der Natur ist jedem Menschen eine existentielle Selbstverständlichkeit, gegen die wohl niemand versuchen wird „Maßnahmen zu ergreifen“. Es ist schon rein gedanklich beruhigend, meinen jetzigen Lampenfieberzustand in diese zyklische Ereignisform im Leben einzubetten und als „Wellenberg“ im Wechsel von Spannung – Entspannung zu begreifen.
Schon deshalb kann man Lampenfieber nicht einfach „abschaffen“, aber man kann lernen, damit umzugehen, es auszuhalten, es als eine Herausforderung anzunehmen. Diese Herausforderung kann zu neuen künstlerischen Ufern führen. Lampenfieber kann insofern eine Chance sein, neue Dimensionen einer künstlerischen Persönlichkeit aufzuspüren. Betrachten wir also das Lampenfieber als Chance statt als Hindernis, ganz im Sinne von Gerald Hüther, der die Angst als (biologische) Aufforderung begreift, neue Wege zu gehen, neue Verhaltensweisen zu erlernen. Für manch einen Musiker könnte dies z. B. die Aufforderung sein, seine Art der Vorbereitung, also des Übens, noch einmal gründlich zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern.
Hier begegnet man bei vielen Menschen einer Scheu (Angst!), sich in irgendeinem Teilbereich zu ändern oder auch nur einen Aspekt neu aufzunehmen, der bisher fremd war. Das Fremde, Neue erscheint paradoxerweise oft bedrohlicher als der unbefriedigende Zustand, den man eigentlich ändern will. Die wichtigen Änderungen, um die es innerhalb einer künstlerischen Entwicklung eines Musikers geht, können verständlicherweise als bedrohlich erlebt werden. So zieht man sich auf die sicher erscheinende, aber gerade deshalb umso gefährlichere Position zurück: „Kunst muss von innen kommen“, will sagen: „Kunst muss von selbst kommen“. Statt Neues zu wagen, denunziert man Neues (z. B. Ausdrucksbewegungen) als „aufgesetzt“, und alles „Aufgesetzte“ kann ja keine wirkliche Kunst sein!
Verwandt mit dieser fortschrittsbehindernden Haltung ist der Satz „Der eine hat’s, der andere nicht“, wobei man selbst es natürlich hat – nur müssen die anderen es noch entdecken. Und wenn „man’s hat“, braucht man ja nichts Wesentliches zu ändern. Dem ist zu erwidern, dass alles Lernen als Änderung bisherigen Verhaltens zunächst „aufgesetzt“ ist. Die erwähnte kunstmoralische Position erweist sich so als Variante des Spruchs: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“ Sie produziert eine Illusion von Sicherheit („alles kommt ja von innen“), kommt aber in Wirklichkeit von der Scheu vor Veränderung. Jede Veränderung bricht etwas auf, zerstört etwas und sei es nur eine schlechte Gewohnheit. Diese Scheu vor Veränderung ist keine Schande, sie gehört zum Spannungsfeld Sicherheit – Freiheit, doch sollte man sie als wirkliche Behinderung des individuellen Fortschritts erkennen.
Fazit
■Angst gehört zum Menschen. Ein bisschen Angst ist lebensnotwendig
■Niemand ist schuld an seinem Lampenfieber.
■Der Wert der Persönlichkeit eines Musikers wird nicht an einem falschen Ton gemessen.
■Als Künstler darf ich mich weder meines Ausdrucks noch meines Lampenfiebers schämen: Ich bin ja in bester Gesellschaft, denn ich teile das Problem mit allen Mitkünstlern.
■Lampenfieber entsteht durch Einbildung. Durch Einbildung kann ich es auch besiegen.
■Ich muss die Folgen meines persönlichen Lampenfiebers kennen, bevor ich es bekämpfe.
■Lampenfieber ist eine Bedingung für Fortschritt und daher notwendig für Höchstleistungen. Also muss ich es akzeptieren.
■Arbeit am Lampenfieber ist Arbeit an der Persönlichkeit.
II. Lampenfieber-Situationen
1. Lampenfieber – allein mit dem Publikum
Am eindrucksvollsten ist das Gefälle zwischen starkem Lampenfieber und einem geradezu als „Lampenfiebereuphorie“ zu bezeichnenden Zustand vor bzw. bei einem rein solistischen Auftritt, bei dem man ganz allein (wahlweise!) sich dem Publikum ausliefert oder im Gegenteil das Publikum vollkommen dominiert.
Voraussetzung hierfür ist der Entschluss, die Verantwortung bewusst zu übernehmen. Es gibt keine Ausreden, keine Sündenböcke mehr, sei es eine unbefriedigende Akustik, sei es eine unfertige Vorbereitung, sei es ein unzuverlässiger Mitspieler. Diesen Entschluss kann man gewissermaßen „üben“, indem man vielleicht schon Tage vor dem Konzert innerlich die ganze Verantwortung für den eigenen Auftritt, ja für das ganze künstlerische Ereignis einschließlich der Reaktion des Publikums und der eigenen Reaktion hierauf bewusst auf sich nimmt.
Der „Einsame“ auf der Bühne „outet“ sich vorbehaltlos. Er muss zu dem stehen, was er ist und was er kann – und was er nicht kann. Stärken und Schwächen, biographisch bedingte Schwerpunkte und Lücken zeichnen die charakteristischen Linien der Persönlichkeit, des eigenen Profils. Mit der Akzeptanz der Verantwortung wächst das Selbstbewusstsein; die ursprüngliche Angst kann dann zu einem geradezu euphorischen Zustand mutieren.
2. Lampenfieber im Ensemble
Sehr unterschiedliche Formen kann das Lampenfieber in Gruppen annehmen. Neben der eigenen „Bewährung“ als Spieler kommt hier – entweder entlastend oder belastend – die Dynamik innerhalb der Gruppe hinzu.
In einem festen, oft zusammen auftretenden Kammermusikensemble ist die Frage der gegenseitigen Anerkennung im Allgemeinen irgendwann geklärt; hier wirkt die Gruppe in ihrer gemeinsamen Aufgabe eher beruhigend. In einer solchen gewachsenen Gruppe wird man dem Mitspieler einen Fehler sofort verzeihen, wie man sich selbst ja auch einen Fehler auf dem Podium unbedingt sofort verzeihen muss und darf. Man kann auf das gemeinsame Niveau vertrauen, die Proben waren optimal und darüber hinaus bleibt nur die lakonische Feststellung, dass niemand perfekt ist.
In einer ad hoc zusammengestellten Gruppe mit solistisch „hörbaren“ Aufgaben jedes Einzelnen findet hingegen eher eine gegenseitige Beobachtung und kritische Bewertung statt. Hier hilft nur eine exzellente Vorbereitung, eine genaue Kenntnis der gesamten Partitur, zumindest eine exakte Kenntnis der rhythmischen Abläufe. Eine noch so sorgfältige Beherrschung der eigenen Stimme reicht auf keinen Fall aus. Jeder einzelne Mitspieler hat über seine Stimme hinaus die Verantwortung für das ganze Ensemble. Ein falscher Ton bleibt ein kleines Einzelereignis, aber ein falscher Einsatz kann zum „Schmiss“ führen!
3. Lampenfieber im Orchester